Beiträge von Chaos Rising

    Modantwort:

    Ich hab gesehen, dass einige ihre Textkritik in einen Spoiler stecken. Ist das "Pflicht" oder so? Hab dazu nicht gefunden :D

    Nein, das ist persönliche Präferenz :D

    Es gibt verschiedene Gründe das zu machen, zb. um das Scrollen zu reduzieren oder um tatsächliche Spoiler für andere Lesende zu vermeiden
    Ob es wirklich sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt, da die Suchfunktion nichts in Spoilern findet :D

    Aber du darfst dein Feedback auch einfach so ohne Spoiler posten :D

    LG Chaos :chaos:

    So, wie versprochen hier nochmal eine Antwort:

    Kurz vorab:

    Sorry dafür dass ich vielleicht zwischendurch sauer geklungen habe. Es ist nicht immer ganz leicht, einen Text zum hundersten Mal zu präsentieren und mit dem Gefühl zu enden, es niemals zu schaffen. Wahrscheinlich reagiere ich da mal zwischendurch etwas dünnhäutig. Es ist nicht böse gemeint. Ich vergesse schon nicht, wie viel du mir schon geholfen hast.

    Das haben wir ja schon in der PN geklärt und ist auch in Ordnung - speziell zum markierten:
    das freut mich :D (Habe ich aber auch nicht erwartet, dass du das tust xD) - aber darum gings mir gar nicht. Ich habe/hatte nur das Gefühl, das meine Anmerkungen dir grundsätzlich nicht weiterhelfen, egal an wem/was das nun tatsächlich liegt. Und wenn das Feedback nur frustriert und nicht weiterhilft ... bringt es ja nix.


    so, zum eigentlichen Thema:

    Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen – idealerweise auch die Charaktere in den eigenen Geschichten, denn so wirken sie überzeugender. Bei Rouven sind Stärken und Schwächen angelegt, das ist super! Allerdings ergeben sich Diskrepanzen zwischen dem, was über Rouven gesagt wird (oder was er selbst über sich sagt) und dem, was über ihn gezeigt wird. Die Frage ist: Sind diese Diskrepanzen beabsichtigt?
    Als Ich-Erzähler (sowie in der vorherigen Version als personaler Erzähler) ist Rouven unzuverlässig/unglaubwürdig – wenn man die Geschichte durch die Augen eines PoV-Charakters erzählt bekommt, liegt das in der Natur der Sache. Das bedeutet, Rouven kann zwar behaupten, dass er ein skrupelloser Stratege und Pragmatiker ist und er kann auch versuchen, sich das einzureden, aber die Realität kann anders aussehen. Das ist auch überhaupt nicht verwerflich! Es zeigt, dass der Charakter eine verzerrte Selbstwahrnehmung hat und seine Schwächen (noch) nicht als solche sieht/anerkennt – das kann sich ja aber im Verlaufe seiner Entwicklung noch ändern. Wenn aber Rouvens innerem Monolog zu entnehmen ist „Ich bin ein richtig harter Kerl!“, er sich zugleich aber über mehrere Zeilen (vergeblich) einzureden versucht, er könne den Schmerz einer Verletzung ignorieren, dann ergibt sich daraus ein komischer bzw. lustiger Effekt: Rouvens Eigendarstellung wird ins Lächerliche gezogen. Die Realität (Aufrechterhaltung der Schmerzwahrnehmung) kontrastiert mit dem, wie Rouven sich selbst sieht oder wie er sich selbst gerne hätte (lässiges Wegstecken von Schmerzempfindungen). Das kann gewollt sein. Gerade bei arroganten Charakteren kann man dem Leser mit solchen Diskrepanzen den einen oder anderen Lacher entlocken. Aber ist es auch in Rouvens Fall so beabsichtigt? Wie soll der Leser Rouven wahrnehmen? Als eiskalten Anführer? Als jemanden, der nach außen hin so tut, als wäre er genau das, aber unter der Eisschicht verletzlich ist? Soll er wie ein Großmaul wirken, das sich selbst die tollkühnsten Fähigkeiten zuschreibt, diese Zuschreibungen aber einem Abgleich mit der Realität nicht standhalten? Oder doch ganz anders? Erst, wenn wir Forennutzer das wissen, können wir vielleicht spezifischere Tipps geben, wie du das Ganze im Text umsetzen könntest bzw. was passieren muss (oder nicht passieren darf), damit Rouven so auf uns wirkt, wie du es möchtest.
    Unten habe ich mal gegenübergestellt, inwiefern Rouvens Selbstdarstellung mit seinem tatsächlichen Handeln/Aussagen/Gedanken kontrastiert. Also quasi ein show vs. tell.

    Kapitel 2 – Rouven

    AspektWas erzählt wirdWas gezeigt wird
    Fähigkeit als
    Anführer

    Rouven wird als fähiger, skrupelloser Anführer beschrieben, der Risiken eingeht, um sich die Gunst des Königs zu sichern.

    „Wenn ich das hier durchziehe, wird der König nicht mehr an meinen Fähigkeiten zweifeln.“

    Rouven gibt klare Befehle, organisiert sein Team effektiv und nutzt strategisch Illusionen und Flugformationen.
    Allerdings ist er emotional reaktiv, z. B. als er wütend wird und droht, den Tempel niederzubrennen.

    »Wir sind hier, um das Weib zu holen, und wir holen es! Und wenn wir den Tempel in Brand setzen müssen!«

    Taktisches Geschick

    Rouven wird als erfahrener Taktiker mit strategischem Denken dargestellt, der schnell auf Veränderungen reagieren kann.

    „Doch jeder einzelne meiner Soldaten weiß genau, was er zu tun hat.“

    Seine Planung (z. B. Einsatz von Magie) zeigt Taktik, doch impulsive Entscheidungen – wie der überstürzte Versuch, die Prinzessin zurückzuholen – trüben dieses Bild. Zudem fehlt oft ein Plan B, z. B. als Samir die Prinzessin tragen muss.

    „Meinen Vorschlag, besser den Palast für den Brautraub zu wählen und nicht einen Tempel voller Zauberinnen, hat der König kommentarlos abgelehnt.“ — Gerade hier wäre es wichtig, zu zeigen, dass Rouven für das gefährlichere Szenario, den Brautraub aus dem Tempel, Asse im Ärmel und Ausweichpläne hat. Letzteres ist mit Shandor, der im Notfall die Prinzessin tragen soll, zumindest angelegt.

    „Irgendwas hat muss ihn [Asmantjar] behindert haben. Verdammt. Nun gut, dann nehme ich sie selbst.“ — Das erscheint unklug, weil Rouven nicht fliegen kann und doch eigentlich Shandor die Rückendeckung hätte übernehmen sollen, wenn Asmantjar versagt – wirkt wie eine Kurzschlussentscheidung von Rouven.

    Pragmatik und Loyalität

    Er bleibt seinem Auftrag treu, auch wenn er moralische oder persönliche Zweifel hat.

    „Ein Befehl ist ein Befehl.“

    Sein Zögern angesichts der Schwangerschaft der Braut wirkt emotional und sentimental. Zudem handelt er gelegentlich überstürzt, was nicht zu seiner beschriebenen Pragmatik passt.

    „Eigentlich hätte ich längst das Kommando zum Angriff geben sollen. Doch ich zögere. Der dicke Bauch der Braut irritiert mich. […] Gewaltsam zwinge ich den Aufruhr in meinem Inneren nieder.“

    Ehrgeiz und Besessenheit

    Rouven ist ehrgeizig und darauf fixiert, sich zu beweisen. Sein Fokus liegt auf dem Erfolg seiner Mission.

    „Ich versiebe keinen Auftrag!“

    Sein Ehrgeiz lässt ihn manchmal die Konsequenzen ausblenden, z. B. wenn er trotz Chaos und Verlust der Prinzessin die Mission um jeden Preis fortsetzen will.

    „Wir sind hier, um das Weib zu holen, und wir holen es! […]“

    Skrupellosigkeit

    Rouven wird als kaltblütig und furchteinflößend dargestellt, z. B. durch seine Drohungen und Tötungen.

    „Tritt mich noch einmal und ich beiße dir die Kehle durch!“

    Seine Skrupellosigkeit wird durch Handlungen wie das Töten des Bräutigams gezeigt, wirkt aber inkonsistent, da er in anderen Momenten (z. B. bei der Braut) ungewöhnlich zögert oder sentimental reagiert:

    „Offenbar will er sich eine Lektion abholen. Ich schlage ihm in einer einzigen Bewegung die Waffe aus der Hand und stoße meine Klinge in das Herz des Gegners, der röchelnd vor mir zu Boden sinkt.“ — Bezug auf Bräutigam.

    vs.

    „Doch ich zögere. Der dicke Bauch der Braut irritiert mich. […] Gewaltsam zwinge ich den Aufruhr in meinem Inneren nieder.“ — Bezug auf die Braut.

    Physische Stärke

    Rouven wird als starker, kampferprobter Kämpfer beschrieben, der mehrere Gegner gleichzeitig bekämpfen kann.

    „Ich durchbreche die Gegenwehr des Soldaten und schlitze ihm die Kehle auf.“

    Samir, der die Prinzessin trägt) relativieren seine Stärke. Dies macht ihn zwar menschlicher, schwächt aber seine imposante Präsenz.

    „Ein heftiger Schmerz im Fuß raubt mir fast den Atem. […] Beinah wäre ich gleich wieder gefallen, kann kaum auftreten. Der Fuß … Aber ich beiße auf die Zähne. Irgendeine Schwäche kann ich mir jetzt nicht erlauben. […] Verdammter Schmerz im Fuß, ich könnte schreien. Aber ich muss weg hier. Ob es beim Gehen sticht oder nicht, muss ich ignorieren können.“ — So lange, wie Rouven darauf herumreitet, scheint es nicht so, als könnte er den Schmerz ignorieren.

    VerwundbarkeitEs wird angedeutet, dass Rouven trotz seiner Stärke nicht unverwundbar ist. Er wird gelegentlich verletzt und übermannt.

    Seine Verletzungen werden zwar thematisiert, wirken aber inkonsistent: Einerseits sind sie schwerwiegend, andererseits spielt er sie herunter – was trifft zu? Dafür, dass Rouven sich lange mit Gedanken über seinen verletzten Fuß aufhält, wird die Wunde beim Kampf gegen die Soldaten aber nur beiläufig erwähnt erwähnt und scheint Rouven nicht sehr zu behindern – die Verletzungen wirken folgenlos.

    „Vorn marschiert ein Aufgebot von gut einem Dutzend Kämpfern und zu den Seiten bilden sie einen Ring, der mich umzingelt. Das rettende Seil verliert sich unerreichbar hinter ihnen. Wenigstens stehe ich schon wieder fester auf dem verknackten Fuß. Einer der Wächter hechtet auf mich los. Blitzschnell kracht Stahl auf Stahl. Ich durchreche die Gegenwehr des Soldaten und schlitze ihm die Kehle auf. Kaum habe ich meine Klinge wieder zurückgezogen, als drei neue
    Gegner angreifen. Hastig springe ich zwei Schritte zurück.“

    ImpulsivitätEs wird nicht direkt erzählt, dass Rouven impulsiv ist – er wird als überlegt und strategisch dargestellt.

    Seine Handlungen zeigen jedoch eine impulsive Natur, z. B. der überstürzte Kampf gegen den Bräutigam oder die emotionale Eskalation im Tempel. Diese Impulsivität widerspricht seinem Bild als kühler Planer.

    »Wo ist das Weib?«, grolle ich, gefährlich angespannt.

    »Sag nicht, du hast sie fallen lassen!«

    »Wo ist jetzt die Prinzessin, beim Orkus?«, brülle ich.

    »Halt dein verdammtes Maul!«

    Gerade bei den Gesprächen mit den Kameraden wirkt Rouven nicht wie ein Anführer, der mit Autorität spricht, sondern eher wie ein Gleichrangiger, der (zugegebenermaßen) angepisst ist.

    Emotionale Kontrolle

    Rouven wird als kalter Pragmatiker beschrieben, der persönliche Gefühle hinter seinem Auftrag zurückstellt.

    „Hätte das nicht einer der Spione im Voraus erfahren und uns vorbereiten können? Aber passiert ist passiert. Ich muss die Sache lösen.“

    Seine Frustration (z. B. über Karashs Tod) und seine Unsicherheiten brechen gelegentlich durch. Diese emotionalen Reaktionen wirken zwar menschlich, stehen jedoch im Widerspruch zu seiner kalten, professionellen Persona.
    Selbstbild als Anführer

    Rouven sieht sich als kompetenten, furchtlosen Anführer, der keinen Rückzug akzeptiert.

    „Wir sind hier, um das Weib zu holen, und wir holen es!“

    Seine Abhängigkeit von Fliegern (da er keine Flügel hat) und andere Schwächen stehen im Widerspruch zu diesem Selbstbild. Zudem wirken einige seiner Entscheidungen unklug, was sein Ansehen als Anführer mindern könnte.

    „Ich hasse es, in der Luft auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein und nicht an vorderster Front zu segeln.“

    Zusammengefasst:

    ÜbereinstimmungDiskrepanz
    Rouven wird sowohl im Erzählen als auch im
    Zeigen als ehrgeiziger und fähiger Anführer
    dargestellt.
    Seine Impulsivität steht im Widerspruch zur
    beschriebenen strategischen Klugheit.
    Seine Skrupellosigkeit wird durch
    Handlungen (z. B. Mord, Drohungen)
    konsistent illustriert.
    Seine emotionalen Momente (z. B. Zögern bei
    der Braut) widersprechen dem Bild eines
    kalten, pragmatischen Anführers.
    Seine Verwundbarkeit wird in beiden
    Bereichen thematisiert, was ihn
    menschlicher macht.
    Seine körperliche Abhängigkeit (z. B. von
    Samir) schwächt seine Position als
    unabhängige, dominante Figur.
    Sein Ehrgeiz und Stolz treiben ihn an, was im
    Erzählen und Zeigen sichtbar wird.
    Der Kontrast zwischen seiner Verletzlichkeit
    und seinem Selbstbild als furchtloser
    Anführer wirkt nicht immer bewusst
    inszeniert, sondern wie ein unbeabsichtigter
    Widerspruch.

    Ich hoffe, das hilft, zu illustrieren, was ich meine.

    Und noch zur Sicherheit: Ravens Denken und Handeln darf sich unterscheiden und sogar entgegengesetzt sein - WENN das auch so gewollt ist. Es kann ja sein, dass er nach außen hin ein systemtreuer Lakai ist aber im inneren schon lange zweifelt etc. Wenn das so geplant ist - super! Das ist interessant! Ein sehr schönes Beispiel wo Gedanken und Aussagen sich massiv widersprechen und dennoch einen kohärenten Charakter ergeben ist Bremer dan Gorst aus Joe Abercrombies "The Heroes" (und anderen, aber in dem Buch ist er ein POV Char, da bekommt man das mit, sonst eben nicht, weil er nach außen hin konsistent ist.
    Aber genau das ist der Punkt: Seine Gedanken sind in sich konsistent und sein Handeln ist in sich konsistent - nicht mal so mal so. (Das könnte auch sein, aber das ist dann schon nahe an psychisch kranken Charakteren und muss WIRKLICH gewollt sein, daher lassen wir das jetzt mal außen vor, weil ich nicht das Gefühl habe, dass du das für Rouven möchtest.)

    Für Raven würde das bedeuten, dass er sich z.B. in seinen Gedanken und wenn er erzählt IMMER als perfekten Anführer darstellt, der nie einen Fehler in der Planung macht - aber seine Handlungen oft zeigen (im Subtext oder Aussagen/Reaktionen seiner Kameraden- das darf er dann natürlich nicht selbst aussprechen), dass dem nicht so ist.
    Willst du diesen Innen-Außen Konflikt nicht, dann muss das zusammenpassen. Dann müsste er sich immer als perfekten Anführer darstellen, der nie einen Fehler in der Planung macht - und das muss dann auch so sein. Seine Pläne müssen funktionieren, seine Kameraden das durch Aussagen/Reaktionen bestätigen etc.

    All das heißt natürlich nicht, dass er sich nicht ÄNDERN kann - aber das braucht einen Grund und Zeit. Anfangs sollte er konsistent (ob mit oder ohne Konflikt) sein. Zudem braucht man als Leser ja eine "Grundeinstellung" bzw. eine Erwartungshaltung, damit man eine Charakterentwicklung bemerken ung wertschätzen kann.
    Z.B., wenn gewollt sein sollte, dass Rouven nach außen hin ein kühler Stratege ist, innen einen weichen Kern hat und erst lernen muss, sich auch nach außen hin verletzlich zu geben: So jemand sagt es ggf. skrupellose Dinge und tut sie auch, formuliert in Gedanken aber Hemmungen. Diese Hemmungen dürfen aber nicht gleich Einfluss auf das Handeln haben, sondern der nach außen gelebte Einfluss der Hemmungen IST die Charakterentwicklung. D.h. bis dahin erwartet der Leser das übliche Handeln (Char formuliert im inneren Monolog zwar Skrupel, lässt sich davon aber nicht abhalten). Dann, im Laufe der Geschichte, lernt der Char, dass er auch anders handeln könnte und lässt sich schließlich von seinen Zweifeln abhalten.

    LG Chaos

    Hallo Kirisha

    Ich denke: In dem Moment, wo man über die Verletzungen nachdenkt, wirkt das halt "verletzlich" auch wenn das eine natürliche Reaktion ist


    Es kommt meiner Meinung nach darauf an, WIE man über eine Verletzung nachdenkt. Man kann eine Verletzung katastrophisieren, aber man kann sie auch als Kleinigkeit abtun. Das Nachdenken alleine macht noch keine Verletzlichkeit aus.

    Vergleiche (Beispiele, keine Belehrung, das genau so zu machen)

    Typus Badass

    Zitat


    "Scheiße, Mann, das muss genäht werden!"
    Er betrachtete seinen Arm, den sich ein dünner Schnitt hinaufschlängelte. Zugegeben, die Wundränder klafften ein bisschen auseinander. Nichts, was ein fest sitzender Verband nicht richten könnte.
    "Pff!", schnaubte er. "Is' nur 'n Kratzer. Gib mir 'n Stofffetzen, das langt!"

    Typus Memme

    Zitat


    "Scheiße, Mann, das muss genäht werden!"
    Er betrachtete seinen Arm, den sich ein erschreckend langer Schnitt hinaufschlängelte. Die Wundränder klafften auseinander – verdammt, schimmerte da etwas Weißes unter all dem Blut? War das ... war das der Knochen? Es war der Knochen, oder?
    Ein schwarzer, flimmernder Kreis breitete sich von den Augenwinkeln aus in seinem Sichtfeld aus. Er wandte sich ab und starrte in die Ferne, bloß nicht auf den Arm.
    "Hmh. Dann näh es", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sein Magen verkrampfte sich unangenehm. Besser, er hielt fürs Erste den Mund geschlossen.

    ______________________________________

    Und ja: Es gibt auch so Typen, die meinen, Verletzungen ignorieren zu können und da drüber zu stehen (Hatte gerade im Urlaub genau so eine Diskussion mit meinem Mann darüber, der sich drei tiefe Schnittwunden im Fuß nach dem Baden im scharfkantig-felsigen Meer einfach nicht verbinden lassen wollte. "Nö ach was. Lass mal, das geht schon so." Und dann einen Tag später alles rot und vereitert und tolle Entzündungen überall. Es gibt Idioten unter Männern! Ist sogar ziemlich typisch. Auch wenn du vielleicht vernünftiger bist.)


    Ja, es gibt solche Leute. Das Problem ist, dass man Rouven zu keinem Typus zuordnen kann, weil er sich auf der einen Seite über Kopfweh und Übelkeit beschwert, auf der anderen aber eine "Scheiß drauf"-Mentalität an den Tag legt, was seine mutmaßlich punktierte Lunge anbelangt, die objektiv eine sehr viel schlimmere Angelegenheit ist als Kopfschmerz und Übelkeit wegen einer mutmaßlichen Gehirnerschütterung.

    Anders gesagt: WIE Rouven über seine Verletzungen nachdenkt, ist inkonsistent. Diese Inkonsistenz könnte man für einen tollen Effekt nutzen, wenn innere Wahrnehmung und äußere Präsentation kontrastiert werden. Stattdessen aber liegt der Bruch schon im inneren Monolog vor. Dazu gleich mehr.

    Wenn ich will, dass es nicht "verletzlich" wirken soll, dann müsste er die Verletzung "ignorieren". Wenn ich das aber aus seiner Perspektive schreibe, müsste ich es dann aber tatsächlich "ignorieren" d.h. weglassen ... und erreiche dann aber keinen Effekt. Ich könnte dann nur irgendeine Begründung suchen warum er das jetzt ignoriert. Die möglichst nicht gekünstelt klingt.

    Siehe die Beispiele oben. Es kommt auf das WIE des Nachdenkens an. Wenn ihm die Verletzungen wumpe sind und wir ihm abnehmen sollen, DASS sie ihm wumpe sind, dann muss er die Verletzungen konsequent als wumpe hinnehmen. Innen wie außen. D.h. er müsste die Verletzungen im inneren Monolog als Lapalie abtun und auch so handeln. Wenn er gefragt wird, wie schlimm es ist, dann müsste er sich nichts anmerken lassen. Wenn er selbst über die Verletzungen nachdenkt, dann müsste er sie als belanglos abtun. Nur, WEIL er über eine Verletzung nachdenkt, macht ihn das nicht sofort weinerlich.

    Zudem kommt hier wieder der Faktor ins Spiel, ob er innerlich genauso denkt, wie er sich nach außen präsentiert: Sind ihm die Verletzungen WIRKLICH egal? Ist das seine handfeste Überzeugung? Oder geht es mehr um eine Präsentation nach AUSSEN hin? Will er VERMEIDEN, anderen gegenüber schwach zu wirken, obwohl er heftige Schmerzen hat? Dann müsste ein Kontrast aufgebaut werden zwischen dem, was er SAGT und dem, was er DENKT. Beispiel: Einer seiner Männer fragt Rouven, ob er Schmerzen hat. Zwischen zusammengebissenen Zähnen und in bemüht lässigem Ton entgegnet Rouven, dass es schon geht und er keine Hilfe braucht. Kaum dreht der Kamerad sich um oder zieht von dannen, lässt Rouven das Getue fallen und denkt darüber nach, dass es ihm ziemlich dreckig geht.

    Ich denke es hilft auch schon, wenn ich den Abschnitt, den Ichuebenoch herausgehoben hat, einfach etwas kürze damit Rouven nicht so lange auf dem Thema herumreitet.

    Okay. Also SOLL er wie ein badass rüberkommen? IST das die Intention? In dem Fall sollten sowohl das Nachdenken über die Verletzungen als auch die Handlungen und Aussagen nach außen hin einen konsistenten Ton haben (lässig, abwinkend).

    Naja wie auch immer.
    Es tut mir Leid, aber ich habe das Gefühl, mein Feedback bringt dich nicht voran bzw. ärgert dich mehr. Das ist natürlich nicht mein Ziel, weshalb ich mich entschieden habe, mich hier erstmal rauszuhalten. Ich hoffe, die Rückmeldungen der Anderen nützen dir mehr und wünsche dir viel Erfolg!

    LG Chaos :chaos:

    Hier ist es mal ganz krass dass Chaos Rising gemeint hat ich hätte mit der "Härte" auf unplausible Weise übertrieben, während du an dieser Stelle findest, dass es weinerlich rüberkommt. Offenbar kann das also sehr verschieden ankommen.

    Meine Aussage war dass ich ihm die Härte und sein Badass-Dasein nicht abnehme, auch wenn er es noch so oft erwähnt.

    Das Weinerliche widerspricht meiner Aussage also nicht, sondern unterstützt sie.

    Was stört, ist ja gerade NICHT, wenn Rouven mal "weinerlich" darüber nachdenkt, was für Wehwehchen er hat. Was stört, ist, dass er ZUSÄTZLICH und im GEGENSATZ dazu immer wieder betont, wie egal ihm die Wehwehchen sind.

    Das passt halt nicht zusammen.

    Wenn man aufgrund solcher sicherlich wissenschaftlich fundierter, aber auch sehr abstrakter Erwägungen Geschichten schreiben wollte, könnte das doch sehr blutleer werden. Wie malen nach Zahlen. Ob das funktionieren kann?

    Ich muss gestehen ich habe deine Antwort jetzt ... lange angestarrt und war etwas sprachlos :rofl:
    Der Sinn der Übung ist ja gerade, dass es NICHT "blutleer" wird. Sondern, dass man sich Gedanken macht, wie man das Ziel, das man sich setzt eben erreichen kann. Klar kann man sagen, dass es einem zu dumm ist, sich mit der Theorie dahinter zu befassen, aber diese Theorie existiert ja gerade, WEIL ES FUNKTIONIERT. Von daher verstehe ich die Frage "ob das funktionieren kann" nicht und finde sie ehrlichgesagt auch albern.
    Die (moderne) Literaturtheorie dient in erster Linie dazu, Phänomene in Texten (wertungsfrei) zu beschreiben, um sie daraufhin (wertungsfrei) zu interpretieren. Dass man die literarischen Phänomene aber überhaupt benennen kann, setzt eben voraus, dass die auch da sind. Anders ausgedrückt: Es muss sich um wiederkehrende Muster/Elemente handeln, die man immer und immer wieder beobachten kann und die (in aller Regel) spezielle Zwecke erfüllen.

    Man muss es nicht so machen, aber wenn man das Handwerk beherrschen will, muss man sich halt auch damit befassen.
    Man kann auch einen Tisch bauen, ohne eine Ahnung von Schreinerei und Holzbearbeitung zu haben, man kann vermutlich sogar Dinge drauf stellen und darauf essen. Aber es ist wahrscheinlich, dass irgendwas wackelt, der Tisch nicht ganz gerade ist und halt auch aussieht, als hätte man ihn in 2 Minuten zusammengeschraubt. Wenn man halt einen geraden, stabilen Tisch will, der im Idealfall auch noch gut aussieht, muss man sich eben mit dem Handwerk beschäftigen und lernen, wie man richtige Holzverbindungen macht, wie man Holz abrichtet etc. Man braucht das richtige Know-How und das richtige Werkzeug.
    Klar, man kann die Schraube auch mit dem Daumennagel ins Holz drehen, aber irgendwann stellt man fest, dass der Weg zum Werkzeugkasten (und nichts anderes ist die Literaturtheorie) sich lohnt, weil man da vielleicht einen Schraubenzieher findet mit dem das deutlich einfacher geht. Und wenn man dann noch ein bisschen weiter schaut stellt man vielleicht sogar fest, dass es eine Kreuzschraube ist, die man grade mit dem Schlitzschraubenzieher eindreht und es vielleicht ein NOCH besseres Werkzeug dafür gibt ...

    Anderes Beispiel:
    Beim Zeichnen kann man auch einfach eine Person drauflos zeichnen - da wird dann voraussichtlich irgendwas mit der Anatomie, der Perspektive etc. nicht stimmen. Wenn ich möchte, dass das am Ende so beim Betrachter ankommt, wie ich es mir vorstelle, muss ich mich halt mit der Anatomie eines Menschen befassen und wissen, welche Muskeln wo wie verlaufen und wie sie sich in verschiedenen Posen verhalten. Genauso muss ich mir Gedanken machen, wie der Lichteinfall sich auf den Schattenwurf auswirkt, wie Faltenwurf funktioniert etc.

    Warum sollte das also beim Schreiben anders sein? Ich kann ohne irgend was zu wissen, einfach mal drauf los schreiben und schauen was passiert. Haben wir alle gemacht, aber am Ende kommt halt nix raus, was veröffentlicht werden wird (oder zumindest sollte ...).
    Ich habe den Anspruch an mich, ein möglichst gutes Ergebnis für meine Geschichte zu erzielen und nicht, möglichst schnell fertig zu werden. Wenn das bei dir/jemandem anders ist - bitte. Tu dir keinen Zwang an und schreib einfach drauflos xD

    Ich verstehe auch wirklich die (scheinbar verbreitete) Abneigung gegen diese Art der Auseinandersetzung mit unserem gemeinsamen Hobby nicht. Ich glaube, dass dem Forum und ALLEN darin sehr geholfen wäre, wenn das Feedback ein paar Fachbegriffe und theoretische Grundlagen enthält. Dann wäre es für die Kommentatoren einfacher zu erklären, warum zum Beispiel der Ich-Erzähler eben NICHT nah am Charakter ist, obwohl es doch ein Ich-Erzähler ist. Und für den Autoren wäre es sehr viel leichter nachzuvollziehen was mit so einer Kritik gemeint ist (oder Gott bewahre: die Kritik ganz zu vermeiden, weil man es gar nicht erst so weit kommen lässt).

    Das Ziel ist ja nicht, dass hier jeder erstmal eine Bachelorarbeit über Literaturtheorie schreibt, sondern dass man ein gemeinsames Vokabular hat um Dinge zu benennen.
    Warum das wichtig ist? Weil man sonst aneinander vorbei redet und sich beide Parteien denken, warum der andere so seltsame Dinge sagt, obwohl beide die gleiche Meinung hätten, wenn ein gemeinsames Vokabular da wäre.

    Als Beispiel:
    Meine Geschichte ist in 3. Person erzählt, planmäßig mit geringer narrativer Distanz.
    Ich habe oft den Kommentar bekommen, dass gewisse Abschnitte "auktorial" wären - also eine andere Erzählform. Waren sie aber (auch nach langer Recheche und Fragen an Leuten die es besser wissen als ich) nicht. Damit war das Thema für mich erledigt, weil ich die Kritik als ungerechtfertigt abgetan habe. Das war sie schließlich so wie sie dastand auch.
    Erst als ich gelernt habe, was narrative Distanz ist, kam mir der Einfall, dass vielleicht nicht wirklich auktorial gemeint war, sondern eben eine zu hohe Distanz - und siehe da, das war auch so. Wenn also der Kommentar einfach gesagt hätte "Hey Chaos, die Narrative Distanz in diesem Abschnitt ist viel höher als im Rest des Kapitels" und ich dann ein Konzept von "Narrativer Distanz" gehabt hätte, wäre sofort klar gewesen, um was es geht. Ich hätte meine Geschichte verbessert, wäre meinem Ziel, nahe am Charakter zu sein, näher gekommen und der Verfasser des Kommentars hätte sich nicht denken müssen, was ich für ein sturer Trottel bin, weil ich den gerechtfertigten (wenn auch falsch formulierten) Hinweis einfach ignoriere. :pardon:
    Alleine DARUM lohnt es sich imo, sich damit im Forum auseinanderzusetzen. Man muss den Bums ja nicht auswendig lernen, wenn man nicht möchte und ihn auch nicht anwenden, wenn man meint es besser zu wissen (oder einen guten Plan davon hat, was man macht), aber soweit, dass man weiß was gemeint ist ...

    Also warum zum Teufel sollte ein Text, an den man mit ein bisschen Theorie im Hintergrund rangeht auf einmal Blutleer wirken? DIe Geschichte, die am Ende rauskommt hat doch nicht den gleichen Stil wie der Post von oben - das IST ein theoretischer Text und wenn ich eine Geschichte so schreiben würde, ja, dann wäre das vermutlich scheiße und mechanisch. Diese Dinge schreibt man ja in der Geschichte nicht auf, sondern macht sich beim/vorm Schreiben darüber Gedanken. Deine Antwort liest sich als ob du meinst, dass, nur weil man auf die eine oder andere Weise die Theorie einfließen lässt, müsse man im Text dann auch sehen, dass der Schreiber da nach irgendeinem Schema X vorgegangen wäre und deswegen müsse der Text zwangsläufig trocken wirken. Dem ist aber überhaupt nicht so. Wie gesagt: Diese Dinge sind so subtil, dass man sie beim Lesen aus reinem Vergnügen gar nicht unbedingt merkt. Erst, wenn man dann mal darüber nachdenkt, wieso der Autor an dieser oder jener Stelle dieses oder jenes tut, kommt man vielleicht auf die zugrundeliegenden Werkzeuge, die da angewandt wurden. Um bei dem Beispiel mit dem Tisch zu bleiben: Da lasse ich meinen Schraubenzieher ja auch nicht drauf liegen, wenn ich ihn mir dann ins Wohnzimmer stelle :D
    Aber wenn ich einen Erklärtext schreibe, wie eine Geschichte, dann steht viel im Subtext und die Erfahrung hat mir gezeigt, dass der sehr oft nicht ankommt.
    Der Text oben soll nicht unterhalten, er soll Informationen vermitteln (und ist etwas aufgelockert).

    Ehrlichgesagt finde ich es frustrierend, sich die Mühe zu machen, einen Post zu verfassen, der Leuten helfen soll (und dürfte), die Probleme zu verstehen, die Leser mit ihren Geschichten haben, und dann als Antwort im Wesentlichen ein (ja, ich weiß, es ist nur "eine" Antwort - frustriert dennoch^^) "Das ist mir zu theoretisch und funktioniert eh nicht" zu bekommen. Sorry, aber dann bleib(t) halt unwissend, ich habs versucht^^ Bzw. Acala, die hat einen Großteil davon geschrieben und ohnehin daran gezweifelt, dass die Mühe hier im Forum auf fruchtbaren Boden fällt und ich musste sie überzeugen, es dennoch zu versuchen.

    Mir persönlich hat es sehr weitergeholfen und es fühlt sich weder beim Umsetzen noch beim Lesen danach irgendwie Blutleer oder mechanisch an, was - ich wiederhole mich - DER SINN DER ÜBUNG IST!
    Abgesehen davon hilft es mir sehr, zu verstehen, warum ich manche Geschichten so gerne mag (oder zumindest nen Teil davon) und kann die entsprechenden Werke auch besser würdigen. (So, wie ein einfacher, aber schön verarbeiteter Holzwürfel nur so lange unimpressive ist, wie man nicht weiß, wie schwierig es ist, einen Würfel zu bauen, der tatsächlich ein Würfel ist und keine Fugen hat wie der Marianengraben etc.)

    Meine Güte ...
    Chaos :chaos:

    PS: Ja, ich weiß, dass das viel Text für "sprachlos" war. :D


    EDIT: lol timing

    Nehmen wir an, jemand beschliesst, als Autor aktiv werden zu wollen. Als erstes studiert er die von Chaos Rising vorgestellte Theorie in aller Ausführlichkeit und macht sich dann ans Werk.

    Niemand hat gesagt, dass man das machen muss (oder sollte), BEVOR man generell mit dem Schreiben anfängt... Der Punkt ist, dass man sich damit auseinandersetzen sollte, wenn man vorhat das ganze ernsthaft zu betreiben oder gar ein Vollzeit-Autor-sein Anstrebt.

    Aber für viele Autoren könnten diese als Hilfsinstrumente dienen. Sie dürfen eben nur nicht die Phantasie töten.

    Was genau tötet denn da die Phantasie? Erklär mir das bitte. Wie tötet die Tatsache, dass ich meine Vorstellung von einer Geschichte und damit meine PHANTASIE besser umsetzen kann meine Phantasie? Es ändert absolut gar nichts daran, wie viel Phantasie ich aufwenden muss oder "darf".

    Nachdem dieses Thema im Forum gerade zu einigen Diskussionen führt, habe ich mir gedacht, ich mache mal einen Thread speziell dazu auf.
    Nach einigen Gesprächen mit Acala darüber hat sie mir empfohlen, mich mit Erzähltheorien auseinanderzusetzen, um diese Dinge besser zu durchblicken und was soll ich sagen ... es klappt :D
    Ich denke, dass dem Forum ein bisschen Theorie nicht schadet (ich nehme mich selbst da nicht aus :D ), daher habe ich in Zusammenarbeit mit ihr den folgenden Text zusammengestellt (sie primär, cookies where cookies are due) und versucht, das Thema mal ein bisschen näher zu beleuchten.

    Achso: weiter unten kommen ein Paar Beispiele und Aussagen, die hier im Forum so zu lesen waren - wenn ihr eine davon als Eure wiedererkennt, nehmt das bitte nicht persönlich, es geht nur um die Aussage an sich (darum ist das Zitat auch jeweils neutral).


    Vorbemerkung: Achtung, dieser Beitrag enthält ein paar theoretische Absätze. Ich verspreche, dass der Großteil dieses Beitrags zugänglich(er) und mit praktischen Anwendungsbeispielen versehen ist. Allerdings bin ich der Meinung, dass es spätestens, wenn man es so ernst meint, dass man eine Publikation anstrebt, Zeit wird, sich mit dem Schreiben als Form des Handwerks zu befassen. Das schließt für mich die Kenntnis über grundlegende literaturwissenschaftliche Zugänge ein. Keinesfalls muss das eine trockene oder dröge Lektüre sein. Inzwischen gibt es sehr viele gute und online verfügbare Ressourcen, in denen diese Ansätze für Laien aufbereitet werden. Nein, man muss dafür nicht studiert haben. Bei näherem Interesse empfehle ich eine Google Suche mit den Begriffen: narrative Distanz, narrativer Modus, dramatischer Modus, Erzähltheorie von Gérard Genette, Erzähltheorie von Franz Stanzel. Und auf Englisch: narrative distance, limited point of view, tight point of view.


    Narrative Distanz – was ist das eigentlich?

    Der Begriff der narrativen Distanz kann unter anderem auf die strukturalistische Erzähltheorie Gérard Genettes zurückgeführt werden – er spricht hier von Distanz/Mittelbarkeit und unterscheidet zwischen dem narrativen Modus sowie dem dramatischen Modus. Der narrative Modus ist gleichbedeutend mit hoher narrativer Distanz, der dramatische Modus mit geringer narrativer Distanz. Der Unterschied? Nun, im narrativen Modus wird das Geschehen von einem deutlich hervortretenden Erzähler berichtet, wohingegen der Erzähler im dramatischen Modus hinter den PoV-Charakteren zurücktritt. Beide Modi des Erzählens existieren auf einer Skala – das bedeutet, es ist möglich, die narrative Distanz zu modulieren, indem man ran- oder rauszoomt.


    Beispiele: Schrittweise Verminderung der narrativen Distanz

    Enorme narrative Distanz

    Zitat

    Es war der 15. August 1686, als Sir Bob Bobby Bobson das Haus verließ. Der junge Aristokrat hasste die Sommerhitze.

    Bemerkung: Das ist sehr distanziert. Der Erzähler berichtet objektiv und aus der Außenperspektive heraus: Die beiden Sätze lesen sich, als würde der Erzähler von oben auf das Geschehen herabschauen und die Emotionen des Charakters schlichtweg behaupten (telling) ohne sich wirklich in den Charakter hineinzuversetzen.

    Woran merkt man das? Da wäre einmal die genaue Datumsangabe. Wie viele Menschen kennt ihr, die jedes Mal, wenn sie sich auf den Weg zur Arbeit machen, denken: „Heute ist der X. des Monats Y des Jahres Z“? Ich würde behaupten, dass kein organischer Gedanke ist, den ein durchschnittlicher Mensch tagtäglich hegen würde. Dazu kommt die Nennung des vollen Personennamens unter Zusatz des Titels. Selbes Prinzip wie zuvor: Ist es ein organischer Gedanke für eine durchschnittliche Person, auf sich selbst mit ihrem vollen Namen zu referieren? Vermutlich eher nicht. Und der letzte Aspekt: die Verwendung des Synonyms der junge Aristokrat für Sir Bob Bobby Bobson. Auch hier würde ich behaupten, dass die wenigsten Leute über sich selbst in solchen Synonymen nachdenken.

    (Ja, ich weiß: Die meisten Menschen werden in ihrem inneren Monolog wohl ein ich verwenden – oder gar kein Pronomen, weil das ein reflektierender Zwischenschritt über das Selbst wäre. Aber ich möchte hier die These vertreten, dass auch personale Erzähler (oder: Er/Sie-Erzähler) so nah (ha, oder so fern …) an die Charaktere heranrücken können wie Ich-Erzähler (zu den Gesellen später mehr), bloß dass die verwendeten Pronomen statt ich eben er/sie lauten und regelmäßig der Charaktername genannt wird. Also: Mir ist schon klar, dass ich in meinem eigenen inneren Monolog nicht mit meinem Vornamen auf mich selbst verweise. Es geht mit lediglich darum, zu zeigen, wie man bei personalen Erzählern schreibtechnisch möglichst nah an eine authentisch anmutende Selbstwahrnehmung herankommt.)


    Große Narrative Distanz

    Zitat

    Sir Bob Bobby Bobson verließ am 15. August 1686 das Haus. Die Sommerhitze war ihm ein Graus.

    Bemerkung: Wir kommen ganz langsam näher heran. Das auktorial wirkende [e]s war vor der Datumsangabe ist getilgt. Der Erzähler wirkt jetzt weniger allwissend, aber noch immer sehr distanziert.


    Moderate narrative Distanz

    Zitat

    Am 15. August 1686 trat Sir Bob Bobby Bobson vor die Tür und verzog das Gesicht. Diese brütende Sommerhitze – unerträglich!

    Bemerkung: Wir zoomen ran. Mit verzog das Gesicht haben wir nun eine konkrete physische Reaktion von Bob vor Augen. Der Ausruf im zweiten Satz gibt uns zudem einen, wenn auch noch immer etwas gefilterten, Einblick in Bobs Gedankenwelt.


    Geringe narrative Distanz

    Zitat

    Die Hitze schlug ihm entgegen, sobald er die Tür öffnete. Bob kniff die Augen zusammen. Vermaledeite Sommerhitze!

    Bemerkung: Wir sind jetzt ganz nah dran. Keine Datumsangabe und kein voller Personenname mehr. Stattdessen erhalten wir einen Einblick in Bobs direkte sinnliche Wahrnehmung (Hitze schlug ihm entgegen), seine physische Reaktion (kniff die Augen zusammen) und seine ungefilterten Gedanken ([v]ermaledeite Sommerhitze).


    Bewusstseinsstrom

    Zitat

    Haustür. Klinke quietscht. Müsste geölt werden – Dienstpersonal fragen. Sonne blendet, schmerzt. Vermaledeite Sommerhitze.

    Bemerkung: Und hier haben wir etwas, das einem Bewusstseinsstrom/stream of conciousness ähnelt – einer direkten Wiedergabe (ggf. ungeordneter) Gedanken, die ungefiltert auf den Leser einprasseln.


    Und Fokalisierung?

    Auch Fokalisierung ist ein Begriff, der auf Gérard Genette zurückgeht. Ja, okay, ich gebe zu, ich bin ein Fan – sowohl von Fokalisierung als auch von Gérard Genette. Aber mehr von der Fokalisierung, denn Gérard Genettes strukturalistische Erzähltheorie hat ein paar Schwachstellen, die mich unglücklich machen. Sein Verständnis von Fokalisierung allerdings zählt meiner Meinung nach nicht dazu.

    Nach Gérard Genette lässt jeder einzelne Erzähltext Rückschlüsse darüber zu, wer die Geschichte erzählt und wer sie wahrnimmt. Das kann ein fundamentaler Unterschied sein – muss es aber nicht. Die Fokalisierung beschreibt dabei das Wissensverhältnis zwischen den in der Geschichte auftauchenden Figuren und dem Erzähler. Klingt abstrakt? Ist eigentlich ganz simpel: Wer weiß in der Geschichte eigentlich wie viel?


    Weiß der Erzähler mehr als die Figuren? Dann haben wir es mit einem auktorialen/allwissenden Erzähler (nach Franz Stanzel) bzw. mit einer Nullfokalisierung (nach Gérard Genette) zu tun.

    Beispiel: Nullfokalisierung

    Zitat

    Bob, Bobby und Bobette tratschten. Gleich würden sie um die Straßenecke biegen, nicht ahnend, dass in der schlecht beleuchteten Gasse fünf zwielichtige Gestalten darauf warten, leichter Beute den Geldbeutel abzuknöpfen.

    Bemerkung: Der Erzähler ist offensichtlich über Dinge im Bilde, von denen Bob, Bobby und Bobette zu diesem Zeitpunkt nichts ahnen. Die drei sind immerhin noch nicht um die Straßenecke gebogen und können somit gar nicht wissen, dass dort fünf Ganoven lauern – geschweige denn, was diese Gauner vorhaben.


    Weiß der Erzähler genauso viel wie die Figuren? Dann haben wir es mit einem personalen Erzähler (nach Franz Stanzel) bzw. mit einer Internen Fokalisierung (nach Gérard Genette) zu tun.

    Beispiel: Interne Fokalisierung

    Zitat

    Bob, Bobby und Bobette bogen um die Straßenecke. Bobettes Herz schlug schneller, als sie in die dunkle Gasse sah. Schatten bewegten sich dort – waren das Menschen? Bobby schielte nervös zu Bob. „Was meinst du, sollten wir hier wirklich durchgehen?“ flüsterte er, aber Bob antwortete nicht.

    Bemerkung: Der Erzähler folgt den Figuren und zeigt nur das, was sie wahrnehmen und wissen (können). Die Existenz der Gauner wird hier nicht als Fakt präsentiert – Bobette sieht lediglich Schatten umherhuschen und fragt sich, ob sie zu Menschen gehören. Bobettes Gedanken und Gefühle (das Herzklopfen, die Wahrnehmung der Schatten) lassen den Schluss zu, dass wir uns in einer internen Fokalisierung befinden.


    Weiß der Erzähler weniger als die Figuren? Dann haben wir es mit einer Externen Fokalisierung (nach Gérard Genette) zu tun – Franz Stanzels Erzähltheorie hat meines Wissens keine Entsprechung für einen solchen Erzähler. Gemeint ist jedenfalls ein Erzähler, der entweder keine Introspektion besitzt/betreibt (also nicht in die Figuren und ihre Gedankenwelt „hineinschaut“) oder sie einfach nicht mitteilt.

    Beispiel: Externe Fokalisierung

    Zitat

    Die drei näherten sich der Straßenecke. Bobette blieb einen Moment stehen, bevor sie mit den anderen weiterging. Bobby warf einen kurzen Blick hinter sich, sagte etwas zu Bob, das der Wind verschluckte. Ein leises Klackern von Schuhen hallte in der Gasse, aber wer dort war oder was sie dachten, blieb im Dunkeln.

    Bemerkung: Der Erzähler berichtet einzig das, was von außen beobachtbar ist: Bewegungen, Geräusche, Handlungen. Einblicke in die Gedanken oder Gefühle der Figuren werden gänzlich ausgeklammert – die Worte, die Bobby an Bob richtet, bleiben genauso unbekannt wie die Identität und Pläne derer, die sich in der dunklen Gasse aufhalten. Das Wissen des Erzählers ist somit auf eine objektive Ebene beschränkt; er agiert als reiner (und weit entfernter) Beobachter des Geschehens.


    Für die in diesem Beitrag angestrebte Verknüpfung der Konzepte narrative Distanz und Fokalisierung ist die Interne Fokalisierung von besonderer Relevanz. Ich bin der Ansicht, dass man Gérard Genettes diesbezügliches Verständnis zuspitzen kann. Bei der Internen Fokalisierung nach Gérard Genette geht es primär um das Was des Erzählens: Ein personaler Erzähler kann nur berichten, was der PoV-Charakter weiß – Erzählerwissen und Figurenwissen stimmen miteinander überein. Ich möchte an dieser Stelle argumentieren, dass man das Was des Erzählens um ein Wie des Erzählens erweitern und auf diese Weise die narrative Distanz zum jeweiligen PoV-Charakter minimieren kann. Und damit – PoV/Point of View – klingt bereits an, worauf ich hinaus möchte.

    Der PoV-Charakter ist die Figur, durch deren Augen wir die Geschichte erzählt bekommen – zumindest, wenn die narrative Distanz groß ist. Ist sie dagegen gering, dann erleben wir die Geschichte Seite an Seite mit dem Charakter. Der Point of View oder die Perspektive fließt idealerweise (sofern eine geringe narrative Distanz angestrebt wird) in die Wortwahl bei Beschreibungen, Handlungen, Gedanken, und wörtlicher Rede ein – kurz: in so ziemlich alles, was den Charakter betrifft, dem wir folgen.

    Wie beschreibt der Charakter seine Umgebung, zum Beispiel eine Landschaft? Ein Feldherr würde die Landschaft vielleicht aus militärischer Sicht betrachten – welche Landmarken könnten strategisch relevant sein? Ein Künstler dagegen würde dieselbe Landschaft ganz anders wahrnehmen. Womöglich denkt er darüber nach, welche Elemente er in einem Kunstwerk verewigen kann. Und ein erschöpfter Wanderer verfällt eventuell in eine wahre Existenzkrise, wenn er sieht, dass sich sein Weg durch die Berge schlängelt – oder aber er setzt zu Freudensprüngen an, weil er endlich an einem kühlen Bach vorbeikommt, lässt die Hüpferei dann aber doch sein, da seine blasenübersäten Füße protestieren.

    Wie reagiert ein Charakter in bestimmten Situationen? Auf eine Provokation hin zuckt eine ängstliche Figur vielleicht zusammen und meidet direkten Blickkontakt, wohingegen ein Draufgänger sofort Kontra gibt (oder gleich eine Prügelei anfängt).

    Wie formuliert der Charakter seine Gedanken? Im inneren Monolog eines Wissenschaftlers würde ich den einen oder anderen Fachbegriff erwarten – in dem eines verwahrlosten Straßenkindes dagegen eher street slang.

    Wie spricht der Charakter? Längere, wohl überlegte Sätze passen zu einem Denker, kurze und derbe zu einem Raubein. Ein zögerlicher Charakter wird dazu neigen, mit ähms und Sprechpausen herumzudrucksen, eine selbstbewusste Figur dagegen kaum.

    Anders ausgedrückt: Das Wie bietet unfassbar großes Charakterisierungspotential, ohne dass man ins tellingverfallen müsste. Im Folgenden möchte ich dieses Wie als die Stimme des PoV-Charakters bezeichnen. Die Stimme des Charakters wird durch verschiedene Aspekte geprägt, zum Beispiel: gesellschaftliche Stellung, Kultur, Beruf, Bildungsgrad, Alter, mentale und emotionale Disposition, …

    Mit welchen konkreten Methoden können wir nun also die narrative Distanz minimieren und die Stimme des PoV-Charakters in den Vordergrund treten lassen?

    Wir können …

    • die Erfahrungen des Charakters mit dessen unikaler Stimme schildern,
    • den Charakter Meinungen über das Geschehene äußern lassen,
    • den Leser die Motivation des Charakters interpretieren lassen, statt sie explizit auszuformulieren (vergleiche: Bob nahm die Tasse, um einen Schluck Tee zu trinken vs. Bob nahm die Teetasse),
    • einen gesprächsähnlichen, informellen Stil mit Ellipsen/unvollständigen Sätzen verwenden,
    • innere Monologe und direkte Gedanken des PoV-Charakters wiedergeben,
    • Bewertungen, Annahmen und Vermutungen des PoV-Charakters über die Ereignisse, die er erlebt, einbauen,
    • Filterwörter (z.B. sehen, hören, schmecken, riechen, denken, …) streichen (vergleiche: Bob spürte einen stechenden Schmerz vs. stechender Schmerz bohrte sich in Bobs Wade).


    Beispiel: Landschaftsbeschreibungen

    Große narrative Distanz, neutrale Stimme

    Zitat

    Vor Bob erstreckte sich eine düstere Landschaft. Der Boden war mit schwarzem Sand bedeckt, während am Horizont dunkle, gezackte Berge aufragten. Vereinzelte, knorrige Bäume reckten ihre kahlen Äste in den Himmel. Die Szenerie war still, trostlos und ohne Anzeichen von Leben.

    Bemerkung:
    Der Erzähler macht eine objektive Beobachtung, mehr nicht. Die Beschreibung enthält keinerlei Emotionen oder persönliche Reflexionen von Bob.


    Geringe narrative Distanz, Bob = Krieger

    Zitat

    Der schwarze Sand knirschte unter Bobs Stiefeln, während er die düstere Ebene abschätzte. Die Berge am Horizont bildeten eine natürliche Barriere – kein Entkommen dorthin, wenn es zu einem Kampf käme.
    Die knorrigen, toten Bäume aber könnten Deckung bieten. Für Freunde aber auch für Feinde. Er kniff die Augen zusammen, suchte nach dem verräterischen Aufblitzen von Klingen, das sich an den wenigen Sonnenstrahlen brechen würde, die sich durch die Wolkendecke gekämpft hatten. Nichts. Noch nicht. Doch alles hier schrie nach einem Hinterhalt. Er ließ die Hand auf dem Griff seines Schwertes ruhen. Sicher war sicher.

    Bemerkung: Die Landschaft wird aus der Perspektive eines Kriegers beschrieben, der sie sofort auf ihre strategische Bedeutung hin analysiert und Vorsicht walten lässt.


    Geringe narrative Distanz, Bob = Künstler

    Zitat

    Bob blieb stehen und ließ seinen Blick über die trostlose Ebene schweifen. Der schwarze Sand – ein finsterer Teppich, gleichmäßig und doch voller winziger Unebenheiten, die das Licht schluckten. Die Berge dahinter, gezackt und schwer, wie dunkle Wellen, die in der Ferne gefroren waren. Und diese Bäume! Knorrig und kahl, ihre Äste wie die Finger eines Ertrinkenden, ausgestreckt gen Himmel. Es war hässlich und doch... irgendwie schön. Morbide schön. Ja, die Natur selbst war die größte Künstlerin – mit einer Vorliebe für das Unheilvolle.

    Bemerkung: Die Landschaft wird aus einer künstlerischen Perspektive wahrgenommen, mit Fokus auf Details, Formen, Farben und der jeweiligen emotionalen Wirkung. Bob sieht die Landschaft wie ein Gemälde und interpretiert ihre Ästhetik.


    Geringe narrative Distanz, Bob = erschöpfter Wanderer

    Zitat

    Bob zog seinen Mantel enger um sich. Nicht, dass es viel gebracht hätte: Gegen den schneidend kalten Wind konnte der inzwischen löchrige Fetzen kaum etwas ausrichten. Der Weg schien endlos. Vor ihm nichts als diese trostlose Ebene, schwarzer Sand, tote Bäume und Berge, die wie die Zähne eines verendeten Untiers am Horizont standen. Kein Leben, kein Licht. Er schüttelte den Kopf. Was machte er hier? Wofür kämpfte er sich durch dieses verfluchte Land? Jeder Schritt war ein Kampf mit dem Sand, der seine Füße zu packen und festzuhalten schien. „Nur noch ein Stück“, murmelte er. „Nur noch ein Stück.“

    Bemerkung: Die Landschaft wird aus der Perspektive eines erschöpften Reisenden beschrieben, dessen Wahrnehmung von Müdigkeit und Verzweiflung geprägt ist. Jeder Aspekt der Umgebung beeinflusst Bob emotional und wirkt auf ihn bedrückend und feindselig.


    Nette Geschichte, Brudi – Aber Was juckt mich das?

    Ja, warum überhaupt über narrative Distanz und Fokalisierung nachdenken?

    Das moderne Verlagswesen scheint – auf Basis meiner Erfahrungen und Gesprächen mit Leuten, die in dem Bereich tätig sind – in bestimmten Genres eine Präferenz für immersive Werke mit geringer narrativer Distanz an den Tag zu legen. Das war nicht immer so. In älteren Werken (oder: den Klassikern, gerne auch als „echte“ Literatur bezeichnet) begegnet uns stattdessen tendenziell eine hohe narrative Distanz. Offenbar hat sich beim Publikum nach und nach ein Verlangen nach Geschichten herausgebildet, die den Leser viel näher an die Charaktere heranbringen.

    Ich will damit nicht sagen, dass die Verwendung eines Erzählers, der aus einer geringen narrativen Distanz heraus berichtet, ein Garant für die Publikation wäre und auch nicht, dass die Verwendung eines Erzählers, der aus einer hohen narrativen Distanz heraus berichtet, ein Garant für das Eintrudeln von Ablehnungen darstellt! Es ist nur eine Beobachtung.

    Mir persönlich sind die in diesem Beitrag beschriebenen Konzepte wichtig, weil mir immer wieder Annahmen über bestimmte Erzählformen begegnen, die ich so nicht unterschreiben kann. Gerade Ich-Erzähler scheinen in dieser Hinsicht zu polarisieren. So habe ich etwa die folgenden Aussagen mitbekommen:

    Zitat

    „Ich-Erzähler sind automatisch näher an den Charakteren dran! Muss ja so sein, denn immerhin versetzt man sich in die Charaktere hinein!“

    Zitat

    „Ich-Erzähler wirken immer so, als würden sie von außen berichten! Die sind distanziert!“

    Beides ist zugleich richtig und falsch. Oder, wie ein ehemaliger Schulkollege von mir sagen würde: „Das ist schon richtig, aber nur falsch.“ Oder, wie ich sagen würde: „Das ist Schrödingers Ich-Erzähler. Ist er distanziert? Ist er nah? Dafür müssen wir erst den Kasten, äh, die Werkzeugkiste für das Schreiben als Handwerk öffnen!“

    Zunächst: Keiner Erzählform wohnt eine zwangsläufige Distanz oder Nähe inne. Und noch einmal lauter: KEINER ERZÄHLFORM WOHNT EINE ZWANGSLÄUFIGE DISTANZ ODER NÄHE INNE! (ich weiß, dass ich (Chaos) in anderen Threads gesagt habe, dass Ich-Erzähler nah am Charakter sind/sein sollten - das widerspricht dem hier nicht, ich (wir) bin (sind) weiterhin der Meinung, dass Ein Ich-Erzähler mit höherer Narrativer Distanz wohlüberlegt sein sollte und nur in Sonderfällen (wie z.B. einem Charakter mit einer psychischen Störung - ja diesen Eindruck macht ein zu neutral erzählender Ich-Erzähler eben) sinnvoll ist. Nur weil man etwas machen KANN, heisst das nicht, dass man es machen SOLLTE, ohne sich darüber ausreichend Gedanken gemacht zu haben.)

    Freilich gibt es Tendenzen, die man bei den unterschiedlichen Erzählformen beobachten kann: Auktoriale Erzähler berichten tendenziell distanziert, wohingegen personale Erzähler sowie Ich-Erzähler oftmals näher an den Charakteren dran sind. Das muss aber nicht immer so sein!

    Ein allwissender Erzähler kann genauso an die einzelnen Charaktere, über die er alles weiß, heranzoomen wie ein personaler Erzähler oder ein Ich-Erzähler. Auch wenn das nicht unbedingt das Verhalten ist, das man mit einem paradigmatischen auktorialen Erzähler verbindet: Es ist möglich. Ebenso ist es möglich, dass personale Erzähler und Ich-Erzähler aus dem Geschehen herauszoomen. Was den personalen Erzähler anbelangt, habe ich versucht, das in den Beispielen zur schrittweisen Verringerung der narrativen Distanz sowie in denen zur Landschaftsbeschreibungen mit jeweils unterschiedlicher Stimme zu illustrieren. Nun also ein paar Beispiele zu Schrödingers Ich-Erzählern …


    Beispiele: Beschreibung eines uralten Tempels

    Große narrative Distanz, neutrale Stimme

    Zitat

    Ich trat durch das Eingangstor des Tempels, dessen massive Steinwände von Moos und Zeit gezeichnet waren. Die Luft im Inneren war kühler als draußen. Ein feuchter Geruch von alten Steinen und verrottendem Laub lag in der Dunkelheit. Der Raum war groß und leer, abgesehen von einigen zerbrochenen Säulen, die den Boden bedeckten. Überall zeugten verblasste Symbole und Inschriften an den Wänden von einer längst vergangenen Kultur. Ich schaute mich um, nahm alles in mich auf. Es war ein stiller, trostloser Ort, voller Spuren einer alten Welt.

    Bemerkung: Was gibt es groß zu sagen? Ein Ich-Erzähler, der uns in allen Details herunterrattert, wie der Tempel aussieht. Bloß über den Charakter an sich erfahren wir herzlich wenig.


    Geringe narrative Distanz, Ich-Erzähler = Anhänger der alten Religion

    Zitat

    Kaum hatte ich die Schwelle des Tempels überschritten, setzte mein Herz einen Schlag aus. Die Luft war anders hier – schwer, nein, heilig. Die marmornen Wände hatten die Essenz der Zeit selbst bewahrt: Verewigt in Gravuren blickten die alten Götter erwartungsvoll auf mich herab. Ich kniete nieder, legte meine Hand auf den angenehm kühlen Steinboden. Mit gesenktem Kopf lauschte ich und wagte kaum, zu atmen. Nur wer die Stille ehrt, vermag das Flüstern der Götter zu hören.

    Bemerkung: Dieser Ich-Erzähler beschreibt den Tempel nicht in Gänze, sondern nur die Details, die für ihn als Person unmittelbar wichtig sind. Der Fokus liegt auf den Göttern und dem Bestreben, ihnen gefällig zu sein.


    Geringe narrative Distanz, Ich-Erzähler = Archäologe

    Zitat

    Ich trat durch das massive Tor und sah mich um. Der Stein – war das Basalt? Nein, zu grobkörnig, vielleicht Schiefer. Vorsichtig ließ ich meine Finger über die kühle Oberfläche gleiten. Werkzeugspuren. Präzise gearbeitet, aber nicht maschinell – eindeutig Handarbeit. Mein Blick wanderte zu den Wänden, die mit seltsamen Symbolen bedeckt waren. Die Kanten der Gravuren waren abgenutzt – Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende von Erosion. Wer hatte das hier erbaut? Welche Kultur war fähig, etwas so Beständiges zu erschaffen? Ich hatte den Tempel gefunden, also würde ich es auch herausfinden. Ich! Mein Herz machte einen Hüpfer.

    Bemerkung: Dieser Ich-Erzähler stellt in rascher Abfolge (und in Form von Ellipsen/unvollständigen Sätzen) Mutmaßungen über das Baumaterial und die Einwirkung uralter Zivilisationen an. Offenbar hat er ein wissenschaftlich bedingtes Interesse an dem Tempel.


    Geringe narrative Distanz, Ich-Erzähler = Inquisitor, der die alten Götter verabscheut

    Zitat

    Ich trat durch das steinerne Tor und rümpfte die Nase. Der Gestank von Verfall und Staub lag schwer in der Luft – nur zu passend für eine Wiege der Ketzerei. Mein Kiefer spannte sich unwillkürlich an, während ich den dunklen Raum musterte. Blanker Hohn – die in Stein gemeißelte Verherrlichung alter Götzen – prangte an den Wänden. Die Kanten der Gravuren waren abgenutzt, aber man erkannte immer noch genug, nein, zu viel. Aber das würde sich schon beheben lassen …

    Bemerkung: Im Grunde das genaue Gegenteil zum ersten Beispiel aus dieser Reihe – der Ich-Erzähler hier hat nichts für die alten Götter übrig.


    Beispiele: Im Stau

    Große narrative Distanz, neutrale Stimme

    Zitat

    Die Autos stehen dicht an dicht. Ihre Motoren laufen, während sich niemand bewegt. Die Hitze der Sonne spiegelt sich auf den glänzenden Oberflächen der Wagen und gelegentlich höre ich ein ungeduldiges Hupen. Von Zeit zu Zeit schaltet jemand den Motor ab, nur um ihn wenige Minuten später wieder anzulassen. Die Luft riecht nach Abgasen und das Geräusch von Radiodurchsagen dringt leise aus einem der offenen Fenster. Ich habe nichts anderes erwartet: Um diese Uhrzeit ist die Strecke immer die Hölle.

    Bemerkung: Ja, jetzt wissen wir, wie so ein Stau aussieht, vielen Dank.


    Geringe narrative Distanz, Ich-Erzähler = CEO, der seinen Flug verpasst

    Zitat

    Das darf doch nicht wahr sein! Die Autos bewegen sich keinen Millimeter. Ich schlage mit der Hand aufs Lenkrad. Schweiß rinnt mir den Rücken hinunter. Noch zwanzig Minuten bis zum Check-in. Ich setze den Blinker, drücke mich auf die linke Spur. Der Typ im schwarzen Kombi hupt, als ich knapp vor ihm einschere. Selbst schuld – was fährt der Arsch auch so dicht auf? Er gestikuliert wild, zeigt mir den Mittelfinger. Na, den Gefallen erwidere ich gern! Noch ein Blick auf die Uhr. Neunzehn Minuten bis zum Check-in. Scheiße!

    Bemerkung: Dieser Ich-Erzähler hat’s eilig und ist risikobereit. Ich habe versucht, seine Hektik mit kurzen Sätzen nachzubilden.


    Geringe narrative Distanz, Ich-Erzähler = Sohn, der zu seinem entfremdeten Vater fährt

    Zitat

    Natürlich Stau. Natürlich komme ich zu spät. Natürlich werde ich mir anhören dürfen, dass er nichts anderes von mir erwartet hat. So etwas sagt mein Vater immer. Ich starre auf die endlose Reihe roter Rücklichter vor mir und streiche mit den Fingern über das Lenkrad. Ein Seufzen kommt über meine Lippen, vielleicht ein bisschen zu erleichtert. Je später ich ankomme, desto kürzer fällt das ganze Drama aus. Ich starre die Uhr auf dem Armaturenbrett an. Die Minuten schleichen vorbei, langsam, aber immerhin. Es sind jetzt schon fünf Minuten weniger, die ich dort sitzen und mir seine Vorwürfe anhören muss.

    Bemerkung: Bei diesem Ich-Erzähler schwenkt der Ton um. Die ersten paar Sätze suggerieren den zu erwartenden Ärger über den Stau – bis der Erzähler erkennt, dass er seiner Situation etwas Positives abgewinnen kann. Via Subtext erfahren wir, dass der Erzähler kein gutes Verhältnis zu seinem Vater hat.


    Geringe narrative Distanz, Ich-Erzähler = Zyniker, der die Show genießt

    Zitat

    Ich lehne mich zurück, mein Fuß entspannt auf der Bremse. Der Kerl im roten Kleinwagen vorne links haut zum dritten Mal auf die Hupe, als ob das irgendetwas ändern würde. Vielleicht mal die zehn Gebote rezitieren. Wer weiß, womöglich spaltet sich dann der Stau wie für Moses das Meer … Die Frau in dem weißen SUV neben ihm gestikuliert wild, während sie auf ihr Handy einredet. Oh je, Ärger im Paradies? Ein Typ hinter mir steckt seinen Kopf aus dem Fenster, um jemandem weiter vorne irgendwas zuzubrüllen. Es ist wie ein Live-Kabarett. Und ich habe die beste Sitzreihe.
    „Jetzt: das Wetter“, krächzt eine rauchige Frauenstimme aus dem Radio. Dunstig mit Aussicht auf road rage. Herrlich!

    Bemerkung: Hier haben wir einen Ich-Erzähler, der gerne Menschen beobachtet. Was er beschreibt, ist aber keineswegs neutral – er nimmt deutliche Wertungen vor.

    Was ist nun also mit Schrödingers Ich-Erzählern? Sind sie distanziert? Sind sie es nicht? Ja und nein.
    Selbstverständlich kann man einen Ich-Erzähler so schreiben, als ob er eine Dissoziations- oder Nahtoderfahrung durchmacht, neben seinem Körper steht und neutral berichtet, was ebendieser Körper gerade so sieht, tut und sagt. Man kann, aber man muss nicht – und wenn mein persönlicher Geschmack gefragt ist: vielleicht sollte man nicht (eine Relativierung dessen kommt gleich noch).

    Über narrative Distanz und Fokalisierung nachzudenken wird für mein Empfinden umso wichtiger, wenn man mehrere PoV-Charaktere in seiner Geschichte haben möchte – jetzt mal ganz unabhängig davon, ob dafür nun personale Erzähler oder Ich-Erzähler verwendet werden. Wenn die alle distanziert sind und obendrein eine neutrale Stimme haben, dann verschenkt man kostbare Möglichkeiten der Charakterisierung. Und, was noch viel schwerwiegender ist: Der Leser hat unter Umständen Probleme, sich emotional an die Charaktere zu binden und/oder – sofern es sich um Ich-Erzähler handelt – die PoVs auseinanderzuhalten. Das Folgende ist jetzt sicherlich eine Geschmacksfrage: Ich persönlich finde Geschichten immersiver, die mit einer geringen narrativen Distanz arbeiten. Hinzu kommt, dass es Genres gibt, in denen sich eine geringe narrative Distanz gerade wegen der Immersion und der emotionalen Nähe zu den Charakteren anbietet – Romanzen zum Beispiel.


    Und wenn ich trotzdem aus der Ferne schreiben will?

    Ich sage nicht, dass es falsch wäre, eine größere narrative Distanz zu wählen. Ich sage nur, dass es gewinnbringend ist, eingehend über das Für und Wider nachzudenken. Eine große narrative Distanz kann stilistisch hochgradig interessant sein – aus dem Stegreif wollen mir folgende Szenarien einfallen:

    Die Geschichte ist primär plotorientiert/plot-drivenund nicht charakterorientiert/character-driven. Der Fokus liegt auf dem Weltenbau und man will die schiere Dimension der Ereignisse unterstreichen.

    Der PoV-Charakter hat ein „stummes“ Innenleben – beispielsweise bedingt durch psychische Erkrankungen. Eine große narrative Distanz würde diese Gefühlstaubheit widerspiegeln.

    Der PoV-Charakter ist – auf welche Weise auch immer – von der Gesellschaft, in der er lebt, isoliert. Auch hier könnte eine große narrative Distanz dazu dienen, diesen Umstand zu reflektieren. Wir haben es dann mit einem Charakter zu tun, der emotional kaum auf die ihn umgebenden Menschen eingeht.


    Kurzum: Die Wahl der Erzählperspektive und der Narrativen Distanz ist ein sehr wichtiger Schritt in der Erschaffung einer Geschichte und will wohlüberlegt sein. Außerdem kann man damit sehr viel mehr (implizit) sagen/machen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.

    So, ich hoffe, das hilft dem ein oder anderen dabei, sich zurechtzufinden und zu verstehen, was gemeint ist, wenn Leute kommentieren, dass die Geschichte trotz Ich Erzähler nicht nah am Charakter ist :D

    LG Chaos/Acala by Proxy :chaos:

    Guten Tag :D

    So, nun also zurück zu Rouven. Ich muss sagen ich tue mir hier ein bisschen schwer :hmm:
    Sehe ich das richtig, dass der 2. Versuch, die Prinzessin zu entführen jetzt im off stattgefunden und geklappt hat?
    Wenn dem so sein sollte, muss ich an der Stelle fragen ... warum? xD

    Du beraubst dich ja des größten Vorteils, den die 1. Person Präsens mit sich bringt - die Unmittelbarkeit. Hier wäre es aus narrativer Sicht viel besser, das zu erzählen (auch wenn es später bei Chaneela noch mal in der Kristallkugel vorkommen soll - dann fass es besser da zusammen). So erzählst du es wieder nur nach, was in meinem Kopf ... wenig Sinn ergibt bei der Perspektive.

    Ich persönlich hätte es jetzt spannender gefunden, die Verfolgungsjagd live mitzuerleben – gerade weil du zusätzlich zum Ich-Erzähler auch das Präsens verwendet. Stattdessen wird die Verfolgung per telling abgewickelt.

    Ich finde, an dem Auszug sieht man sehr schön, warum es ein Irrglaube ist, dass die 1. Person automatisch die Narrative distanz verringert (das tut sie, wenn man sie entsprechend anwendet - und dieses "entsprechend" ist ehrlichgesagt in meiner Welt auch die einzig korrekte Art und Weise die 1. Person anzuwenden)

    Aber eins nach dem anderen:

    Was erfahren wir hier eigentlich? Rouven reitet an der Spitze seiner Truppe. Der Rest? Nacherzählung der Verfolgung. Nun könnte man aus dem Ritt ja auch noch mehr herausholen. Ein Blick zurück – sind alle Männer noch da/wohlauf? Was macht das Pferd, auf dem er reitet? Ist es verletzt/unverletzt? Laune des Tieres nach diesem Abenteuer? Wie fühlt sich der Galopp an bzw. merkt Rouven, wie die Muskeln des Tieres arbeiten? Gerüche könnte man ggf. auch noch einbinden.

    Und das geronnene Blut ... ja, okay, da ist die taktile Wahrnehmung berührt, aber das könnte man noch "näher" hinbekommen. Beschreib doch, wie die Augenlider so schön eklig zusammenkleben, wenn da bis vor Kurzem noch die rote Suppe runtergetropft ist – und wie sehr das nervt, wenn du nicht die Zeit hast, das Blut abzuwaschen. Die Lider pappen ja bei jedem Blinzeln immer wieder schön zusammen. Ist ja genauso, wenn man viel im Gesicht schwitzt. Rouven dröhnt der Kopf – okay. Was für eine Wunde ist es? Platzwunde? Wo genau am Kopf? Hat Rouven das mal befühlt bzw. eine Bestandsaufnahme des Schadens gemacht?

    Ich hatte gehofft, diese elende Schwäche bald abzuschütteln, aber neben dem Kopfschmerz sticht mir irgendwas bei jedem Atemzug in die Lunge, wahrscheinlich haben die Rippen auch was abgekriegt. Das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen.

    Das klingt ein wenig ... neutral :rofl:
    Hm, vielleicht ist meine Lunge punktiert, voll keinen Bock :pardon:

    Ich habe hier ein bisschen das Gefühl, dass es ihn badass wirken lassen soll, dass er das so neutral hinnimmt, aber imo funktioniert das hier nicht, da es sehr ... bemüht wirkt. Also so als wollte er uns davon überzeugen, dass er ein badass ist. Das ist aber einer dieser Punkte, wo ich mein eigenes Bild machen möchte.
    Analog zu Tywin Lannister: "Any Man Who Must Say, 'I Am The King' Is No True King" gilt auch "Any Man Who Must Say, 'I Am a Badass' Is No True Badass", Sorry :rofl:

    Ich fände es okay, wenn seine Gedanken in die Richtung gehen, dass er vor seinen Männern keine Schwäche zeigen darf – da geht es dann aber um Charisma bzw. um das Bemühen, vor seinen Leuten als so eine Art Fels in der Brandung dazustehen, den nix kleinkriegen kann. Intern kann er ja aber durchaus zugeben, was ihn das kostet und dass es verdammt noch mal höllisch weh tut.

    In Rouvens Fall: Wenn er hier eine politische/kriegstechnische Karriereleiter erklimmen will, könnte man hinzufügen, dass er die Verletzung "nicht gebrauchen" kann, weil er bis zu seiner Genesung keine Aufträge durchführen kann oder sowas. Das wäre dann weniger neutral und verrät gleich was über seine Absichten/Ziele im Leben.

    Was er denkt und nach aussen sagt darf sich durchaus unterscheiden (und bietet auch Raum zur Charakterisierung).

    Eine Wüste aus Geröll, verstreuten Felsen und Vulkanstaub umgibt mich und nimmt bis zum Horizont hin kein Ende. In der Ferne erkenne ich schon den Bergweg, der zur Vulkanstadt hinführt. Kahl und riesenhaft ragt das Felsmassiv in die Höhe.

    Und wie findet Rouven diese Landschaft? Findet Raven das voll geil? So mäßig? Scheiße? Hier wäre ein guter Punkt, eine Bewertung einzubauen, immerhin erleben wir die ganze Szene durch seinen Filter. Imo muss man hier wirklich SEIN Empfinden und SEINE Meinung erfahren und nicht nur nüchterne Erklärungen.

    Ich gebe meinen Leuten das Zeichen, die Schutztücher wieder über die Gesichter zu ziehen. Zwar habe ich bis jetzt keine gefährlichen Wolken gesehen, doch an dem typischen stechenden Geruch verraten sich die vom Vulkan her wehenden giftigen Dämpfe. Die vermeiden wir besser.

    Huh. Ich finde es ja gut, dass du das eingebaut hast, aber ich frage mich: Muss jetzt wirklich jeder auf Ravens Kommando warten? Wenn du da lebst, und das tun die Kameraden, dann werden die ja wohl wissen, dass man den Scheiß besser nicht einatmet.

    Ich ärgere mich ungeheuer über mich selbst. Wie konnte mir die Prinzessin von Karghena entgleiten? Das ist ein Desaster! Noch jetzt fasse ich es nicht, dass Shandor die geraubte Braut nicht ans Ziel gebracht, sondern sich stattdessen weiß der Himmel wohin abgesetzt hat, dieser stinkende Schakal. Es muss so gewesen sein. Sonst wäre der König nicht so wütend.

    Der erste Satz kann weg, das ist telling. Dieses Empfinden sollte aus den folgenden Sätzen klar werden, das dürfen die Leser gerne selbst rauslesen :D

    In der Ferne schießt unter tosendem Donner eine Feuerfontäne in die Luft. Sie zischt in grellgelben Flammen weit in den Himmel hinauf. Mein Aschgar tänzelt und bockt, woraufhin ich ihn fest bei den Zügeln packe. Am liebsten würde ich sie fahren lassen, damit mein Reittier davonpreschen kann – doch wohin? Eine Flucht vor der Strafe, die mich erwartet, hat keinen Sinn.

    Und wie findet Rouven die Feuerfontäne? Ultracool? Bedrohlich? Hübsch?

    Die Luft um mich her erwärmt sich schlagartig. Einzelne großporige Staubteile rieseln auf meinen Helm und die Schultern. Etwas frisst sich zischend durch den Stoff der Uniform und brennt sich in meine Haut. Schmerzhaft zucke ich zusammen. Hinter mir fluchen meine Männer. Unruhe steigt in mir auf. Ist das eine Warnung?

    Markiert: Telling
    Abgesehen davon bin ich mir nicht sicher, ob "schmerzhaft" hier das richtige Adjaktiv ist. Er zuckt vor Schmerz zusammen - schmerzhaft suggeriert, dass das Zucken an sich schmerzhaft ist. Das ist also eine Andere Reihenfolge:
    "vor Schmerz": Schmerz -> Zucken
    "schmerzhaft": Zucken -> Schmerz

    Such es dir aus :D
    Alternativ kannst du das Adjektiv auch einfach weglassen, da es selbsterklärend ist, warum er zusammenzuckt.

    Niemand kommt an einem Kalmuker vorbei, der den Auftrag hat, ein Tor zu bewachen. Sie sind ideale und unbestechliche Wächter, das weiß ich aus Erfahrung, weil sie die ihnen erteilten Befehle stets bis auf den letzten Punkt erfüllen.

    Brillante Gelegenheit, zu schildern, wie Rouven bereits Kalmuker eingesetzt hat und welchen konkreten Befehl sie mit Bravado ausgeführt haben. Ansonsten: telling.

    Ich erreiche einen hohen, runden Raum, zu dessen Seiten sich feuerfeste Aschgarenboxen aneinanderreihen, in vier Etagen übereinander, die über verschiebbare Treppen zu erreichen sind.

    Moment, Moment! *hochscroll*

    Unter den Hufen unserer lavageborenen Aschgaren springen die kleinen Steinchen hin und her.

    Ich dachte, das wäre jetzt nur so eine Redewendung. Ich dachte, lavageboren könnte sowas wie aus Kalamachai bedeuten. Aber das erste Zitat suggeriert, dass die Viecher Feuerpferde sind?! Wie reitet Rouven auf denen, ohne dass es ihm die Klöten abfackelt?

    In der Halle begegnet uns reges Treiben. Hufschmiede beschlagen frisch erschaffene Aschgaren, erkennbar an ihrem glatten, glänzenden Fell, während das unserer Tiere in dicken schwarzen Flocken absteht und verrät, das die vulkanische Energie in ihrem Inneren fast aufgebraucht ist.

    ... Ich will wissen, ob die Viecher heiß sind oder nicht! Wenn die Ställe feuerfest sind, dann muss es aber wohl so sein :hmm:

    Der Geflügelte erblickt uns sofort. Bilde ich es mir ein, oder ergötzt sich der Kerl wieder einmal an der Tatsache, dass ich mit meinen schwarzen Haaren zwar einem Skeff gleiche, mir jedoch deren wichtigstes Körperteil fehlt – die imposanten Schwingen auf dem Rücken?

    Ooohhhh, Kirisha, du fliegst nah an der Sonne, denn mein innerer Monolog sagte zum fett markierten Teil (bevor ich den Zusatz gelesen habe): Der Lavastab? Joa, das passiert, wenn man auf Feuerpferdchen reitet ... :D

    Die Blicke des Älteren tasten sich hohnlachend über meine Truppe.

    Ich bin schon wieder zu viele Partizipien sehend, die du schreibend warst :D
    Zudem wirkt "hohnlachend" für mich hier iwie unpassend, weil die Blicke nicht lachen können ...
    "Höhnische Blicke" würden es für mich auch tun (und ein Partizip vermeiden)


    Hier mal ein Beispiel, wie ich die Szene schreiben würde. Ich mag und kann Ich erzähler nicht besonders gut, daher ist das sicherlich nicht perfekt, aber es sollte genügen um den Punkt "näher an Rouven" zu illustrieren:

    Original:

    In scharfem Galopp presche ich meiner Truppe voran. Geronnenes Blut klebt an meiner Stirn, das mir zum Glück jetzt nicht mehr in die Augen tropft. Noch immer dröhnt mir der Kopf. Ich weiß nicht, was mich von der Kutsche heruntergeschlagen hat, aber ich muss wohl froh sein, dass es mir nicht den Schädel zertrümmert hat.

    Wie ich es machen würde:

    Zitat

    Im scharfen Galopp wirbelt mein Aschgare die Asche auf. Jeder Hufschlag ist wie ein Hammer, der den pochenden Schmerz noch tiefer in meinen Kopf treibt. Was auch immer mich von der Kutsche geschlagen hat, den Schädel hat es mir zum Glück nicht zertrümmert – glaube ich zumindest. Wäre schwer, sich mit angeknackstem Schädel auf dem Gaul zu halten ... oder?
    Der Aschestaub dringt mir penetrant in die Augen. Ich blinzle und bekomme die Augenlider nur schwer wieder auseinander. Verdammtes Blut! Jetzt, da es einigermaßen getrocknet ist, tropft es mir zwar nicht mehr in die Augen, aber dafür verklebt es mir das ganze Gesicht. Wie war das noch mit der Wahl zwischen Pest oder Cholera? Ja ...
    Ich nehme die Zügel mit einer Hand und betaste mit der anderen die Wunde an meinem Kopf. Vorsichtig, ganz vorsichtig, so gut es in vollem Galopp eben geht. Ich erfühle eine Beule mit einer Blutkruste als Krone. Die Blutkruste ist gut. Kann also keine allzu schlimme Verletzung sein. Aber die Beule? Scheiße, die ist ja fast so groß wie ein Phönixei [sofern es noch Phönixe in der Geschichte gibt und die Eier legen ...]! Mit etwas Glück fühlt es sich schlimmer an, als es aussehen wird.

    Wie gesagt, das ist sicher nicht perfekt, aber meines Erachtens näher an Rouven dran. Das ist natürlich nur ein Beispiel weder muss es genau so ausshen, noch muss jeder Absatz so ausgeschmückt werden. Der Kernpunkt ist, dass mit bei dem Ich Erzähler die Wertung von Rouven (... dem Ich-Erzähler) fehlt, durch dessen Linse wir wie gesagt die Geschichte wahrnehmen. Gerade wenn man die Geschichte im Präsens schreibt, ist das naturgemäß sehr nah an den Gedanken und dem Stream of conciousness des Charakters dran. Daher kann man da auch gut mit Ellipsen und unvollständigen Sätzen arbeiten. Das ist in diesem Fall passend.

    Zudem gäbe es SO viele Möglichkeiten, Rouven allein beim Betasten der Wunde zu charakterisieren:

    • Reitet er darauf rum, wie lange die Verletzung/Beule/whatever zum Verheilen braucht und wie scheiße das aussehen würde?
      --> Eitel.
    • Freut er sich darauf, dass das 'ne fiese Narbe geben wird, wenn die Wunde im Gesicht ist?
      --> Draufgänger mit Geltungsanspruch.
    • Überlegt er, wie er das am besten verarztet?
      --> Erfahrung mit Feldverarztung/medizinisches Wissen/Pragmatiker.

    etc.

    Nimm dir diese Möglichkeit doch nicht :D


    LG Chaos :chaos:

    Sorry, falls das jetzt ein bisschen nach unnötigen drauf rumreiten klingt, aber:

    Allerdings lese ich gerade augenblicklich solch ein Buch mit 6 x Ich-Perspektive und mag das Buch. Allerdings haut mich der Perspektivwechsel doch so manchmal aus den Angeln, weil ich zwischendurch vergesse, welches "Ich" gerade spricht. Daher finde ich es mit so vielen Charakteren schwierig. Bei dem Buch sind die Erzählerstimmen der Charaktere nicht sehr unterschiedlich - außerdem sind die auch noch alle am selben Ort, was es noch schwieriger gemacht hat.

    Du stellst hier ja selbst fest, dass die Umsetzung der multiplen Ich-Erzähler in dem Buch eigentlich nicht wirklich funktioniert :rofl: (Mal davon abgesehen, dass ich mich frage, warum es 6 POV Chars gibt, wenn alle am gleichen Ort sind, aber das hängt wohl stark von der Geschichte ab xD)

    Ich würde das ehrlichgesagt auch eher als ein Beispiel dafür sehen, dass Dinge nicht gut sind, nur weil es irgendwo schonmal gemacht wurde (wie gesagt: Grade im SP Bereich heißt das gar nichts, weil es da keine Kontrollinstanz für derlei Dinge gibt^^)

    Also am Ende ist es deine Geschichte und wenn du es so machen möchtest, mach das :D Aber ich würde tatsächlich sehr genau überlegen, ob ich solche Experimente machen möchte.

    Grundsätzlich scheint es mir ehrlichgesagt, als würden dich die ganzen Einflüsse und Ideen zu DP gerade etwas über den Haufen rennen? Das ist völlig normal, aber vielleicht ist dann der Punkt, wo man den Text mal zur Seite legen und etwas Abstand gewinnen muss.
    Also ich rede jetzt nicht davon, die Geschichte abzubrechen, nur dass du sie mal ein paar Wochen beiseite legst und dich mit anderen Texten oder so beschäftigst - wenn du dann zurück kommst, sind die Dinge oft viel klarer, weil manche Fragen sich einfach beantworten, wenn man mit etwas Abstand nochmal drauf schaut :)
    Das hat mir/uns jedenfalls oft sehr geholfen :D

    LG Chaos :chaos:

    Bei Rouven weiß ich, wie er tickt. Bei Cheneela muss ich mich da immer noch erst herantasten.

    okay, aber das hat ja nichts damit zu tun, wie die Charaktere am Ende geschrieben sind :hmm:
    Also ich verstehe den Punkt, dass Chaneela für etwas vager ist als der Charakter der von Anfang an im Fokus stand, aber ... das ist ja ein Problem auf der Autoren Ebene und nicht auf der Leser Ebene :hmm:

    Die narrative Distanz die du für die Geschichte wählst sollte nicht davon abhängen, wie gut du den Charakter im Moment des SChreibens schon vor Augen hast - sie dient nicht dazu, dass DU den Charakter kennen lernst, sondern der Leser. Darum würde ich da die Perspektive und Distanz wählen, die das Ziel, das ich mit dem Char/Geschichte habe am besten korreliert.
    Bzw. andersherum - ich würde die narrative Distanz nicht erhöhen, nur weil ich von dem Charakter ein gutes Bild im Kopf habe :hmm: wenn ich das mache, dann weil ich eben etwas Distanzierter erzählen will und nicht weil ICH den Char schon kenne :hmm:

    Ich hoffe, man versteht, was ich meine

    LG Chaos :chaos:

    "Die Faust trifft mich am Kinn, ich werde halb ohnmächtig und bekomme einen weiteren Treffer in der Nierengegend ab. Der Schmerz reißt mich ins Dunkle."

    Hier wird jemand zusammengeschlagen und erzählt davon. Das wirkt dann beinahe so als würde sich die Person von aussen betrachten und analysieren was grade passiert. Das ist in dieser Situation seltsam distanziert und niemand würde sich in der Realität so verhalten. In der dritten Person kannst du das Elend des Opfers genau beschreiben und auch die Blutlache und die Schreie und die Reaktion anderer Personen… Du kannst in dieser Perspektive trotzdem schildern, was die Person denkt und fühlt. Du hast das Innen und das Aussen.

    Ja gut, aber dein Beispiel ist halt auch eine schlecht umgesetzte 1. Person :rofl:
    Wenn ich die dann so schreibe wie aus der 3. Person ... klar, bin ich dann distanziert.
    Wenn es aber in Richtung:

    "Etwas trifft mich am Kinn. Alles dreht sich ... Wo bin ich? Ein stechender Schmerz in der Nierengegend. Ich pralle hart auf, sehe verschwommen. Die Welt wird dunkel."

    (verzeih meinen etwas hölzernen Versuch, 1. Person kann ich nicht besonders gut, aber ich hoffe man sieht was ich meine) geht, bin ich eben schon sehr nah am Charakter, weil ich genau erlebe was er erlebt und es eben NICHT von außen beschrieben wird.

    Und in der dritten Person kann ich das auch nicht immer so machen wie du sagst - wenn ich eine sehr Nahe und strenge 3. Person wähle, kann ich nur beschreiben was die Person mitbekommt - also im wesentlichen das gleiche wie bei der 1. Person, nur dass ich da ein bisschen freier bin. Etwa:
    "Der Schlag traf ihn am Kinn. Er taumelte zurück und verlor die Orientierung, als ein weiterer Hieb ihn in die Seite traf. Keuchend fiel er zu Boden" (oder so, das wäre jetzt eher mittlere Distanz. Man bekommt im Wesentlichen mit, was der Charakter mitbekommt, aber nicht "gefiltert" durch seine Empfindungen/Einschränkungen (z.B. wird der Charakter ja nicht denken "ich verliere die Orientierung" etc.)

    wirkliche Außenansicht kann ich bei sehr hoher narrativer Distanz oder Allwissendem Erzähler machen - aber eben nicht immer in der 3. Person.

    Und manchmal ist es einfach toll, nicht alles nur aus einer Seite zu sehen, sondern eben wie mehrere Leute darüber denken. Auch ganz besonders wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht.

    Ich glaube hier verwechselst du zwei Dinge :hmm: Die Perspektive (1. oder 3. Person) hat (ganz grundsätzlich) nichts damit zu tun, ob es noch andere Perspektiven (POV-Charaktere) gibt :hmm: Ich habe auch nicht von mehreren POVs abgeraten xD
    Wenn ich die Geschichte aus mehreren Perspektiven zeigen will ist imo 3. Person wie oben erläutert deutlich besser geeignet.
    Wie gesagt: Verboten ist es natürlich nicht, es kann auch gut sein, wenn der Autor weiß was er tut. Die Erfahrung hat mir aber gezeigt, dass die meisten das eben nicht wissen, wenn sie solche Experimente machen.

    Zum anderen finde ich es vollkommen in Ordnung ein bisschen zu experimentieren.

    Ja, auch dem habe ich nicht widersprochen, sondern es eigentlich genau so gesagt xD:

    (außer es ist explizit ein Experiment in die Richtung natürlich)

    Zum einen habe ich besonders im YA Bereich schon häufig zwei bis drei Char in der Ich Perspektive gelesen und fand das sehr gut.

    Ja, das kann schon sein - ich habe ja gesagt, dass es auch gut sein kann. Aber es ist vermutlich nciht optimal. YA verzeiht sowieso viel, weil der Fokus da selten auf der Geschichte liegt.

    Zudem ist das auch ein klassisches SP Genre, was ich wie gesagt nicht als Argument zählen lasse, weil da einfach alles veröffentlicht werden kann, egal ob es Sinn und Verstand hat
    (Zur klarstellung: Ich will damit nicht sagen, dass alles SP scheiße ist, sondern nur, dass "Das ist bei voll vielen Büchern im SP so" kein Argument dafür ist, dass irgend eine seltsame Idee gut ist. Es gibt keine Kontrollinstanz und schlechte Rechtschreibung und Grammatik wird auch nicht auf einmal gut, nur weil es bei vielen SP Romanen vorkommt :pardon: )

    Mal davon abgesehen, dass er weniger um YA sondern um (epische) Fantasy ging^^

    Ob man hier wirklich zwangsläufig näher an der Person und am Geschehen ist? Ich bin mir nicht sicher.

    Also beim Geschehen kann man sicher Diskutieren, aber an der Person? Wenn jemand etwas über sich selbst erzählt ist es doch automatisch näher an der Person als wenn es ÜBER die Person erzählt wird oder? :hmm:

    Also ganz ehrlich gesagt verstehe ich diese Diskussion hier überhaupt nicht :rofl:
    Jede Perspektive hat ihre Anwendung, die eigentlich recht deutlich ist, wenn man darüber nachdenkt. Natürlich KANN man sie anders verwenden, aber imo muss man dann sehr genau wissen was man tut. (Wie immer - man muss die "Regeln" kennen, um sie zu brechen)

    Ich habe jedenfalls noch nie ein über einen Verlag veröffentlichtes Buch (sorry, SP zählt für mich hier nicht als Beispiel) gelesen, in dem 1. und 3. Person als Erzählstimme durcheinander geworfen worden sind. Ich frage mich, woran das nur liegen kann ...

    (Nach Recherche: Das ist tatsächlich Ultra selten - es ist eigentlich immer (Multiple) POV(s) in 3. Person oder 1 POV in Ich Perspektive.)

    Warum wird die überwiegende Mehrheit von (epischen Fantasy-)Romanen, die mehrere POVs haben mit dem personalen Erzähler geschrieben und nicht in mehreren 1. Person oder gemischt?
    Ich habe es schon oft gesagt, aber die 1. Person ist am besten (imo: nur) dafür geeignet, eine Geschichte aus der Sicht EINES Charakters zu erzählen und sehr nah an dessen Erlebnissen und Perspektive zu sein (zb. Kvothe aus der Kingkiller Chronicles-Reihe. Man kann von ihm als Charakter und dem Buch halten, was man will, aber es lässt sich nicht abstreiten, dass man KVOTHES Geschichte von ihm selbst erzählt bekommt (mit allen Vor- und Nachteilen))

    Wenn ich mehrere Ich-Erzähler habe, verwässert es das ganze schon arg (wenn es nicht gerade ein Briefroman ist, wo das durch das Medium gegeben ist)

    Genauso die 3. Person - hier kann ich entscheiden, wie nah ich am Charakter sein möchte und die Narrative Distanz "einstellen" - etwas, das 1. Person imo nicht kann, da die immer maximal nah am Charakter ist. Ebenso fällt es nicht besonders auf, wenn die Charaktere sich alle ähnlich lesen (gerade wenn die narrative Distanz hoch ist) - bei 1. Person würde ich erwarten, dass die sich stark unterscheiden, weil ich mir sehr sicher bin, dass jeder Mensch anders denkt (nicht nur von den Überzeugungen sondern auch Sprache, Wortschatz, Wissen ... ). Da komme ich dann nicht damit davon, wenn ich im wesentlichen immer gleich schreibe.
    Zudem sind Kapitel/POV Wechsel sehr disruptiv, weil man als Leser aktiv darüber nachdenken muss, wer jetzt der POV ist (weil es von "ich" auf "ich" wechselt)

    In der dritten Person habe ich diese Probleme nicht, da ich schlicht den Namen des Charakters nennen kann am Anfang des POV Abschnitts und zudem

    Wenn ich also mehrere POVs mit 1. Person habe, nehme ich mir selbst die größte Stärke dieser Erzählform (Nah an EINEM Charakter sein - das geht dahin, wenn ich wechsle) Der Punkt ist, dass ich als Leser nur erfahre, was der Charakter weiß und im Wesentlichen die Welt nur durch seinen Filter sehe. Führe ich nun einen zweiten ein, zerstöre ich das wieder und nehme mir selbst eine Stärke der Perspektive.

    Und die beiden zu mischen ist imo auch ... wild. Klar kann man sagen, dass der Ich-Erzähler wichtiger ist, als die anderen, aber imo ist die Perspektive nicht dazu da, das zu zeigen. Das sollte schon in der Geschichte selbst klar werden. Abgesehen davon ist es ein NOCH härterer Bruch in der Erzählperspektive (duh) als 2 mal erste Person. Ich glaube das ist dem Lesefluss nicht förderlich.

    Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ein (richtiger, studierter) Lektor (ich rede hier nicht von Instagram "Ich habe ein Buch per SP veröffentlicht und bin jetzt Profi"-Menschen) das so durchgehen lassen würde, weil es schon gute Gründe gibt, eine Perspektive zu wählen oder eben nicht. An der Stelle ein Zitat von Joe Abercrombie, dem Autoren der First Law Trilogie:

    Zitat

    Funnily enough, when I first wrote the First Law the Dogman’s chapters were written in the first person. And they were great (or I thought they were, at least). But my editors felt that they unbalanced everything else, giving a sense that this character was somehow THE central one of the series. In moving to third person limited those chapters lost perhaps a little immediacy, but they sat much more harmoniously with everything else.

    Ich würde generell davon abraten, sowas zu machen, nur weil man es spontan cool findet (außer es ist explizit ein Experiment in die Richtung natürlich), sondern würde mir sehr genau überlegen, welche Perspektive(n) am besten dazu geeignet sind die Geschichte, die ich erzählen will zu erzählen. Und die dann auch zu wählen. Sonst kommt man auch ganz schnell in eine "Gimmik"-Ecke, wo die Geschichte dann (zumindest scheinbar) NUR die seltsamen Perspektiven zu bieten hat.

    Am Ende kann es natürlich jeder Autor selbst entscheiden, aber wenn ihr mich fragt, wählt die Perspektive sich eigentlich immer selbst, wenn ich als Autor weiß, wo ich hin will. :pardon:

    Bei WdG haben Jennagon und ich uns entschlossen, die Geschichte aus 2 Perspektiven zu erzählen und das in 3. Person. Zum einen war das die Logische Schlussfolgerung daraus, dass das ganze aus einem RPG entstanden ist, und zum anderen kam 1. Person aus oben genannten Gründen einfach nicht in Frage. Da wir jeweils einen POV schreiben unterscheiden sich die Erzählstimmen der beiden auch einfach durch unsere jeweilige Art zu schreiben. Auch wenn die grundsätzlich ähnlich ist, gibt es doch ein paar Unterschiede in Wortwahl, Satzbau etc.

    An der Stelle ist vielleicht ein Feedback, das wir da sehr oft bekommen haben für diese Diskussion wichtig: Sehr viele Leser waren besorgt, dass die Tatsache, dass es 2 Autoren sind, sich beim Lesen durch stark unterschiedliche Stile bemerkbar macht, weil sie das aus dem Lesefluss reißen würde. Es war nie der Fall, weil siehe den Absatz zuvor, aber wenn jetzt einer von uns in 1. Person geschrieben hätte und der andere in 3. Person, wäre das Feedback dahingehend sicherlich anders ausgefallen.
    Und am Ende des Tages macht es keinen Unterschied, ob die unterschiedlichen Perspektiven von 2 Autoren kommen oder ob ein Autor das fabriziert :pardon:

    Bei Narak habe ich 10 POV Charaktere und es ist so schon schwer genug jedem Strang zu folgen, ohne dass ich noch 2 Charaktere in 1. Person einbaue. Ich habe sogar darauf verzichtet, innerhalb eines Kapitels den POV zu wechseln, sondern mich strikt an 1 Kapitel = 1 POV gehalten (wie bei ASOIAF zb.)
    Das passt für mich einfach am besten zu der Geschichte.

    Etiam hat bei seiner Geschichte hier im Forum standardmäßig eine 3. Person Perspektive mit mehreren Chars, aber bei einigen Stellen Ich-Form. Hier finde ich es ok (sogar gut), weil die Perspektive nicht wirklich als POV angelegt ist, sondern in einem Brief, der IN der Welt besteht angewendet wird. Also man liest den Brief, den Charakter X in der Ich-Perspektive schreibt (was an der Stelle auch das einzig richtige ist, wenn er nicht gerade Julius Caesar ist, der in der 3. Person von sich selbst redet.) Es ist also nichts anderes als würde man zuvor noch ein "Bob las den Brief vor:" setzen - kein echter POV.

    So, das soll erstmal genügen.
    LG Chaos :chaos:

    Ich verstehe natürlich, was du sagen möchtest und da bin ich grundsätzlich bei dir, nur war das zur Veröffentlichungszeit ja ein heftiger Horror für die Leser, wie es scheint.

    Wenn ich das richtig verstanden habe, kam der Aufschrei damals auch daher, dass der Vampirismus bzw gerade das beißen in den Hals eine Allegorie für Sex ist, weil man darüber nicht schreibt :D
    Und davon abgesehen: Nur weil es DAMALS neu und Horror war, muss das heute ja nicht mehr so sein :D
    Als Tolkien HdR veröffentlicht hat waren die Elben und Orks auch noch voll neu und krass und heute verdrehen viele nur noch die Augen, weil sie in jedem 2. Buch genau so vorkommen :D (Hinkt etwas der Vergleich, aber ich glaube man versteht was ich meine :D )

    Dracula prüft gerade meine Geduld. Nach den ersten 200 bis 250 Seiten gibt es fast nur gähnende Langeweile.

    Ich fühle mit dir. Im Februar hatte ich es auch angefangen zu lesen und irgendwann im August bin ich fertig geworden, weil ich vor Langeweile kaum Lust hatte

    Dracula ist ein gutes Beispiel dafür, dass "richtige Literatur" aka Literatur die für die Literaturgeschichte wichtig sind, nicht unbedingt gute Bücher sein oder gelesen werden müssen :D
    Dracula ist deshalb wichtig, weil es Geschichten mit mehreren Protagonisten/POVs bekannt gemacht hat, nicht weil es tolle Unterhaltung ist xD

    OT: Ich lese, bzw höre, gerade die First Law Reihe von Joe Abercrombie. Die erste Trilogie habe ich schon durch und bin sehr zufrieden damit :D Aktuell ca 75% von Best served cold dem ersten standalone Roman aus der Welt - ebenfalls sehr gut geschrieben und ich werde den Rest auf jeden Fall auch konsumieren :D
    Falls Interesse an einem ausführlicheren Fazit besteht, lasst es mich wissen xD

    Ich schicke jetzt mal einen Disclaimer voraus: Im allgemeinen mag ich Ich-Erzähler nicht und Präsens auch nicht :D Bedenk das bitte, wenn du liest, was ich dazu schreibe xD

    Mir scheint, dass dir die 1. Person als Erzählperspektive besser liegt als die 3. Person :hmm: Zumindest hatte ich beim lesen das Gefühl, dass du schon deutlich näher am Charakter bist als bisher und dass es dir leichter fällt, dich auf wesentliches zu beschränken. Ich glaube kaum das ich das sage (wegen dem Disclaimer, nicht wegen dir xD) aber mir gefällt es so beinahe besser :hmm:
    Allerdings weiß ich nicht, ob ich mehrere Ich Erzähler geil finde (oder einen Wechsel zwischen den Perspektiven). Machen kannst du es natürlich dennoch und meine Meinung ist auch nur eine Meinung xD
    ICH würde es nicht tun, da imo die 1. Person besonders dafür geeignet ist, sich auf EINEN Charakter zu fokussieren und ich wechsel in der Erzählperspektive (also Art, nicht Charakter) sehr disruptiv für meinen Lesefluss finde. (Um es mal klar zu sagen: Es würde meinen inneren Monk zur weißglut treiben xD)

    Zudem noch als Hinweis: Bei der dritten Person kommst du damit davon, wenn du die Charaktere ein bisschen distanziert beschreibst, oder sie sich in ihrer Erzählstimme ähneln - bei der 1. Person ist das deutlich auffälliger.

    Das führt mich zu der absurden Schlussfolgerung, dass ich es zwar als Einzelkapitel besser finde, aber es (persönlich) dennoch nicht machen würde, da DP mehrere POVs hat :D

    Aber wie gesagt ... meine Meinung :D

    Ich weiß nicht, ob das jetzt hilfreich war, aber ... joa xD

    LG Chaos :chaos: