„Was ist das Dornland?“, wollte die kleine Sonja erfahren, kaum dass Lydia fertig vorgelesen hatte.
„Das Dornland ist eine Ansammlung von einen Dutzend kleinerer Grafschaften im Nordwesten des Reiches. Manche sind anerkannt, manche sind kleiner als Tannenberg und bestehen aus nicht mehr als einer Ruine mit ein paar Feldern“. erklärte Markwill ausufernd. „Das Gebiet ist den Geschichten zur Folge sehr unwirtlich. Große Teile sind von riesigen Dornenhecken abgetrennt und niemand weiß, wie es dahinter aussieht. Daher auch der Name. Tatsächlich stamm Aurell, der später der erste König werden sollte, aus einem dieser Länder. Er war ein Kriegsherr und soll wohl sehr charismatisch gewesen sein. Er schaffte es, das Dornland unter seinen Banner zu vereinen und verbreitete seine Idee, alle Reiche der Umgebung unter einem Verwaltungsschirm zusammenzufassen zum Wohle aller. Die Idee war gut und fand regen Anklang. Bald darauf versammelten sich die Führer und Abgesandten vieler kleiner Länder in seinem Amtssitz und unterschrieben das Dokument, welches Lydia gerade vorgelesen hat. Es sollte alles vereinfachen. Straßen wurden neu errichtet, die das ganze Land sinnvoll verbanden, und damit den Handel erleichterten. Siegel und Stempel wurden vereinheitlicht und jede Grafschaft bekam Kopien davon, damit man Fälschungen sofort zu erkennen vermochte. Maße und Waagen wurden festgelegt. Und langsam, ganz allmählich, kristallisierte sich tatsächlich ein Königreich heraus. Kurz vor seinem Tod, wurde Aurell tatsächlich zum ersten König gekrönt. Niemand wagte es zu diesem Zeitpunkt Widerspruch einzulegen, denn Aurell hatte sich diese Position redlich verdient und Großes geleistet. Dagegen vorzugehen, hätte das Ansehen eines jeden Zauderers geschmälert. Jedoch vereinbarte man eine Klausel in einem zweiten Dokument, der Krönungsurkunde. Es war jeden klar, dass Aurell Großes vollbracht hat, doch sein Nachfahre vielleicht alles ruinieren könnte. Denn kurz vor seiner Krönung, zerfiel das Dornland wieder in viele kleine Grafschaften. Manche von denen waren mit Aurell verwandt, andere nicht, doch alle beanspruchten die Krone. Daher, Lydia, könntest du bitte das hier vorlesen?“
las sie laut vor. Sie senkte ihren Blick auf den Briefbogen und mühte sich mit der alten Schrift ab.
„Ernennungsurkunde und Gründungsdokument:
Hiermit vereinigen sich die folgend unterschreibenden Reiche, Ländereien, Heiligtümer, Grafschaften oder freie Städte, zum Königreich unter Aurell vom Dornland.
Unter Aurell werden wir gemeinsam dienen. Wir halten dem König als Oberhaupt über uns allen die Treue. Auch verpflichten wir uns zu Beistand, sollte er dies von uns fordern. Ferner darf er über uns Recht sprechen, wenn dies zur Einigkeit des Reichs erforderlich ist.
Gleichzeitig achtet der König all jene einzelnen Ländereien, die sich ihm anschließen. Niemals wird er ein Teil bevorzugen, niemals eines missachten.
Zudem werden wir nach jeder Ernte dem König von jener den Zehnt-Zehnten zahlen, damit König und Reich regieren können zum Wohl aller.
Jedoch wird es jedem Land freigestellt bleiben, sich aus dem Bunde zu lösen oder sich ihm anzuschließen. Dies ist jedoch nur in jenem Falle gestattet, in dem der König gestorben sei, damit die Regierbarkeit der Herrschaft gewährleistet bleibe.
Dies unterzeichnet Aurell vom Dornland, erster König aller vereinigten Reiche.
Dies unterschreiben die folgenden Reiche, Ländereien, Heiligtümer, Grafschaften oder freie Städte.“
Eine angespannte Stille breitete sich in der Schenke aus. Bis sich Markwill räusperte.
„Das bedeutet also, dass jede Grafschaft das Recht besitzt dem Königreich den Rücken zu kehren, falls es einen neuen König gibt. Es heißt sogar, dass Aurell selbst diese Idee gehabt habe, als er sah, was mit seinem geliebten Dornland passierte. Ihr könnt euch nun vorstellen, wie es mir erging, als mir dieses Schriftstück in die Hände fiel.“
„Allerdings“, schnaubte einer der Bauern. „Das erklärt auch, warum der Zehnt letztes Jahr gestiegen ist.“
„Die Langmark wird sich freiwillig dem König unterworfen haben. Ich hörte auch schon an anderen Orten, dass die Abgaben erhöht wurden. Ich bin weit herumgekommen“, erklärte Markwill.
„Der neue König ist zu gierig“, stimmte der Bauer ihm zu. „Ich habe nur noch wenig Zweifel an der Echtheit deiner Geschichte.“
„Und was hast du jetzt vor?“, wollte Sonja von Markwill wissen.
„Tja, Kleines, ich kehre selbstverständlich zurück und werde meine Grafschaft befreien. Ich habe in den letzten anderthalb Jahren eine große Gruppe Getreuer zusammengescharrt, mehr als nur das Grüppchen Vogelfreier am Anfang. Mit ihnen werde ich die Weißgardisten vertreiben und mein Land wiederaufbauen. Ich weiß natürlich nicht, ob meine Burg noch steht, jedoch wird Tannengrün auf jeden Fall noch fortbestehen. König Helldorn hat die Absicht, das Land auszuquetschen wie eine Rotfrucht, er will es nicht vernichten. Meine Stadt mag zwar klein sein, jedoch ist ihre Wirtschaft robust.“
„Hast du nicht erzählt, deine Wirtschaft fußt hauptsächlich auf diesen Eisenholz?“, wollte ein anderer Bauer mürrisch erfahren.
„Mein Außenhandel beruht darauf, ja. Und ich hoffe bei allen Heiligen, dass die weiße Garde meinen Hain nicht gefunden hat. Wenn die Burg noch steht, sollte es ihnen schwer fallen, meine Grafschaft auszuplündern.“
„Und wenn sie nicht mehr steht?“, wollte Lydia wissen.
„Dann werde ich mir einen neuen Wohnsitz in Tannengrün bauen müssen und von dort aus meine Grafschaft wiederaufbauen. Die besagte Gruppe Getreuer besteht ja nicht aus Soldaten, sondern vielmehr aus Handwerkern und Bauern, die sich nichts weiter wünschen, als ein friedliches Leben führen zu können. Mit ihnen werde ich einen Neuanfang schaffen.“
„Das heißt, du suchst nun überall nach Neubürgern, hab ich Recht?“, knurrte der mürrische Bauer und stand auf. „Wie hoch, hast du gesagt, sind deine Abgaben? Der Zehnte an Ernte und Handelseinkunft? Ich werde mal schauen, ob ich mit meiner Frau darüber reden kann. Sie hat immer das letzte Wort.“
Murmelnd stampfte er die beiden Stufen hoch und verschwand im Sonnenlicht.
Auch ein weiterer Bauer stand auf. Es war der, der den König als gierig bezeichnet hat. „Mit mir kannst du rechnen. Ich hab noch eine alte Kutsche, die ich mit unseren Besitz beladen kann. Viel ist es nicht. Meine Frau erwartet ihr drittes Kind und ich werde sie hier nicht mehr lange ernähren können. Wann hast du vor aufzubrechen?“
„In drei Tagen“, antwortete er und nickte ihm zu. „Ich freue mich, dass du dabei bist. Aber du solltest wissen, dass ich nicht viele Felder hab.“
Der Bauer zuckte daraufhin nur mit der Schulter. „Das soll mir gleich sein, dann werde ich zum Waldbauer. Hast du nicht erzählt, dass der allergrößte Teil eurer Ernte aus den Wäldern kommt? Ist mir nur recht. Von der Feldarbeit schmerzt mir der Rücken mit jeden Tag mehr.“
Er nickte der Hohepriesterin zu. „Und auch wenn es Hilmar noch nicht begriffen hat, ist mir klar, dass du mit diesen Waldgrafen mitgehen wirst.“
Die Köpfe der Geschwister ruckten und Lydia und ihr Bruder schauten sich unerbittlich an. Dann senkte Hilmar seinen Blick und schüttelte sachte den Kopf.
„Meine Schwester hatte schon immer einen Dickkopf, Graf Markwill. Wenn sie mitkommt, werde auch ich folgen.“
Markwill blickte zur Priesterin. „Aber warum?“
„Weil sie sich hier noch nie wohlgefühlt hat“, mischte sich Hilmar ein. „Und jetzt kommt ein stattlicher Graf und verspricht ihr ein Abenteuer, eine lange Reise und eine neue Heimat in der Fremde. Wundert mich nur, dass sie dir nicht schon längst um den Hals gefallen ist.“
Er hatte das Gefühl, als wenn er irgendwas nicht mitbekam.
____
Momentan geht mir das nächste Kapitel nicht gut von der Hand. Da brauche ich noch etwas Zeit. Aber immerhin habe ich hier einen schönen neuen Sinnabschnitt fertiggestellt.