Beiträge von Du Vandír im Thema „Gejagt...“

    Norwen staunte, als er aus der Gangmündung heraustrat. Er hatte einen solchen Ort am allerwenigsten mitten in einer großen Stadt erwartet. Wie friedvoll der Mond auf den Teich lächelte! Und dabei war er genau auf dem richtigen Stand, um von ihrer Position aus durch den Spalt sichtbar zu sein.
    Dann bemerkte er die Tunnel ringsum. Wohin sie wohl führten?
    Vermutlich wieder auf die Straßen, genau wie der, durch den wir hierhergekommen sind, beantwortete er seinen eigenen Gedanken.
    Er trat nach vorne, um seinen Nachfolgern Platz zu machen.
    Belle schien die gleiche Bewunderung für den Ort zu empfinden wie er. Rodrick, misstrauisch und grummlig wie meistens in der letzten Zeit, trat heraus und fragte kurz angebunden: "Was ist das hier? Und können wir uns hier vor den Wachen verstecken?"
    "Ich es mal an", antwortete Jegar.
    "Wasser und Luft hätten wir hier auf jeden Fall", fügte Belle an. "Und der Proviant wurde ja erst aufgefüllt, in der Taverne. Richtig?" Sie stoppte und schaute sie der Reihe nach an. "Richtig?"

    Norwen konnte es nicht fassen. Ausgerechnet jetzt musste ihn seine Tasche im Stich lassen! Die Schriftrollen, denen er beinahe hinterher gestürzt wäre, waren für ihn von unschätzbarem Wert.
    Warum ... mussten die Rollen gerade jetzt herausfallen?, hatte er sagen wollen, doch Rodrick unterbrach ihn. Er hörte ihm kaum zu, bekam nur die Worte "verraten" und "Geld" mit, weil er immernoch damit haderte. Er wollte zurückgehen und sie einsammeln, doch er wusste, dass die Soldaten auch nach ihm suchten. Das hieß, dass er sie nicht einmal allein suchen gehen konnte, ganz zu schweigen von der Gruppe, die er schon einmal durch seinen Wissensdurst in eine äußerst schwierige Situation gebracht hatte. Sie würden kein Verständnis aufbringen. Oder ... vielleicht gab es eine, die es doch verstehen würde?
    Rodrick fragte, was sie nun mit Cyra tuhen sollten. Vielleicht kann sie uns hilfreich sein, meinte er.
    Ich stimme zu, bekräftigte er die Überlegung. Vielleicht konnte er es schaffen, sie davon zu überzeugen, sich für kurze Zeit von der Gruppe abzuspalten und ihm zu helfen, die Rollen wieder einzusammeln.
    Niemand hatte Einwände. Sie waren angestrengt von der Flucht und wurden noch immer verfolgt. Es war keine Zeit für große Überlegungen.
    Also gut, meinte Jegar. Wir nehmen sie mit. Das heißt, wenn das für dich in Ordnung ist, Cyra?

    Wir sind kurz davor, verraten zu werden, antwortete Norwen ruhig auf Jegars schlaftrunkenes Gemurmel. Er konnte Rodricks Blick in seinem Rücken spüren, doch jetzt war keine Zeit, um irgendwelche verletzten oder aufgebrachten Gefühle zu berücksichtigen.
    Was? Verraten ... , echote Belle langsam. Jegar sprang auf und blickte sich gehetzt um. Was soll das heißen? Werden wir aus der Taverne rauskommen? Oder haben wir gleich die Stadtwache im Nacken?
    Norwen wusste es nicht, deshalb antwortete er blos: Wir sollten uns beeilen. Und gebt darauf acht, dass niemand zurückbleibt, wir können im Moment jeden kämpfenden Arm gebrauchen. Dabei blickte er zurück auf Rodrick und hoffte, dass dieser verstand, dass der Gelehrte bereit war, ihm noch eine Chance zu geben.
    Der rührte sich, trat in den Raum und meinte: San ist ein flinker Renner. Wahrscheinlich ist das Haus in wenigen Momenten von Wachen umzingelt. Wenn jemand einen genialen Fluchtweg zur Hand hat, sollte er damit rausrücken.
    Alle zuckten zusammen, als plötzlich ein Lautes Maunzen durch das Zimmer hallte.
    Yami!, rief Norwen überrascht. Die Katze war ihm die ganze Zeit gefolgt. Er schüttelte den Kopf, lachte und eilte an das Fensterbrett, auf dem sie sich räkelte. Sie schmiegte sich an ihn und ließ es zu, dass er sie hochhob und auf den Arm nahm.
    Du kennst diese Katze?, wunderte sich Jegar.
    Sie ist mir schon aus meiner Heimatstadt gefolgt, antwortete Norwen nur.
    Plötzlich schienen sie alle die gleiche Idee zu haben. Woher war die Katze gekommen? Die Wände der Taverne waren zu hoch, um sie zu erklettern, also gab es nur eine weitere Möglichkeit - von oben.
    Wir könnten uns auf dem Dach verstecken, meinte Belle.

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    ich schreibe mit dem Handy, deshalb bitte ich bei Schreibfehlern usw. um Nachsicht.


    Norwen war noch einmal hinuntergegangen, weil er Durst hatte. Doch als er Rodrick und seinen Bekannten reden gehört hatte, war er am oberen Treppenabsatz stehen geblieben.
    Er hatte sich kurz überlegt, Rodricks Antwort auf das Angebot abzuwarten, aber er wollte sie nicht wirklich hören. Dann hatte er in Betracht gezogen, sich in das Gespräch einzumischen, aber es war besser, er hielt sich im Hintergrund. Womöglich konnte er so noch das Schlimmste verhindern. Andernfalls würden sie ihn ausschalten oder irgendwie mit reinziehen.
    Nun marschierte er hörbar die Treppe hinunter.
    Guten Abend. Störe ich? Oder gibt es einen anderen Grund, warum ihr mich so sonderlich anseht? Habe ich etwa was in meinem Gesicht kleben?

    Der Pfad wand sich steil zwischen grauschwarzen Felsen hindurch, immer aufsteigend und spärlich mit Moos und Gräsern bestückt, doch das nahm mit zunehmender Höhe ab. Norwen kam schwer ins Schnaufen. Er war körperliche Anstrengung nicht gewohnt. Doch er zwang sich, seine Atmung zu regulieren und immer weiterzulaufen. Wenn man dem geheimnisvollen jungen Mann glauben konnte, der sie befreit hatte, so waren die Wilden bereits hinter ihnen her.
    Ein Mensch kann normalerweise nur achtzig Prozent seines körperlichen Leistungspotentials ausnutzen, erinnerte er sich. Hundert Pronzent schafft man erst, wenn man sich in akuter Todesgefahr befindet ...
    Doch das war nicht der Fall. Niemand war in Sicht.
    Sie hatten die Pflanzengrenze schon lang überschritten. Lediglich ein paar Flechten waren zu sehen. Ein Schweißtropfen lief Norwen in das Auge. Es brannte und zwang ihn, das Lid zusammenzukneifen. Und plötzlich blieb er hängen, fuchtelte panisch mit der linken Hand, während die rechte versuchte, an seinem Stab halt zu finden, doch der war an einer glatten Steinplatte abgerutscht.
    Seine Muskeln versagten kurz.
    "Alles klar?!?", rief Belle erschrocken. Rodrik und Jegar halfen ihm schnell auf.
    "Alles in Ordnung ...", meinte er mit unsicherer Stimme. "Ich bin so viel Anstrengung nicht gewohnt."

    Norwen versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Ein Söldner bot an, ihnen einen mysteriösen Schmugglerpass zu zeigen. Jegar vertraute ihm nicht. Aber wenn Belle tatsächlich Recht behielt und es würden gleich Soldaten kommen, mussten sie schnell weiter.
    Es stellte sich die Frage, wie sehr sie die Tatsache in Gefahr bringen würde, dass auf Jegars Kopf ein Preis ausgesetzt war. Wie weitgehend wurde er gejagt? Würde man ihn erkennen? Soweit Norwen sich erinnern konnte, waren die Routen, die außerlandes führten, wo Jegar ein freier Mann wäre, allesamt kontrolliert.
    Es fehlte also eine Information: Wie groß war die Gefahr, in der sie sich befanden, wenn sie mit Jegar unterwegs waren? Wurde er verfolgt? Waren sie also gezwungen, aus dem Land zu fliehen? Und wenn, könnten sie dann die Wege nutzen, die auf den Karten verzeichnet waren? Oder würde man Jegar erkennen?
    Die Frage war, ob sich der Aufwand und der Vertrauensakt lohnten, die Grenze mit sehr hoher Sicherheit unbemerkt zu überqueren.

    Ein Streit war in Norwens Augen sinnlos, da die Beteiligten dazu neigten, irrational zu werden. Belle hatte es glücklicherweise geschafft, Stille in den Raum zu bringen. In diese hinein fragte Norwen ruhig: "Rodrick, was ist es genau für eine Route, die Ihr vorschlagt?"
    "Was soll jetzt diese Frage?", raunzte Jegar. "Wir haben wahrscheinlich gleich Soldaten am Hals, da gibt es wichtigeres zu klären!"

    Er las noch eine kurze Weile in dem Tagebuch, aber die flackernden Flammen fraßen nach und nach die verbleibenden Scheite auf und ließen den Feuerschein zu einem gedimmten Glutleuchten herunterbrennen. Norwens Augen brannten und die Lider wurden schwer, also legte auch er sich hin und war bald eingeschlafen.
    Als er wieder aufwachte, schien die Sonne in den Höhleneingang hinein. Belle lag dort auf dem Boden und wurde schlafend vom Tageslicht beschienen. Die anderen hatten sich mehr oder weniger geschickt auf dem rauen Boden ausgestreckt. Norwen entging nicht, dass sie alle eine Waffe griffbereit hatten.
    Zusammenhalt ist in der entsprechenden Situation gezwungenermaßen erfordert, aber Vertrauen ist ein Geschenk, das in einer Gruppe wie unserer wahrscheinlich noch lange auf sich warten lasse wird ...
    Er richtete sich auf. Seine Gelenke knackten, seine Knochen schmerzten. Sein Kreislauf war noch im Halbschlaf, ebenso sein Gehirn. Ächzend erhob er sich auf die unsicheren Beine und stützte sich auf seinen Stab. Sie würden Holz für ein Feuer brauchen.

    "Es ist äußerst schmerzhaft, wenn einem die eigenen Freunde einen Dolch in den Rücken rammen." Norwen schluckte hart. Er wusste längst, dass es nicht so war, doch sein Unterbewusstsein klagte ihn immer noch an - er hatte seine Eltern, die Mönche, seine Freunde im Kloster einfach zurückgelassen, ohne jede Vorwarunung, ohne jedes Zeichen der Dankbarkeit ... Er verdrängte es wieder aus seinen Gedanken.
    Genau im richtigen Moment, denn Rodrick sprach ihn an: "Was habt Ihr da eigentlich wichtiges geklaut?"
    Norwen lachte laut. Was er lustig fand, konnte er nicht wirklich sagen - war es, dass sein Diebesgut keineswegs wichtig war, außer für ihn, oder war es, dass er ursprünglich vorgehabt hatte, die Rolle zu bezahlen wie auch schon die erste. Die anderen starrten ihn entgeistert an ob seines Lachanfalls. Vermutlich hielten sie ihn nun für geistig etwas labil ...
    Er holte beide Rollen heraus. "Verzeiht mir meinen ... Heiterkeitsausbruch. Was ich geklaut habe, wollte ich nicht klauen, und wichtig ist es auch nur für mich", er öffnete Yeriningers Tagebuch, "denn das hier ist das Journal eines sehr berühmten alten Historikers, Forschers, Abenteurers und Autoren. Vielleicht sagt dem einen oder anderen hier der Name Yerininger etwas?"
    Er achtete nicht darauf, ob jemand nickte oder den Kopf schüttelte. "Diese Rolle habe ich heute Vormittag auf ehrbare Weise gekauft, mit echten Zahlungsmitteln." Er nickte und zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch, um den skurrilen Witz für die Anderen verständlich zu machen. Dann rollte er die Karte auf.
    "Und das hier ... ist das Diebesgut. Ebenfalls von Yerininger. Sehr euch die Genauigkeit der Karte an, und das von vor über fünfhundert Jahren, wenn nicht sogar tausend. Und die verzeichneten Orte könnten weniger nicht übereinstimmen mit der heutigen Umgebung. Ein paar Elfenstädte - die interessanterweise auch verzeichnet sind - und Bjenar existieren schon, aber es waren damals wohl nichts als kleine Dörfer ..."
    Als Norwen die ausdruckslosen Blicke der anderen bemerkte, hörte er auf zu schwärmen. Er wusste nicht, auf welchem Bildungsstand seine Begleiter sich befanden, und er wollte es auch nicht wissen; sollte sich herausstellen, dass einer von ihnen nie zu Bildung gekommen war, würde er denjenigen leicht herablassend behandeln. Er kannte sich selbst gut genug, um sich manchmal vor sich selbst zu ekeln.
    "Nun, jedenfalls kann man aus diesen beiden Schriftrollen eine Unmenge lernen, und dafür hat es sich definitiv gelohnt zu dem Händler zurückzukehren. Ich danke euch, und ich schätze, ich schulde euch etwas dafür. Vor allem Rodrick, der uns mit seiner, nun, heiklen, riskanten Aktion Zeit verschafft hat."
    Jegar und Belle blickten kritisch, als er seine Dankbarkeit für den Söldner betonte. Es war klar, dass jede Parteibekennung in der Gruppe gefährliches Gelände war.

    Der Regen hielt schon seit Stunden an und war noch heftiger geworden. Norwen staunte mal wieder darüber, mit welcher Geschwindigkeit die Wolken so viel Wasser zusammentragen und fallen lassen konnten.
    Nun saßen sie alle da, mit klammer Kleidung um ein Feuer versammelt. Ab und an überprüfte jemand etwas an seiner Ausrüstung oder machte eine Bemerkung zum Wetter, aber sie waren alle erschöpft. Die Kälte der Höhle ließ sich durch das Feuer nur teilweise vertreiben, und sie kletterte ihnen langsam in die Knochen. Der Tag war ermüdend gewesen.
    Er öffnete seine Tasche und holte die Schriftrolle heraus, die er am Vormittag erworben hatte.
    Yerininger schrieb über eine Expedition in einen verwunschenen Wald. Er sprach von Raubkatzen, die Geweihe trugen ... Norwen staunte stumm. Irgendwann fingen diese Raubkatzen an, die Expedition scheinbar systematisch in eine Richtung zu treiben, bis sie aus dem Nichts auf überwachsene Ruinen aus hellem Stein stießen. Diese Raubkatzen, denen der Gelehrte mittlerweile den Namen Sengir gegeben hatte, trieben sie weiter durch diese Ruinen, bis in einen seltsamen Schrein hinein.
    Er schreckte auf, als Rodrick fragte: "Und warum ist noch gleich so ein hohes Kopfgeld auf dich ausgesetzt?"
    Das war eine gefährliche Situation. Er legte blitzschnell seine Hand an den verlässlichen Kampfstab hinter ihm. Jegar und Belle taten das gleiche.
    "Huiuiui, nicht so verkrampft", beschwichtigte der große Söldner. "Ich habe nicht vor, dich anzugreifen. Ich bin nur neugierig, was für einem Verbrecher ich heute das Leben gerettet habe." Sein Sarkasmus amüsierte Norwen.
    Jegar schien nicht amüsiert zu sein. Vermutlich war es nicht leicht, darüber zu reden. Norwen glaubte ihm, dass er unschuldig war, wie er es der Stadtwache in der Taverne klarzumachen versucht hatte. Aber was war dann vorgefallen?

    "Ah, Ihr seid wieder zurück", meinte der Antiquar grinsend, als er Norwens markante Robe wiedererkannte.
    "Ja, das bin ich. Eure Angebote sind nahezu unwiederstehlich." Er beugte sich leicht vor und fing an, leise und eindringlich zu reden. "Hört mal, ich bin etwas in Eile. Keine Sorge, ich habe nichts verbrochen, falls ihr das gedacht habt; aber ich will die Stadt verlassen. Ich habe vor wenigen Stunden einen wahren Goldschatz unter euren Schriftrollen entdeckt - ein Originaldokument von Yerininger. Ich muss wissen, ob Ihr noch mehr dergleichen habt. Preise spielen keine Rolle."
    Preise spielten sehr wohl eine Rolle, denn Norwen hatte nicht sehr viel Geld. Logisch, wenn man nichts machte außer herumzureisen und ab und an gegen eine Münze einen Ratschlag zu erteilen. Doch würde er sagen, dass er wenig Geld hatte, würde der Händler womöglich nur unwichtige Dinge hervorholen.
    Ein Stapel von Schriftrollen klapperte auf den Tisch. Der Händler war schnell gewesen.
    "Mal sehen ... ich habe ein weiteres Stück von Yerininger ..." Schnell öffnete er die Schriftrolle. "Oh, es ist ein Romanauszug. Interesse?" Er sah den Robenträger fragend an.
    "Nein danke", wehrte dieser ab, "Ich habe jeden Yerininger gelesen.
    "Hmm, gut. Ja, sehr belesen, der Herr ..." er kramte fieberhaft in dem Pergamenthaufen. "Oh, hier haben wir eine Karte ..." Er öffnete das Dokument. "Oh, sie sieht ... nicht sehr aktuell aus."
    "Darf ich einmal sehen?", forderte Norwen. Er nahm die Karte in die Hand. Der Kontinent war gut erkennbar und vor allem erstaunlich präzise eingezeichnet. Doch die Städte, die verzeichnet waren, schienen nicht mehr zu existieren. Die Namen waren in Altöstisch notiert. Dann erkannte er es. Wenn man Yeriningers Romanen Glauben schenken konnte, waren dies die Städte der ersten Hochkultur des Kontinents. Fasziniert sog Norwen die wertvollen historischen Fakten in sich auf.
    "Aus welcher Zeit stammt diese Schriftrolle?", fragte er interessiert.
    Der Händler antwortete eifrig: "Sie wurde mir von einem alten Mann übergeben, der gemeint hat, dass er sie von der seines Großvaters mit größter Sorgfalt und Übung abgezeichnet hat, und der von seinem Großvater und so weiter. Wenn ich meine bescheidene Meinung beitragen dürfte, so müsste dieses Dokument praktisch ein Original darstellen."
    "Wieviel kostet es?"
    Doch bevor der Antiquar den Preis nennen konnte, donnerte ein Ruf durch den Laden: "Da sind sie! Haltet sie im Namen des Stadthalters!!"
    Vier Blickte schossen zur Tür. Die Stadtwache hatte zwanzig Mann geschickt, um sie, die Aufrührer, zu fassen.
    Norwen handelte blitzschnell. Der Händler stand geschockt da, und sie würden ohnehin eine halsbrecherische Flucht hinlegen müssen oder kämpfen. Die Karte verschwand blitzschnell in seiner Tasche, dann wog er seinen Kampfstab in den Händen und nahm Blickkontakt zu seinen Begleitern auf.

    Norwen nickte andächtig und schloss sich an: "Ich weiß mich zu verteidigen. Außerdem hängen wir nun alle da mit drin, immerhin habe auch ich Gewalt gegen die Stadtwache angewandt. Ich schlage vor, wir legen erst einmal unsere Kräfte zusammen und verlassen die Stadt. Mich hält nichts mehr hier ..." Er zögerte, als ihm der Antiquitätenhändler einfiel. "Wobei, doch, eines will ich noch tun, und dafür müssen wir auf den Marktplatz."
    Die anderen sahen ihn entgeistert an.
    Er hob entschuldigend die Hände und meinte: "Ich habe da bereits einen praktisch unbezahlbaren Schatz der Geschichte entdeckt, und wer weiß, was sich noch unter den Schriftrollen verbirgt?"
    Jegar rieb sich die Schläfen, Rodrick grinste und Belle blickte sehr zweifelnd drein.
    "Ich bitte euch, nur einmal will ich sein Angebot noch durchgehen. Dann sind wir hier weg. Das ist mir wichtig ..." Norwens Stimme hatte einen flehentlichen Ton angenommen.
    "Nun, ich denke, wir können uns auf dem Markt ganz gut verstecken, jedenfalls für kurze Zeit. Tun wir dem Mönch doch diesen einen Gefallen, dann haben wir ein Gehirn auf unserer Seite", antwortete Rodrick gönnerhaft.
    "Was meint ihr dazu?"

    Nachdem er das Bier aus seinem Rachen herausgehustet hatte, antwortete Norwen: "Ihr habt eine feine Bobachtungsgabe. Nun, Ihr habt Recht. Ich war tatsächlich in einem Kloster, wovon ich auch meinen sinn für Mode habe, doch ..." Er zögerte, dieses Mal unabsichtlich. "Sagen wir, ich stimmte ihren Lehren zu weniger als dreißig Prozent zu. Daher habe ich den Orden verlassen." Zu mehr fühlte er sich im Moment nicht bereit zu sagen. Noch immer verfolgten ihn die Gedanken daran, was seine Eltern, seine Lehrer, einfach alle in Praes von ihm denken mussten. Norwen hasste es, wenn ihn jemand verachtete. Doch was konnten seine ehemaligen Angehörigen Anderes von ihm denken?
    "Da fällt mir auf, dass ich Euren Namen noch nicht kenne", lenkte er ab, an den narbigen Söldner gewandt.

    "Etwas gewollt habe ich nicht. Jedenfalls nicht bewusst." Norwen legte seine Fingerkuppen zusammen. Er wusste, dass diese Geste seriös und nachdenklich wirkte, und er nutzte dies gern aus.
    "Ihr zwei, die Dame und der junge Herr, ihr seid mir schon auf dem Marktplatz aufgefallen. Ich bin viel herumgekommen, daher weiß ich, wie Menschen aussehen, die kennenzulernen es sich lohnt." Er legte eine weitere rhetorische Pause ein und blickte seine drei Zuhörer dabei an.
    "Ihr habt etwas an euch, das euch interessant macht. Ein Hauch von Gefahr geht von euch aus, und dennoch hätte ich nicht angenommen, dass ihr drauflos tötet. Damit habe ich Recht behalten." Er lächelte und legte einen Hauch Sarkasmus hinein, wie er es immer tat, wenn er sich selbst lobte. Norwen bevorzugte ein verstecktes Selbstlob vor übertriebener Bescheidenheit.
    "Ihr müsst wissen, dass ich nicht irgendein dahergelaufener Gelehrter bin. Ich reise herum, und dabei habe ich nur das Ziel, Wissen zu erlangen. Durch meine Reisen habe ich mir Menschenkenntnis angeeignet, und daher denke ich, dass ich von euch, und auch von Euch", er deutete mit der Hand auf den Söldner, "etwas lernen kann."
    Die drei schienen etwas perplex, doch Norwen war das gewohnt. Seine Geschichte war ungewöhnlich, und das wusste er auch.
    Doch mit der Frage, die nun kam, hatte er nicht gerechnet.

    Norwen gab sich größte Mühe, Ruhe zu bewahren, während zwei Menschen ihm zwei Messer an die Kehle hielten.
    "Bitte, legt diese Messer doch weg. Seht mich an. Ich trage einen Stab bei mir, mehr nicht." Norwen machte eine rhetorische Pause und ließ den schweren Eisenholzstab auf den Boden fallen. Der Aufprall verursachte ein lautes, beinahe metallisches Klopfen.
    "Ich habe eine einfache Umhängetasche und eine weite Robe. Jeder Kämpfer, der über ein halbwegs gesundes Denkvermögen verfügt, kann sehen, dass ich mindestens drei Sekunden bräuchte, um ein verstecktes Messer herauszuziehen, mal angenommen, ich trüge eines bei mir. In diesen drei Sekunden, da bin ich mir sicher, würde bereits eines dieser blitzenden Dinger in meiner Kehle stecken."
    Der Mann und die Frau zögerten und sahen sich an. Niemand regte sich. Dann zuckte die Frau zuerst mit den Schultern und senkte ihre Hand, der Mann folgte ihr sogleich.
    "Ich danke euch. Mein Name ist Norwen Iokundin, und ihr habt nichts von mir zu befürchten, versprochen. Mein einziger Feind ist die Ignoranz." Er setzte sich auf einen der zwei freien Hocker und zog seine Kapuze zurück.
    Der narbengesichtige Mann, der am nächsten Tisch saß und sich nicht gerührt hatte, blinzelte verwundert, dann setzte er sich ebenfalls zu ihnen. Norwen konnte sehen, wie sich die beiden jüngeren anspannten, doch niemand wandte etwas dagegen ein.

    Norwen hatte den kurzen Kampf beobachtet und war schnell abgebogen, als er gesehen hatte, dass die beiden ihren Konflikt offenbar beigelegt hatten. Nun liefen sie beide aus der Gasse heraus und waren auf dem Weg zu der Kneipe, die die Frau erwähnt hatte.
    Norwen überlegte kurz und beschloss, ihnen zu folgen und sich später unaufdringlich zu ihnen zu setzen. Er hatte Lust auf ein wenig Gesellschaft, und Menschen, die offensichtlich ein Geheimnis verbargen, empfand er stets als äußerst unterhaltsam.
    Er wartete kurz und ließ den beiden einen kleinen Vorsprung, dann trat er aus dem Schatten der Gasse hinaus auf den geschäftigen Markt. Kurz bekam er Panik, weil er dachte, er hätte sie aus den Augen verloren, doch dann entdeckte er sie in der Menge. Sie liefen in flottem Tempo über den dicht bevölkerten Platz. Schnell bahnte Norwen sich einen Weg durch die Menge, um ihnen zu folgen.
    Auf der anderen Seite verschwanden sie in eine der kleineren Seitenstraßen. Wenige Menschen waren hier unterwegs, und sie wirkten etwas zwielichtig. Norwen vermutete, dass sie einen Ort suchten, an dem sie frei reden konnten, ohne Angst davor haben zu müssen, belauscht zu werden. Da war ein kriminelles Viertel nicht die ideale Wahl, soweit Norwen das beurteilen konnte. Aber wer konnte wissen, ob diese Frau, die sich offensichtlich auskannte, nicht tatsächlich einen guten Ort gefunden hatte?
    Vor der kleinen Kneipe lehnte Norwen sich lässig an die Wand und steckte sich genüsslich ein Minzeblatt in den Mund, während er bis hundert zählte.
    Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung am Boden neben sich. Eine grau-braun gestreifte Katze strich um die Ecke, schlenderte auf Norwen zu und strich an seiner Robe entlang. Yami war ihm wie immer gefolgt.
    Er nahm sie in seine Hände. Die Katze schien genau das gewollt zu haben, denn mit einer schnellen Bewegung sprang sie auf seine Schulter.
    Seufzend erhob sich Norwen und betrat die Kneipe.

    Norwen beugte sich interessiert über ein paar alte Schriftrollen, die am Stand eines Antiquaren auslagen.
    "Verzeiht, werter Herr, doch dürfte ich einen Blick in diese Rollen wagen?", fragte er höflich den Verkäufer. Dieser nickte nur. Er war kein sehr gesprächiger Mensch, doch entgegenkommend. Und offenbar gefiehl ihm Norwens Interesse an seiner Ware.
    Er entfernte das Band, das die Rolle zusammenhielt und rollte das Papyrus vorsichtig auf. Kurz musste er blinzeln, um sich an die kleine Schrift zu gewöhnen, dann machte er sich daran, die Informationen aus dem kostbaren Schriftstück herauszusaugen. Es waren altöstische Runen, wie man sie bis vor knapp sechhundert Jahren im gesamten Menschenreich noch verwendet hatte. Norwen brauchte einen Augenblick, doch dann erinnerte er sich.
    Der Text war ein historisches Journal von Yerininger, einem bekannten Autor. Norwen hatte seine Werke mit Faszination gelesen, und er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte.
    Ein echtes Journal von Yerininger? Es ist doch nicht etwa ein Journal der Erlebnisse, die ihn zu seinen großartigen Romanen inspiriert haben? Er musste es herausfinden.
    "Werter Herr, ich würde diese Rolle gerne kaufen", meldete er dem Antiquariaten. Schnell kramte er seine Börse aus seinem Beutel.
    "Eine gute Wahl. Das macht drei Goldstücke." Es war ein gesalzener Preis, doch Norwen zahlte ihn bereitwillig.
    In diesem Moment bemerkte er sie.
    Norwen beobachtete sein Umfeld stets aufmerksam. Auf seiner Reise hatte er eine Menge Menschenkenntnis angesammelt, daher war er in der Lage, Bedrohungen zu erkennen, bevor sie sich tatsächlich als solche entpuppten. Und zwei davon waren gerade kurz nacheinander in eine der Seitengassen in Norwens Nähe hineingelaufen.
    Zuerst war da eine junge Frau mit einer wilden Lockenmähne und einem Dolch gewesen. Kurz darauf war ihr ein Kapuzenträger hinterhergegangen, der sich so viel Mühe gab, unauffällig zu wirken, dass er Norwen sofort aufgefallen war.
    Vorsichtig um die Ecke spähend folgte Norwen den beiden in die Gasse. Die Schriftrolle lag sicher in seinem Beutel, dessen hatte er sich vergewissert. Er umfasste seinen Stab etwas fester und lief los.