Kapitel 32
Narben
Letzter Teil
„Macht euch bereit zum Öffnen des Tores!“, verkündete Durin, als er von dem Karren stieg.
Obwohl sie nur ein paar Schritte von Tjelvar trennten, schoben sich direkt mehrere Menschen zwischen ihnen. Eilig quetschte sie sich durch das Getümmel und stand mit kribbelnden Beinen vor ihm. „Endlich geht es los. Hast du es mitbekommen? Durin hat dich zum Kommandanten gemacht.“
„Ja, ich war auch überrascht“, brummte er.
„Sogar Metjan muss auf dich hören.“ Sie lachte.
Tjelvar nickte.
Anscheinend war die Zeit der vielen Worte vorbei. Sie wusste, dass Tjelvar verschwiegen war, doch gestern hatte sie kurz die Hoffnung gehabt, dass sich das zwischen ihnen geändert haben könnte.
Vielleicht konzentriert er sich auch nur auf seine Aufgabe.
Sie sah kurz zu Frod hinüber, der wie gebannt auf das große Tor starrte.
Auf den beiden muss eine Menge Druck lasten.
Es war inspirierend zu sehen, wie sie sich in ihre Rolle fügten, als diejenigen, die Dunhaven vom Joch des Untodes befreien würden. Sie gingen voran und das schon seit Jahren.
Elina dachte an Tjelvars Narben. Gestern Abend hatte sie sie gesehen. Anders als sie trug er die seinen auf den Händen, den Schultern, der Brust und auf dem Bauch. Nicht auf dem Rücken. Tjelvar war ein Mensch, der stets vorwärtsging. Auch wenn sie ihm auf Est einen Schubs geben musste, zeigen die alten Wunden ganz klar, wie Tjelvar mit seinen Problemen umging.
Sie war aus Mithal geflohen, sie war aus den Marschen geflohen. Aus Dunhaven würde sie nicht fliehen, sondern endlich zum Angriff übergehen. Sie ballte die Fäuste. Sie spürte die Runen auf ihrem Rücken schon fast. Ein Jucken, ein Brennen. Sie wird das Geheimnis, welches sie umgab, lüften, auch wenn das die ein oder andere Narbe bedeutete. Selbstsicher sah sie Tjelvar in die Augen. „Heute werden wir unser Schicksal schmieden und jeder macht mit. Sogar Ille hilft, dann will ich nicht nur untätig mitlaufen. Ich hole meinen Schild und dann werden wir gemeinsam Helhaven erobern!“
„Du kommst nicht mit.“
Die Zeit stand still. Die Menschen um sie herum, der Lärm und der Berg vor ihr, all das verschwand aus ihrer Wahrnehmung. Taubheit in Armen und Beinen verscheuchten das Gefühl von Lust und Tatendrang. „Was?“ Ihr fehlte fast die Luft, um dieses eine Wort auszusprechen.
Tjelvar schluckte. „Du kommst nicht mit“, wiederholte er trocken.
Sie lachte kurz und bitter. „Das ist nicht dein Ernst:“
Er wich ihrem Blick aus.
„Sag mir, dass das nicht dein Ernst ist“, schob Elina energisch hinterher.
„Ich habe dir versprochen, dass ich dafür sorgen werde, dass dir nichts passiert.“ Nachdem er das gesagt hatte, sah er ihr wieder in die Augen und raunte: „Deshalb, bleibst du hier.“
„Das hast du nicht zu entscheiden“, sagte sie ihm lauter ins Gesicht.
„Doch.“ Tjelvar verzog keine Miene. „Es ist ein Befehl.“
Elina wurde schwindelig. Die Taubheit in ihren Gliedern breitete sich aus, während sie angestrengt nach Luft rang. „Tu das nicht.“
„Ich werde dir von allem berichten, was wir finden, wenn wir zurück sind. Wir werden dein Geheimnis aufdecken, versprochen.“
Ein stechender Schmerz in ihrem Kopf, ließ sie die Hände gegen ihre Schläfen drücken.
Nicht schon wieder.
„Tut mir leid.“
„Sei still!“, fuhr es aus ihr heraus. Heiße Tränen sammelten sich in ihren Augen. Das hatte sie nicht erwartet. Nicht von Tjelvar. „Vor wenigen Stunden wollten wir das noch gemeinsam machen.“
„Das habe ich nie gesagt.“
Das nahm Elina die Luft. „Nie gesagt?“, hauchte sie kraftlos. Sie sammelte sich, starrte auf den Boden und kniff die Augen zu. Ignorierte den Schwindel. Ignorierte das Zittern in den Fingern. „Am Steg hast du mir noch eingeredet, dass wir gleich wären, und ich habe dich auf deine Reise nach Antworten begleitet.“ Ihre Stimme bebte und sie fand die Kraft wieder aufzuschauen. „Und jetzt stiehlst du mir meine Suche nach Antworten.“
„Ich habe dir doch gesagt, wir erzählen dir, was wir ...“
Elina schnitt ihn ab. „Und was, wenn ihr nicht zurückkehrt?“
Soldaten schielten in ihre Richtung.
„Was dann? Soll ich dann in Umgewissheit leben? In Ungewissheit sterben? Das ist der Wahnsinn, über den wir gestern gesprochen hatten. Der, wegen dem du diese Expedition riskiert hast. Aber ich habe dich am Steg gehen lassen, bin sogar mit dir gegangen. Und hier schließt du mich aus? Dabei ist es exakt das Gleiche, wie bei dir.“
„Nein ist es nicht“, sagte Tjelvar deutlich.
Verblüfft hob sie die Augenbrauen.
„Ich will dich beschützen, kommt dir das nicht in den Sinn? Da unten lauern Gefahren, für die du nicht gemacht bist.“ Eine beiläufige Handbewegung unterstrich seine Aussage.
In Elina drehte sich alles. Er beschützte sie und sie begehrte diese Geborgenheit. Aber das gab ihm nicht das Recht, über ihren Kopf hinweg zu entscheiden. Sie hatte den Entschluss selbst getroffen, ihr Leben zu riskieren, um endlich leben zu können. Um sich von dem zu befreien, was seit jeher ihre Erinnerungen an die Vergangenheit verpestet und ihre Gedanken an eine Zukunft bestimmt hatte. Sie gab jetzt nicht auf. „Aber weil es dort unten so gefährlich ist, braucht ihr jede Hilfe, die ihr bekommen könnt.“
„Aber du kannst nicht helfen!“, meinte Tjelvar forsch und beugte sich zu ihr herunter. „Was machst du, wenn ein Draugr vor dir steht? Hm? Wenn er dich mit seinen toten Augen ansieht und seine kräftigen Hände nach dir greifen?“
Tjelvars Gesicht war so von Zorn zerfressen, während er über diese Wesen sprach, dass es ihr beinahe Angst einjagte.
„Wenn sich seine Zähne in dein Fleisch bohren oder seine Klinge durch deine Haut schneidet“, führte er seine Erzählung fort. „Was machst du dann? Hältst du dann tapfer dein Schild zwischen dir und diesem Monster und gehst weiter nach vorne?“
Sie blickte ihm tief in die Augen. Auch wenn es mit jeder Sekunde schwerer wurde und mehr schmerzte. „Ich bin mutig“, kam es heiser.
„Aber das ist keine Frage von Mut. Du bist keine Kriegerin, du kannst nicht kämpfen!“ In seiner Stimme lag das Grollen eines aufkommenden Unwetters.
„Ich habe mein ganzes Leben kämpfen müssen“, gab sie ihm lautstark zu verstehen, während sie auf sich selbst zeigte. „Nicht jeder Kampf wird mit Blut und Stahl ausgefochten.“
„Aber diese Kämpfe!“, brüllte Tjelvar, dass sie erschrak.
„Und was mit Ille?“ Angestrengt unterdrückte sie das Kreischen in ihrer Stimme. „Oder Frod? Dein Freund ist ein Feigling! Als die Dunhaven brannte, hat er nur tatenlos zugesehen, während ich versucht habe, die Jondrs zu retten. Soll er dir den Rücken freihalten?“
„Hörst du überhaupt, was du da redest?“ Tjelvar sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Frod ist der wichtigste Mann, auf dieser Expedition. Ohne ihn, würde hiervon gar nichts stattfinden.“
Ein weiteres Horn ertönte. Bewaffnete Soldaten setzten sich in Bewegung.
Nein, so darf das jetzt hier nicht enden.
Hektisch sah sie sich um und erblickte den einzigen Mann, der Tjelvar überstimmen konnte.
Durin!
Hastig rannte sie zu ihm. „Durin!“
„Ich habe jetzt keine Zeit, ordnet Euch ein!“
An zwei Aussparungen des großen Tores wurden dicke Ketten befestigt.
„Elina, warte“, Tjelvar griff ihren Arm, doch sie entriss sich ihm gleich wieder.
„Durin, mein Jarl. Ihr müsst mich mitnehmen. Ich könnte von großer Bedeutung sein.“
Verwirrt sah er zwischen Tjelvar und ihr hin und her.
„Sie kommt nicht mit“, sagte Tjelvar.
Durin nickte. „Ihr habt es gehört. Der Kommandant der Expedition hat gesprochen.“
Verflucht nochmal!
„Ihr seid der Jarl, Ihr habt das Oberkommando.“
„Weib!“, schrie Durin sie an. „Was wollt Ihr von mir? Ihr wolltet, dass ich dem Südländer vertraue? Dass ich ihn einbinde, dann haltet Euch gefälligst selbst daran. Wenn Ihr nicht sehen könnt, wohin Euch eure Taten und Wünsche bringen, dann ist das nicht meine Schuld!“
Elina presste die Lippen aufeinander. Niemand sollte bemerken, wie sie anfingen zu zittern. Das war alles ganz große Scheiße. Sie hatte doch nur versucht, zu helfen, und jetzt schnitt sie sich an dem Scherbenhaufen, der wieder einmal aus zersplitterter Hoffnung bestand. Über die Gewissheit, dass sie es selbst war, die sich den Weg in den Berg verbaut hatte, wurde ihr so übel, dass ihr Bauch schmerzte.
„Das ist nicht gerecht“, nuschelte sie außer Atem.
„Geht zu Utjan“, sagte Durin. „Helft ihm in der Taverne, kümmert Euch um dieses kleine Mädchen oder bezieht zusammen mit den Flüchtlingen die obere Ebene, sobald wir sie gesäubert haben. Es gibt genug zu tun.“
„Nein! Ich werde mitkommen!“, sprach sie, ohne zu wissen, was ihre nächsten Worte sein würden. Die Verzweiflung sprudelte aus ihr heraus und die Tränen rannen über ihre Wangen. „Ich muss mitkommen. Ihr sagtet, ich sei mehr Dun als die meisten hier. Und wahre Dun opfern sich auf. Das will ich für Euch tun mein Jarl. Jeder darf helfen, aber mir wird das verzagt. Seht Ihr nicht diese Ungerechtigkeit? Ich habe immer in Eurem Sinne gearbeitet. Ich habe euch beim Enviki geholfen, ich habe Tjelvar zurückgeholt und ihr habt mich zu einer Dunyr gemacht. Besitze ich da nicht selbst etwas Entscheidungsgewalt oder ist dieser Titel bei den Dun nichts mehr wert?“
Durin starrte sie nur an. Sein Kiefer war angespannt, die blauen Augen dunkel wie eh und je.
„Wie meinst du das?“, vernahm sie Tjelvars tiefe Stimme.
Immer noch mit sich überschlagenden Gedanken drehte sie sich zu ihm um.
Eine eisige Aura umgab ihn.
Das Gefühl, etwas unsagbar Dummes getan zu haben überrollte sie, wie die Sturmflut das flache Land.
„Was meinst du mit zurückgeholt?“
Augenblicklich stand ihr der Schweiß auf der Stirn und ihr Magen schien sich vollständig um sich selbst zu drehen. „Ich meine ...“, stammelte sie.
„Warst du deswegen auf der Insel mit mir?“
„Nein, das ist jetzt nur ein dummer Zufall.“
Tjelvars Augen weiteten sich. „Deswegen hast du mich so oft an die Expedition erinnert. Weil er es dir gesagt hat.“ Er zeigte Durin.
„Ihr wisst, dass Ihr unersetzbar seid für diese Mission. Ich habe daraus nie ein Geheimnis gemacht.“
„Was? Aber so war das nicht!“, rief Elina den Männern dazwischen. „Also ja, Durin wollte, dass ich auf dich aufpasse, aber ich war wegen dir da.“
Und was dann geschah, drückte Elina das Herz zusammen.
Die Mine des Hünen verfinsterte sich und mit seinen Augen, welche eben noch vor falscher Erkenntnis geweitet waren, funkelte er sie mit einer Mischung aus Abscheu und Ekel an.
Er glaubt mir nicht. Warum glaubt er mir nicht?
„Bitte, du musst mir vertrauen, sonst wäre ich doch gar nicht erst mit dir auf die Insel gefahren.“
„Wie hättest du mich aufhalten sollen?“
„Hä, aber darum geht es doch gar nicht!“ Wie war es möglich, dass alle ihre Worte falsch aufgenommen wurden oder in der Luft verpufften?
„Für Euch bin ich nur ein Werkzeug. Ich kann Aldwa, das ist das Einzige, was Euch wichtig ist.“
„Nein“, sagte Elina und schüttelte heftig den Kopf. „Ich wollte dir nur helfen.“
„Hör auf“, schrie er sie an. „Die ganze Zeit geht es dir doch nur um dein Scheiß Geheimnis!“
Wieder wollte sie verneinen, aber über ihre Lippen drang kein Ton.
„Deswegen hast du mich damals angesprochen, deswegen bist du die ganze Zeit in unserer Nähe und bist mir auf die Insel gefolgt.“
Jedes weitere Wort war wie ein Messerstich in ihr Herz. „Ich bin dir gefolgt, weil wir gleich sind“, keuchte sie. Der Schmerz lähmte sie. Sie hielt sich die Brust und wandte ihr Gesicht von ihm ab.
„Dir war die ganze Zeit nur wichtig, dass ich in diesen Berg gehe. Wir sind uns nicht gleich. Denn du warst für mich ein Mensch, kein Werkzeug.“
„Hör auf!“, schrie sie unter Tränen. „Bitte!“
Doch Tjelvar hörte nicht auf.
Was er ihr noch an den Kopf schmiss bekam sie nicht mehr mit. Seine hasserfüllte Stimme kam einem Hämmern und Rauschen gleich, welches sich immer tiefer in ihren Geist drängte. Alles, was sie tat, machte es nur schlimmer.
Ich muss hier weg!
Taumelnd, als wäre sie wirklich körperlich angeschlagen, wich sie an Tjelvar vorbei und bahnte sich einen Weg durch die Menschen. Gehen, bevor noch mehr kaputt ging, wenn das überhaupt möglich war. Sie stolperte fast, als sie an der Treppe ankam, doch anstatt diese hinunterzustürzen, gaben ihre wackeligen Knie nach. Erschöpft ließ sie sich auf die Stufen sinken und lehnte ihren Kopf gegen das anliegende Steinmäuerchen. Sie wusste nicht, wie viele Sekunden sie einfach nur dasaß und ins Leere starrte, doch es dauerte nicht lange, bis eine unaufhaltsame Kraft aus dem Inneren sie dazu zwang laut aufzuschluchzen. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und ließ den Wellen freien Lauf. Tränen quollen über ihre Wangen und leidvolles Klagen über ihre Lippen.
Sie war da, die Chance endlich etwas herauszufinden.
Ich bin verflucht. Nichts, aber auch wirklich gar nichts funktioniert und jeder, dem ich auch nur ein bisschen zu nahekomme, lernt mich hassen!
„So ein verdammter Mist“, schrie sie und schlug gegen das Mäuerchen neben sich. Wie hatte sie das wieder geschafft? Gestern schien es so, als wolle Tjelvar das zusammen mit ihr machen. Hatte sie sich das nur eingebildet? War das etwa nie seine Absicht gewesen? Hat sie nicht erkannt, was sich unter der Maske befand?
Aber Tjelvar trägt doch gar keine Masken, dachte sie. Das war etwas, was ihr an ihm gefallen hatte. Sie hatte sich offensichtlich getäuscht. Die Erkenntnis trieb ihr erneut die Tränen in die Augen und ließ sie all die alten Verletzungen wieder spüren, die ihr Enttäuschung und Verrat eingebracht hatten.
Ich versteh das alles nicht.
Am Steg hatte Tjelvar es noch gutgeheißen, dass Elina aktiv war und selbst die Dinge in die Hand nahm. Und jetzt? Konnte er sich bitte einmal entscheiden?
Das ist so ungerecht! Sie schüttelte den Kopf. Hatte sie seine Hilfe als zu selbstverständlich erachtet?
Aber so wie er es dargestellt hatte, war es nicht!
Noch immer hörte sie seine wütende Stimme im Ohr. Das war schrecklich. Schützend legte sie ihre Arme um sich und versuchte, ein aufkommendes Schluchzen zu unterdrücken. Ein kläglicher Versuch.
Das alles hätte nie passieren dürfen! Daran schuld sind nur diese dummen Runen.
Ihre Hände wanderten nach oben zu ihren Schultern, wo sie sich festkrallten. Sie spürte ihre Nägel durch den Stoff und ihre Fingerknöchel schmerzten, so fest drückte sie zu.
Ich hasse euch! Ihr bringt mir nichts als Leid und Ärger!
Würde sich das denn ändern, wenn sie die Wahrheit hinter diesem schrecklichen Mal kennen würde? Machte es überhaupt Sinn, nach dessen Ursprung zu suchen? Sie wischte sich mit einem Ärmel die Augen trocken und starrte vor sich auf die Stufen.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie jemand neben ihr auf der Treppe stehen blieb.
„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte Frod.
Auch das noch.
Elina schwieg. Sie wollte ihre eigene weinerliche Stimme nicht hören.
Behutsam nahm Frod neben ihr Platz.
„Musst du nicht zur Expedition“, sagte Elina nun doch. Erstaunt über den Trotz in ihrer Stimme mied sie jedoch weiter den Blickkontakt.
„Ja, ich glaube ... es geht gleich los. Ich wollte dir nur noch etwas sagen.“
Elina seufzte. Sie konnte sich schon denken, worum es ging. Vermutlich hatte er mitbekommen, wie sie schlecht über ihn geredet und als Feigling dargestellt hatte. Heute lief einfach alles schief.
„Du hast recht“, sagte Frod.
Elina runzelte die Stirn.
„Ich hatte Angst. Und ich habe sie immer noch. Dass ich dir damals nicht geholfen habe, war wirklich großer Mist. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du mir überhaupt noch in die Augen sehen könntest. Hätte es im Gefängnis einen Spiegel gegeben, hätte ich ihn aktiv gemieden.“ Frod machte eine Pause und Elina dachte schon, dass das alles gewesen wäre und sie nun endlich ihre Ruhe wiederhaben könne. „Ich wollte mich dafür entschuldigen.“
„Lass gut sein“, meinte sie mit einem schwachen Kopfschütteln.
„Ich mein, du hast uns die ganze Zeit über geholfen.“
Ja, was ihre guten Taten mit sich gebracht hatten, hatte sie zu genüge gesehen.
„Und glaub nicht, dass Tjelvar das nicht sieht, er versteht, was du für uns getan hast.“
Bitte red nicht über ihn.
„Und du kannst mir vertrauen, wenn ich dir sage, dass er dafür dankbar ist.“
„Aber es ändert nichts!“ Ruckartig drehte sich Elina zu ihm um. „Hast du gehört, was er zum Schluss zu mir gesagt hat?“ Überrascht sah sie auf das zusammengefaltete Pergament in Frods Händen. „Was ist das?“
Ein unsicheres Lächeln huschte über Frods Gesicht. Zögerlich strich er mit seinem Daumen einen Knick im Papier glatt, ehe er es ihr hinhielt. „Der Versuch einer Wiedergutmachung.“
Vorsichtig, als könnte sie es zerbrechen nahm Elina das Geschenk entgegen. Sie entfaltete es nur so weit, bis sie erkannte, worum es sich handelte, und versteckte es danach unter ihren Armen in ihrem Schoß. „Das ist eine Karte“, flüsterte sie.
Frod nickte. „Durin wollte, dass ich mehrere davon anfertige. Sie zeigt auch die geheimen Ein- und Ausgänge. Ich weiß natürlich nicht, ob sie auch von innen noch intakt sind, aber einen kann man zum Beispiel vom Hafen aus erreichen, wenn man etwas aufs Eis hinaus geht und sich traut an der Klippe hinaufzuklettern.“
„Frod, ich ...“ Sie sah ihn mit Großen an, als er sich wieder erhob. „Dafür wirst du Ärger bekommen.“
„Ja, jeder verliert doch mal irgendwas. Ich habe hier schon einmal meinen gesamten Rucksack verloren. Da wird Durin auch sicherlich verstehen, dass einzelne Karten immer Mal wieder abhandenkommen. Von den Soldaten haben genug Leute eine, da darf ich sicherlich mal mit reinschauen.“ Er grinste.
„Danke“, sagte Elina.
„Ich möchte nur, dass du eins weißt.“ Frods Gesicht wurde wieder ernster. „Du und Tjelvar, ihr seid nicht gleich.“
Die Erwähnung seines Namens, ließ Elinas Herz sich zusammenziehen.
„Ich mag ihn. Er ist ein guter Mensch, dem viel Leid passiert ist. Und wenn er könnte, dann würde er diese Welt der Draugar und Götter niederbrennen. Du aber willst diese Welt verstehen. Alleine sich für diesen Pfad zu entscheiden ist, wenn du mich fragst, so viel mutiger. Aber gut, vor dir steht ein Archäologe ...“ Wieder lächelte er. „... der es einfach leiden kann, wenn jemandem die Möglichkeit genommen wird etwas entdecken zu wollen.“
Der Boden begann zu vibrieren, als sich das riesige Tor in Frods Rücken langsam anfing zu öffnen.
Die Soldaten wurden lauter und Elina bedankte sich noch einmal bei Frod, ehe ihre Stimme nicht mehr zu vernehmen sein würde. Als er sich von ihr Verabschiedete und zu den anderen eilte, wurde Elinas Griff um die Karte fester.
Sie und Tjelvar waren nicht gleich. Sein Ziel ist die Rache. Das war der Grund, warum es Elina so schwerfiel, darüber nachzudenken, was er wohl nach diesem Winter machen würde, wenn die Draugar besiegt und Rätsel gelöst wären. All das wurde ihr nun klar. Ihr Ziel jedoch war es, ein Leben aufzubauen. Frei zu sein. Eigene Entscheidungen treffen zu können. Und genau das, hatte ihr Frod für diesen Moment gegeben. Die Wahl, ob sie in Sicherheit warten oder in Gefahr nach vorne gehen wollte, lag nun in ihren Händen.
Sprichwörtlich, dachte sie, als sie auf die Karte blickte. Ein letztes Mal, wischte sie sich die Tränen aus den Augen und sah dann hinüber zu dem großen Berg.
Unter dem Rumoren des sich öffnenden Tores war das Jubeln der Meute nur das Rascheln eines Blattes im tosenden Orkan.
Sie sah zum Hafen. Dann wieder auf die Karte. Egal, wie sie sich entschied, selbst wenn sie diesen Weg von nun an alleine bestreiten müsste, so würde der nächste Schritt ganz und gar ihr eigener sein.