Draußen vor der Tür lungerten ein paar Leute herum. Jonna starrte sie herausfordernd an und weitere Wolfszeichen verschwanden von ihrem Radar. Nur noch drei saßen ihr jetzt kribbelnd im Nacken.
Und als sei ihr nicht siedend heiß vor Angst, straffte sie die Schultern und ging erhobenen Hauptes hinüber zu ihrem Bahnsteig. Der Zug war noch nicht da, obwohl er immer sehr viel eher eintraf und eine längere Standzeit hatte hier in Leipzig. Jonna fluchte innerlich. Sie hätte diesen Wölfen nichts entgegenzusetzen, wenn die sich dazu entscheiden sollten, sie einfach von hier wegzuzerren.
Doch niemand kam, um sie aufzuhalten oder gar zu entführen. Jonna sah sich um. Der Vikinger und der Schlacks waren ebenfalls aus dem Buchladen gekommen. Sie standen nun mit den fünf anderen einfach nur so da und starrten sie an. Worauf warteten die? Wahrscheinlich auf diesen Marc. Verdammt! Und der Zug kam noch immer nicht. Jonna zitterte vor Anspannung.
Wo waren die anderen drei? Jonna aktivierte ihre Wolfssensoren ein weiteres Mal. Zwei von ihnen waren… auf Toilette? Ähm… okay, das war unerwartet. Und der dritte? Der stand irgendwo vor ihr auf dem Bahnsteig. Wie war der dorthin gekommen? Sollte sie unbeschadet aus diesem Kackmist hier herauskommen, würde sie versuchen, ihre Sensoren permanent angeschaltet zu halten. Es war wenig hilfreich, sie immer neu aktivieren zu müssen. Sehr wenig hilfreich!
Aufmerksam musterte sie die Personen vor sich. Wer bist du, Wolf? Das Mädel mit der Gitarre? Der junge Kerl mit der Ditsch-Pizza? Die Mutter mit den zwei Kindern? Nein. Das Kribbeln höhnte weiter in ihrem Nacken. Der Wolf konnte nicht weit sein, sie spürte ihn doch in nicht mal zwei Metern Entfernung! Jonna machte einen Schritt nach vorn, auf die Stelle zu, wo sie den Wolf spürte. Und da sah sie ihn. Besser gesagt, sie sah Beine. Schwarze Hose in fast schon edlen Herrenschuhen. Der Kerl hatte sich hinter der Anzeigetafel für die Abfahrtszeiten gestellt. So ein Blödie! Dachte er wirklich, sie würde ihn nicht finden?
Jonna zog eine Grimasse, als ihr einfiel, dass sie ja auch einen Zeitungsständer als gutes Versteck vor Wölfen betrachtet hatte. Selber Blödie! Sie holte tief Luft und ging kurzentschlossen um die Tafel herum.
Der Typ sah ihr ruhig entgegen. Und er sah verdammt noch mal gut aus! Strubbeliges schwarzes Haar, tief dunkle Augen und ein gepflegter Dreitagebart in schwarz und etwas grau. Jonna schluckte. Reiß dich zusammen, Mädel! Das ist ein Wolf! Das ist nix zum Naschen!
Der Typ schenkte ihr ein Lächeln und der Wunsch zu Naschen wurde stärker. Doch Jonna verbot sich derartige Gedanken und zog die Brauen finster zusammen: „Hat Ihr Chef sie geschickt, um mir hinterzuspionieren?“ fragte sie so böse, wie sie nur konnte.
Das Lächeln des Mannes wurde intensiver: „Hat er, ja!“
Grins nicht so, Strubbel! Jonna versuchte, weiterhin wütend zu sein, weil Angst eher kontraproduktiv war und Lüsternheit sie jetzt wahrscheinlich auch nicht weiterbrachte. Also Wut. Okay.
„Was will er von mir?“ fragte sie barsch.
„Wissen, wer du bist.“ Die Antwort war so fies logisch. Das war unfair! Konnte er nicht versuchen, Ausreden zu benutzen? Damit sie nen Grund hatte, wütend zu sein? Ne… der Kerl lächelte einfach.
„Hören sie, ich find das nicht doll, dass sie mich hier belästigen…! Ich … äh… rufe die Polizei! Jawohl! Gehen Sie weg!“
Der Mann nahm sein Lächeln etwas zurück.: „Ich belästige dich nicht. Ich steh hier nur so rum. Du hast mich angesprochen, nicht umgekehrt!“ Irgendwie wirkte er trotzdem amüsiert. Scheißkerl!
„Hören Sie… würden sie mich in Ruhe lassen, wenn ich ihnen sage, wer ich bin?“
Der Mann zog interessiert die Augenbrauen hoch: „Ja, würde ich!“ sagte er.
„Liana Müller. Riesa. Bahnhofstraße 4…“, Jonna blickte den Mann herausfordernd an. „reicht das?“
Der Wolf sah sie taxierend an: „Ich glaube dir nicht.“ sagte er dann leise.
„Dann lassen Sie‘s halt!“ fauchte Jonna. Es wäre auch zu einfach gewesen.
Der Zug fuhr ein. Und Jonna würde nichts tun können, um den Mann daran zu hindern, hinter ihr in den Waggon zu steigen. Verdammter Kackmist!
„Du hast Angst, nicht wahr?“ Der Mann sprach jetzt noch leiser. „Du musst keine Angst haben! Wir wollen wirklich nur wissen, wer du bist.“
„Ich habe keine Angst“, log Jonna. Als Beweise trat sie an ihn heran und legte ihm die Hand auf den Arm. „Ich bin nur gern alleine. Ich möchte niemanden sehen oder gar kennenlernen! Okay?“
Die Stimme in Jonna begann unglücklich zu winseln. Still, Joa, bitte! dachte Jonna nervös.
Der Mann legte seine Hand auf die ihre. “Ich…“, begann er und verstummte. Mit großen Augen starrte er auf ihrer beider Hände, die in sanftem Blau leuchteten…
„Was zur Hölle…“ Jonna riss sich los und stolperte rückwärts gegen die Anzeigetafel. Dann fuhr sie herum und stürmte in den Zug. Fahr los! Fahr verdammt nochmal los! Doch der Zug ignorierte ihren Wunsch. Jonna sah nach draußen.
Der Strubbelkopp stand da und betrachtete sie auf eine eigentümliche Weise. Dann trat er einen Schritt zurück und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
Jonna verstand ihn nicht. Wieso kam er nicht hinterher? Nicht dass sie das wollte, aber wieso?
Dann, nach mehreren Minuten schweigenden Hin-und-Herstarrens begriff sie: Er wollte, dass sie wußte, dass er hierbleiben würde. Dass er eben nicht zwei Waggons weiter doch noch einstieg, um ihr zu folgen.
Jonna seufzte erleichtert auf. „Danke!“ sagte sie leise und sah, dass der Mann sie verstanden hatte. Er nickte ihr zu und das Lächeln, das er jetzt trug, war warm und fürsorglich.
Die Wagentür schloss sich und der Zug fuhr an. Jonna hob die Hand zu einem letzten Gruß…