Beiträge von Du Vandír im Thema „Die Erforschung der Weißen Ruinen“

    Immer wieder gab es Momente, in denen Vaunir wieder bewusst wurde und feststellte, dass er sich in einer völlig neuen Stelle in diesem verfluchten Wald befand. Einmal hatte er den meterlangen Leichnam Quetzalcoatls gesehen, einmal den von Martha - in seiner geistigen Umnachtung hatte er sogar einmal gedacht, Khumulus zu sehen. Dann war ihm aber klar geworden, dass er den Geist nie wieder sehen würde und war haltlos in Tränen ausgebrochen. Dann war seine Erinnerung wieder verschwunden. Wo war er? War er besessen? Natürlich. Die Kraft. Er war unwürdig. Wie hatte er das nur tun können?

    Und dann kamen die Momente, in denen der andere Vaunir erwachte. Er war im Moment noch schwach, aber langsam, ganz langsam begann er, seinen Schlangenkörper zu entknoten und leise und hintergründig in die Gedanken des Elfen zu kriechen.

    Du bist mächtig. Du bist unaufhaltsam. Alle werden dir zu Füßen liegen. Kehre in dein Dorf zurück, wo deine alten "Freunde", diese erbärmlichen Verräter, immer noch leben. Wenn du dich ihnen jetzt zeigst, werden sie nicht anders können, als sich vor dir zu verneigen ...
    Die Stimme des anderen Vaunir war sanft, wiegend, wie ein Schlaflied, aber sie erfüllte ihn auch mit Zorn gegenüber seinen Feinden und mit Stolz auf seine Macht. Er fühlte sich beinahe glücklich. Beinahe. Das Glück schwebte immer ein Fingerbreit außerhalb seiner Griffweite und entfernte sich, wenn er versuchte, es zu erhaschen.


    Dann verschwand alles wieder. Kurz war es Vaunir, als schwämme er im Nichts, in einer unendlichen Schwärze. Als er die Augen öffnete, wusste er auch, woran das lag. Er war in seinem Sinnenschwund in einen Tunnel gelangt, jedenfalls klang es danach, der Kühle und dem Echo, das sein Kleiderrascheln verursachte nach zu urteilen.


    Er richtete sich auf und stellte fest, dass er Tunnel einen Steinboden hatte, aber eine runde Form. Die Wände waren nichts als lockere Erde. Kurz massierte er sich die Schläfen. Im Momen schien alles mit ihm in Ordnung zu sein. Keine flüsternde Stimme, die ihm Macht und Triumph versprach, keine Umnachtungsanfälle. Sie kündigten sich vorher immer mit einem Kribbeln in seinem Hinterkopf an.


    Nach ein paar unsicheren Schritten kam er auf die Idee, ein Licht heraufzubeschwören, das ihm den Weg erhellte. Er wusste nicht, wohin der Tunnel führte, aber irgendwo musste ein Ausgang sein.

    Hallo?, rief er zögerlich. Aber wahrscheinlich war es zwecklos, zu rufen. Er spürte keine Menschenseele. Dann blickte er nochmal auf den Boden und sah, warum das so war. Er konnte die Magie fließen sehen, die die übernatürlichen Sinne beschränkte. Dieser Tunnel war alt, und vermutlich sehr gefährlich.

    Vaunir atmete durch. Wo befand er sich? An einen Baum gelehnt, zusammengekrümmt unter Schmerzen, die von nirgendwo und überall zu kommen schienen. In einem Wald. Er wusste, dass er eingesperrt war, und dass er herauswollte.
    Er erinnerte sich an das Gesicht der alten Frau, die er getötet hatte. Er sah jetzt so viel mehr, die Myriaden von Falten auf ihrem Gesicht, Falten der Einsamkeit und der Entbehrung. Sie hatte das, was er ihr genommen hatte, hier unten gehalten und versiegelt. Doch er würde das nicht tun. Er würde es allen zeigen, und niemand würde ihn jemals wieder verstoßen. Er wär kein Gejagter mehr, müsste sich nicht mehr unter seinem zweiten Namen verstecken. So viel Wissen rann durch sein Bewusstsein, dass er glaubte, sein Verstand müsse darunter zergehen.

    "Vaunir!", hörte er einen Ruf. Richtig, Khumulus.
    "Khumulus, hilf mir! Ich halte es nicht aus!", rief er und fühlte den Geist zurückzucken. Das letzte, was er fühlte, war ein gigantischer Schock. Vermutlich aufgrund dessen, dass der Kontakt mit Vaunirs Geist nun etwas reichhaltig sein musste.
    Unendlich vorsichtig tastete sich der Geist wieder an ihn heran.
    Nun fragte er zögerlicher: "Vaunir? Alter Freund? Bist du da?"
    "Ob ich da bin? Soll das ein Witz sein? Ich fühle mich besser als je zuvor. Ich brauche dich, Khumulus. Verlass mich nicht, in Ordnung? Du warst immer ein treuer Freund. Verlass mich bitte nie wieder."
    Verwirrung glitzerte durch die dünne geistige Verbindung, die ihre Seelen füreinander öffnete.
    Vaunir dachte nicht darüber nach, was er nun tat. Es fühlte sich schlichtweg richtig an. So richtig.
    "Komm her, mein Freund", sagte er. "Komm ganz nah zu mir her ..."
    Bevor der kleine Geist reagieren konnte, ließ Vaunir eine spektrale Erschütterung durch die Realität auf sich zulaufen, die das kleine Irrlicht zu ihm her schleuderte. Der Elf öffnete seinen Mund und atmete tief ein - er spürte einen letzten panischen Funke von seinem langjährigen Begleiter ausgehen, dann hatte er ihn verschlungen und seine Kraft aufgenommen.
    "Aaah, wahrlich schmackhaft. Ich danke dir, Khumulus. Ich werde dich nie vergessen. Du wirst immer ... einen Platz in meinem Inneren haben." Er lachte über seinen Witz. Der Schall hallte stumpf von den dicht stehenden Bäumen zurück und verging sich in Totenstille.

    "Hey, hey, Moment mal, Alte. Langsam! Was ist denn los?" Vaunir war von Marta überrumpelt worden, als sie ihn schlicht bei der Hand genommen und in die seinen Verbündeten gegenüberliegende Richtung gezerrt hatte. Als sie außer Sicht waren, drehte sie sich zu ihm um, die Augen weit aufgerissen, und deutete mit zitterndem Finger anklagend auf ihn.
    "Du weißt genau, was los ist, Elf" Das Wort "Elf" spuckte sie abfällig aus. Dann drehte sie sich unverhofft wieder weg und fing an, von ihm weg zu schreiten. Aus ihrem Mund tönten brabbelnde Geräusche, und immer wieder konnte Vaunir das Wort "Unwürdiger" heraushören.
    Khumulus, wenn das kein Beweis ist. Bist du bereit?
    Ich bin immer bereit, du Genie. Wie immer sarkastisch, der kleine Feuergeist.
    Als Vaunir die Feuerkugel kanalisierte und auf die äußerlich schwächliche, alte Frau herabschießen ließ, wirbelte sie herum und hielt die Hände hoch. Das Feuer blieb in der Luft hängen, färbte sich blau und verschwand.
    Ein krächzendes Lachen tönte aus ihrem Mund. Dann sagte sie: "Duuuuuuuhh ... Duuuhh hinterlistiger kleiner Elf. Ja, ja, die sind's immer, die Elfen. Immer hungrig nach Wissen, nach Magie, nach Macht ... Aber was willst du tun? Versuchen, mich mithilfe deines kleinen Freundes in Flammen zu setzen? Oder willst du die Natur zuhilfe rufen? Oder vielleicht dein Gift?"
    Vaunir grinste. "Das war das Stichwort", meinte er. "Es müsste anfangen zu wirken ... genau ... jetzt." Er schnippte mit dem Finger und ein paar grüne und gelbe Funken schossen daraus hervor. Er fühlte, wie schon dieser kleine Naturzauber an seinen Vorräten zehrte, doch es war nichts im Vergleich zu den Resultaten.
    "In diesem Wald wächst so manches Kraut, musst du wissen", redete er weiter. Währenddessen hielt sich die alte Frau die Hand an den Hals und fing an, zu keuchen.
    "Unter anderem auch ein sehr seltenes Kraut, dem sich die Shinzik bei der Jagd bedienen. Mein Lehrer hat mir glücklicherweise von den Konflikten mit diesem veralteten Volk erzählt. Es ist lustig - die Shinzik sind magischer Natur, aber alles, was sie von ihren Kräften nutzen, setzen sie ein, um das Lähmungskraut im Körperinneren ihrer Beute zu aktivieren. So wie ich eben."
    Marta war schon nicht mehr in der Lage, zu antworten.
    "Ebenfalls interessant ist, dass es kein bekanntes Gegenmittel dafür gibt. Nicht einmal Magie kommt dagegen an. Beeindruckend, nicht wahr? Alles, was ich tun musste, war, es zu pflücken und dir in das Abendessen zu schmuggeln. Die Jahrtausende haben dich wohl unvorsichtig werden lassen. Naja, gut für mich. So kannst du gemütlich ersticken, während das Geschenk an mich übergeht."
    Der letzte Funke Leben verglimmte in den Augen des uralten Wesens, das einmal eine einfache Menschenfrau gewesen war und durch reinen Zufall über das Artefakt der gefallenen Zivilisation gestolpert war. Als sie endlich zu Boden gefallen war, trat Vaunir an sie heran und nahm ihr das Amulett ab, das um ihren Hals hing. Als sie am Leben war, war es fest an ihrer Brust verankert gewesen, doch nun war es herrenlos. Und es schmiegte sich an Vaunirs Brust an, als hätte es schon immer dort hin gehört.

    Mithrils Warnruf weckte die anderen. Die Gruppe sprang auf - Marta erhob sich ächzend - und alle zückten die Waffen. Vaunir hielt sich unauffällig im Hintergrund. Schritt für Schritt schob er sich zu Marta. Sie hatte ihnen gestern gesagt, dass sie sicher seien, wenn die Shinzik sie nicht für Eindringlinge hielten; das musste bedeuten, dass sie Marta in diesem Wald duldeten. Mithril, Tara und Tepsrak hatten ihm den Rücken zugedreht und konnten daher nicht sehen, was er machte.
    Einer der Shinzik trug eine Art Krone aus bunten Federn. Wahrscheinlich war dies der Anführer. Ein anderer Echsenmann redete in einer klickenden und zischenden Sprache auf ihn ein und deutete auf Marta und den Elfen. Der Anführer beäugte die ganze Gruppe einen nach dem anderen, nickte und gab einen unverständlichen Befehl.
    Tara drehte sich um und flüsterte: Marta, kannst du verstehen, was die reden?
    Die nickte nur, aber gab keinen Laut von sich. Auf ihrer Stirn glänzte eine Schweißperle.
    Ob sie es schon ahnt?, fragte Vaunir seinen geistigen Gefährten.
    Vermutlich. Wenn sie so alt und mächtig ist, wie wir vermuten, hat sie schon alle Tricks gesehen. Wir müssen äußerst vorsichtig sein.
    Die Echsen reckten die Speere vor und gingen auf die Gruppe zu. Der Anführer blieb zurück. Sie beobachteten, wie er den Mund öffnete, und plötzlich fing er an, in ihrer Sprache zu sprechen: Ihr drei ... kommtz mitz. Der Elffh und Martzza versshhwinden. Er hatte Schwierigkeiten mit der Phonetik; er sprach viele Laute zischend und langgezogen aus.
    Plötzlich lagen vier Augenpaare auf Vaunir. Er zuckte mit den Schultern und machte ein ratloses Gesicht.
    Was wird mit uns geschehen?, fragte Mithril den Shinzik.
    Dieser antwortete: Wir werden den grosssen Ssotekh befragen, und wenn er euchhh für vertssrauenswürdig erkhhlärtz, dürfft ihr wieder gehen.
    Und wenn nicht? Die Frage blieb unausgesprochen.
    Es war perfekt. Es hatte funktioniert. Vaunir hatte Mühe, sein Triumphgefühl im Zaum zu halten.

    Die Soldaten rückten noch näher heran und umzingelten Tara, Mithril und den Dämonen.
    Wehrt euch nicht, meinte Marta. Im Unterholz um uns herum lauern zwei Dutzend von ihnen.

    Die Nacht war für Vaunir sonderbar unruhig. Seltsam laute, vermutlich exotische Grillen sandten ihr Geraschel und Geknister durch die Bäume und Büsche, und die grotesken pflanzlichen Strukturen, beschienen von einem diffusen Licht, warfen unheimliche Schatten auf den Boden. Er fragte sich, was es mit dem Licht auf sich haben könnte, aber er konnte nur vermuten.
    Immer wieder knackte oder raschelte es im Unterholz. Nachtvögel riefen, Fledermäuse qiekten, Kreaturen, denen er lieber nicht begegnen wollte, kurrten ...
    Plötzlich bemerkte er eine Gestalt, die wohl schon seit einer Weile im Gebüsch stand und sie beobachtete. Ein regungsloser Echsenkopf mit zwei schillernden Augen musterte sie. Die Zunge schoss immer weider hervor und überprüfte die Luft. Der Shinzik machte keinen feindseligen Eindruck.
    Unschlüssig, was er tun sollte, stand Vaunir auf. Die einzige Reaktion des Echsenmenschen war die leise Andeutung eines Nickens.
    Davon ermutigt ging er langsam auf ihn zu.
    Er stoppte nicht, bis er direkt vor dem Shinzik stand. Er machte eine leichte Verbeugung.
    Wieder nickte die Echse. Dann drehte sie sich blitzartig um und verschwand im Unterholz.

    Sagt mir, Marta, wie lang wahrt Ihr nochmal schon hier? Vaunir wollte mehr über sie erfahren. Sie war wie ein Mysterium, auch, wenn er bereits eine zentrale Sache über sie wusste.
    Sie lachte nur leise und meinte: Lang, mein Kind, lang. Mehr musst du nicht wissen.
    Und wenn ich mehr wissen will?, bohrte er nach.
    Die Alte stoppte kurz und meinte Du bist ein Wissbegieriger, nicht? Naja gut, sagen wir es so, Elf: Ich bin schon so lange hier, dass ich mich in den Jahren verzählt habe.
    Verstehe, murmelte er zur Antwort.
    "Also, wir sind schon so weit, dass wir wissen, wieso sie so alt ist. Aber die Frage ist, wie wir es aus ihr herausbekommen.", dachte er an Khumulus gewandt.
    "Geduld, ich überlege noch", antwortete der nur einsilbig.


    Stundenlang liefen sie stumm nebeneinander her. Immer wieder tauchte Luan auf. Die anderen mochten sich aufgrund seiner gewaltigen Statur vor ihm fürchten, doch Vaunir fand ihn faszinierend. Der Matikor war das seltsamste Wesen, das er je zu Gesicht bekommen hatte. Nicht einmal die Sengir waren so wunderlich. Ein Wildkatzenkopf mit goldenem Fell mündete in einem annähernd menschlichen, doch grotesk verzerrten Gesicht ...
    Er hoffte, dass ihm das Tier nicht im Weg sein würde. Natürlich musste er sich auch überlegen, wie er die Anderen für kurze Zeit aus dem Weg schaffen könnte ... Er streichelte es vorsichtig hinter dem Ohr.

    Wie lang brauchen wir noch?, fragte Tara. Salem krächzte leise von ihrer Schulter herab.

    Die anderen schliefen. Tara schnarchte leicht, und Tepsrak gab immer wieder Geräusche von sich, die Vaunir stark an Schnurren erinnerten.
    Er war noch wach und nachdenklich.
    "Ich bin die Letzte, ich muss bleiben ..." hatte Marta gesagt.
    "Khumulus, es scheint, als hättest du Recht behalten. Ich bin beeindruckt."
    "Behalte deine Bewunderung für dich, junger alter Freund. Ich habe viele Zeitalter und deren Wunder gesehen. Ein Geist meines Alters muss um die Ecke denken können."
    Es war gut, dass sie beschlossen hatten, Marta zu vertrauen. Vaunir würde abwarten, und wenn die Zeit reif war, würde sich zeigen, wer wirklich würdig war ...

    Als Marta den Griff in die Hand nahm und ihren Dolch zog, sprangen Mithril und Tara auf. Tepsrak spannte seinen Körper an. Alle waren plötzlich auf einen Kampf vorbereitet. Nur Marta kicherte und musterte Vaunir, der ruhig sitzen geblieben war.
    "Jaja, die Elfen. Immer reserviert, nicht wahr? Er ist der einzige von euch, der Manieren hat. Keine Sorge, ich werde niemanden abstechen ... auch, wenn ich dazu gut in der Lage wäre." Sie zwinkerte Tepsrak zu.
    "Sie hat recht", meinte Vaunir nun. "Beruhigt euch. Wir sind erstens zu viert, und zweitens - schaut sie euch an. Vielleicht ist sie alterslos, aber trotzdem sehr alt. Und welches Großmütterchen würde ein paar Waisen umbringen, die es eben auf der Straße aufgelesen hat?" Er blickte Marta dabei sarkastisch an.
    Sie nickte langsam und legte den Dolch für alle gut sichtbar auf den Tisch neben sich.
    "Also gut", schnaubte Tepsrak und setzte sich auf einen Hocker. "Ich würde trotzdem gerne deine Geschichte hören, Marta."
    Sie schüttelte den Kopf. "Junge Kinder, Kinder ... Ihr seid so jung und so ungeduldig. Aber an mir soll's nicht liegen. Setzt euch hin, alle. Sagt mir, wie ihr heißt, und dann sage ich euch, wer ich bin." Sie schlürfte an ihrer Teetasse.

    Vaunir wich einen Schritt zurück. Diese alte Frau war soeben innerhalb der Dauer eines Wimpernschlags fünf Meter an sie herangekommen ...
    Und die Leute sagen noch, mit dem Alter käme die Schwäche ...
    Sie blickte ihn an. Es verunsicherte ihn - es war kein weißer Fleck in ihren Augen zu entdecken, nur pure Schwärze.
    "Bessere Frage, Elf. Wer seid ihr? Immerhin ist das hier meine Heimat, und ihr seid ungebeten hier eingedrungen!"
    Niemand rührte sich. Keiner von ihnen wusste, was er von der Greisin halten sollte.
    Irgendwann räusperte sich Tara und meinte: "Wir sind nicht absichtlich hier. Wir wurden alle irgendwie in die Ruinen über uns getrieben, und haben uns mit der Zeit zu dieser Gruppe zusammengefunden." Die anderen nickten zögerlich.
    Die Frau musterte sie einen nach dem anderen. Sie schien nicht zufrieden mit dieser Antwort ...

    Sie alle waren müde, aber es war klar, dass eine Wache gebraucht wurde. Dieser Untertage-Wald, in dem sie sich befanden, mochte noch viele Kreaturen beherbergen, obwohl sie vermutlich weniger wehrhaft wären als der Schlangengott, dessen töter Körper etwas entfernt lag und in den Lichtstrahlen ihres Feuers schilllerte.
    Eben hatte Vaunir den anderen noch versucht, ein paar Grundlagen der Sternkunde zu vermitteln, doch niemand schien sich besonders dafür begeistern zu können. Im Gegensatz zum Rest der Gruppe fühlte er sich noch halbwegs fit.
    Als Mithril also fragte, wer die erste Wache übernehmen wollte, meldete er sich sofort. Die anderen legten sich erleichtert hin. Er hockte sich an das Feuer, nicht sicher, wann er die nächste Wache wecken oder was er in der Zeit machen sollte.
    "Weißt du ...", sprach ihn Khumulus an, " ... ich muss ständig über das nachdenken, was der alte Mann uns gesagt hat. Das mit dem Artefakt, das irgendwo hier versteckt ist, und das nur eine würdige Person finden kann."
    "Spielt das denn eine Rolle? Wir alle wollen hier nur noch raus", gab Vaunir zurück.
    "Ja, schon ..."
    Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber traute sich nicht. "Ja? Du kannst es ruhig sagen, dich hört niemand außer mir", beschwichtigte der Elf den Geist.
    "Es ist nur, ich glaube, zu wissen, wo dieses Artefakt ist."
    Vaunir sprang vor Überraschung auf. "Meinst du das ernst?!?"
    "Ja!" Khumulus' Aufregung war intensiv spürbar.
    "Und wo, meinst du, ist es?", fragte der Elf.
    "Also ..."
    Sie redeten noch lange Zeit, bis spät in die Nacht.
    Am nächsten Morgen stellte Vaunir fest, dass er eingeschlafen war, ohne jemand anderen zu wecken.

    Sie standen da - zitternd, bleich, unsicher. Erschrocken. Aber Vaunir war sich sicher, dass sie alle die Wärme in ihrer Brust spürten, die der Sieg, aber vor allem die gegenseitige Offenbarung verursacht hatte. Quetzalcoatl war tot.
    Er ließ seine leicht zitternde Hand sinken. Die Schüsse waren präzise gewesen, dafür hatten lange Jahre der Übung gesorgt. Mithril hatte genauso schnell reagiert; die Sehnen ihrer Bögen zitterten noch.
    Tepsrak blickte sie an, einen nach dem anderen. Vaunir wich instinktiv ein Stück zurück. Was er gesehen hatte, hatte ihn erschrocken. Was er gesehen hatte, hatte jeder Vernunft entbehrt. Es war sichtbar gewesen, wie der Dämon Stück für Stück seine Hemmungen fallen ließ, wie er immer wilder wurde und in den Blutrausch versank, an dessen Ende die Flammen gestanden hatten.
    Er hatte sie gerettet.
    Vaunir verstand jetzt auch, wieso Khumulus ihn gefürchtet hatte und immer noch etwas fürchtete. Sollte es einmal so weit kommen, dass Tepsraks Zorn sich gegen sie wenden würde, wäre der kleine Geist, also nichts weiter als ein Fetzen Magie mit einem Bewusstsein, wie ein Tropfen, der auf eine Bratpfanne fiel - verdampft.
    Er hatte auch die Stränge gesehen, an denen die Flammen entlanggewandert waren. Vermutlich waren sie für Tepsrak als Magie sichtbar.
    Die Sekunden vergingen, und mit jeder weiteren klärte sich der Blick des Dämons wieder. Als er Vaunir wieder ansah, konnte dieser nicht anders als zu grinsen. Er wusste nicht, wieso, aber er fühlte sich einfach gut.
    Neben ihm fing Mithril an zu lachen, und Tara war ebenfalls erheitert. Und aus Tepsraks Kehle drang ein rhytmisches Grollen, das nur als Gelächter zu benennen war.

    Was ist gelogen und was ist wahr? Der Satz hallte in Vaunirs Kopf nach wie ein Gongschlag. Er fiel ihm sprichwörtlich ins geistige Auge, und er wälzte ihn auf der Zunge hin und her, während Mithril geistig von Quetzalcoatl attackiert wurde. Zählt die Wahrheit denn überhaupt? Oder geht es darum überhaupt? Ist die Wahrheit nicht einfach das, was wir für wahr halten?
    Nun wussten sie, was er sein ganzes Leben lang verborgen gehalten hatte - bis auf diesen einen, schicksalhaften Tag, an dem er aus diesem Grund alles verloren hatte. Ihm war schlecht. Doch im Grunde kümmerte es ihn nicht. Er hatte Dinge über die Anderen erfahren, Dinge, die jeder von ihnen um jeden Preis versteckt halten wollte. Das brachte sie wieder auf die gleiche Höhe - und mit jeder Sekunde fühlte Vaunir sich wieder besser. Er hatte sich wieder aufrichten können.
    Seine Finger rieben an seinem Kinn, das inzwischen dünnen Drei-Tage-Flaum trug - die wenigsten Elfen hatten einen anständigen Bartwuchs. Er überlegte fieberhaft. Sein Gefühl sagte ihm, dass er kurz davor war, die Lösung für ein Rätsel gefunden zu haben.
    Was zählt die Wahrheit denn noch, wenn sie nur darauf basiert, was wir für wahr halten? ... Alles, würde ich sagen. Aber die Wahrheit muss nicht die Realität sein ... was ist gelogen, was nicht? Es ist egal, solange wir es glauben.
    Das müsste aber bedeuten ...

    "Tepsrak! Siehst du Magie um diese Schlange herum?!?" Wenn seine Idee nicht so wild aus der Luft gegriffen war, wie er befürchtete, dann war diese Schlange dabei, sie in ein fieses kleines undurchsichtiges Netzwerk einzuweben, einen Zauber, der sie alles glauben machen würde, was die Schlange von sich gab. Und da sie anscheinend in ihre Geister blicken konnte, wusste sie genau, was es brauchte, um sie aus dem inneren Gleichgewicht zu bringen.
    "Und selbst wenn, was willst du dagegen machen?", fragte Khumulus zweifelnd.
    "Du hast doch von diesem Magie verschlingenden Dämonen erzählt - hat Tepsrak vielleicht etwas von seinen Fähigkeiten geerbt?"
    "Unwahrscheinlich ..."
    "Ja, da ist etwas", antwortete Tepsrak. Sie mussten sich konzentrieren, um miteinander zu sprechen, da die Gedanken der Schlange zimelich dominant waren.

    "Stütze sie", meinte Vaunir zu Mithril, auf Tara deutend. Was er über Tepsrak erfahren hatte, ergab plötzlich Sinn. Warum er nicht wie die anderen Dämonen war, die Khumulus kannte, und warum er sie nicht getötet hatte. Er war keine irrationale Tötungsmaschine, und er war auch nicht machtgierig. Tepsrak hatte ihnen treu zur Seite gestanden und sogar das Leben gerettet. Vaunir beschloss in diesem Moment, ihm zu vertrauen.
    Entschlossen trat er vor und legte auf eine stumme Absprache seinen Geist mit dem von Khumulus zusammen.
    "Quetzalcoatl!", riefen sie mit Stimme und Geist. Der Kopf der Schlange zuckte zu ihm herüber. Die schmalen Augen glitzernden ihn hypnotisierend an. Ihre Boshaftigkeit bannte ihn, doch er fühlte, dass seine Gedanken umnebelt waren.
    "Vaunir ..." Er schauderte, als die Wesenheit seinen Namen aussprach. "Es ist mir eine Freude ... würden Deinesgleichen wohl sagen. Und damit meine ich nicht die Elfen ..." Vaunir fühlte den Ekel und Hass, den Quetzalcoatls Gedanken ausstrahlten. Panik entflammte in ihm. In den tiefsten Abgründen seiner Seele wand sich das gepeinigte Etwas, von dem er sich geschworen hatte, es für immer zu verstecken und zu versiegeln. Es wand sich gequält vor Angst und Selbsthass.
    "Du hast sie gesehen, all die Menschen. Und du hast die Gesichter derer gesehen, die du dich einst Bruder genannt haben. Wie sie sich getäuscht haben. Es ist mir ein Rätsel ...", die nächsten Worte zischte er wütend, "wie die Elfen, ein so edles Geschlecht, so eine Missgeburt wie dich ausspucken kann!
    Je länger die Schlange sprach, desto mehr fühlte Vaunir seinen Geist bröckeln. Er hockte auf dem Boden, presste die Hände gegen die Ohren und wippte apathisch.
    "Nicht, dass du liebenswert wärst. Selbst wenn Liebe zwischen Männchen und Männchen ... natürlich ... wäre, würde sich niemand auf dich einlassen."
    Eine listige Stimme flüsterte Vaunir mit Schlangenzunge in den Geist, dass Quetzalcoatl die Wahrheit sprach.
    Er tastete nach Khumulus, der einzigen Wesenheit, der er sich je anvertraut hatte. Doch dieser war in einen unantastbaren geistigen Ball eingerollt. Das Bild einer Kugel triefend vor Schlangengift erschien ihm vor Augen. Er zuckte geistig zurück.
    Dann fühlte er plötzlich etwas, an dem er Halt fand. Weiches, warmes Fell streifte seine Seite, und eine kräftige Tatze richtete ihn auf. Er nahm kaum war, wie der Dämon sagte: "Komm, steh auf. Vor diesem Viech kriechen wir nicht im Staub."
    Eine weitere Stimme erhob sich, und sie gehörte einem Mitglied ihrer zusammengewürfelten Truppe.

    "Tut mir Leid!", antwortete Tara auf Vaunirs grimmigen Ruf.
    Er fühlte sich äußerst seltsam. Zwiegespalten würden es die Menschen nennen. Elfen sahen es als die sanfte Schwüle unter einem finsteren Himmel kurz bevor ein Gewitter losbrechen würde. Bald würde er an einen Scheideweg kommen, und egal, für welche Option er sich entschied, es würde immer donnern und stürmen.
    "Eine interessante Metapher, die die Elfen gefunden haben. Eine gute Metapher. Und zutreffend zudem. Ein Zwiespalt kann nie gutgehen", mischte sich Khumulus in seine Gedanken ein.
    "Nimm es nicht persönlich, aber ich brauche gerade Ruhe."
    Er spürte, wie der Geist sich respektvoll zurückzog.
    Niemand von ihnen vertraute einander. Das war ein Fakt. Doch war es änderbar? Tepsrak war von ihnen mit Abstand am zwielichtigsten. Von ihm wussten sie nichts, während die Anderen nur Halbwahrheiten und Lügen über sich erzählt hatten.
    Und wenn er sich nun öffnen würde? Ein Teil von ihm wehrte sich mit Klauen und Zähnen dagegen. Fast konnte er physische Schmerzen fühlen. Doch was wäre, wenn ... ?
    Seit vielen Jahren war er allein, immer im Wald, nur begleitet von Khumulus, der ihn ohnehin in- und auswendig kannte, da sie bewusstseinstechnisch praktisch eins wurden, wann immer Vaunir Magie wirkte. Und immer stärker wurde sein Verlangen nach Gesellschaft. Seine Einsamkeit. Sein Verlangen nach ... mehr. Liebe? Er wusste es nicht. Und er zweifelte auch daran, dass es ihm je ermöglicht werden würde, Liebe zu finden. Menschen ächteten Leute wie ihn. Männer, die anderen Männern begehrlich nachblickten, wurden als Frauen bezeichnet, als Vergewaltiger bezichtig, und diese Fälle gehörten zu den harmloseren, von denen er gehört hatte.
    Doch wem könnte er sich öffnen?
    Er wälzte sich um und öffnete die Augen. Sein Blick fiel auf Tara, die sich inzwischen wieder hinter ihrer Säule zusammengerollt hatte.
    Was wusste er über sie? Praktisch nichts. Sie hing an ihrer Elster und war alles andere als wehrlos. Sie hatte ein blindes Auge. Da hörten die Informationen schon auf.
    Fast überwand er sich, aufzustehen und mit ihr zu reden. Sie könnten ein wenig von den anderen weggehen und reden. Doch das Risiko war viel zu hoch.
    Mit einem bedrückenden Gefühl in der Bauchgegend wälzte er sich auf die andere Seite, schloss die Augen und war nach gefühlten zehn Stunden eingeschlafen.

    Erschöpft ließ sich Vaunir auf sein hartes Steinbett fallen. In allen Knochen und Muskeln spürte er die Strapazen der vergangenen Stunden und Tage. Am liebsten würde er sich nun in einen seeligen Schlummer fallen lassen. Selbst seine Seele fühlte sich nach der langen Zeit ohne Erholung müde an. Trotz der vereinzelten Trümmerstückchen schien der Boden so einladend wie ein Federbett.
    Doch er disziplinierte sich. Langsam hockte er sich hin und zog seinen Köcher vor. Pfeil für Pfeil überprüfte er, wie viele der Schwanenfederpfeile er übrig hatte. Es waren neunundzwanzig. Einen hatte er verschossen.
    Dann nahm er die Beutel mit den Heilkräutern von seinem Gürtel und überprüfte ihren Inhalt. Bis auf den Nahtröhrling war von jedem Kraut noch reichlich vorhanden.
    Er zückte langsam sein Jagdmesser und überprüfte die Schärfe der Klinge.
    "Brauchst du einen Wetzstein?", fragte Mithril.
    "Nein danke, ist gut."
    Das gleiche tat er mit seinem Schwert. Es hatte irgendwann eine Scharte abbekommen, doch die Klinge war so scharf wie immer.
    Seine Ausrüstung war in gutem Zustand. Er überprüfte und pflegte sie immer, bevor er sich schlafen legte.
    Er legte sich auf den Boden und versuchte, eine halbwegs gemütliche Position zu finden. Bald war er eigenschlafen.
    Dabei hatte er nicht bemerkt, dass er beobachtet wurde ...

    "Also glaubt mir oder glaubt mir nicht, wenn ich sage, dass ich keinen Groll gegen euch Menschen hege, auch wenn ich allen Grund dazu hätte. Meine persönliche Vergangenheit braucht ihr momentan noch nicht zu kennen, aber eines kann ich euch sagen. Wäre meine Geschichte auch nur ein wenig anders verlaufen als dass sie ist, hätte ich euch vermutlich bereits bei unserem ersten Aufeinandertreffen getötet."
    Tepsraks Blick wanderte von Person zu Person wie der einer Raubkatze, die sich in die Ecke gedrängt fühlte und jederzeit einem von ihnen an die Kehle springen könnte. Als er Vaunir ansah, nickte dieser andächtig und trat einen Schritt auf den Dämonen zu.
    Ein sarkastisches Grinsen untermalte seine Worte. "Also, das war die vertrauenserweckendste Geschichte, die ich je gehört habe. Gratuliere, Tepsrak. Du hast fast so viel über dich preisgegeben wie wir anderen, und jetzt erscheinst du uns noch sympathischer als zuvor." Er fand es schwierig, seine Begleiter einzuschätzen, aber er war sich sicher, dass sie ähnlich empfanden wie er selbst.
    "Verspottest du mich?", knurrte Tesrak mit einem vibrierenden Bass in seiner Stimme.
    "Nein, das tuhe ich nicht. Niemand hier ist bereit, offen über sich selbst zu berichten. Und ich verwette meine hübschen Spitzohren darauf, dass auch niemand dem anderen voll und ganz vertraut. Bis auf die Tatsache, dass du etwas tödlicher wirkst als wir anderen, passt du hier also ganz gut rein."
    Über seine Schulter vernahm er Taras Schnauben.
    Vaunir drehte sich zu Mithril um, der ebenfalls einen Schritt vorgetreten war.
    "Warum hören wir nicht einfach auf, uns gegenseitig auszufragen? Die Spinnen haben uns völlig unerwartet angegriffen, und ich habe keine Lust, noch einmal überrascht zu werden. Wenn wir lebend hier raus kommen wollen, sollten wir zusammenhalten."
    "Klingt vernünftig", antwortete Vaunir. Tepsrak nickte nur. Tara blickte den Dämonen eine Sekunde lang an, bevor auch sie antwortete: "Stimmt. Lasst uns weitergehen. Wer weiß, vielleicht gibt es hier irgendwo noch ein Spinnennest."

    Die Frage hallte in Vaunirs Bewusstsein wie ein Glockenschlag. Er war kaum fähig, sich zu rühren oder klar zu denken. Der Moment, vor dem er sich am meisten gefürchtet hatte, war gekommen. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt, ein Schweißfilm legte sich auf seine Stirn.
    "Khumulus ..."
    "Es tut mir so leid! Du warst wirklich kurz davor, mich komplett auszulöschen, und da habe ich Panik bekommen ..."
    Er blickte in die Runde. Drei fragende Augenpaare ruhten auf ihm.
    Also gut, Gehirn. Sonst funktionierst du immer so toll, jetzt zeig mal, was du drauf hast.
    "Das würde ich auch gerne wissen", kommentierte Tepsrak.
    "Vaunir ... ist mein eigentlicher Name. Tara, Mithril, wir haben ja vorhin ..." Er zögerte - es erschien ihm, als läge dieses Gespräch tagelang zurück, "... über unsere Vergangenheiten geredet. Und wenn ich ehrlich bin, niemand von euch hat eine befriedigende Antwort geliefert, aber wir haben es dabei belassen.
    Also gut. Ich habe gesagt, dass es mich aus meiner Heimat fortgezogen hat und ich einfach die weite Welt sehen wollte. Das war nicht ganz gelogen.
    Sage wir eher, ich hatte ..." Wieder zögerte er,"... eine kleine Krise. Und dann bin ich einfach von zuhause weggegangen. Ich wollte meine Kindheit hinter mir lassen, und aus diesem Grund habe ich mir einen neuen Namen gesucht. Ihr müsst wissen, dass Namen in der Elfenkultur eng mit der Persönlichkeit verbunden sind." Er hoffte, dass niemand von ihnen genug über Elfen wusste, um diese Geschichte zu hinterfragen. Sollte jemand nun darauf kommen, weiter nachzubohren, wüsste er nicht, wie er die Wahrheit weiter verbergen könnte. Er war ein schlechter Lügner, deshalb zog er es vor, die Wahrheit zu verzerren.
    "Zufrieden?" Erneut blickte er jeden seiner Begleiter an.
    Niemand von ihnen machte einen zufriedenen Eindruck. Einige Momente verstrichen, in denen nur der Atem aus vier Lungen und ein gelegentliches Tropfen zu hören war.

    Vaunir musterte die Wand, die Decke und den Boden. Aller Stein war verdeckt von dornigen, hakigen Beinen, tausenden von Augen und Widerhaken.
    Ein Zwitschern ertönte aus einem der unzähligen widerlichen Leiber. Zwei weitere dieser unnatürlich wirkenden Laute folgten. Fünf antworteten darauf. Die Nachthetzerspinnen steigerten sich in einen dröhnenden Chor.
    "Khumulus, ich brauche Feuer. Viel Feuer."
    "Ich bezweifle stark, dass ich die den Funken für das hier liefern könnte."
    "Schrei einfach laut, wenn du nicht mehr kannst."
    Er atmete einmal tief ein und fand innere Ruhe.
    Dann passierte alles gleichzeitig.
    Die vorderste der Spinnen zuckte mit einer hakenbesetzten Gliedmaße. Wie auf ein Signal sprangen sämtliche Spinnen als ein wimmelndes Kollektiv auf die Vier los.
    Vaunir schrie "DECKUNG!" und kanalisierte alle Macht, die er und Khumulus aufbieten konnten, zu einem breiten, heißen Flammenstrahl. Wildes Zwitschern und Kreischen hallte durch die vermoderten Gänge.
    Neben sich sah Vaunir aus dem Augenwinkel, wie seine Freunde Spinnen bekämpften, die seinem Feuerstrahl rechtzeitig ausgeweicht waren.
    Plötzlich ertönte ein gedanklicher Schrei. "Vaunir! Stopp!"
    Die Flamme versiegte, Vaunir zog sein Schwert und stürzte sich wild in den Kampf.

    Nach wenigen Momenten war der Boden der Halle übersät mit schwarzen, gekrümmten Spinnenleibern. Die Helden waren übersät mit Kratzern, doch niemand wurde gebissen. Die Spinnen waren nicht ganz so glimpflich davongekommen.
    Geschafft. Alles ist gut, dachte Vaunir, bis sich Mithril zu ihm umdrehte und die Frage stellte, vor der sich Vaunir am meisten gefürchtet hatte:
    "Wer zum Teufel ist Vaunir?"
    Khumulus hatte wohl zu laut geschrieen.

    "Verlier mir blos nicht den Verstand, alter Freund. Du hast dich zwar verändert, seit wir uns getroffen, aber du bist immer noch du. Selbst deine zwei Namen gehören nur zu dir und bedeuten nicht zwei unterschiedliche Persönlichkeiten. Glaub mir, Vaunir Carn Elnuryan."
    "Du sollst mich nicht so nennen", antwortete Vaunir, aber er empfand Dankbarkeit für seinen Freund und ließ Khumulus das auch spüren.
    Während er vollkommen in sich gekehrt mit der Gruppe durch den stockfinsteren Gang lief und nicht auf die ab und an in die Stille geworfenen Fragen antwortete, die ab und an ertönten, fiel ihm nicht auf, dass sie schon seit beträchtlicher Zeit geradeaus liefen. Keine Gänge bogen ab, es gab nicht einmal Unregelmäßigkeiten in Wänden, Boden und Decke, wenn man über die gelegentlichen Rattenskelette hinwegsah.
    Er streckte seine Hand nach links und fand die glatte, kühle Steinmauer. Es hatte etwas Beruhigendes, sie unter den Fingerstpitzen zu fühlen. Es hielt ihn in der Realität, so trocken und gleichförmig sie im Moment auch sein mochte.
    Plötzlich fand seine Hand keinen Halt mehr. Vaunir fiel ein kleines Stück zur Seite, weil er damit nicht im Geringsten gerechnet hatte. Als er sich abgefangen hatte, blickte er zur Seite und fand zu seinem größten Erstaunen eine scheinbar solide Steinmauer vor seinen Augen, genau wie im ganzen bisherigen Rest des Gangs. Mithril war hinter ihm notgedrungen stehen geblieben, da der Gang sehr schmal war, aber Tara und Tepsrak waren weitergegangen.
    Vorsichtig streckte Vaunir eine Hand aus, bis sie die Mauer tangierte.
    Nichts.
    Noch vorsichtiger schob er sie nun Fingerbreit für Fingerbreit vor. Es fühlte sich an, als gäbe es die klar sichtbare Wand schlichtweg nicht.
    "Eine Illusion", flüsterte er ehrfürchtig. "Tepsrak konnte sie nicht sehen ... hier waren wirklich Meister am Werk."
    Hinter ihm meldete sich Mithril, ebenfalls flüsternd - warum, wusste wohl keiner von ihnen. "Willst du die zwei anderen nicht zurückrufen?"
    Vaunirs Blick wandte sich Tara und Tepsrak zu. Ihn durchzuckte der Impuls, sie einfach weitergehen zu lassen. Wenn ihre Gruppe kleiner wäre und Tepsrak nicht mehr dabei, hätte Vaunir zwar immer noch einen Begleiter, der ihm im Notfall den Rücken decken könnte, sollten sie das Artefakt allerdings finden, konnte er Mithril mit links aussschalten, so dachte er zumindest.
    Dieser egoistische, nahezu irrsinnige Impuls war hielt ungefähr eine Sekunde an, dann blieb Tara stehen, drehte sich um und fragte: "Wo bleibt das Licht? Ich sehe langsam die eigene Hand nicht mehr vor Augen!"
    "Kommt schnell her!", antwortete er nur.
    Mithril beäugte ihn seltsam, beinahe verschwörerisch. Er hatte beobachtet, dass der Elf eine Sekunde gezögert hatte.

    Nach außen gab Vaunir sein Bestes, zu signalisieren, dass mit ihm alles in Ordnung war.
    Aber in seinem Inneren herrschte Chaos.
    Wer bin ich? Bin ich wirklich Vaunir, der einsame Wanderer von Vidras? Oder bin ich längst jemand anderes geworden? Sie nennen mich Carn, weil ich ihnen gesagt habe, dass ich Carn bin ... aber wie lange kann ich noch mit dieser Spaltung leben? Wie lang kann ich noch so tun, als gäbe es mich nicht, und mir stattdessen diese Maske aufsetzen?
    Seine Gedanken waren wie ein endloser Strudel, der seinen Verstand langsam in die tiefsten Gräben des Meeres des Vergessens sog. Und er konnte nicht aufhören, zu denken.
    Ich war wirklich aggressiv vorhin zu dem alten Mann, und das mehrmals. Woher kommt diese Wut in mir? Bin ich vielleicht sogar schon dabei, dem Zauber dieses gottverlassenen Labyrinths verfallen? Was hat der Greis noch gesagt, mit seinem glasigen Blick? "Für dich ist es schon zu spät, Elfling ... ?"
    “Kommt schon ihr müsst es doch auch gesehen haben, das bilder ich mir doch nicht ein“, sagte Tara. Vaunir hatte es geschafft, in Gedanken versunken zu sein und dennoch wie automatisch auf die Situation zu reagieren. Das leicht sarkastisch angehauchte Lächeln, das ihm bei der Bemerkung über ihren Mangel an Schlaf ins Gesicht geklettert war, war absolut aufgesetzt gewesen. Jetzt widmete er sich jedoch wieder seinen Begleitern.
    "Ich kann nichts sehen, hören oder sonstwas, das einen Hinweis auf irgendwen außer uns vier gäbe", sagte er.
    Mithril ist ganz schon in sich versunken, genau wie ich eben, Tara scheint Gespenster zu sehen ... und ich bin geistig auch nicht ganz auf der Höhe.
    "Wie geht es dir, Khumulus?", sprach er den Geist an, während jemand etwas sagte, auf das Vaunir nicht achtete.