Richard, der Wahnsinn greift um sich (566 n. Rh.)
Als Richard zu sich kam, fand er sich in einem dunklen, kalten Raum wieder. Seine Glieder fühlten sich steif an, sein Schädel brummte und als er sein Gesicht betastete, fühlte er eingetrocknetes Blut. Mühsam gelang es ihm, sich aufzusetzen. Es stank widerlich, nach Fäulnis und Verwesung.
Wo bin ich hier?
Die einzige Lichtquelle war ein vergittertes Loch in der Tür am anderen Ende des Raumes.
„Richard“, flüsterte eine angsterfüllte Stimme neben ihm. In der Dunkelheit erkannte er Sessilia. Doch sie blickte ihn nicht an. Sie lag auf dem Boden, hatte die Hände auf die Ohren gepresst und krümmte sich, als hätte sie Schmerzen.
„Nein, ich kenne dich nicht, ich kenne dich nicht“, schluchzte sie. „Richard, hilf mir.“
Richard rutschte auf den Knien näher zu ihr.
„Sessilia, ich bin hier“, rief er, doch sie schien ihn nicht zu hören. Ihr Gesicht war angstverzerrt, sie zitterte. „Legion, Legion ist mein Name“, flüstere sie.
„Sessilia, was redest du, schau mich an.“
Sie ist völlig von Dunkelheit verschluckt worden. Er legte eine Hand auf ihren Kopf und konzentrierte sich auf das göttliche Licht. „Wach auf, Sessilia!“ Ihr Zittern verebbte. Sie blickte ihn an.
„Richard!“, keuchte sie.
Den Göttern sei Dank!, dachte er erleichtert, doch im selben Moment weiteten sich ihre Augen, gepackt von Angst.
„Bleib weg!“, kreischte sie und stieß ihn zurück. Er taumelte und stürzte nach hinten. Erschrocken schaute er ihr zu, wie sie von ihm wegkroch, murmelnd, fluchend.
Sie ist verrückt. Genau wie die anderen Frauen. Ich kann sie nicht mehr retten. Sie wird mich umbringen. Wenn ich nicht aufpasse, dann bringt sie mich um!
Panik griff nach ihm, schnürte seine Brust zu und vernebelte seinen Verstand.
Sie haben mich gewarnt. Erdrosseln, im Schlaf. Kalter Schweiß rann ihm über die Haut.
Nicht, wenn ich sie zuerst töte, schoss es ihm durch den Kopf. Seine Hände verkrampften sich und sein Atem ging stoßweise. Ich kann sie erwürgen. Sie ist schwächer als ich. Es ist für uns beide das Beste. Schon stand er auf den Füßen. Sie hatte sich in einer Ecke verkrochen.
Der Dämon hat von ihr Besitz ergriffen. Es ist die einzige Möglichkeit. Er schritt auf sie zu. Sie kreischte. „Sieh mich nicht an!“, schrie sie, griff sich in die Haare und zerrte daran. Er beugte sich über sie, doch sie schlug wild um sich. Einer ihrer Füße traf sein Schienbein.
„Richard!“, brüllte eine Stimme neben ihm.
Reflexartig blickte Richard auf und sah, wie Sinister auf ihn zugestürzt kam. Der Candidatus riss ihn mit sich zu Boden und Richard wurde unter ihm begraben. Ein Schlag traf ihn seitlich an der Schläfe, dann wurde er hochgerissen. Sinister hielt ihn am Kragen gepackt und schüttelte ihn.
„Du! Von der Straße haben sie dich geholt! Aber du bist nicht würdig! Du musst verschwinden!“
„Lass mich los, du Irrer!“, schrie Richard und kratzte dem Candidatus über das wutverzerrte Gesicht. Doch Sinister war viel stärker als Richard. Er wird mich töten!, durchfuhr es ihn. Aber ich will noch nicht sterben!
Sinister schrie auf und ließ Richard auf die Erde fallen. Schnell rappelte Richard sich auf.
Er brennt! Sinister schrie wie am Spieß, er sah aus wie eine lebendige Fackel. Die Feuer der Hölle verschlingen ihn, dachte Richard. Doch im selben Augenblick erloschen die Flammen und ließen Sinister unbeschädigt zurück. Stattdessen wurde der gesamte Raum in gleißendes Lichtgetaucht. Richard hob die Arme vor die Augen, um sie vor den schmerzenden Strahlen zu schützen.
Ich habe versucht, sie zu töten, durchfuhr es ihn. Ich habe tatsächlich versucht, Sessilia zu töten!
„Im Namen von Rhamnus dem heiligen Eingeweihten befehle ich euch zu verschwinden!“, rief eine grollende Stimme und das Licht drang in Richard ein. Er spürte Schmerz, doch es war nicht wirklich sein eigener Schmerz. Der Dämon schrie, als er von dem Licht berührt wurde. Dann war er verschwunden. Richard taumelte, doch ein Arm legte sich um ihn und stützte ihn. Das Licht erlosch. Er blickte auf, in der Erwartung, Samuel zu erblicken, doch die Person, die ihn hielt war nicht sein Lehrer.
Richards Herz setzte einen Schlag lang aus. Ich bin tatsächlich verrückt!, schoss es ihm durch den Kopf, als er ungläubig in das Gesicht seines Retters starrte. Der Junge, der ihn stützte sah seinem Bruder zum Verwechseln ähnlich.
„Richard“, sagte nun der Junge mit Edwins Mund. „Ich hab dich gefunden.“
Richard schreckte hoch und trat weg von dem Jungen. „Ich träume“, keuchte er.
Samuel trat hinzu. Auf seiner Schulter saß ein großer Vogel, doch Richard beachtete ihn kaum. Wie gebannt starrte er den Jungen vor sich an. „Du bist tot, ich habe gesehen, wie du in die Flammen gegangen bist. Was ist das für ein Spiel? Ist das ein weiterer Trick des Dämons?“
„Beruhig dich Richard, du bist völlig klar“, versicherte ihm Samuel. „Er ist mir im Dorf über den Weg gelaufen, er hat mir gesagt, wo ich euch finden kann.“
Misstrauisch schaute Richard seinen Lehrer an. Das ist ein Trick, ein Traum oder so ähnlich. Ich muss aufwachen!
„Richard, ich bin’s wirklich“, versicherte ihm das Trugbild seines Bruders. „Ich bin nicht tot.“
„Bleib weg von mir!“, schrie Richard, als Edwin auf ihn zugehen wollte. „Heiliger Rhamnus, befrei mich aus diesem Irrsinn!“
Edwins Augen wurden traurig. „Ich dachte, du würdest dich freuen“, sagte er.
Richard konnte nichts darauf antworten. Wie sehr hatte er sich gewünscht, seinen Bruder wieder zu sehen! Aber genau das wusste der Dämon wahrscheinlich. Nun wollte er ihn testen, wollte ihn noch mehr zermürben.
„Ich pass auf dich auf, Richard“, sagte Edwin, lächelte ein wenig, dann begann sein seine Gestalt durchscheinend zu werden und löste sich auf bis nichts mehr von ihm übrigblieb.
„Edwin!“, rief Richard verzweifelt. „Verdammt! Das ist doch Wahnsinn!“
„Reiß dich zusammen!“, hörte er Sessilias Stimme hinter sich. „Der Dämon ist weg, lass uns von hier verschwinden.“
Samuel nickte, kniete sich neben Sinister, der noch immer auf dem Boden lag. Mit einer sanften Berührung am Kopf weckte er ihn, Sessilia half ihm aufzustehen.
„Wir hätten uns nicht trennen sollen“, sagte Samuel. „Es tut mir leid, das war ein Fehler. Der Dämon ist stärker, als ich gedacht hatte. Er hatte uns bereits in der Hand als wir das Gasthaus betraten.“
Richard schwieg. Nichts denken. Vielleicht ist das das Einzige, was hilft. Keine Gedanken, kein Problem.
Sie verließen die Zelle, eingehüllt in einen feinen Lichtschimmer, der sich um Samuel ausbreitete.
„Schaut nicht in die anderen Zellen“, warnte der Priester und führte sie auf kürzestem Weg zu einer steinernen Treppe, die nach oben in die höher gelegenen Teile der Festung führte.
Richard wollte gar nicht wissen, was er in den anderen Bereichen des Kerkers sehen würde. Er richtete den Blick stur auf Samuels Rücken, der schwach leuchtete. Unterwegs berichtete Sessilia, was in der Zwischenzeit geschehen war. Richard spitzte die Ohren. Ihre Geschichte deckte sich mit der seinen, was jedoch nicht hieß, dass er sich tatsächlich in der Realität und nicht in einer Traumwelt befand. Der Dämon war gerissen, wer konnte schon wissen, wozu er fähig war.
Der Habicht auf Samuels Schulter starrte ihn an. Richard schaute schnell weg. Mit dem Vogel stimmt doch was nicht, dachte er. Und hatte ich nicht vorgehabt, nichts zu denken?
„Wie seltsam, dass niemand hier ist“, murmelte Samuel, als sie durch eine düstere Halle schritten.
Mit wachsender Beunruhigung lauschte Richard dem Klang ihrer Schritte, die von den Wänden widerhallten. Regte sich etwas dort drüben in den Schatten? Lauerte ein Dämon in der Dunkelheit? Was bedeutete der wachsame Blick, der sein Lehrer ihm zuwarf? Verdächtigte er ihn etwa? Dachte er womöglich, er sei ein Dämon?
Samuel blieb stehen. „Richard“, sagte er mit klarer Stimme. „Ich kann dich zwar vor den Dämonen beschützten, die außerhalb von dir sind. Aber nicht vor denen, die du dir selbst erschaffst.“
Richards zuckte zusammen. „Wer sagt mir, dass nicht du der Dämon bist?“, fragte er mit zittriger Stimme.
„Wäre genügend Klarheit in dir, würdest du die Wahrheit erkennen“, seufzte Samuel. „Aber du stehst schon zu lange unter dem Einfluss des Dämons. Hast du den Stein noch bei dir?“
Richard machte eine trotzige Mine. „Ich habe ihn bei Roland gelassen“, gestand er.
„Dummkopf“, sagte Samuel mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Ich hatte dir gesagt, dass du ihn nicht ablegen sollst.“
War dies das erste Mal, dass er an seinem Lehrer eine Spur von Wut wahrnahm?
„Ich wollte Roland damit schützen! Schließlich liegt er noch immer alleine im Wald – hoffentlich.“
Samuel packte Richard am Arm und presste ihn an die Wand. Der Vogel flog kreischend auf und landete auf der Lehne eines Stuhles in der Nähe.
„Was soll das?!“, rief Richard erschrocken.
„Da ist wohl noch etwas, das ich übersehen habe“, sagte Samuel und schlug Richard mit der flachen Hand in die Magengrube.
Richard blieb die Luft weg, etwas wand sich in ihm, krallte sich in ihm fest.
Samuel ist tatsächlich besessen!, dachte er voller Panik.
„Raus da!“, rief Samuel und schlug erneut zu.
Richard spuckte aus, würgte. Etwas wand sich seine Speiseröhre hinauf, quetschte sich aus seinem Mund und landete platschend auf dem Steinboden. Sinister und Sessilia wichen zurück. Richard atmete schwer, stand nur noch aufrecht, weil Samuel ihn an die Mauer presste. Seine Sicht war verschwommen. Das Ding auf dem Boden zerfloss, verschwand in den Ritzen zwischen den Steinen.
„Los, wenn wir das Ritual schon nicht aufzuhalten vermögen, müssen wir wenigstens raus, bevor es vollendet ist!“, rief Samuel und riss Richard mit sich.
„Was war das?“, fragte Sessilia.
„Falls wir die Sache überleben, bleibt später genug Zeit für Erklärungen“, erwiderte Samuel.
Richard hatte seinen Widerstand inzwischen aufgegeben und ließ sich mitziehen. Was hatte es für einen Zweck, sich zu wehren? Falls Samuel ein Dämon war, dann hatte er sowieso keine Chance gegen ihn.
Als sie durch eine Tür nach draußen traten, breitete der Habicht seine Flügel aus und flog in die Nacht davon. Sie befanden sich auf der linken Seite der Festung, die etwas erhöht lag. Von hier aus konnte man das Dorf gut überblicken.
„Das Feuer brennt bereits!“, zischte Sinister und deutete auf einen riesigen Scheiterhaufen gleich vor dem Tor.
Ein Schrei gellte durch die Nacht. Erst jetzt bemerkte Richard die kleine, dunkle Gestalt, die sich zuoberst auf dem Berg aus Holz befand. Die Flammen hatten ihre Füße erreicht, doch die Frau war an einen Pfahl gefesselt und konnte nicht davonlaufen.
„Schnell“, ermahnte sie Samuel.
Geduckt in die Schatten der Burg schlichen sie voran, erreichten die ersten Häuser. Richard versuchte jeden Gedanken an die Frau auf dem Scheiterhaufen aus seinem Kopf zu verbannen. Aber wie sollten sie das Dorf verlassen ohne bemerkt zu werden, wenn die Opferung gleich vor dem Tor stattfand?
„Wie können sie nur so böse sein?“, flüsterte Sessilia.
Ein weiterer Schrei ertönte und in diesem Moment begann die Erde zu beben. Die Finsternis verschluckte die letzten Sterne am Himmel.
„Da rein!“, rief Samuel und bugsierte Richard durch eine Tür.
Mit Schrecken stellte Richard fest, dass sie sich wieder in Betties Schenke befanden.
„Hoch!“, raunte der Priester.
Sie rannten die Treppe zu den Schlafzimmern hinauf und quetschten sich in eines der Zimmer. Sinister und Samuel zogen eines der Betten von der Wand weg. Darunter kam ein rundes Zeichen zum Vorschein. Richard hatte es schon manchmal an den Wänden im Ducatus gesehen.
„Ich hatte nicht genügend Zeit, das Ritual fertig vorzubereiten“, erklärte Samuel. „Richard, setz dich in den Kreis, das ist der sicherste Ort.“
Richard gehorchte, setzte sich auf den schmutzigen Boden, während Samuel Kerzen um ihn herum aufstellte.
Nur mal angenommen, Samuel wäre tatsächlich ein Dämon…, begann Richard, dachte den Gedanken jedoch nicht fertig. Was solls…
Auf den Wink von Samuels Hand entflammten die Kerzen.
„Mund auf!“, befahl Samuel und steckte eines der Kräuterkörner, welche er bereits bei dem Reinigungsritual in Aper an die Dorfbewohner verteilt hatte, in Richards Mund. Auch an Sessilia und Sinister reichte er eines, dann legte er auch sich eines auf die Zunge.
Die Flammen der Kerzen schossen in die Höhe, als Samuel ein Gebet zu rezitieren begann. Abermals bebte die Erde und Staub rieselte von der Decke auf die Versammelten hinab.
Legion!, kreischte eine Stimme in Richards Kopf, begleitet von einem stechenden Schmerz, der sich durch seine Schläfen bohrte. Funken explodierten vor Richards Augen, Sessilia brach neben ihm zusammen. Das Haus knarzte und schwankte, von heftigen Böen gepackt. Mit lautem Krachen hob das Dach ab, Holzsplitter flogen durch die Luft. Einer traf Richard im Nacken, bohrte sich durch seine Haut ins Fleisch. Er wollte ihn herausziehen, doch da war nichts, das er anfassen konnte. Hatte er es sich nur eingebildet?
Sinister kniete auf dem Boden, sein Mund bewegte sich schnell, mitten im Gebet. Richard blickte hoch, sah in den pechschwarzen Himmel hinauf, in den Sturm, der da tobte. Blätter wirbelten in das Zimmer hinein, dann fielen die ersten Tropfen, klatschten auf den Boden.
„Es verwischt das Zeichen!“, rief Sinister und deutete auf die Linien rund um Richard. Der Regen hatte bereits einen Teil verwischt.
Samuel ließ sich nichts anmerken, trat auf Richard zu, ohne seine Rezitation zu unterbrechen. Er legte ihm eine Hand auf den Kopf. Die gezeichneten Linien auf dem Boden begannen zu leuchten, schienen lebendig zu werden. Wie Schlangen tanzten sie um Richard herum. Samuel verengte die Augen.
„Es reicht noch nicht“, murmelte er. „Sinister, hol Sessilia her.“
„Sie ist ohnmächtig geworden.“
„Bring sie her!“
Sinister hob Sessilias schlaffen Körper hoch und schleifte ihn zu Samuel hinüber.
„Wach auf!“, donnerte Samuels Stimme und ein Zucken durchlief Sessilias Körper.
Sie schlug die Augen auf und mit Sinisters Hilfe gelang es ihr, sich aufzusetzen.
Samuel legte nun auch ihr die Hand auf den Kopf, die Linien glühten, lösten sich vom Boden und ein Strahl gleißenden Lichts stach in den Himmel hinauf, mitten in die zusammengeballten Wolken. Weit oben sah er die feine Silhouette des Habichts um den Lichtstrahl kreisen. Richards ganzer Körper fing an zu prickeln, als er so vom Licht umspült dasaß. Auf einmal war seine Angst verschwunden. Er fühlte sich geradezu großartig, lebendig und kraftvoll. Diese Dämonen hatten nicht den Hauch einer Chance, sollte sich einer in seine Nähe wagen, er würde ihn einfach auslöschen.
Als hätten sie seinen Wunsch gehört, wurde die Zimmertür aufgestoßen. Schwarze Schemen standen im Eingang, schienen jedoch nicht eintreten zu können. Richard wollte schon aufstehen und die lauernden Schatten vertreiben, doch er konnte sich nicht bewegen. Die immense Kraft, die durch seinen Körper strömte war zu viel für ihn. Er fühlte, dass er allmählich seine Grenze erreichte. Sollte dieses Ritual noch lange andauern, würde seine Haut aufplatzen wie eine überreife Frucht. Hilfesuchend richtete er seinen Blick auf Samuel, doch anstelle seines Lehrers sah er eine Lichtgestalt mit langen, silberweißen Haaren auf sich zukommen. Unter ihrem Blick schien er zu schmelzen. Der Druck auf seinem Leib nahm ab, die Energie konnte wieder ungehindert fließen und Richard atmete auf. Die Lichtgestalt streckte ihm eine Hand entgegen.
„Du kannst mich gerne begleiten, wenn du das möchtest“, sagte die Gestalt mit einer wunderschönen Stimme, die nicht von dieser Welt zu stammen schien. Plötzlich fühlte er sich winzig und unbedeutend, wie ein kleines Kind.
„Ich möchte mit dir gehen“, sagte er lächelnd. Er streckte die Hand aus, wollte dieses Wesen berühren. Die Gestalt bückte sich näher zu ihm und Richard erkannte die feinen Züge eines Mannes. Was für ein wunderschönes Gesicht! Richard war überwältigt von dem Anblick, konnte sich kaum sattsehen. Er fühlte sich so geborgen, als wäre er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich zu Hause angekommen.
Doch bevor er dieses wunderbare Gesicht berühren konnte, erbebte die Erde so jäh, dass ihn der Schock aus seiner Erinnerung in die Gegenwart zurückholte. Es bebte und krachte erneut.
„Das Haus stürzt ein!“, rief Sinister.
Schon neigte sich der Boden unter ihnen zur Seite, wurde immer schräger und schräger. Richard verlor den Halt und rutschte aus dem Lichtkreis heraus. Das Licht erlosch, während auch Samuel und die beiden anderen Halt suchend über den Boden schlitterten. Ein lauter Knall ertönte und auf einmal befand Richard sich in freiem Fall. Sein Körper schlug irgendwo auf, etwas landete hart auf ihm, er schlitterte weiter, wurde von etwas jäh gestoppt. Für einen kurzen Moment verlor er das Bewusstsein, dann kam er wieder zu sich. Erst wusste er nicht mehr, wo er war, betrachtete die zerstörte Umgebung voller Unverständnis. Um ihn her lagen lauter Trümmer von Balken, kaputter Möbel und Stücke von Boden und Wänden. Dann kam mit der Wucht eines Schlages die Erinnerung zurück.
„Sessilia!“, rief er. „Samuel!“
Sein Körper schmerzte fürchterlich. Das war noch viel schlimmer, als von Onkel Theodor verprügelt zu werden. Mühsam zog er sich an der Kommode neben sich hoch, fand schwankend an ihr Halt. Dann erbebte erneut die Erde und eine Tür kam auf ihn zugestürzt. Er wich aus, sie krachte gegen die ramponierte Kommode, wo er sich eben noch festgehalten hatte.
„Richard!“, hörte er die angsterfüllte Stimme von Sessilia in der Nähe.
Wir sind Legion!, kreischte es in seinem Kopf, während er sich nach ihr umsah. Er kämpfte sich durch die Trümmer, die ihn nacheinander zu erschlagen versuchten. Mit grimmiger Entschlossenheit sprach Richard die Schutzformel des Heiligen Rhamnus und schaffte es tatsächlich, sich aus Betties alter Taverne zu befreien. Er trat auf die Straße. Zu seinem Schrecken sah er, wie ein paar der Männer Sessilia in Richtung Scheiterhaufen zerrten.
„Richard!“, schrie sie und versuchte vergeblich sich loszureißen.
Ohne zu überlegen rannte Richard los. Mit einem Brausen flog der Habicht über ihn hinweg, hinterließ ein Gefühl von Mut in seinem Herzen. Eines der Schattenwesen stellte sich Richard in den Weg. Er wusste nicht, woher er diese Kraft nahm, ob von der Erinnerung an die Lichtgestalt oder von Samuels Ritual, aber das Licht flutete aus ihm heraus wie ein unversiegbarer Strom von Reinheit, Geborgenheit und Liebe, gegen den kein Dämon standhalten konnte. Die Schattengestalt zerriss mit einem erstickten Schrei.
Richard stürmte weiter, die Lichtwelle eilte ihm voraus. Sie erreichte die Männer, die Sessilia gepackt hatten. Augenblicklich ließen sie Sessilia los und wie bereits Emud brachen sie zusammen, erdrückt von der Erkenntnis ihrer Gräueltaten.
Richard hatte Sessilia beinahe erreicht, als ein eiskalter Atem seine Füße berührte. Die Eiseskälte stieg seine Beine hoch, machte sie schwer und steif. Er stolperte über seine ungelenken Füße und fiel der Länge nach hin.
„Nein!“, rief Richard, doch die frostige Kraft stieg höher, erreichte seine Brust und drang ein in sein Herz. Er spürte, wie sein Herzschlag langsamer wurde. Gleich würde er ganz zum Erliegen kommen. Das Licht um ihn erlosch und die Dämonen stürzten sich auf ihn wie die Geier auf ein totes Tier.
Legion, Legion, viele sind wir! Und du bist einer von uns! Dein Meister hat uns nur weggesperrt, er konnte uns nicht töten. Wir können nicht sterben. Deine gerechte Strafe, Erdenmensch. Legion ist dein Name!
Richards Kopf wurde angefüllt mit Stimmen, Schreien. Wirr sprachen sie durcheinander. Alle litten sie entsetzliche Schmerzen. Verrat, ausgestoßen, Folter!
Da erklang eine helle Glocke inmitten dieser Stimmen. Sie riss ein Loch in das Netz der Angst und Pein und durch dieses Loch drang eine Melodie, die er nur zu gut kannte.
„Losgelöst, ein Körper wie Wind so frei
Nichts hält dich fest
Niemand, nichts, jetzt nicht!
Denn du bist frei
Keine Banden, die dich halten
Dein Herz ist unbeschwert, weit wie der Raum
Erfüllt von der Kraft, die in dir wohnt
Sich ausdehnt, alles durchdringend
Niemand, nichts, jetzt nicht
Denn du bist frei, in diesem Moment frei.“
Richard schlug die Augen auf. Die Stimme erklang nicht in seinem Kopf wie er angenommen hatte. Über sich sah er verschwommen das Gesicht seines kleinen Bruders. Tränen liefen ihm über die Wangen, während er das alt vertraute Lied sang.
„Über alle Schranken sind wir verbunden
In dem einen Raum.
Nicht einmal der Tod kann uns noch trennen
Keine Illusionen, keine Türen, keine Wände
Über alle Schranken, vereint im Geheimen.“
Edwin strich Richard über das Gesicht.
„Wir haben versprochen, dass wir uns wiederbegegnen“, sagte Edwin mit weinerlicher Stimme, doch ein strahlendes Lachen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Wo auch immer du bist, ich werde dich finden“, sagte er, dann löste er sich auf.
Richard sprang auf. „Edwin!“, rief er, doch er erhielt keine Antwort.
Stattdessen erblickte er den Habicht. In einem steilen Sturzflug sauste er in Richtung Erde hinunter. Richard folgte seiner Flugbahn mit den Augen und sah den schwarzen Wolf, der auf Sessilia zusprang. Der Habicht versenkte seine Krallen in den Nacken des Wolfes. Das große Raubtier warf sich auf den Boden und drehte sich auf den Rücken, um den Vogel abzuschütteln. Der Habicht schnellte wieder hoch in die Luft. Richard hatte keine Zeit, sich über das seltsame Verhalten des Tieres Gedanken zu machen. Er rannte auf Sessilia zu. Wieder gelang es ihm ganz leicht, mit dem Licht in Kontakt zu treten. Er fühlte, wie es von oben in seinen Kopf eintrat und seinen Körper ausfüllte. Er stellte sich vor, wie sich eine Wand zwischen dem Wolf und Sessilia bildete und wirklich erschien eine feine, schimmernde Barrikade aus goldenem Licht zwischen ihr und dem Dämon.
Richard erreichte Sessilia noch rechtzeitig, bevor zwei weitere Wölfe zum ersten hinzustoßen konnten.
„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte Richard außer Atem.
„Alles noch dran“, bestätigte sie, doch in ihrem Gesicht stand der Schrecken geschrieben.
„Keine wirren Gedanken?“, vergewisserte er sich.
„Ich hoffe nicht…“
Zur Sicherheit ließ Richard eine Woge von reinigendem Licht durch Sessilias Körper strömen. Erleichterung zeigte sich in ihren Zügen.
„Da kommen noch mehr“, warnte sie ihn, als sich weitere Wölfe zu dem Rudel gesellten.
Richard zog einen Schutzwall aus Licht um sie empor und die Jäger begannen ihre Opfer mit langsamen, lauernden Schritten zu umrunden. Sie konnten die Wand zwar nicht durchdringen, aber Richard wusste nicht, wie lange sie ihn aufrecht erhalten konnte.
„Wo sind Samuel und Sinister?“, fragte Sessilia und versuchte an den Wölfen vorbei zu spähen.
Auch Richard konnte die beiden nirgends entdecken. Er hatte auch anderes zu tun, als sich mit dieser Frage zu beschäftigen, denn die Wölfe hatten gerade ihr Verhalten geändert. Sie umkreisten die beiden nun nicht mehr, sondern zogen sich zurück in die Schatten. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Richards Magen aus. Etwas war da faul.
„Was geschieht hier?!“, rief er erschrocken aus.
Der Boden um sie her schien flüssig geworden zu sein. Eine wabernde Masse aus schreiender Dunkelheit, die sich langsam hob und senkte wie eine zähe Brühe.
„Richard, was ist das?“, fragte Sessilia und griff nach seiner Hand.
„Was es auch ist, zusammen sind wir stärker“, sagte er entschlossen. „Konzentrier dich auf das Licht. Lass es durch deinen Körper strömen und hilf mir, den Schutzwall zu verdichten.“
Sie biss sich auf die Lippe, nickte und verstärkte den Griff um seine Hand. Er spürte, wie ein zartes Gefühl von Zuneigung und Leichtigkeit von ihr ausströmte, sich mit ihm verband und ihn stärkte.
Die schwarze Masse griff mit schleimigen Fingern nach ihrem Schutzwall, zog sich daran hoch und hüllte sie ein in einen Mantel aus Dunkelheit. Bald schon konnten sie den Himmel nicht mehr sehen, waren gefangen in diesem Kokon, der sanft erhellt wurde durch das Licht, das beständig aus ihnen herausströmte. Doch der Lichtschein wurde allmählich schwächer.
„Je dicker die Wand aus Dunkelheit wird, desto mehr sind wir abgeschirmt von den Lichtwesen, die uns helfen“, überlegte Richard und merkte, wie ein Funke von Panik in seinen Eingeweiden zum Leben erwachte.
Ihr Schutzwall begann sich langsam zusammenzuziehen. Stück für Stück wurde der Platz enger und die finstere Masse rückte näher. Das ganze Leid, die Angst und Verzweiflung, die in der Dunkelheit des Dämons steckten begann durch ihren Lichtschild zu dringen.
„Richard, ich halt das nicht aus!“, keuchte Sessilia. „Er spricht zu mir! Er kennt mich! Aber ich will mich nicht erinnern.“
Voller Entsetzen starrte sie ins Leere. Sie ließ seine Hand los, presste sie auf die Ohren, wie sie es in der Zelle gemacht hatte. Sofort rückten die Schatten näher, drangen durch kleine Ritzen in der Mauer aus Licht. Wie dicker Schleim troff die Dunkelheit ins Innere ihrer Festung.
„Sessilia, ich brauch dich!“
„Nein!“, schrie sie. „Er will mich. Weil ich ihn damals eingesperrt habe. Legion!“
Ein gequälter Schrei entfuhr ihren Lippen und sie schlug mit dem Kopf gegen den Boden. Blut tropfte von ihrer Stirn, als sie sich wieder aufrichtete, das Gesicht zu einer Maske des Schmerzes verzerrt.
Der Schutzwall zerbarst. Die Dunkelheit verschluckte sie. Richard sah nichts mehr. Spürte nur noch die Qual, die sein ganzes Wesen erfüllte. Schmerz. Ein unglaubliches Maß an Schmerz ergoss sich in jede seiner Poren. Doch er konnte nicht schreien. Es gab keinen Mund mehr, nur noch diese unendlich große Pein. Jegliche Gedanken waren fortgespült, er, Richard, existierte gar nicht mehr, denn es gab nur noch diese unfassbare Verzweiflung.