Für den König
von Tariq
Die eisigen Finger der Kälte stachen bei jedem Atemzug in die Brust des Jungen. Aber das unerbittliche Toben des Sturmes machte nicht nur das Atmen schwer. Mit der fast tauben Linken umklammerte Virgas den Saum seines Umhangs und hob den Arm, um sein Gesicht so vor den Eisnadeln zu schützen. Er hatte das Zeitgefühl längst verloren, stolperte durch die Nacht, folgte den Fußstapfen im knietiefen Schnee. Die wirbelnden Flocken nahmen Virgas fast die Sicht und er konzentrierte sich allein darauf, den Schlitten und die Silhouette des Mannes, der ihn zog, nicht aus den Augen zu verlieren. Es gab kein Mondlicht und weder er noch sein Vater hatten eine Hand frei für eine Fackel, die bei diesem Sturm sowieso nicht brennen würde.
Ohne Pause stapften sie voran. Es gab keine Straße, aber der Vater schien den Weg zu kennen. Seine dunkle Gestalt war kaum noch zu sehen und Virgas wäre fast über den Schlitten gestolpert, als der plötzlich anhielt.
„Wir übernachten hier“, hörte Virgas seinen Vater sagen. „Dort drüben, bei den Bäumen.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, zwängte sich der Mann mit dem Schlitten zwischen den tief herabhängenden Zweigen durch. Virgas folgte.
Die Stelle war gut gewählt. Weil die Äste der Nadelbäume hier so dicht wuchsen, erreichte der Schnee den Boden nicht.
Virgas hauchte in seine Hände, doch er beklagte sich nicht. Er war zwölf, also bald ein Mann, und er würde nicht jammern wie ein kleines Kind. Ein verstohlener Blick zur Seite zeigte ihm, dass der graue Bart seines Vaters gefroren war. Schneeflocken klebten in seinen schweißfeuchten Haaren und den buschigen Augenbrauen.
Noch immer wusste der Junge nicht, warum er mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt worden war. Sein Vater hatte ihm befohlen, alles anzuziehen, was er besaß. Virgas war der Aufforderung ohne Murren oder Fragen gefolgt. Fador Schmied war kein Freund großer Worte, das wusste der Junge, aber er hätte doch gern erfahren, warum sie den ganzen Tag schon in eisiger Kälte durch die Wildnis stapften und wohin ihre Reise ging. Was ihn am meisten wunderte: Der Vater hatte sein Werkzeug diesmal nicht mitgenommen. Wann immer man ihn als Schmied an einem anderen Ort brauchte, packte er alles ein, was er dafür benötigte. Doch heute trug der kleine Schlitten nur Decken und Felle, einen Kochkessel, zwei Schinken und zwei Brote.
Sein Vater räumte alle Sachen außer einer Decke ab. Die legte er auf die Holzstreben und wies Virgas mit einer Geste an, sich darauf niederzulassen.
„Kein Feuer“, meinte er. „Sieh zu, dass du warm bleibst, vor allem deine Füße und Hände!“
Virgas kroch tiefer in seinen Umhang und schlang die Arme um sich. „Wohin gehen wir?“
„Gondred“, stieß sein Vater hervor. „Wir müssen nach Gondred.“
Virgas riss die Augen auf. In die Hauptstadt des Nachbarreiches? Sie würden erst übermorgen oder noch später dort ankommen, wenn das Wetter so blieb. Als kleiner Junge hatte er seinen Vater schon einmal dorthin begleitet und mit offenem Mund über den geschäftigen Hafen und die auf einem Hügel thronende Burg gestaunt.
„Warum nach Gondred?“, fragte er verständnislos. „Der Fürst des Landes hat seine Grenze zu unserem Reich befestigt und seine Armee aufgestockt.“
„Aus gutem Grund.“ Sein Vater betrachtete ihn lange. „Du weißt vom Königsmord. Danach fürchtete jeder, der unseren guten König Menalos näher gekannt hatte, um sein Leben. Man raunte hinter vorgehaltener Hand, dass der Bruder des toten Königs nicht nur der Nachfolger, sondern auch dessen Mörder war. Der Fürst von Gondred, ein guter Freund von König Menalos, glaubt das ebenfalls. Deswegen ...“ Er hob hilflos die Hand. „Ich war Schmied am Hof unseres ehemaligen Königs“, fuhr er fort. „Wir sind gemeinsam aufgewachsen und auch später trotz des Standesunterschiedes Gefährten geblieben.“
„Du hast den ermordeten König gekannt?“, stieß Virgas verblüfft hervor.
Sein Vater nickte. „Als ich heiratete und auch Menalos sich eine Königin wählte, trennten sich unsere Wege. Ich ging fort von der Burg und weil drei Dörfer weiter ein Schmied fehlte, ließ ich mich mit meiner Dinah dort nieder.“
Er nickte versonnen. Sein Gesicht war im Dunkeln nicht zu erkennen. Virgas wusste, seine Eltern hatten sich sehr geliebt und der Tod der Mutter vor zwei Jahren den Vater schwer getroffen.
„Und warum sind wir jetzt auf der Flucht? Das sind wir doch, oder? Du hast dein Werkzeug nicht mitgenommen.“
„Das sind wir, du hast Recht.“ Die Stimme des Vaters hatte sich verändert. Verhaltener Zorn bebte darin. „Die Königin und ihr kleiner Sohn wurden ebenfalls tot aufgefunden. Man hat nie erfahren, woran sie gestorben sind. Und Margos, der neue König, ließ nach den Vertrauten und Freunden seines ermordeten Bruders fahnden. Es hat viele davon gegeben, weil Menalos ein Mann des Volkes gewesen war. Viele flohen nach Gondred, aber viele folgten ihrem König und Freund ins Grab. Ohne Anklage, ohne Gericht. Sie verschwanden einfach.“
„Aber dich hat er nicht gefunden!“
„Das dachte ich auch. Bis gestern Abend dieser Soldat bei uns auftauchte, weil sein Pferd ein Eisen verloren hatte. Es war schon spät, ich wollte erst gar nicht vor die Tür gehen. Wahrscheinlich habe ich deshalb auch vergessen, mir den Mann anzusehen, bevor ich mich ihm zeige. Du weißt, das tue ich sonst immer, aber gestern habe ich nicht drangedacht. Ich trat aus der Haustür und stand ihm gegenüber. Dem Stummen Sporek, einem treuen Gefolgsmann von König Margos. Er hat mich sofort erkannt, ich sah es an seinen Augen.“
Virgas dämmerte, was der Grund ihres überstürzten Aufbruchs gewesen war, doch er sagte nichts.
„Ich weiß, dass Margos noch heute Nacht von mir erfahren wird“, fuhr sein Vater fort. „Und dann ist mein Leben keinen Dreck mehr wert. Und deines auch nicht. Also habe ich die Esse gelöscht, sobald Sporek davongeritten war, das Nötigste auf den Schlitten gepackt und dich aus dem Bett geholt. Es tut mir leid, Virgas“, er hob den Kopf und sah den Jungen an, „dass du wegen mir dein Heim verloren hast. Wir werden versuchen, Gondred lebend zu erreichen, und nie nach Harasien zurückkehren.“
„Denkst du, sie folgen uns?“
„Ganz sicher. Margos hat Angst vor dem Volk. Deshalb merzt er alles aus, was seiner Herrschaft gefährlich werden könnte. Und alte Freunde seines Bruders stehen ganz oben auf der Liste. Ich glaube aber nicht, dass sie in der Nacht weitersuchen werden. Es hat fast ununterbrochen geschneit, unsere Spuren sind nicht mehr zu sehen. Außerdem gehört dieser Wald schon zu Gondred. Margos und seine Leute haben hier nichts verloren.“
„Und wenn sie Hunde haben? Dann finden sie uns vielleicht doch.“ Verbissen bemühte sich Virgas, die Furcht aus seinen Worten herauszuhalten.
„Ja, möglich.“ Ernst sah der Vater ihn an. „Aber ich hoffe, dass sie an der Grenze umgekehrt sind.“
Sie richteten sich auf den Fellen ein Lager her und schliefen, unter den Decken eng aneinandergeschmiegt, ein paar Stunden. Kaum dämmerte der Tag, drängte der Vater zum Aufbruch. Virgas schob hastig ein Stück Brot in den Mund, dann folgte er wieder dem Schlitten.
Am Mittag erreichten sie Gondred. Keine Reiter waren aufgetaucht, keine Hunde hatten sie mit ihrem Bellen angetrieben.
Das Stadttor war weit geöffnet, doch die doppelte Wache auf beiden Seiten verriet, dass der Fürst wachsam war. Virgas‘ Vater trat an einen der Posten heran. Der Mann hob misstrauisch eine Augenbraue.
„Was wollt ihr?“, fragte er.
„Ich muss zum Kommandant“, erklärte der Vater zu Virgas größtem Erstaunen. „Er kennt mich.“
„Wie ist dein Name?“
„Ich bin Fador, der Schmied.“
„Warte hier!“
Der Soldat verschwand und kehrte kurz darauf mit seinem Vorgesetzten zurück.
„Fador Schmied!“
Erstaunt sah Virgas, wie der Offizier seinen Vater lachend umarmte. „Wie viele Jahre ist es her?“
„Später, Freund“, gab der ernst zurück. „Bring mich zuerst zu deinem Fürsten. Ich habe eine wichtige Nachricht für ihn.“
Während sich Virgas noch fassungslos fragte, wieso sein Vater einen Offizier der Gondreder Stadtwache ‚Freund‘ nannte und was wohl diese wichtige Nachricht war, wurden sie zur Burg geleitet. Man ließ sie überall durch und bevor sich der Junge versah, machte er an der Seite seines Vaters einen tiefen Diener vor dem Herrscher des gondrischen Fürstentums.
„Von wem kommt deine Botschaft, Schmied, und wie lautet sie?“, hörte er den Fürsten fragen.
„Sie kommt vom ehemaligen Hofmagier des ermordeten Königs Menalos von Harasien und sie hat keinen Wortlaut, sondern ist eine Person.“ Er nahm Virgas am Arm und schob ihn nach vorn. „Ich bringe euch Prinz Rilko, Sohn von König Menalos und Königin Yania und Thronerbe von Harasien.“
Der Fürst stand auf, kam näher und musterte Virgas eingehend, der vor Schreck wie erstarrt war.
„Prinz Rilko war aschblond und ihm fehlte der rechte kleine Finger“, entgegnete der Herrscher von Gondred. „Dieser Junge hat zehn Finger und rabenschwarzes Haar!“
„Ich weiß.“ Fador Schmied senkte den Kopf. „Der Hofmagier brachte ihn in der Nacht des Königsmords zu mir. Er hatte einen Zauber über ihn gelegt, der sein Äußeres veränderte. Prinz Rilko wurde zu Virgas Schmiedsohn. Das war das Letzte, was dieser Mann und ich für unseren König tun konnten: seinen Sohn beschützen. Und das haben wir getan. Aber jetzt ist er bei mir nicht mehr sicher und ich vertraue ihn Eurer Obhut an.“
Unter seinem Kittel zog Fador eine kostbare, goldverzierte Schwertscheide hervor, die Virgas nie gesehen hatte.
„Nehmt das Schwert, Prinz Rilko“, bat er und verbeugte sich dabei. „Es gehörte dem ermordeten König, Eurem Vater, und es wird beweisen, dass Ihr sein Erbe seid.“
Zögernd streckte Virgas die Hand aus. Kaum hatten seine Finger das Schwert berührt, spürte er, wie ein Prickeln seinen Körper erfasste. Die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf und als er beide Hände um den mit Edelsteinen besetzten Griff des Königsschwerts schloss, rann ein Schauer seinen Rücken herab.
Er hörte, wie alle Umstehenden scharf die Luft einsogen. Gemurmel setzte ein und dem Fürsten entfuhr ein überraschter Laut.
Virgas drehte sich langsam um und starrte mit weit aufgerissenen Augen in den Spiegel, der an der Wand zwischen zwei Fenstern hing. Ein unbekannter Junge sah ihm daraus entgegen, mit fremdem Gesicht und mit aschblonden Haaren ...