Beiträge von TiKa444 im Thema „Auf der Suche nach der Schatulle von Daris“

    Die Schneeflocken wirbelten um ihre Köpfe und legten sich auf die warmen Pelzumhänge, die sie sich umgeworfen hatten. Jaris mühte sich sein Bein aus den Schneemassen zu ziehen, um es gleich darauf wieder ein paar Zentimeter weiter in das eisige Nass zu tauchen. Mittlerweile war die sanfte Briese, die bei ihrem Aufbruch geherrscht hatte zu ausgewachsenen Böen angewachsen und die Sicht wurde in dem dichtem Schneetreiben immer schlechter. Nur der Anblick seiner Begleiter bot Jaris überhaupt so etwas wie einen Orientierungspunkt, ansonsten war er einfach nur von grenzenlosem Weiß umgeben. Plötzlich fiel ihm eine Bewegung im Augenwinkel auf. Er griff schon nach seinem Schwert, als er den schwarzen Punkt auf dem Schnee ausmachte, der sich träge fortbewegte. Das Tier sah aus wie eine Eidechse, doch das war unmöglich. Nicht hier im Norden, wo die Temperaturen niemals den Gefrierpunkt zu überschreiten schienen. Doch es saß da, blickte ihn an und drehte sich dann um, um gleich darauf wieder von dem Schneetreiben verschluckt zu werden. Jaris blicke ihm unschlüssig hinter dem Tier her und fragte sich, ob er jetzt schon Einbildungen bekam. Anders konnte er sich das nicht erklären. Er spürte den Handschuh, der sich auf seinen Arm legte.
    "Alles in Ordnung", fragte ihn Thyra und blickte ihm prüfend in die Augen. Jaris überlegte einen Moment lang, ob er sich lächerlich machen und den anderen von seiner Theorie erzählen sollte, doch selbst wenn sie ihm glauben würden, würden sie die Eidechse ohnehin nicht wiederfinden. Wozu auch? Also nickte er, wandte den Blick wieder gerade aus und stapfte weiter durch den immer höher werdenden Schnee.

    "Zimmer?", fragte der Wirt und sah sie an, als ob sie einen Scherz gemacht hatten. In diesem Sinne lachte er auch laut auf. "Ihr wollt Zimmer mieten." Er schüttelte den halbkahlen Kopf, aufgrund ihrer Dummheit und ging vor sich hin murmelnd zurück in Richtung Tresen. Jaris konnte ihn nicht verstehen, vermutete aber, dass die Wörter "Zimmer" und "dumme Fremde" sich ziemlich oft wiederholten. Die Gruppe sah sich verwundert an.
    "Ihr seid nicht von hier, oder?" Ein großer Mann mit dunkelbraunen Haaren, die ihm wild ins Gesicht hingen, war von hinten an sie herangetreten. "Jeden Winter kommen die Minenarbeiter aus den Bergen herab um nicht zu erfrieren oder zu verhungern. Ihr werdet im Umkreis von mehreren Tagen Weg vermutlich kein einziges Gasthaus finden, dass noch Zimmer anbietet." Zacharas verzog entsetzt das Gesicht.
    "Und wo sollen wir dann schlafen?", fragte der Fürst säuerlich. "Im Stall?" Der Mann schüttelte vehement den Kopf, dass seine verfilzten Haare hin und her schwangen.
    "Kennt ihr nicht das königliche Edikt?", wollte er entsetzt wissen. "Jeder der kein Bürger aus Lyc ist hat kein Bleiberecht in einem Dorf, dass weniger als zwei Tagesritte von den Bergen entfernt ist, sofern er keine Unterkunft angeboten bekommt." Während er sprach verzog der Fremde angewidert das Gesicht. Es machte nicht den Anschein, als sei er dem König freundlich gesonnen. Thyra und Jaris tauschten einen schnellen Blick. Sie konnten schlecht erzählen, dass dieses Problem gelöst war ohne zuzugeben, dass sie für den Tod des Königs mitverantwortlich waren und egal was die hier Anwesenden vom ehemaligen König halten mochten, dessen Gesetze galten wahrscheinlich immer noch.
    "Und was sollen wir jetzt tun?", fragte Zacharas gereizt. "Zurück in den Schneesturm." Der Mann musterte sie einen Augenblick nachdenklich.
    "Vielleicht...", er zögerte, "Vielleicht könnt ihr bei mir und meiner Frau bleiben, bis die weiterreise sicher ist."

    Jaris war Milde überrascht, als Daphne Daryk als ihren Anverlobten bezeichnete. Weniger über die Verlobung sondern darüber, dass sie das öffentlich tat. Doch er hatte nicht wirklich Zeit sich zu wundern, denn einen Moment darauf zogen alle ihre Schwerter und es roch intensiv nach Barbecue. Er tat es seinen Kameraden gleich, zog sein Schwert und trat drohend auf die Matrosen vom Schiff des Königs zu. Die Besatzung von Daphnes Schiff stand zuerst ratlos um die bewaffneten herum, dann läutete eine Glocke. Der Bootsmann stand auf dem Achterdeck und zwei stämmige Matrosen schleppten die Waffenkisten an Bord. Die ersten Männer griffen sich bereits Entermesser und Speere, während die nun führungslosen Matrosen des Königs ratlos in einem immer enger werdenden Kreis standen. Es dauerte nicht lange bis sich die ersten ergaben.

    Jaris stand reglos an der Reling, während er auf die wenigen Überreste, des königlichen Schiffes starrte. Außer ein paar Planken und Kisten war alles dem hungrigem Rachen der See zum Opfer gefallen.
    "Was starrst du so", fragte Thyra, die neben ihn getreten war.
    "Ich frage mich nur wie unser Empfang in Lys aussehen wird, nachdem wir ihrem König gebraten haben", antwortete er ihr und legte einen Arm um sie. Der Sonnenschein spiegelte sich auf der glatten Meeresoberfläche wieder und ließ sie wie Glas schimmern. Ein erstaunlicher Moment der Ruhe, wenn man bedachte, dass sich noch vor wenigen Stunden meterhohe Wellen vor ihnen aufgetürmt hatten.
    "Auf jeden Fall werden wir einige Fragen zu beantworten haben", vermutete sie. Er stimmte ihr zu.

    Das Licht der Laternen warf ein flackerndes Licht auf die Gäste. Man hatte Laternen genommen und keine Kerzen. Für offenes Feuer sei die See zu rau, hatte zumindest der Kapitän gesagt. Doch um nicht den Eindruck zu erwecken, dass man einfach zu knausrig sei, wurde eben gleich ein Dutzend der Glasbehälter aufgestellt. Auch dies konnte jedoch nichts gegen die Kälte, die sich über den Tisch hinweg ausgebreitet hatte, ändern. Dabei waren die Blicke voll brennenden Hass. Eigentlich, das ging Jaris zumindest durch den Kopf, hätte man vielmehr die Gäste dieser Abendgesellschaft in kleine Glasbehältnisse stecken sollen, als die Flammen. Oder wenigstens einen.
    Der König saß am Gegenüberliegendem Tischende von Daphne und sein geräuschvolles Schmatzen erfüllte die Kajüte. Den Vogel, den er sich zwischen die Zähne schob, hatten man extra für diesen Anlass schlachten lassen.
    "Ein zähes Tier", brach der König plötzlich das schweigen. "Es ist bemerkenswert was ihr eurem Gaumen zumuten könnt, Mylady." Ungeachtet seiner Worte riss er einen weiteren Knochen aus dem ausgeweideten Kadaver vor ihm.
    "Nun mit zähen Dingen kennt ihr in Lyc euch ja aus, nach allem was man hört", entgegnete Zacharas höflich. "Immerhin muss ein Volk zäh sein, dass so hoch im Norden überlebt." Der König winkte jedoch nur ab.
    "Nicht in meinem Schloss. Da gibt es Feuer und das beste Essen, was unsere Händler im Süden auftreiben können. Immerhin brauche ich etwas im Magen, wenn ich mir das Jammern des Pöbels über ihren Hunger anhöre. Man könnte meinen ich hätte keine anderen Sorgen." Die Begleiter des Herrschers, die seine Tischhälfte säumten, brachen augenblicklich in schallendes Gelächter aus, sobald er seinen Satz beendet hatte. Sie warfen sich dabei böse Blicke zu und bemühten sich die anderen noch zu übertönen. Maden die gefallen wollten. Fenrir, aufgeschreckt von dem Lärm hob den Kopf und jaulte fragend. Sofort verstummte der Lärm.
    Der Wolf war kein offizieller Teil der Tischgesellschaft, jedoch hatte er sich so platziert, das er im Grunde zwischen Daphne und Thyra auf dem Teppich lag und scheinbar friedvoll döste. Am Anfang hatte ihn kaum einer der Fremden überhaupt bemerkt. Dann hatten sie einen Blick auf seine funkelnden Augen oder seine spitzen Zähne erhascht.
    "Ihr im Süden scheint auch kein Problem mit dem Essen zu haben, wenn ihr schon eure Hunde an den Tisch lasst", behauptete der König nur ungerührt. Jaris spürte wie sich Thyra neben ihm bei dem Wort Hund verkrampfte und legte ihr beruhigend eine Hand auf ihre zusammengeballten Fäuste. Er wollte dieses Schwein ebenso tot sehen, wie jeder seiner Gefährten, doch sie alle hatten auch bereits den Krieg gesehen.
    "Andererseits scheint ihr ohnehin nicht viel von einer sittsamen Gesellschaft zu halten", fuhr der König fort und ließ den Blick über die Gruppe schweifen. Zusätzlich zu ihnen hatte Daphne auch den Kapitän, einige seiner Offiziere, sowie den jungen Soldaten eingeladen. "Seid ihr einfach in eine beliebige Hafentaverne gegangen und habt euch eure Gefährten nach Geruch ausgesucht?" Augenblicklich rückten seine Anhänger von ihnen weg und machten angewiderte Gesichter.
    "Nun, ich speise auch mit euch", entgegnete Daphne spitz.
    "Immerhin das macht ihr richtig", behauptete der König, der entweder nicht gewillt oder einfach nur zu dumm war um die Beleidigung zu erkennen, und streckte seinen Krug hinter sich aus, damit ihm nachgeschenkt wurde. Als nichts geschah - was auch daran lag, dass die wenigen Matrosen, die als Diener ausgesucht worden waren, nach dem hereinbringen des Essens gleich wieder verschwunden waren - taxierte er seinen nächsten Speichellecker so lange mit einem bösen Blick, bis dieser schamvoll seinen vollen Krug, mit dem Leeren des Königs tauschte.
    "Ihr tut gut daran, Lyc besuchen zu wollen", sagte er dann und blickte wieder Daphne an. "Ich bin mir sicher ihr könnt noch viel von uns über die Führung seiner Untergebenen lernen. Jedoch fürchte ich ihr hättet euren Besuch vorher ankündigen müssen." Er lehnte sich genussvoll zurück und leerte den neuen Krug in einem Zug. Dieses mal musste er niemanden anstarren um einen neuen zu bekommen.
    "Das haben wir", antwortete Daphne sofort. "Wir haben extra eine Kogge vorausgeschickt." Der König sah seine Begleiter an, die sofort eifrig die Köpfe schüttelten.
    "Tut mir leid", verkündete er dann ohne jede Spur von Bedauern in der Stimme. "Die Kogge muss wohl verloren gegangen sein. Auf dem Weg über das Meer liegen viele Gefahren bereit." Daphne starrte ihn funkelnd an.
    "Na und? Dann kündige ich mich eben jetzt an. Oder wollt ihr deswegen einen Krieg vom Zaun brechen."
    "Aber, aber", entgegnete der König und machte eine beruhigende Handbewegung. "Wer spricht denn gleich vom Krieg. Ich bin mir sicher niemand will etwas dergleichen." Daphne verschränkte die Arme vor der Brust und Jaris sah, wie sich Daryk neben ihr etwas aufrichtete. Er selbst griff nach seinem Schwertgriff, während Thyra neben ihm die Finger in Fenrirs Fell grub.
    "Was wollt ihr dann", fragte Daphne unumwunden.
    "Nichts was ihr besitzt", entgegnete ihr Gegenüber, "Jedoch kann niemand bestreiten, dass das was durch des Königs Gewässer fährt auch des Königs ist, sofern keine Besuch angekündigt ist. Also möchte ich euch bitten mein Schiff zu verlassen. In meiner Großzügigkeit werde ich euch und meiner Mannschaft gerne eines meiner anderen Schiffe zur Verfügung stellen, dass euch den Rest des Weges bis nach Lyc und zur gegebenen Zeit zurück nach Delyveih bringt." Er setzte sein triumphierendes Lächeln auf und lehnte sich zurück.
    "Ich frage mich wie ihr das anstellen wollt", entgegnete Daphne. "Immerhin ist mein Schiff größer als das mit dem ihr hierhergekommen seid und ihr seid umgeben von meinen Leuten."
    "Und ich frage mich, was der Herzog von Delyveih", diese Worte betonte er besonders, "wohl dazu sagt, dass ihr es seid die einen Krieg beginnt und das nur wegen eines Schiffes."

    Zweifelnd blickte Jaris auf das kleine Wesen, dass immer noch an Tristans Hand in der Luft baumelte. Die Gegenwehr hatte aufgehört, doch sein Gesicht wirkte verkniffen und seine Lippen hatte er fest zusammengepresst. Er schien sich krampfhaft davon abhalten zu wollen, etwas zu sagen, auch wenn das gar nicht mehr nötig war, da Tristan alle wichtigen Fragen gestellt hatte.

    Schnell wurde ein kleiner Käfig gebracht, der einem Vogelkäfig ähnelte und die Abscheu und das Entsetzen, dass sich auf dem Gesicht des kleinen Männchens zeigte, machte klar was er darüber dachte.
    "Bitte... b-bitte nicht", stotterte es nun doch und vergaß dabei völlig zu fluchen.
    "Liebe Menschen, gute Menschen. Ihr müsst mich doch nicht einsperren. Ich werde euch auch nichts tun. Versprochen." Seine Stimme war nun zu einem schrillem Säuseln geworden und er hatte den Kopf seltsam schief gelegt, wohl in der Hoffnung den flehenden Ausdruck eines Hundes zu imitieren. Jedoch war dieser Versuch nicht von außergewöhnlichem Erfolg geprägt. Tristan blickte zwar zweifelnd auf ihn herab und zögerte, doch schließlich übergab er ihn dem stämmigen Matrosen, der ihn ohne viel Federlesens am Hemdsaum packte. Der Klabautermann hatte nun offenbar seine beschwichtigende Haltung aufgegeben und tobte umso mehr.
    "Oh verfluchte Robbenspucke, lass mich los", krakeelte er, während er von dem Matrosen wie ein Stoffknäul durch die schmale Käfigöffnung gestopft wurde.
    "Öffne die Tür und spring über die Reling, beim Klabautermann. Springt alle über die Reling, beim Klabautermann. Seid verdammt nochmal Haifischfutter, beim Klabautermann." Das kleine Kerlchen hämmerte vergeblich mit seinen Fäustchen gegen die Gitterstäbe und heulte wild auf, als seine Flüche nicht die gewünschte Beachtung fanden. Zum Glück wirkte Zacharas Trank. Sie hatten sich überlegt, dass ein Matrose alle paar Stunden einen Eimer Wasser über dem Käfig ausleeren und dem Männchen eine neue Dosis Zaubertrank - von dem zum Glück reichlich vorhanden war - verpassen sollte. Jaris nahm sich vor persönlich darauf Acht zu geben. Die Worte des Klabautermanns hatte deutlich gezeigt, was ihnen blühte, wenn sie ihn entkommen ließen.

    Später war die Stimmung an Deck deutlich ausgelassener. Die Matrosen arbeiteten zwar weiter, immerhin musste so ein großes Schiff gesegelt werden, jedoch riefen sie sich dabei ständig Bemerkungen zu, die sie zum Lachen brachten und standen wann immer es ging in kleinen Gruppen herum. Der Bootsmann musste sie immer wieder antreiben, sonst wäre die Arbeit wohl vollkommen zum Erliegen gekommen, doch der Kapitän hatte offenbar beschlossen diesen Mangel an Disziplin für den Augenblick zu tolerieren. Immerhin war der Klabautermann die erste echte Bewährungsprobe für das junge Schiff gewesen. Tristan dagegen schien die Situation weniger zu Behagen. Seine Taten hatten ihm zwar eine Art Heldenstatus verpasst und unzählige Matrosen klopften ihm wohlwollend auf den Rücken, wo er auch vorbei kam, oder riefen ihm Glückwünsche zu, doch der junge Mann warf ständig niedergeschlagene Blicke auf die Bodenluke, die zu dem Raum führte, in den man den Klabautermann gebracht hatte. Sein Gesicht zeigte die Anflüge eines schlechten Gewissens.
    Jaris hoffte, dass er sich die Sache nicht zu sehr zu Herzen nahm. Immerhin hatte er die gesamte Mannschaft vor möglichen Verletzungen und sogar dem Tod bewahrt.
    Er selbst jedoch beteiligte sich ebenfalls nicht an der ausgelassenen Stimmung, wenn auch aus anderen Gründen. Der Klabautermann hatte keine losen Fetzen von Erinnerungen hervorgerissen, die nicht die seinen waren, und das war angesichts der letzten Wochen eine beinahe angenehme Überraschung. Dennoch beunruhigte ihn der Gedanke an ein magisches Wesen, dass er nicht einschätzen konnte und dass ihm und dem ganzem Schiff so eindeutig Schlechtes wünschte. Seine Sorgen wurden auch nicht beschwichtigt, als er den Raum betrat, in dem der Käfig des Klabautermanns auf einem Tisch trohnte. Die Kleidung und die Haare des kleinen Kerls waren immer noch tropfnass von der letzten Salzwasserdusche und sein Gesicht war weiterhin voller Abscheu verzogen.
    "Vergorene Algenfischsuppe, lass mich hier raus", bellte es ihn an, verzichtete jedoch auf die Formel, die die Worte unter gewöhnlichen Umständen in einen Zauberspruch verwandelt hätten. Ihm schien wohl klar geworden zu sein, dass dies zwecklos war. Beleidigt schob er die Unterlippe hervor, als er sah, dass seine Worte wieder keinerlei Reaktion hervorriefen. Stattdessen starrte Jaris das Wesen interessiert an.
    "Wie bist du an Bord gekommen", fragte er es, doch der Klabautermann schien immer noch schmollen zu wollen. Hätte er nur bei diesem Gedicht, dass Tristan aufgesagt hatte, besser aufgepasst. Vielleicht sollte er ihn später danach fragen. So verging gut eine Minute und als ihm klar wurde, dass er auf diese Art und Weise keine Antwort von dem Männchen erhalten würde, verließ er den Raum, nicht weniger beunruhigt als beim Betreten.

    Abends waren sie alle in der Offiziersmesse eingeladen. Eigentlich waren sie das jeden Abend, immerhin gehörte das gesamte Schiff Daphne, doch die Seemänner beharrten auf ihren Traditionen und sprachen jedesmal eine förmliche Einladung aus oder überbrachten diese als versiegelten Brief.
    Aus dem förmlichen Beisammensein wurde alsbald ein ausgelassenes Gelage, denn der Koch hatte den Sieg über den Klabautermann - ebenso wie die Besatzung - als Grund für eine Feier erkannt. Während die Matrosen eine doppelte Ration Rum genossen, bekamen sie und die Offiziere ein frisch geschlachtetes Spanferkel, garniert mit dem obligatorischem rotem Apfel im Maul, vorgesetzt. Dazu gab es reichlich Wein und als alle satt waren, kramten einige der Männe verschiedene Musikinstrumente hervor. Man schob die Tische auf Daphnes Bitte hin an die Seiten des Raums, sodass in der Mitte eine für ein Schiff geräumige Fläche entstand. Nicht einmal Jaris konnte Thyras ausgestreckter Hand widerstehen und kurz darauf wirbelten sie gemeinsam über die provisorische Tanzfläche. Keiner von ihnen war besonders anmutig, da sie beide bisher nicht gerade oft auf irgendwelchen Bällen oder ähnlichem gewesen waren, doch das spielte im Moment keine Rolle. Stattdessen wurden sie alle von der Stimmung und Jaris vor allem von Thyras bezauberndem Lächeln mitgerissen und er ließ es sich nicht nehmen sich jedesmal, wenn sie nahe genug beieinander waren, mit einem flüchtigem Kuss zu bedanken. Thyra und Daphne waren dank einiger unsinniger Vorurteile die einzigen Frauen auf dem Schiff und so blieb die Tanzfläche bis auf die beiden ihn und Daryk leer. Der Hüne protestierte erst, jedoch vergeblich, da er Daphne einfach nichts abschlagen konnte. Die meisten der Offiziere beobachten das Paar mit zusammengekniffenen Augen, doch niemand nahm öffentlich Anstoß daran und der Wein und die Musik taten ihr übriges. Am Ende waren alle auf den Beinen, wenn sich die meisten auch darauf beschränkten im Takt mitzuklatschen oder mit den Beinen aufzustampfen, sodass der Lärm ihrer kleinen Feier im ganzem Schiff zu hören sein musste. Aber ein Schiff war nicht gerade der richtige Ort für ausgedehnte Nächte, da man doch am Morgen wieder ausgeruht zum Dienst antreten musste. Dies galt besonders für die Offiziere und so beendete der Kapitän das Treiben schließlich, obwohl er dies bereits über die gewöhnlichen Maßen herausgezögert hatte. Sie alle taumelten mehr aufs Deck, als dass sie gingen, doch die kalte Luft draußen weckte ihre benommenen Lebensgeister. Das Deck war dunkel, bis auf die einsame Achterlaterne. Feuer war auf einem Schiff stets bedenklich und so mussten die wenigen unglücklichen Offiziere und Matrosen, die zur Wache eingeteilt waren, in nicht vielmehr als dem Mondschein arbeiten. Immerhin war davon reichlich vorhanden, da es eine klare, wolkenlose Nacht war, und der Steuermann würde nicht viel Schwierigkeiten haben ihren Kurs anhand der Sternenbilder zu halten. Solchermaßen wachgerüttelt von der kühlen Luft, besann sich Jaris und bat Thyra schon einmal vorzugehen, damit er nach dem Klabautermann sehen konnte. Sie gab ihm als Antwort einen verführerischen Kuss.
    "Bleib nicht zulange weg", flüsterte sie in sein Ohr und zwinkerte ihm zu. Dann folgte sie den anderen unter Deck und Jaris starrte ihr einen Moment lang glückselig hinterher. Dann besann er sich und ging zu der anderen Lucke, die ihn in das provisorische Gefängnis führen würde. Er war sich nicht sicher, ob der zuständige Matrose seine Aufgabe nicht in der allgemeinen Hochstimmung vergessen haben könnte, doch zu seiner Erleichterung stand ein Seemann vor der Tür Wache. Die nasse Kleidung und der verdrießliche Blick ließen keinen Zweifel daran, dass auch die übrigen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen worden waren.
    "Ha", stieß der Klabautermann zu Jaris Überraschung jedoch plötzlich aus, als dieser den Raum schon wieder verlassen wollte. "Dieses Schiff schwebt in einer großen Gefahr, immerhin bin ich hier." Jaris brauchte einen Moment um zu ergründen, ob der kleine Mann nun meinte, dass er die Gefahr für das Schiff darstellte, oder ob er hier war, weil das Schiff in Gefahr war. Dann erinnerte er sich daran, dass Daphne erzählt hatte, dass Klabautermänner ursprünglich vor Gefahr auf hoher See warnen sollten. Jaris konnte in dem bisherigem Treiben dieses Exemplars nicht wirklich eine Warnung erkennen, doch vielleicht konnten diese Wesen nur auf Schiffen erscheinen, die in Gefahr schwebten. Oder aber es war einfach nur ein hinterhältiger Plan, um ihn zum Zweifeln zu bringen.
    "Welche Gefahr droht uns", fragte Jaris dennoch und trat näher an die Gitterstäbe. Das Männchen setzte sich jedoch nur auf dem Käfigboden in einen Schneidersitz, verschränkte die Arme und verzog die Lippen zu einem gemeinem Lächeln. Er würde ihm nicht mehr erzählen.

    Jaris blickte skeptisch auf das Spielfeld. Mitlerweile waren die Klötze wild über dem Spielfeld verteilt. Sie waren am gewinnen. Natürlich war es von Vorteil, dass sie Thyra in ihrem Team hatten, die am laufendem Band neue Regeln über dieses Spiel offenbarte, das so exotisch war, dass es nicht einmal in seinem reichen Fundus an fremden Erinnerungen vorhanden war. Als sie nach wenigen Zügen anfing die Klötze der anderen aufzustapeln, damit man sie mit einem Wurf treffen konnte, war ein kurzer Streit aufgeflammt, der jedoch schnell beendet wieder war. Er trat an die Wurflinie, die sie mit einem tau - von denen es hier an Bord reichlich gab - gekennzeichnet hatten und warf seine beiden Stöcke in kurzen Abständen. Immerhin. Einer traf einen der größeren Klötze, der sich langsam neigte und dann einen erschreckenden Moment stillstand, bevor er schlussendlich zur Seite kippte. Es brach nicht wirklich der frenetische Jubel aus, mit dem sie zu Beginn nach jedem Treffer die gesamte Besatzung unterhalten hatten, doch es brachte ihm einen schnellen Kuss von Thyra ein und was wollte er auch mehr. Inzwischen hatte sie eine richtiggehende Zuschauermenge gebildet, die einen Kreis um sie gebildet hatten. Die die frei hatten - und einige, die einfach nicht unter ausreichender Beobachtung standen, wie Jaris vermutete -, waren froh über den kurzweiligen Zeitvertreib und manche hatten sogar Wetten abgegeben. Die gelegentlichen Würfe, die schiefgingen und einen der Stöcke in die Menge schleuderten, waren wohl nicht genug Risiko um sie davon abzuhalten. Inzwischen war auch Tristan, der mit ihm und Thyra zusammenspielte, etwas aufgetaut und gab verhalten ein paar Dinge von sich preis. Nicht vielmehr, als das er nach seinem Bruder suchte, der in einem Krieg verschollen war, doch das war immerhin ein Ansatzpunkt. Jaris musste noch entscheiden, ob der fremde Mann etwas zu verbergen hatte oder einfach nur schüchtern war. Auf jeden Fall konnte es nicht schaden etwas Zeit mit ihm zu verbringen und auf der Hut zu sein. Plötzlich erfasste eine Böe das Schiff und stieß die wackligsten der aufgeschichteten Holzskulpturen in ihrer Mitte um. Im selben Moment ertönte ein scharfer Knall, der die Luft zerschnitt wie warme Butter. Ein Matrose brüllte Warnrufe und Jaris warf sich mit Thyra auf das Deck, während er sah, dass die anderen es ihnen gleich taten. Einer der schwenkbaren horizontalen Balken, die die Segel im Wind halten sollten, rauschte über ihren Köpfen hinweg und ein Lauter Schrei erklang, von einem Platschen gefolgt. Sofort sprangen die meisten der Matrosen um sie herum auf die Beine und machten sich daran, den Balken sowie das gerissene Tau zu sichern. Andere rannten zur Reling und riefen wild durcheinander.
    "Mann über Bord", brüllte ihn ein besonders Stimmgewaltiger Seemann an, als er sich an ihm vorbei schob. Das Meer war ruhig bis auf ein paar kleine Wellen, die das Schiff in ihrer sanften Umarmung wiegten. Und einer Stelle im Wasser, von der sich kleine Ringe zogen, wie bei einem Teich in den jemand einen Stein wirft.
    "Nach so einem Schlag ist er bestimmt bewusstlos", dachte Jaris ohne zu wissen, um wen es sich handelte. Schnell suchten seine Blicke seine Gefährten und dann fühlte er sich schuldig, weil er erst jetzt daran gedacht hatte. Und weil er erleichtert war, dass er sie gefunden hatte, denn immerhin versank dort jemand im Meer, für den es kaum einen Unterschied machte, ob seine Freunde wohlauf waren.
    Plötzlich bäumte sich die See an besagter Stelle auf und schraubte sich - einen dunklen Fleck in seiner Mitte - in der Himmel. Die Wassersäule neigte sich zum Schiff hin und brach über ihnen zusammen. Stimmen fluchten, als sie von dem kühlem Nass überspült wurde, doch ein paar waren so geistesgegenwärtig den Fleck, der sich als lebloser Körper herausgestellt hatte, aufzufangen und sanft auf das Bett gleiten zu lassen. Daphne offenbar nicht sehr erschöpft von dem was sie getan hatte - sie war wirklich wieder genesen - eilte sogleich zu dem reglosen Mann und legte ihm eine Hand auf die Brust. Er krümmte sich zusammen und spuckte in hohem Bogen Wasser auf das Deck und die Umstehenden. Einen Moment lang war das Gemurmel verstummt. Dann klatschte ein einzelner und sofort fielen weiter ein und bejubelten Daphne. Jaris Blick suchte wieder, doch diesmal fand er den Kapitän, der mit zwei weiteren Männern abseits vom Geschehen bei dem Tau stand, das wohl gerissen war. Der Söldner schob sich erneut durch die Menge und gesellte sich zu der kleinen Gemeinschaft.
    "Wie konnte so etwas passieren", blaffte er den Kapitän an, der überrascht den Kopf hob. Auf seinem Gesicht war durchaus Zorn über seinen harschen Ton zu sehen, aber auch Ratlosigkeit.
    "Gar nicht", entgegnete er direkt. "Alle Taue sind neu und werden von meinen Männern täglich kontrolliert."
    "Und trotzdem ist eins gerissen", konterte Jaris und verschränkte die Arme vor der Brust.
    "Ist es nicht, das ist es ja gerade", antwortete der Kapitän und die Wut war nun deutlich in seiner Stimme zu vernehmen. Allerdings nicht auf ihn. "Es wurde durchgeschnitten."

    Jaris schritt in Gedanken über das Deck. Um ihn herum machten die Matrosen respektvoll Platz und warfen ihm neugierige Blick zu. Sie wussten nur, dass er mit ihrer Prinzessin gekommen war, was ihn in ihren Augen wohl zumindest auf die Stufe irgendeines niederen Adligen hob. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Was hätten sie wohl gesagt, wenn sie die Wahrheit kennen würden. Dass er ein gewöhnlicher Söldner war, ohne jeden Rang und Titel. Falls er sich noch immer als solchen betrachten durfte. Jetzt, nach all dem was passiert war.
    Neugierig betrachtete er die verschiedenen Vorgänge auf dem Deck. Matrosen eilten durcheinander, zogen Taue fest, krabbelten in der Takelage und eine Gruppe von ihnen schleppten Kanonenkugeln auf eine der Treppe zu, die in die unteren Decks führte.
    Kanonen! Er runzelte die Stirn. Auf derartiges wie diese Geschütze hatten ihn weder seine Erinnerungen noch diese seltsamen Träume vorbereitet.
    Schaudernd dachte er an das Kriegsschiff aus der vorherigen Nacht. Ihm war nicht klar, ob diese Träume nun Erinnerungen waren, welche er zwar vergessen hatte, die aber im Schlaf an die Oberfläche gewirbelt wurden, oder ob sie einzig seiner Fantasie entsprangen. Fest stand nur, dass das Schiff, auf dem er gekämpft hatte - und gestorben war, woran er nur ungern dachte - wenig mit diesem hier gemein hatte. Die Galeone war schlanker und tiefer, während das andere hohe Aufbauten - beinahe schon Türme - aufwies. Diese sollten im Enterkampf den entscheidenden Vorteil bieten, während die Calypso - der Name verursachte immer noch Gänsehaut bei ihm - gar nicht erst in einen solchen verwickelt werden sollte. Das zumindest hatte ihm ein Matrose eifrig versichert, nachdem er ihn darüber ausgefragt hatte. Der Bursche war erstaunt gewesen, als er ihm die Aufbauten, die laut dem Matrosen als Kastelle bekannt waren, beschrieben hatte. Angeblich waren sie mittlerweile verdrängt worden, nachdem sie Jahrhunderte lang den Seekrieg beherrscht hatten. Jaris kam es unvernünftig vor eine so bewährte Taktik einfach so ins Wasser fallen zu lassen. Selbst wenn diese die Schiffe langsamer machte und schwerfälliger. Er hatte die Kanonen gesehen und auch eine der Kanonenkugeln angehoben. Nach dieser Erfahrung konnte er nicht glauben, dass die Geschütze genügend Kraft besitzen sollten, um sie auch nur zehn Meter weit zu schleudern. Auf jeden Fall könnten sie nicht den nötigen Schwung zustande bringen, der die Kugeln die Bordwände zerschlagen lassen könnte. Vielleicht wäre ein Katapult oder ähnliches zu so etwas in der Lage, aber nicht diese schmalen Röhren, die weder einen Schleuder- noch einen Zugmechanismus boten.
    Mit ein wenig Glück würde seine Vermutung nicht erprobt werden. Sicher war überall mit Piraten zu rechnen, aber ein so großes Schiff würden sie - zumindest laut dem redseligen Matrosen - nur im Ausnahmefall angreifen.

    Aus dem Augenwinkel bemerkte er Zacharas, der am Bug auf einer Kiste saß und sich mit dem "Neuem" unterhielt. Tristan war jung. Jedoch traf das wohl angesichts der niedrigen Lebenserwartung auf die meisten Soldaten zu. Zumindest gab er sich als Soldat aus und auch seine Ausrüstung ließ darauf schließen. Sein Gesicht war fein geschnitten und bartlos, was Jaris beinahe schon an einen Elfen erinnerte. Vielleicht hatte der Bursche ja tatsächlich einen Schuss Elfenblut in den Adern. Bemerkenswert war außerdem, dass er sich mit dem selbstsicherem Gang eines gutem Schwertkämpfers bewegte, jedoch träfe auch das auf einen Soldaten zu. Jaris wusste selbst nicht, warum er dennoch das Gefühl hatte, etwas zu übersehen. Es musste nicht zwingend etwas mit dem jungen Mann zu tun haben, aber irgendeinen Grund musste es ja haben. Irgendetwas, er war sich nur nicht sicher was, kam ihm merkwürdig vor.
    "Narr", schalt er sich selbst in Gedanken. Die letzten Tage hatten ihn dazu gebracht alles und jeden misstrauisch zu betrachten. Als sie abgelegt hatten, war er sich einen Moment sogar sicher gewesen das Gesicht der Frau, die ihn in seinen Träumen gebeten hatte heimzukehren, in der Menschenmenge am Kai gesehen zu haben. Natürlich alles nur Einbildung, doch ständig fühlte er sich beobachtet. In ihm kribbelte der Gedanke etwas vergessen zu haben, was wichtig war.
    Entschlossen suchte er nach einem neuem Thema für seine Gedanken. Die Tatsache, dass sie jetzt auf dem Meer waren, ließ ihn unruhig werden. Das war alles. Nicht dass er sonderliche Angst vor dem Wasser hatte, es war einfach seltsam sich auf dem Hoheitsgebiet eines Feindes zu befinden, der sie noch vor kurzer Zeit beinahe vernichtet hätte. Apropo Calypso. Er hatte Daphne zuletzt gesehen, als sie sich beim Ablegen von ihrer Familie und ihrem Volk verabschiedet hatte. Sie hatte krank gewirkt, obwohl sie davor ja eigentlich geschützt sein sollte. Er wusste von ihr nur, dass Daryk bei ihr war und sonst niemanden ins Zimmer ließ. Eine Maßnahme die ebenfalls nicht gerade beruhigend auf ihn wirkte.
    "Sie ist immer noch vom Kampf geschwächt", rief er sich selbst in Erinnerung. Selbst Daryk hätte etwas gesagt, wenn es schlimmer als das wäre.
    Mit einem Stirnrunzeln entschloss er sich in seine Kabine zu gehen und sich endgültig von den ganzen düsteren Gedanken abzulenken. Vielleicht hätte er Gelegenheit mal wieder ein wenig Zeit mit Thyra zu verbringen, sofern sie denn da war. Sie hatten seit dem Kampf mit Calypso kaum eine ruhige Minute gehabt. Und falls nicht, dann war da immer noch das Buch, das zuunterst in seinem Reisegepäck verborgen lag. Seitdem der General es ihm geschenkt hatte, hatte er ihm kaum einen Blick gewürdigt - er hatte keine Zeit für Geschichte, wo gerade soviel davon in seinem Schädel herumtobte -, doch es könnte auch nicht schaden, es mal in Augenschein zu nehmen. Vielleicht war es ja das, was er übersah oder zumindest etwas, dass ihn vergessen machen konnte, dass er etwas suchte. Auf jedem Fall wäre es besser ein Buch zu lesen als aufgescheucht, wie ein Schaf beim Heulen eines Wolfes, über das Deck zu streichen. Schon wieder zu tief in Gedanken versunken, als dass er seine Umgebung überhaupt wahrnahm, trat er auf eine der Treppenstufen, die ihn nach unten führen würden.

    Das dumpfe Dröhnen des Hornes schallte über die Ebene. Er saß auf seinem Reittier, einem prächtigen Hengst namens Shalin, auf der Kuppe des großen Hügels und betrachtete die Szenerie unter ihm stirnrunzelnd.
    "Die Speerträger sollen fünf Schritt zurückweichen", sagte er laut und vertraute darauf, dass einer der zahlreichen Boten um ihn herum die Nachricht überbrachte. "Aber langsam. Es soll wirken, als gewännen sie an Boden." Sein ruheloser Blick galt den schier unendlichen Horden, die gegen die Schilde seiner Soldaten schmetterten. Schmetterten und zerbrachen. Bisher!
    Pfeile verdunkelten den Himmel und die aufflackernden Blitze und Flammensäulen spendeten mehr Licht als die Sonne selbst.
    "Das vierte Regiment soll den Hügel umgehen und sich bereithalten dem Feind in die Flanken zu fallen. Die Königinnengarde wird sie begleiten." Hinter sich war das Wiehern eines Pferdes zu hören, als der Reiter es herum riss und die Fersen spüren ließ. Der Mann zu seiner Linken, Artois, nickte ihm zu, bevor er salutierte und dem Boten folgte. Er würde als Anführer der Königinnengarde seine Männer in den Kampf begleiten. Ein jeder hier auf diesem Feld würde heute seine Waffe schwingen. Er war dabei nicht ausgeschlossen. Kurz wandte er sich vom Schlachtfeld ab und blickte sich um. Hinter ihm, fast vom Horizont verdeckt, ragten die Türme einer Stadt auf. Seiner Stadt. Welch prächtiger Abzug war es gewesen, als er und seine Männer durch die Straßen geritten waren. Jeder der blieb jubelte ihnen zu und die Frauen, die hofften nicht zu Witwen gemacht zu werden, ließen geflochtete Blumen regnen, um ihren Ehemännern Glück zu wünschen, wie es Sitte war. Wie viel Jubel hätte es gegeben, wenn sie gewusst hätten, dass die Armee in weniger als drei Monaten zurückgekehrt wäre. Beinahe geschlagen und kaum noch halb so groß wie zu Beginn. Als letzte Bastion vor einem Feind, den sie in den Bergen hätten schlagen sollen. So wie es ihnen ihre Verbündeten versprochen hatten, als sie sie lockten sich ihrem Feldzug anzuschließen. Nun, ihre Verbündete hatten einen harten Preis gezahlt. Ihre Armeen waren geschlagen und ihre Städte geschleift. Nun drohte ihnen und ihrer Stadt dasselbe Schicksal.
    Mit einem eindringlichen Blick wandte er sich zu dem Mann zu seiner Rechten. Luos war der Anführer seiner Leibgarde und mittlerweile auch ihr letztes Mitglied. In seiner Miene stand nicht der Hauch eines Zweifels. Immerhin diente er unter dem großem Strategen, dem Löwen der Morgenröte. So oft hatten sie beide dem Tod getrotzt. Waren dem Schlag des Xhars durch ein letztes verzweifeltes Manöver oder eine Taktik, die genauso wagemutig wie unerprobt war, entgangen. Beiden war klar, dass sie nicht ewig entkommen konnten.
    Unter ihm zog sich der Wall der Speerkämpfer ein klein wenig zurück und in den Reihen des Feindes brach Jubel aus. Jeder ihrer Gegner wusste gegen wen sie kämpften und keiner von ihnen war restlos vom Sieg überzeugt gewesen, allen Zahlen zum Trotz. Bis zu diesem Moment. Ein Hauch von Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Das hier würde seine letzte Hinterlassenschaft sein, sein Meisterstück. Kurz dachte er bedauernd an Ylenna und seine und ihre Kinder. Er würde dafür sorgen, dass sie weiterleben konnten. Dann zog er sein Schwert und er hörte wie sich der Ton hinter ihm zigfach wiederholte. Es kam ihm unerwartet still vor. Er war hundert- oder sogar tausendfach gewohnt. Mit einem letztem sehnsüchtigen Blick zurück auf die Mauern, deren alabasterweißes Funkeln er kaum erkennen konnte, ließ er Shalin antraben. Das Bild des großen Turmes in der Mitte der Stadt, der selbst aus dieser Entfernung gewaltig wirkte, brannte sich in sein Gedächtnis ein.
    Die kleine Gruppe galoppierte den Hügel hinunter, aus dem Sichtfeld ihrer Gegner heraus. Der steile Abhang war zu jeder Seite hin leicht zu verteidigen und jeder hätte erwartet, dass sich auf der Kuppe die letzten Reste seiner Truppen versammeln würden, sobald der Kampf auf der Ebene verloren wäre. Sie hätten ihn bestimmt ein paar Stunden halten können. Vielleicht sogar bis zum Abend. Am Ende stände jedoch ihre sichere Niederlage.
    Als sie die Stelle erreichten, wo sich die Königinnengarde und das vierte Regiment versammelt hatten, hielten sie nicht an. Die Männer, die sich bis dahin aus dem Kampf zurück gehalten hatten, fielen in ihren Galopp mit ein oder stürmten zu Fuß hinter den Pferden her. Kaum einen Augenblick später kam die Flanke der gegnerischen Horden hinter einer Erhebung zum Vorschein. Ein einziger Kundschafter, der die Seiten des Schlachtfeldes ausspähte hätte genügt, um die in einer Kuhle wartenden Truppen zu entdecken. Doch seine Bogenschützen auf dem Hügel hatten dafür gesorgt, dass sich niemand dieser Stelle genähert hatte. Jetzt fielen erschrockene Blicke auf sie und Offiziere brüllten verzweifelt ihre Befehle, um den Schlachtenlärm zu unterdrücken. Die meisten Menschen dachten, das zu einer guten Taktik ausschweifende Manöver und ausgefuchste Finten gehörten, doch meist genügten schon solch kleine und einfache Dinge. Wie zum Beispiel das Zurückweichen um ein paar Schritte, damit der Gegner dachte, die eigenen Reihen würden zerfallen. Seine Feinde waren nach vorne gestürmt, wie es ihnen die Logik der Schlacht befahl. Jeder Mann drückte sich jetzt dicht an den anderen, da die hinteren in ihrem Eifer nach vorne drängten. Die resultierende Enge und das unvermeidbare Chaos machten es ihnen unmöglich eine funktionierende Phalanx gegen den Kavallerieangriff zu schaffen. Wie rollende Felsen schlugen die Reiter in die ungeordnete Menge ein und schlugen breite Breschen für die Nachrückenden Fußkämpfer.
    "Mein letztes Geschenk an dich Ylenna", war sein letzter Gedanke. Dann überflutete ihn die Schlacht wie eine tosende Flutwelle.

    Blitze brandeten über einen wolkenlosen Himmel. Dunkelheit.

    Die Angst in ihrer Stimme war der einzige Grund, warum er seinen Männern erlaubte die Tür zu öffnen. Ein hochgewachsener, dunkelgekleideter Mann trat ein. Er war allein. Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich, als hätte er keinerlei Anlass sich zu beeilen.
    "So lasst ihr also den Wolf in euren Schaafspferch", warf sie wieder ihr manipulatives Netz aus Gift und Lügen aus. "Was glaubt ihr wird er mit euch machen, wenn wir hier fertig sind." Er ignorierte die Worte und wandte sich stattdessen an den Neuankömmling.
    "Ihr seid Jamal", stellte er fest. Ein Nicken folgte.
    "Da liegt ihr richtig", fügte der Fremde hinzu. Mit hochgezogenen Augenbrauen wartete der Mann dann ab, was er als nächstes sagen würde.
    "Ich weiß nicht viel", gab er deshalb schließlich zu. "Wer ihr seid oder was ihr tut. Nur, dass wir Hilfe brauchen." Schon wieder war dieses Knarren aus dem unterem Stockwerk zu hören, das verriet, dass Feinde sich ihnen näherten. Seine Männer umschlossen ihre Waffen fester und stellten sich an die Seiten der Ausgänge. Wie lange konnten sie sich dieser Angriffe noch erwehren.
    "Wissen ist ohnehin nicht viel wert", behauptete Jamal und grinste ihn an. "Nur eine Illusion, die uns davon abhalten soll an dem Sinn unseres Daseins zu zweifeln." Misstrauisch beäugte er den Fremden. Jamal war mal Legende mal Mythos. Mal war er eine Lichtgestalt, mal ein Dämon. Was war er heute. Kurz entschlossen unterdrückte er den Impuls zu fragen, wie der Mann hier herkam und was er zu tun gedachte. Es erschien ihm nicht richtig so etwas nach so einer Aussage anzusprechen und überhaupt hatten sie nicht die Zeit dazu.
    Yamal blickte ihn nur unverwandt an, bis er schließlich zögernd nickte. Sofort trat er an ihm vorbei und auf die junge Frau zu, die gefesselt auf dem einzigem Stuhl im Raum saß. Doch bevor er sie erreichen konnte, warf sich ihm Senna in den Weg.
    "Das dürft ihr nicht", schrie sie beinahe hysterisch und drängte sich mit dem Rücken gegen die Frau, kaum mehr als ein schmächtiges Mädchen mit goldblondem Haar, das ihr in Locken über den Rücken fiel, auf dem Stuhl.
    "Senna", setzte er in beruhigendem Tonfall an und trat neben Yamal, der ruhig stehen geblieben war. Doch er kam nicht dazu weiterzusprechen. Die Frau auf dem Stuhl lachte plötzlich laut auf und umschlang seine Geliebte von hinten mit einem Arm, der eigentlich gefesselt hätte sein sollen. Ohne auf ihre Reaktion zu warten stach sie ihr mit dem Messer von Sennas Gürtel, das er ihr geschenkt hatte, damit sie sich im Notfall wehren konnte, in die Brust. Ihre Augen starrten einen Moment lang fassungslos auf den Knauf, der aus ihr ragte und dann auf ihn, der wie versteinert dastand. Dann erschlaffte sie und glitt auf den Boden vor ihrer Peinigerin. Mit einem Aufschrei löste er sich aus seiner Erstarrung und stürzte sich neben sie. Zerrte ihren kraftlosen Körper samt dem Messer fort von der Hexe auf dem Stuhl.
    "Nein", wimmerte er beinahe und tastete verzweifelt nach ihrer Hand ohne den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden. Er fand sie schließlich und drückte sie zwischen seinen Fingern zusammen, als könnte er so neues Leben in sie hineinpressen. Ihre bebenden Lippen verzehrten sich zu einem winzigem Lächeln. Nur die Mundwinkel zogen sich hoch und doch erschien es ihm, als verschwinde all ihre Trauer und ihr Schmerz aus ihrer Miene.
    "Bleib bei mir", flüsterte er ihr zu. Zu mehr fehlten ihm die Worte. Und die Stimme.
    "Sie stirbt", stellte Yamal fest. Er klang dabei völlig mitleidlos. Es war eine Tatsache, die er ohne jegliche Emotion von sich gab.
    "Du", brachte er schließlich hervor. "Du kannst sie heilen. Du musst sie heilen." In seinen Augenwinkeln sah er wie dunkle Gestalten in den Raum stürmten und seine Wachen in aussichtslose Kämpfe verwickelten. Er nahm sie kaum wahr.
    "Das könnte ich", bestätigte Yamal und ging auf die Knie. Nun klang doch ein wenig Mitgefühl in seiner Stimme mit. "Doch das bedeutet, dass sie", er deutete auf die Frau auf dem Stuhl, "frei bleibt, denn ich kann nur eines von beidem tun." Die Hexe verzog ihr Gesicht zu einer grinsenden Grimasse, die jede Schönheit und Unschuld, die sie davor geborgen hatte, augenblicklich vertrieb.
    "Außerdem", setzte der Fremde erneut an. Nun klang seine Stimme bedauernd. "Es wird euch einen hohen Preis kosten. Über euren Tod hinaus." In seinem Rücken fiel der erste der Wächter. Aufgespießt von einer langen Klinge. Zerfetzt von scharfen Krallen.
    "Alles", stieß er laut empor und wiederholte dann. "Ich gebe alles."

    Blitze brandeten über einen wolkenlosen Himmel. Dunkelheit.

    Er schritt durch einen langen Gang. Zu seiner Linken gab eine gewaltige Glasfront den Blick auf die etlichen Wolkenkratzer frei, die sich mit diesem hier maßen. Es mochte durchaus etwas beeindruckendes haben, zu sehen wie die Gebäude Stockwerk für Stockwerk in den Himmel empor ragten, doch heute hatte er keinen Blick für die vermeintliche Schönheit übrig. Er hatte einen Auftrag zu erfüllen. Zielbewusst schritt er durch die Korridore und ließ mit seinem entschlossenem Blick niemandem einen Zweifel, dass er hier etwas zu suchen hatte. Die Wachmänner und Büroangestellte gingen an ihm vorbei. Muskelbepackte wie Anzugträger widmeten ihm kaum einen Blick oder grüßten ihn beiläufig. Wie sollten sie ihn auch nicht als einen der ihren ansehen. Der dunkelgraue Designeranzug, der ihm jedoch nicht genau passte, da er dem Aussehen entgegen nicht maßgeschneidert war, sah aus als gehöre er genau hier hin und auf etwas anderes achteten diese Leute ohnehin nicht. Deshalb wurde er auch kein einziges Mal angehalten, bis er das Büro erreichte, dass er gesucht hatte. Er hatte absichtlich nicht den direkten Weg genommen, um niemandem, der im Aufzug vielleicht Zeit hatte ihn genauer zu mustern, die Chance zu geben, seinen Zielort zu erraten. Vor der gläsernen Tür blieb er kurz stehen und betrachtete die Assistentin, die im Vorraum des Büros selbst Stellung bezogen hatte. Sie würde ihn nicht einfach so vorbei lassen, doch glücklicherweise hielt sie ihren Blick fest auf einen Stapel Papiere gerichtet, den sie vor sich aufgeschichtet hatte.
    So leise er das fertig brachte öffnete er die Tür und glitt an der Seite der Wand entlang, möglichst weit von der Sekretärin entfernt, bis er nach einer Biegung die Tür zum eigentlichem Büro erreicht hatte. Gerade wollte er seine Hand auf den kupfernen Griff legen, als er neben sich plötzlich ein Papierrascheln vernahm. Erschrocken blickte er sich um, doch die Sekretärin hatte nur umgeblättert und hielt ihren Kopf jetzt auf einem Arm gestützt. Schnell öffnete er die zum Glück geräuschlose Tür und glitt hindurch.
    Der imposante Schreibtisch vor ihm war leer. Der Mann, der dort sitzen sollte, stand ein paar Schritte daneben vor seiner ganz persönlichen Glasfront und starrte auf die Stadt hinunter. Seine Stirn war in tiefe Falten gelegt, doch auch der Senator hatte seine Anwesenheit scheinbar noch nicht bemerkt.
    Er unterdrückte ein Grinsen. Das ganze avancierte zu einem Spaziergang. Man sollte meinen, dass jemand, der sich zur Kaiserwahl bereitstellte, besser geschützt wäre. Schnell und doch leise wie ein Windhauch huschte er rasch über den Parkettboden, den in der Mitte ein großes Abbild des Wappens, eines riesigen Adlers, der einen Stier in den Krallen trug, zierte. Noch bevor dem Senator die Spiegelung in der Glasscheibe auffallen konnte, stand er schon hinter ihm und als sich die in die Ferne gerichteten Augen vor Überraschung und Erschrecken weiteten, fuhr bereits eine Klinge über die Halsbeuge. Der Mann versuchte etwas zu sagen, doch von den durchschnittenen Stimmbändern erklang nur ein schwaches Krächzen und er stürzte zu Boden. Unwahrscheinlich, dass das jemand vor der Tür gehört hatte. Zufrieden trat er einen Schritt zurück und betrachtete den Körper, der in der immer größer werdenden Blutlache lag. Noch heute würde Chaos entflammen. Vielleicht würde Entsetzen die Menschen lähmen oder irgendwelche Narren würden Schuldzuweisungen brüllen. Er befände sich dann bereits weit entfernt, vielleicht außerhalb des Kraters, den auch der Senator verlassen wollte, mit reichlich Kapital für sein neues Leben.

    Blitze brandeten über einen wolkenlosen Himmel. Dunkelheit.

    Er stand inmitten einer tobenden Seeschlacht. Männer schrien zu Hunderten, um ihn herum, und die Steine der Katapulte schlugen auf die aufgewühlte Wasseroberfläche. Hin und wieder trafen sie auch das Deck eines Schiffes. Bohrten sich in ein Kastell oder ließen ein Segel krachend in sich zusammenfallen. Die Luft stank nach Rauch und Feuer. Er selbst deckte seine Umgebung mit Blitzen ein. Sie trafen die heranstürmenden Seemänner, die im Lauf erstarrt und tot umfielen. Seine Kameraden drängten derweil nach vorne. Trugen den Kampf von ihrem Schiff. Nicht wenige übersprangen bereits die schmale Kluft zu dem feindlichem Seegefährt.
    Hinter ihm explodierte mit einem lautem Knall ein Tonbehälter der flüssiges Feuer über die Holzplanken versprühte. Ihn umhüllten die Flammen augenblicklich. Züngelten an ihm hoch und bissen sich tief in sein Fleisch. Mit einem Aufschrei taumelte er zur Seite, stieß gegen die Reling und fiel in seinem wilden Zappeln darüber. Einen Augenblick befand er sich in der Luft, dann schlug er hart auf der Wasseroberfläche auf. Von überall her stürzte sich das Meer auf ihn. Drückte ihn unter die Wellen. Stieß ihn umher wie eine junge Katze ein Wollknäul. Doch es löschte auch die Flammen und legte sich kühlend auf seine schmerzende Haut. Lichtstreifen, drangen zu ihm hindurch und beleuchteten, die Ascheflocken, die mit ihm in den Fluten schwammen. Immer tiefer sank er. Er spürte, wie die Kälte ihn umgriff wie eine stählerne Hand, die ihn sanft in Kissen bettete. Immer tiefer und tiefer. Er wusste nicht, ob einfach seine Sehkraft schwand oder tatsächlich weniger Licht nach hier unten drang. Das Salzwasser drang in seine Lungen, die sich panisch weiteten. Den Druck auf seiner Brust nahm er gar nicht mehr war. Dann versank er in völliger Schwärze.

    Blitze brandeten über einen wolkenlosen Himmel. Dunkelheit.

    Er schlug die Augen auf und fuhr hoch. In dem Raum, den er erwartet hatte, und ein paar Meter vom Bett entfernt, dass er nicht so leer vermutet hätte, öffnete sich gerade die Tür. Einem Instinkt folgend wollte er sofort zu seinem Schwert greifen, doch als das Gesicht hinter der Tür auftauchte, verschwanden all seine Bedenken. Es war nicht so, als ob er die Frau kannte, die das Zimmer wie selbstverständlich betrat, doch sie sah doch so unschuldig aus, dass er ihr nichts böses zutrauen mochte. Sie war nicht mehr jung, jedoch auch nicht viel älter als er, und Ihr Gesicht war durchaus hübsch. Die braunen Haare hatte sie zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt. Sie trug ein weißes Kleid, das von einem silbernem Gürtel um die Hüfte zusammengehalten wurde. Er sah keine Form von Waffe, die sie gegen ihn richten könnte. Außerdem hatte er immer noch die Blitze, um sich im Notfall zu verteidigen. Zumindest redete er sich das ein.
    "Was macht ihr hier", fragte er und war selbst überrascht von der Kühle, die in seiner Stimme mitschwang. Die Frau zog nur eine Augenbraue hoch.
    "Die Frage sollte vielmehr lauten, was machst du hier", entgegnete sie, lächelte ihn dabei aber so warm an, dass er sich obgleich seiner unbeantworteten Frage nicht übergangen fühlte. "Solltest du nicht bei den deinen sein und mit ihnen kämpfen."
    "Ihr meint bei den Elfen?", erwiderte er schließlich nach einer kurzen Pause. "Ich habe keinen Stamm mehr."
    "Ich meine natürlich nicht die Elfen", antwortete sie als sei dies selbstverständlich. "Offenbar weißt du noch kaum etwas."
    Er runzelte die Stirn.
    "Was sollte ich denn wissen", fragte er behutsam nach. Er wusste nicht recht, was er von der Situation halten sollte.
    "Na alles", erklärte sie mit verständnisvollem Lächeln. "Aber keine Sorge. Das wirst du schon noch herausfinden." Er war nicht wirklich zufrieden mit dieser Antwort, doch glaubte er nicht, dass er eine andere bekommen würde.
    "Und warum seid ihr hier?", wollte er stattdessen von ihr wissen, was sie wieder mit einem Lächeln quittierte.
    "Du hast viel Kampf hinter dir", behauptete sie. "Viele Schmerzen und viel Leid. Es wird Zeit, dass du heimkehrst." Mit diesen Worten wandte sie sich um und trat auf die Tür zu aus der sie gekommen war.
    "Wartet", rief er schließlich, als sie die Klinke berührte. "Wohin heimkehren, was habt ihr damit zu tun und wie heißt ihr überhaupt." Sie drehte sich zu ihm und diesmal war ihr Lächeln herausfordernder, verspielter.
    "Mein Name ist Lean", gab sie schließlich preis und verschwand durch die Tür.

    Einen Moment blieb er liegen, dann sprang er aus dem Bett und stürmte hinter ihr her. In dem Vorraum der Gemächer stieß er beinahe mit Thyra zusammen, die ihn halb erschrocken halb belustigt anstarrte.
    "Was ist denn mit dir los?", wollte sie wissen.
    "Diese Frau", sprudelte er hervor. "Du musst ihr begegnet sein, sie ist gerade erst gegangen."
    "Eine Frau", wiederholte sie pikiert und hob eine Augenbraue. "Du hast geträumt. Hier war niemand außer dir und mir." Er sah sich verwirrt um. Anders als durch die Eingangstür, die noch einmal ein paar Meter entfernt lag, verließ man diese Räume nicht. Vielleicht war sie gerannt, doch selbst dann müsste sie Thyra in die Arme gelaufen sein, als diese die Gemächer betrat.
    "Schlimm genug, dass du von einer anderen Frau träumst", stellte diese jetzt fest. "Aber das du ihr auch noch hinterherrennst wie ein verliebtes Rentier." Einen Augenblick starrte er sie fassungslos an, bis ihm auffiel wie das auf sie wirken musste.
    "So war das nicht", verteidigte er sich mit dem dazu wohl ältesten Satz, der ihr wie unzähligen vor ihr nicht mehr als ein Stirnrunzeln entlockte. "Sie hat mir irgendwelches wirres Zeug erzählt über eine Heimat, die ich angeblich hätte." Er stockte kurz. "Es muss wohl tatsächlich ein Traum gewesen sein." Anders konnte er es sich kaum erklären. Er war aufgewacht und war so überzeugt, dass der Traum Wirklichkeit war, dass er aus dem Zimmer gestürzt war.
    "Immerhin passt er zu meinen anderen Träumen", dachte er und ein Schaudern jagte ihm über den Rücken. Er hatte gar nicht an sie gedacht, bis zu diesem Moment, doch anders als gewöhnlich verblassten sie nicht sofort wieder, sondern blieben genau wie die Begegnung mit der fremden Frau in seinen Erinnerungen wie ein schwerer Stein, der ihn zu Boden zog.
    "Wie geht es eigentlich Daphne", fragte er halb um Thyra abzulenken, halb weil ihn diese Frage tatsächlich herumtrieb. Er war sich zwar einigermaßen sicher, dass es ihr gut ging, aber er hatte sie nicht zu Gesicht bekommen seit Daryk sie weggetragen hatte. Tatsächlich wandelte sich Thyras Gesichtsausdruck und sie wirkte plötzlich angespannt.
    "Gut", antwortete sie, jedoch klang sie unsicher. "Glaube ich zumindest. Ich war vorhin bei Daryk und ihr, doch sie liegt einfach nur da und schläft, während er sich weigert einen Deut von ihrer Seite zu weichen. Nichtmal das Essen, dass ich ihm gebracht habe, hat er angerührt und das von Daryk." Sie lachte nervös auf, schien jedoch mit dem Scherz vor allem ihre eigenen Zweifel beiseite schieben zu wollen.
    "Das wird schon", tröstete er sie und schloss sie in die Arme. Sie lehnte sich gegen seine Brust ungeachtet dessen, was zuvor geschehen war. "Du kennst Daphne und Daryk und beide sind nicht so leicht unterzukriegen. Morgen sind wir wahrscheinlich schon mit dem Schiff Richtung Lyc unterwegs. Du wirst schon sehen." Als er ihr leichtes Zusammenzucken bei der Erwähnung der Schiffsreise und Lyc spürte, hätte er sich am liebsten selbst in den Magen geboxt. Sie war ohnehin schon zwiegespalten wegen ihres vermeintlichen Vaters und ihres Stamms, da musste er sie nicht auch noch daran erinnern. Jedoch sagte sie nichts, als sie ihre Umarmung lösten, deshalb ließ er es auch auf sich beruhen.
    "Am besten wir essen erstmal was", schlug er vor. "Und dann gehen wir nochmal gemeinsam zu Daphne und Daryk."

    Die aufspritzenden Wassertropfen funkelten einen Moment im reflektierendem Sonnenlicht, dann regneten sie herab und versanken im feuchten Sand. Jaris zog sein Schwert aus der Wasserleiche, die diesen Namen nun auch im wirklichem Sinne verdiente. Die Frau oder was auch immer sie darstellte, war rückwärts im Uferwasser gelandet, doch kaum war sie zum liegen gekommen schoben sich weitere Gestalten über sie und auf ihn zu. Er sprang mit einem Ausfallschritt nach vorne, und wirbelte seine Klinge dann im Kreis herum. Um ihn herum spritzte Unmengen der trüben übelriechenden Flüssigkeit auf, doch nicht jedes der Wesen fiel. Leichtere Verletzungen, wie ein abgeschlagener Arm oder ein Stich in die Schulter, brachte sie noch nicht dazu sich zu Boden zu begeben. Einzig ein Stoß ins Herz oder ein abgeschlagener Kopf erwies Wirkung. Immer näher drängten sie sich, hieben mit scharfkantigen Krallen auf ihn ein und zerfetzten seine Kleidung und gelegentlich auch seine Haut. Warmes Blut rann aus den Schnitten, doch sie waren nur oberflächlich und für den Moment konnte er das Brennen ignorieren. Normalerweise hätte er sich jetzt mit einem Blitz raum gemacht, doch das traute er sich nicht, jetzt da einige von ihnen im Zweikampf mit diesen Wesen zumindest mit den Füßen im Wasser standen, so dass dafür fürs erste ein Schulterstoß gegen die nächste der unheimlichen Gestalten ausreichen musste. Er runzelte die Stirn. Vorher hätte er sich nichts dabei gedacht seine Blitze in der Nähe von Wasser zu verwenden, jetzt wusste er, dass ein einzelner Fehlgeleiteter sie alle könnte taumeln lassen. Doch so hilfreich dieses Wissen auch war. In seinem Kopf schwirrten andauernd Worte wie Strom, Leiter und elektrische Felder auf, sobald er an seine Blitze dachte. Er schaffte es nicht sie vernünftig einzuordnen. Entschlossen verdrängte er diese Gedanken. Es mochte eine andere Zeit dafür geben. Um ihn herum schrien seine Freunde, ob aus Kampfeslust oder Schmerz vermochte er nicht zu sagen. Entschlossen rammte er einer der Frauen seinen Schwertgriff ins Gesicht und nutzte ihr zurücktaumeln, um aus der Traube auszubrechen, die sich um ihn geschlossen hatte. Er hatte schon bessere gekostet. Erleichtert zählte er seine Freunde durch. Besonders der Anblick Thyras, wie sie Pfeile auf die Wesen, die sich wieder versuchen wollten um ihn zu schließen, abfeuerte und jedes Mal traf, beruhigte ihn. Zacharas stand am Ufer und ließ Flammen regnen, während er ein Ensemble aus Explosionen dirigierte. Daryk bediente sich ebenfalls des Feuers nur schwang er dabei seine Waffe in mächtigem Bogen. Theical stand etwas zurückgezogen, doch wo sein Blick hinfiel drängten sich die Wasserleichen zusammen, wo sie dann meist Zacharas Magie entzweite. Unterdessen hatten sich die Namenslosen zwischen den Wesen aufgeteilt und hieben mit ihren jeweiligen Waffen auf sie ein. Unzählige dieser Gestalten fielen, oftmals noch fauchend und wild zappelnd wie ein Fisch, der erstickt, doch immer mehr kamen auch nach. Erschienen einfach aus den nassen Tiefen als Schatten und tauchten dann durch die schimmernde Oberfläche. Außerdem konnte er Daphne nirgendwo erkennen. Sie war zu Beginn des Kampfes irgendwo aufs Meer hinaus geschleudert worden, doch mittlerweile hätte sie sich wieder zurück zu ihnen arbeiten können. Immerhin war Wasser ihr Element oder zumindest hatte sie das überall herum erzählt. Er blockte den Schlag einer besonders langen Kralle und trat kräftig zu. Die Wasserleiche taumelte fauchend, doch sein Schwert ließ ihren Misston verklingen. Neben ihm hörte er das trügerisch leise Geräusch von Wasser, das durchstoßen wurde, und er fuhr herum. Dann sah er sie. Daphne schwamm mehr als fünfzehn Meter von ihnen entfernt. Eine lächerliche Distanz, wenn man es genau betrachtete, doch das tiefer werdende Wasser und die vielen scharfen Krallen streckten sie für ihn bis in unerreichbare Ferne. Zudem konnte er den Blick gar nicht auf der fernen Prinzessin haften lassen, da sich die Gestalt, deren Auftauchen ihn hatte herumwirbeln lassen, nun auf ihn stürzte. Ein kurzer Schritt zur Seite und eine Klinge, die von unten nach oben stieß, erledigten zumindest diese Angelegenheit recht schnell.
    "Daphne", schrie er der Prinzessin zu und hielt dabei nach weiteren unerwarteten Angreifern Ausschau. "Wir brauchen dich hier." Doch sie zeigte nicht mal andeutungsweise, dass sie verstanden hatte. Genauer gesagt bewegte sie sich gar nicht. Sie wurde nur ein bisschen von den Wellen auf und ab geschaukelt, sodass der Eindruck entstand, dass sie schwimmen würde. Irgendwas hielt sie über der Wasseroberfläche, doch sie war es sicher nicht.
    "Daphne", hörte er dann auch Daryks Ruf hinter sich. Das Platschen ließ darauf schließen, dass er in ihre Richtung rannte, doch irgendwer gebat seinem Bestreben Einhalt. Ob es nun Wasserleichen waren, die sich vor ihn stürzten, oder einer der Menschen, der ihn vor sich selbst bewahren wollte, vermochte er nicht zu sagen. Um sie herum erklang noch immer das Fauchen aus dutzenden Kehlen und die Kreise um sie schlossen sich enger. Neue Gegner schoben sich in sein Blickfeld und er musste sich ihnen zuwenden.
    "Halte durch, Daphne", dachte er vehement. "Halte durch, gegen was auch immer du kämpfst." Dunkle Wolken zogen auf, während sich in ihm Zorn breit machte über den unsichtbaren, nicht zu fassenden Feind. Denn eins war sicher. Die Wasserleichen waren ein Gefahr, doch an die wahre Bedrohung kamen sie nicht heran. Er presste die Zähne zusammen, als er einen weiteren Schnitt an der Hüfte hinnehmen musste.
    "Verdammt seist du, Calypso."

    Die ersten Regentropfen prasselten auf das Kopfsteinpflaster und Blitze zerrissen den Himmel, während Donner zu ihnen dröhnte.
    "Mein Vater ist wütend", dachte Jaris und fragte sich dann, woher dieser Gedanke gekommen war. Das war nur ein Gewitter, oder? Eine heftige Sturmböe bauschte seinen Umhang auf.
    Nichtsdestotrotz ließ sich die Gruppe nicht aufhalten. Niemand in dieser Stadt schien auch nur einen Gedanken an das aufkeimende Gewitter zu verschwenden. Die Menschen verbargen ihre Gesichter unter schweren Kapuzen und arbeiteten weiter.
    Schon nach wenigen Minuten hatten sie den Hafen erreicht. Eine lang gezogene Kaimauer erstreckte sich vor ihnen und Schiffe jeder Form und Größe lagen an den in das Wasserbecken reichende Docks vertäut. Weiter draußen auf dem offenen Meer - das sich jetzt aufbäumte wie ein bockendes Pferd - ankerten weitere und trotzten dem tobenden Wellenteppich. Der alte Herzog führte sie die Kaimauer entlang - vorbei an einer Gruppe Fischer, die sich ungeachtet jeden Wetters zum Aufbruch bereit machten. Bald standen sie schon vor einer gewaltigen Halle, die am Rande der Mauer ins Hafenbecken zu münden schien. Holz lag aufgestapelt unter breiten Planen und Arbeiter gingen zwischen den geöffneten Torflügeln ein und aus. Sie wichen respektvoll zur Seite, als sie die Prozession erkannten, ließen sich aber ansonsten nicht weiter in ihrer Arbeit stören. Drinnen erwartete sie eine hoch aufragende Holzwand, in der dutzende Löcher klafften. Staunend ließ Jaris seinen Blick weiter wandern und sah, dass die Wand zu einem riesigem Schiff gehörte - größer als die, die er in Ymilburg gesehen hatte. Hinter den Löchern warteten ebenso viele Kanonenrohre darauf Feuer und Rauch gegen vermeintliche Feinde zu speien und über große Seilwinden wurden Massen an schweren Tauen an Deck geladen. Durch seinen Kopf blitzten alte Erinnerungen. Er spürte die Gischt auf der Haut und den salzigen Biss der See in seiner Nase. Holzsplitter, die aufgewirbelt durch Explosionen bei mächtigen Schlachten seine Arme aufschlitzten, und der Wind, der durch seine Haare direkt in das ausgebeulte Segel fuhr und seine Kraft auf das Schiff unter seinen Füßen übertrug. Einen Moment schwankte er, vom Schwindel übermannt oder vielleicht auch Seekrank von seinen Gedanken, dann fing er sich wieder und sah sich schnell um. Keiner achtete auf ihn, zum Glück, und wieso sollten sie auch. Rufe hallten durch die Halle und der donnernde Hammerschlag verklang. Quietschend wurden Seile gespannt, die mit dem Schiff verbunden waren und durch Kurbeln am vorderen Ende der Halle liefen.
    "Ihr kommt genau richtig", begrüßte sie ein Mann, der mehr schlitternd als bremsend vor ihnen zum Stehen kam. Zwischen seinen Armen quollen Schriftrollen hervor und verdeckten beinahe das Gesicht, das mit Tintenflecken verunziert zwischen dem Papier hervorschielte. "Wir wollten sie gerade zu Wasser lassen."
    "Wir wären ja früher gekommen", erklärte Arthur gelassen, "aber wir mussten ein paar Gästen eine Lektion erteilen."
    "Und jetzt ist die halbe Armee desertiert und die Moral der verbleibenden am Boden", ergänzte Daphne großspurig, was selbst ihren Bruder grinsen ließ. Eins musste man den Nordmännern lassen. Sie waren nicht nachtragend, wenn sie eine Kampf verloren, oder schämten sich deswegen. Unsicher ließ der Papierhügel den Blick zwischen ihnen umher wandern, doch ein lautes Quietschen ersparte ihm die Unannehmlichkeit einer Antwort. Langsam und schwerfällig setzte sich der Rumpf in Bewegung, getragen von Schienen, die ihn stur nach vorne führten. Nach vorne, wo die Halle im Hafenbecken endete. Jaris hielt unwillkürlich die Luft an, als der Koloss erst an Fahrt aufnahm und dann ins Wasser rauschte. Wassertropfen durchnässten sie noch mehr, als es der Regen bereits fertig gebracht hatte, während sie aufgeregt wie kleine Kinder, die zum ersten Mal die Wintersonnenwende feiern durften, zum Ende der Halle rannten. Riesige Säulen aus glattpoliertem Holz erhoben sich nun, da sie nicht mehr den Einschränkungen der Hallendecke unterlagen, in den Himmel, gezogen von dicken Seilen und dutztenden Händen. Masten und Segel waren bereits befestigt, während sich die Takelage an den Seiten aufspannte, wie die Netze gewaltiger Spinnen. Der Rumpf trieb davon unberührt im Wasser, weg von der Halle bis sich die Taue, die es immer noch mit dieser verbanden, langsam spannten. Jaris Blick fiel auf den Namen des Schiffes, den er vorher übersehen hatte. "Calypso" stand dort in schwarzen Lettern, mit Gold umrandet. Etwas regte sich in seinen Erinnerungen und ihm überkam ein Schaudern.
    Ein seltsamer Name für ein Schiff, wenn man bedachte, dass es eine Prinzessin aufs Meer bringen sollte. Ein unheilvoller Name, wenn man es recht bedachte.

    Staunend betrachtete Jaris den endlosen blauen Horizont - nur durchbrochen von den Silhouetten der Türme des Palasts, der sich imposant vor ihnen auftat. Erbaut war er aus grauem Sandstein, der selbst auf diese Entfernung irgendwie rau aussah. Zusammen mit dem Meer bildete er einen auffallenden Kontrast und vollbrachte das Wunder die ohnehin bereits beeindruckende Stadt aus ihren Gedanken zu fegen wie ein Sturm einen Stapel Blätter. Möwen krächzten über ihn und umkreisten die spitzen Dächer der Türme, bevor sie sich auf einem der vielen Vorsprünge oder Fenstersimse niederließen.
    "Aus dem Weg", schrie eine der Wachen, die sie - nicht gerade subtil - ins Zentrum der Stadt geleiteten. Die Menge teilte sich zwar widerspruchslos, warf jedoch neugierige Blicke auf die Prozession und nach und nach erhob sich erstauntes Gemurmel.
    "Ist sie es? - Prinzessin? Prinzessin Daphne?" Während es anfangs noch Fragen waren, so begleiteten sie alsbald Rufe und schließlich Jubel. Daphne saß scheu auf ihrem Pferd und hatte den Kopf eingezogen, während Jaris starr nach vorne blickte. Immer mehr quollen aus den Gebäuden, während sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete, während sich auch immer weitere Soldaten, die ihnen über den Weg liefen, ihrer Eskorte anschlossen, so dass es schließlich ein regelrechter Triumphzug war, der sie durch die Straßen geleitete. Jaris war erleichtert, als sie endlos das Tor zum Palasthof durchschritten und sich die riesigen Flügel hinter ihnen vor der drängenden Menge verschlossen. Sofort war der Lärm gedämpft, die Rufe verklungen, doch an den bohrenden Blicken hatte sich nichts geändert. Die Soldaten um sie herum waren zusammen mit denen auf den Wehrgängen bestimmt hundert Mann, in deren Gesicht die selbe Mischung aus Freude und Verwirrung stand, die schon auf denen der Bürger draußen zu sehen gewesen war.
    "Daphne Maria Franziska von Braun", ertönte plötzlich eine Stimme, die gewohnt zu sein schien, dass man ihr zuhörte. "Folgt mir. Euer Vater erwartet euch bereits." Ein großer Mann stand vor dem Eingang. Er war gekleidet und sprach wie ein Beamter, sein Aussehen und seine Körperhaltung waren jedoch die eines Soldaten. Suchend sah sich Jaris im Hof um. Er hatte Daphnes Brüder erwartet, zumindest einen ihrer inoffiziellen, doch die Raubeine hatten offenbar anderes im Sinne. Vermutlich erwarteten sie sie im Inneren des Anwesens.
    "Was ist mit meinen Begleitern?", fragte Daphne, die jetzt, da die Menge fort war, deutlich gefasster wirkte.
    "Sie werden später eine Audienz erhalten", entgegnete der verbeamtete Soldat, als sei dies alles auf das ein jeder hoffen konnte. Daphne atmete jedoch erleichtert aus. Hatte sie etwas anderes befürchtet? Und eine Audienz hieß nicht gerade Sicherheit oder gar eine Unterkunft. Zu den Geschichten, die er von den Nordmännern gehört hatte - oder selbst erlebt - würde das ja passen, aber immerhin hatten sie ihre geliebte Prinzessin sicher hier her eskortiert. Es spürte den fragenden Blick von Thyra und erwiderte ihn mit einem zuversichtlichen Lächeln. Daphnes Brüder - Yorrick natürlich ausgeschlossen - hatten ihnen gegenüber auch erst auftauen müssen, vermutlich war das eben so, wenn man in einer Kühlkammer wie Delyveih aufwuchs, da würde man sie früher oder später auch hier freundlicher behandeln.
    "Wir wollten uns hier mit Herzog Zacharas van Júmen treffen", ergänzte die Prinzessin noch. Aras hatte vorgehabt ihnen auf dem Seeweg nachzufolgen.
    "Ich bin mir sicher er wird noch eintreffen", beantwortete der Mann mit mittlerweile kaum verholener Ungeduld in der Stimme. "Kommt nun. Euer Vater wartet nicht gerne." Daphne schnitt eine Grimasse, was so gar nicht in das steife Umfeld passen wollte.
    "Als wüsste ich das nicht", murmelte sie, jedoch kaum hörbar außer für sie, und stieg mit einem Zwinkern in ihre Richtung von ihrem Pferd.
    "Bis später", gab sie ihnen noch mit und in ihrer Stimme lag Hoffnung statt Gewissheit, was besorgte Blicke zufolge hatte. Unbeirrt wandte sich die Prinzessin jedoch um und folgte dem Mann in den Palast. Die schwarze Öffnung verschluckte sie wie eine Höhle im Waldboden.
    Etwas unruhig rutschte Jaris auf dem Pferderücken hin und her. Daphne ließ sie nicht vergessen, dass sie von zuhause weggelaufen war und dem Prinzessinensein so gut es eben ging abgeschworen hatte, doch immerhin hatte ihr Vater sie gebeten zu kommen. Er würde sie schon nicht wieder in seinen goldenen Käfig sperren, oder etwa doch? Außerdem hatten sie vielleicht nicht erwartet Zacharas bereits hier vorzufinden, immerhin wollte er ihnen nachfolgen, doch wäre es, trotz all dem Zwist, beruhigend gewesen. Keiner von ihnen hatte die Wasserwesen vergessen, die die Schiffe der Nordmänner attackiert hatten. Klar. Sie hatten ihre Streitereien gehabt, doch der Herzog hatte ihnen immerhin versprochen sich zu bessern und mittlerweile hatten sie soviel zusammen erlebt. Auf jeden Fall könnten sie ihn brauchen, was auch immer diese Stadt für sie bereit hielt. Diese Vermutung hatte ihre Ankunft hier nur verstärkt.

    Kopfschüttelnd betrachtete Jaris das Chaos, das einmal der Schankraum gewesen war. Irgendjemand - offensichtlich Daryk - hatte die Möbelordnung kreativ umgestaltet und wer hatte eigentlich gesagt, dass Teller auf einen Tisch gehörten. Oder in einem Stück sein müssten. Immerhin brachte das Grün des Eintopfs ein wenig Farbe in das in tristem braun gehaltene Zimmer.
    Die Gäste und den Wirt schienen sich nicht weiter daran zu stören. Sie setzten sich entweder an einen der noch zugänglichen Plätze oder lehnten an der Wand. Ihre Bierkrüge waren zum Glück heil geblieben und vielmehr schien die meisten nicht zu interessieren. Ergeben seufzend kehrte er um und ging nach oben in Richtung der Zimmer, die der Wirt ihnen überlassen hatte. Schon komisch. Vor einem Jahr noch wäre er vermutlich im Schankraum geblieben und hätte die ausgebliebene Kneipenschlägerei ins Rollen gebracht. Jetzt war er fast schon der "Ruhige" in seiner Reisegruppe. Und das nur, weil er auf experimentelle Farbtöne und spontane Sprachstörungen verzichtete. Immerhin hatte er früher nicht so viel zu lachen gehabt.
    Als er den Raum betrat hockten Thyra und Theic auf dem Boden und blätterten in dem alten Buch.
    "Ich verstehe nicht, warum es nicht funktioniert hat?", sagte Thyra gerade und schüttelte genervt den Kopf. "Wir haben doch alles genauso gemacht wie es hier stand." Ihre Stimme war frei jeglicher Tierlaute, also schienen sie das "was auch immer" rückgängig gemacht zu haben oder die Wirkung war verflogen.
    "Naja", warf Theic ein. "Vielleicht war das ganz gut so. Sonst hätten wir uns am Ende noch verliebt, anstatt Daphne und Daryk."
    "Da hätte ich Einwände", verkündete Jaris und die beiden auf dem Boden schreckten auf. Schwungvoll ließ er sich neben ihnen nieder.
    "Und, seid ihr vielleicht jetzt bereit den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen?", wollte er wissen und legte einen Arm um seine Frau.
    "Niemals", erklärte diese vehement. "Manchen Menschen muss man einen behutsamen Stoß geben, damit sie sich finden."
    "Oder in diesem Falle eher einen Tritt?", kommentierte er trocken, musste aber dennoch schmunzeln. "Habt ihr daran gedacht, dass sie gar nicht durch einen Zauber dazu gezwungen werden wollen?"
    "Davon hätten sie doch nichts bemerkt", tat Theic ab.
    "Ich bewundere euer subtiles Vorgehen", stimmte Jaris nickend zu, was ihm einen Knuff in die Seite von Thyra einbrachte.
    "Immerhin können wir jetzt auch das romantische Essen streichen", behauptete Jaris. "Wenn sie danach ein Bad brauchen."
    "Na hoffentlich", warf Theic mit einem Grinsen ein.
    "Nein, ich bin sicher das könnte funktionieren", meinte Thyra und lehnte sich vor. "Wir müssen das nächste Mal nur anders vorgehen."
    Jaris schmunzelte. Das würden noch ein paar witzige Stopps werden. Zumindest für ihn.

    Etwa eine Stunde später hörten sie die schweren Tritte Daryks auf der Treppe. Er und Daphne mussten mit dem Baden fertig geworden sein.
    "Das hat aber lange gedauert", murmelte Theic, während er die Tür abschloss. Wenig später ertönte lautes Ruckeln an der Tür. Thyra musste ein Lachen unterdrücken, während Theic besorgt die Schaniere beäugte. Bevor die Tür jedoch nachgab hörte das Rütteln auf und man hörte ein genervtes Stöhnen von der anderen Seite. Der Wirt hatte nur zwei Zimmer frei gehabt. Jaris hätte die Nach zwar lieber nur mit Thyra verbracht, doch sie und Theic hatten sich ja in den Kopf gesetzt den Ritter und die Prinzessin miteinander zu verkuppeln. Immerhin gab es drei Betten. Sie hörten weitere leisere Schritte, nachdem sie zwei der Betten aneinander geschoben hatten. Daphne versuchte erst gar nicht in das Zimmer zu gelangen sondern ging gleich weiter. Grinsend sah ihn Thyra an, während er sich zu ihr legte.
    "Siehst du", belehrte sie ihn. "Die beiden kommen zusammen, ob sie wollen oder nicht."

    Jaris betrat das große Zelt durch die Vorhänge aus Leinen, die vor dem Eingang hingen. Der Stoff war weiß gebleicht und brannte im Sonnenschein beinahe in den eigenen Augen. Genau wie bei all den anderen Zelten um ihn herum. Er konnte sich einfach nicht erklären, wie ein so großes Lager so sauber bleiben konnte, wo es doch in den Schlamm eines Schlachtfeldes gebaut war. Von den Hinterlassenschaften der Armee, die vorher hier gewesen war, war dagegen nichts mehr zu sehen. Außer rußgeschwärzte Zeltstangen und vereinzelt aus dem Boden ragende Holzpfosten war nach der Schlacht ohnehin nicht mehr viel übrig gewesen. Die Elfen hatten bei ihrem Angriff ganze Arbeit geleistet.
    "Seid gegrüßt", empfing ihn der hochgewachsene General formell, noch während er die Stoffbahnen hinter sich ließ. Jaris hatte den Namen des Mannes vergessen. Er war ihm ohnehin nur ein einziges Mal begegnet, nachdem er ihn in der Elfenstadt kennen gelernt hatte. Mit einem Nicken erwiderte er die Begrüßung. Notdürftig zwar, aber er hatte nicht wirklich Lust die nächste halbe Stunde Höflichkeiten auszutauschen, wie es laut Protokoll vorgesehen wäre. Also ließ er es gleich bleiben. Der Elf quittierte es mit zusammengekniffenen Lippen, sagte jedoch nichts dazu.
    "Ihr wolltet mich sprechen?", fragte der Söldner und blieb vor dem Schreibtisch, dessen Platte aus Eschenholz mit aufwendig geschnitzten Rosen verziert worden war, stehen. Dies war aber auch das einzige Möbelstück, das sich nicht durch zweckmäßigkeit heraus tat. Ein einfachen Feldbett, eine Truhe, der Sitzhocker hinter dem Schreibtisch und ein Schemel davor. Jaris verzichtete jedoch auf die Möglichkeit zu sitzen. Er hatte nicht vor lange zu bleiben und war auch nicht darauf aus diesen Umstand zu verbergen. Vielleicht hatten die Männer und Frauen, die ihnen so selbstlos zur Hilfe geeilt waren und ohne die sie wohl kaum eine Chance gehabt hätten, weniger Kühle verdient. Doch es gab einen einfachen Grund für ihn schnell wieder zur Burg zurückkehren zu wollen. Seit der Hochzeit hatte er zwar die meiste Zeit mit Thyra verbracht, jedoch reichte schon dieser kurzer Ausflug um in seiner Brust ein schmerzhaftes Ziehen zu erwecken. Man merkte eben, dass sie die letzten Monate andauernd zusammen verbracht hatten, wenn auch nicht allein. Da war dies eine unerfreuliche Ausnahme.
    "Ich bin mir sicher ihr habt viel zu tun", zog der Elf die Aufmerksamkeit wieder auf sich. Da hatte er durchaus recht. Zacharas hatte ihnen ein großes Zimmer zur Verfügung gestellt, für das er ihm beinahe alle Streitigkeiten vor der Schlacht verzeihen konnte. Mit einem ausgesprochen weichen Bett. Nach kurzer Erwägung beschloss er das dem General lieber nicht zu sagen, sondern lächelte nur höflich.
    "Kein Problem", er stockte kurz bei der Anrede. "General." Hoffentlich war der Kerl kein Herzog oder sonstig adelig. Bei so etwas konnten die Elfen - diese Erfahrung musste er leider bereits machen - sehr pingelig sein. Immerhin rief er nicht sofort seine Wachen, um ihn Köpfen zu lassen.
    "Gut", behauptete der General, obwohl Jaris sich nicht sicher war, ob er ihm da zustimmen konnte. "Denn ich wollte noch mit euch sprechen, bevor wir abreisen." Dies verblüffte den Söldner etwas, so dass er nur ein wenig geistreiches "Aha" erwidern konnte. Was könnte dieser Elf nur von ihm wollen. Einem einfachen Mann, wo man derzeit doch freie Auswahl zwischen Herzögen, Prinzessinnen und Grafen hatte.
    "Ihr wisst sicher, dass wir enge Beziehungen mit dem Volk von Irishmir unterhielten", begann der hochgewachsene Mann. Jaris nickte automatisch. Er hatte keine Ahnung von den Bündnissen und Abkommen, die seine frühere Verwandschaft gehabt hatte. Sein Volk war ausgerottet. Zumindest bis auf den Teil derer, die vermutlich noch immer in der Daris Wüste hockten und eine leere Gruft bewachten. Und dieser Teil hatte versucht ihn und seine Gefährten zu töten.
    "Vor ein paar Jahrzehnten haben wir einmal eine Delegation bei uns zu Besuch gehabt", erklärte der Elf und ging dabei hinter dem Schreibtisch hervor und öffnete die Kleidertruhe. "Wir haben Gastgeschenke ausgetauscht und dann über unsere Handelsbeziehungen gesprochen." Jaris hatte keinen Schimmer, weshalb er das erzählt bekam. Mehrere Jahrzehnte? Er hätte den Elf nicht viel älter als ihn geschätzt, allerdings konnte man das bei Elfen nie gut sagen. Nach einer Zeit erhob sich der Mann wieder und hielt ein dickes Buch in den Händen, dessen Titel allerdings von seiner Hand verdeckt wurde.
    "Unter anderem dieses Buch über die Geschichte eures Volkes", eröffnete er dem Söldner und hielt ihm den Wälzer hin. "Ich möchte, dass ihr es bekommt. Vielleicht hilft es euch mehr über eure Herkunft zu erfahren."
    "Viel mehr kann ich von meiner Herkunft gar nicht wissen", dachte er in Hinsicht all der Erinnerungen in seinem Kopf. "Oder eher kann ich von meiner Herkunft nicht nicht wissen." Ein Großteil war noch immer verschwommen. Auch wenn sich immer mehr herauskristallisierte. Zum Beispiel, dass es in einem anderem Zeitalter, so lange vergangen, das selbst die Geschichten darüber bereits Legenden nach sich zogen, die vergessen worden waren, Brauch gewesen war, das Braut und Bräutigam zusammen weg fuhren. Das nannte sich Flitterwochen und käme ihm jetzt tatsächlich sehr gelegen. Vielleicht sollte er das Thyra einfach mal vorschlagen. Natürlich erst, wenn Daryk wieder auf den Beinen war. Zumal sie dann vermutlich ohnehin weg fahren müssten, da hier schlicht kein Essen mehr für sie übrig blieb.
    Eine viertel Stunde später verließ er das Zelt des Generals wieder. In Gedanken versunken uns sichtlich verblüfft. Das Buch hatte er sich unter den Arm geklemmt. Um ihn herum begannen bereits die ersten Bestrebungen das Lager abzubauen. Bald würden die Elfen verschwinden, aber die Fragen würden bleiben.

    EinKnall ertönte als einer der riesigen Steine, die die Katapulte schleuderten,hinter der Mauer einschlug und einen ehemaligen Stall zu Trümmer zerfetzte.Staub rieselte über ihren Köpfen nieder wie Regentropfen.Jaris schlug eine Klinge beiseite und rammte den Soldaten, der sie gegen ihngerichtet hatte sein eigenes Schwert in den Bauch. Ein Pfeil surrte nebenseinem Ohr vorbei und traf einen der heranstürmenden in den Hals. Der Halbelfwagte einen kurzen Blick auf die Schützin und erlaubte sich ein Lächeln. Thyra.Seine Frau. Selbst jetzt, da er sich wieder inmitten des Kampfes befand, wardie Wärme in seinem Herzen geblieben. Selbst das Gewitter war abgeklungen undeinzig vereinzelte Windböen erinnerten an das Unwetter. Leider änderte dasalles an ihrer nach wie vor misslichen Lage. Theical hatte sich wieder zu denverbleibenden Kämpfern in der Stadt gesellt, die versuchen sollten diefeindlichen Truppen zubeschäftigen und von der Burg abzuhalten. Zacharas, Daphne und Kuen waren denMenschen am See zur Hilfe geeilt, da es dort wohl Schwierigkeiten gegebenhatte. Der gegnerische Magier dagegen, der die Verteidiger immer noch inFlammen hüllte, stand noch immer auf der Mauer, während seine schwarz gerüsteteLeibwache verhinderte, dass irgendjemand auch nur in seine Nähe kam. Pfeileflogen immerzu auf diese Truppe zu, doch nur Thyras zerschlugen gelegentlichein Rüstungsteil und selbst ihre wurden jedes Mal von einem Schild gebremst,wenn sie in Richtung des Jungens, der sie nur Tage zuvor vor dem heutigemgewarnt hatte, flogen. Daryk und Jaris rannten dagegen immer wieder auf dendichten Kokon aus Schwertkämpfern zu, doch keiner von ihnen schaffte es denstählernen Ring zu durchbrechen. Zudem schienen die Rüstungen ähnlich wie Kuensmit Leder ausgekleidet zu sein, was seine Blitze erheblich abschwächte.Plötzlich ertönte ein lautes Donnern aus der Richtung des Sees. Seine Gedankenkehrten sofort zu Zacharas, Daphne und Kuen zurück. Hoffentlich war nichtspassiert. Doch er war hier und nicht am See und das Donnern, hatte den Mann,gegen den er gerade focht, wohl abgelenkt. Jedenfalls hatte der Mann denBlick von ihm gewendet. Er gehörte der Leibwache des Magiers an und Jarisnutzte die Situation schnell aus. Mit einem präzisen Stoß trieb er seine Klingein die schmale Spalte zwischen Schulter und Helm. Der Soldat verkrampfte sichsofort und fiel dann tonlos - abgesehen von dem Scheppern beim Aufprall - zur Seite. Unversehens klaffte eineLücke in dem Ring der Leibgarde. Der Junge stand kaum zwei Meter von ihmentfernt und hatte von der Situation nichts mitbekommen. Ganz anders als Daryk,der sich zu Jaris in die Lücke warf und Verwirrung unter den Wächtern stiftete.Dem Söldner kam das gerade rechts, mit vier schnellen Schritten und zweiHieben, die die, die ihn aufhalten wollten, aus dem Gleichgewicht brachten, warer bei dem fremden Magier. Dieser Trug zwar immer noch dieselbe Rüstung wieseine Leibgarde, doch Jaris nutzte den Schwung seines Ansturms und stieß zu.Die Spitze seines Schwerts durchschlug den harten Stahl und drang durch dasweichere Leder darunter. Die Klinge schnitt nahezu widerstandslos durch dasFleisch, bis sich an der anderen Seite wieder auf die Rüstung traf. DerHelm des Jungen ruckte herum und die Augen hinter den Viesierschlitzen sahenihn ungläubig an. Dann kippte der Körper nach hinten. Sofort sprangen Soldatenauf Jaris zu, der sofort zurücksprang und um sein Leben gegen die Wucht desAngriffes kämpfen musste. Andere fingen den Magier auf, bevor er den Bodenerreichte und zerrten ihn in Richtung der Leitern. Mühsam unterdrückte Jarisseine Zweifel. Dieser Magier war lange nicht der jüngste auf diesemSchlachtfeld, aber bestimmt einer der gefährlichsten. Außerdem konnte ein Treffer wie dieser möglicherweiseüberlebt werden. Trotzdem ereilten ihn Gewissensbisse. Immerhin hatte dieserKerl versucht sie zu warnen. Welche Gründe er auch immer gehabt hatte. DieSoldaten in den schwarzen Rüstungen ließen von Jaris ab und zogen sich über dieLeitern zurück. Die gewöhnlichen Krieger verblieben auf der Mauer, im Kampf mitden Verteidigern. Thyras Pfeile erledigten noch ein paar der schwarz gerüstetendurch gezielte Schüsse in den Halsbereich, während Daryk und Jaris ihnen dieLeitern hinab folgten. Klug war es vermutlich nicht, dennoch erschien esrichtig, sicherzugehen, dass sie nicht zurückkamen. Der Söldner sprang dieletzten zwei Meter hinab und hetzte an der Mauer entlang, doch blieb plötzlichstehen, als Daphne hinter einer Biegung vor ihm auftauchte. Sie saß auf dem staubigenBoden und unterhielt sich mit einem schwarzhaarigen Mann, ungeachtet derSchlacht, die weiterhin um sie herum und über ihren Köpfen tobte.
    „Daphne?“,rief Thyra, die ihnen offensichtlich gefolgt war, und stürmte an Jarys undDaryk vorbei an die Seite der Heilerin.
    „Mir geht es gut, mir geht es gut!“, behauptetediese und nahm die dargebotene Hand an. Der Mann, mit dem sie geredet hatte,drehte sich erstaunlicherweise zu Jaris um und musterte ihn einen Augenblick.
    „Glückwunsch, Neffe“, lobte er ihn dann. „Einebessere Wahl hättest du nicht treffen können.“
    Mit aufgerissenen Augen starrte der Söldner den Gott, der er sein müssen.
    „Was bei allen ...“, entfuhr es ihm, doch der Gotthatte sich bereits abgewendet und schritt in Richtung statt davon. Das Heer,das dort wartete schien ihn nicht weiter zu interessieren. Er sagte nochirgendetwas, das Jaris nicht verstand, doch er war sich auch nicht sicher, obes für die Allgemeinheit oder nur für Daryk, der direkt daneben stand, gedachtwar. Währenddessen war ihm offensichtlich irgendetwas am Boden aufgefallen, daer seinen Blick auf denselben richtete. Jaris suchte die Stelle nachirgendetwas Besonderem ab, fand jedoch nichts. Ein erstickter Schrei ließseinen Kopf wieder hochschnellen. Der Gott schleuderte gerade ein paar Meterentfernt einen Soldat auf dessen Kameraden.
    „Sagmeinem Bruder einen schönen Gruß oder vielleicht doch lieber nicht, dann glaubter noch, ich mag ihn“, rief er ihnen zu.
    Hinter ihm rannten weitere Soldaten auf die Leitern zu. Soldaten, die inwenigen Augenblicken gegen die Verteidiger auf den Mauern kämpfen würden.
    „Hochzeiten sind mir immer willkommen, denn wo zwei Leben sichfinden, entsteht über kurz oder lang ein Neues“, gab der Gott ihnen noch mit. „Versuchtnur zu überleben! Hilfe naht!“
    Dann löste er sich urplötzlich in einem Wasserwirbel auf.
    „Waswar das denn für ein Kauz?“, wollte Thyra leise wissen, als befindeer sich immer noch bei ihnen..
    „Ich glaube, mein Opa!“, behauptete Daphne undstimmte Jaris damit insgeheim zu.„Also nicht direkt. Wenn das stimmt, was Jaris erzählte, dann mein Urgroßvatermit mehr „Urs“, als ich jetzt aufzählen möchte.“ Thyrawarf erst ihrer Freundin, dann ihrem Mann einen undefinierbaren Blick zu.
    „Er sagte, dass Hilfe nahen würde“, erinnerte Jarisauch um das Thema von der ganzen Sache mit den Göttern wegzulenken. Im selbenMoment erklangen Hörner der ferne und zerrissen die vergleichbare Stille, diehier unten herrschte in Fetzen.
    "Schnell",instruierte Daryk sie. "Wir müssen zurück. Das war das Signal." Niemand hatte Einwände und siekletterten die Mauer wieder hoch. Oben sahen sie dann gerade noch mit an, wieihre Gegner scharenweise in dieandere Richtung zurückwichen undzum Boden zurückkehrten. Nur noch wenige verblieben auf der Mauer.Offensichtlich wurden die Truppen woanders gebraucht. Mit den verbleibendenKämpfern würden die Verteidiger vermutlich selbst fertig werden, weshalb siesich stattdessen in den Hof begaben, auf dem sich derweil hunderte von Reiterversammelt hatten. Ein weiterer Stein krachte am Rande des Platzes in den Steinund zerquetschte ein paar Unglückselige. Was sollte das warten. Es könnteihnen jetzt nur noch schaden.
    "Habtihr Zacharas gesehen", fragte sie ein etwasuntersetzter Mann, der auf sie zu watschelte. Greo Lynchwar der Anführerder Stadtwache von Ymilburg und auch wenn er selbst kaum zum Kämpfen geeignet schien, wohl ein hellesKöpfchenin Sachen Verbrechensbekämpfung und Ordnung erhalten. Dummerweise hatte einKrieg wenig mit diesem zu tun, was ihn für die Aufgabe endgültig unqualifiziertmachte.
    "AmSee", erklärteDaphne schnell und fügtedann ein "Esgeht ihm gut." hinzu, als sie die Blickeihrer Freunde bemerkte.
    "Aberwas sollen wir jetzt machen?", wollte Greowissen und rangverzweifelt die Hände.
    "Angreifen",erwiderte Jaris ohne zu zögern. "Wiees der Plan war."
    "Oderwollt ihr, dass euch eure Männer auf dem Burghofwegsterben?", ergänzte Daryk und bedachte seinenGegenüber mit einem finsteren Blick, der diesen zurückweichen ließ.
    "Aber...aber der Lord...",stammelte der Anführerder Stadtwache.
    "Würde uns da zustimmen",beschloss Thyra entschieden und Daphne nickte, während sie den Mann ebenfalls durchdringend ansah.
    Wenig später saßen sie alle auf ihren eigenen Pferden, die extrafür sie bereitgestellt worden waren. Nur Zacharas´wies einen leeren Sattel auf. Jaris hoffte wirklich, dass es dem Herzog gutging. Egal wie er sich in der Vergangenheit verhalten hatte, er hatte dochimmer zu ihnen gestanden und sich in letzter Zeit scheinbar tatsächlich zubessern versucht. Natürlich hoffte er auch, dass Theical in Ordnung war, doch dass dieser nicht hier war, gehörte immerhin zum Plan. Erhatte seine Gabe mittlerweile erstaunlich gut im Griff, doch das schützte ihnnicht gegen Pfeile oder Wurfwaffen.
    Das Donnern der Pferdehufe erhob sich über die Mauern der Stadtund überdeckte seine Gedanken.

    Schutt und Asche spritzte auf, als sie über die Straßen zwischen den zerstörten Gebäuden ritten. Auf dem Platz waren sie auf relativ wenig Widerstandgestoßen, doch nun näherte sich die Gruppe, der sie zugeteilt worden waren,langsam dem verbleibendem gegnerischem Heer. Jaris hatte den Überblickverloren, wie sehr es inzwischen geschrumpft war, doch der Enthusiasmusin seinen Gliedern verdrängteseine Zweifel. Immerhin hatten sie jetzt mit den Elfen eine deutlich bessereChance. Da sie übereine Anhöheritten, konnten sie bereits einen großen Trupp Gegner sehen. Sie wären ihnen haushoch überlegen gewesen, wenn sie nicht von einer ebenso starken Truppe Elfen aufder gegenüberliegenden Seite bedrängt worden wäre. Ihre Gruppe, die kaum auszwei Dutzend Reitern bestand, könnte dem Kampf nun den richtigen Anstoß geben.Schreiend stürmten sie auf ihren Gegner zu, der mit jedem Hufschlag näher kam.
    Krachend prallten sie gegen den Feind. Pferdehufen schlugen gegenBrustharnische und zermalmten Knochen. Schwerter durchtrennten Fleisch undSehnen. Lanzen durchlöcherte Stahl und Haut. Jaris ließ seine Stute in einerTraube von Gegnern tänzeln. Die Erschöpfung war größtenteils von ihm gewichen, da Daphne sofreundlich gewesen war, sie alle zu heilen, bevor sie wieder in die Schlachtritten. Die Begegnung mit ihrem Vorfahren musste revitalisierende Effektegehabt haben, da die Schurkin voller Energie mit Wassertentakeln um sichschlug. Kein Vergleich zu der ausgelaugten Person, die mit ihm auf der Mauergestanden hatte.
    Seine Klinge durchstieß die Rüstung seines Gegners an dessenSchulter und mit einem Aufschrei sank der Mann zu Boden. Plötzlich bäumte sichJaris Pferd auf und erzitterte, als die Spitze eines Speeres durch seinen Bauchgestoßen wurde. Der Halbelf sprang noch gerade rechtzeitig vom Sattel ab, bevorder Pferdekörper ihn unter sich begraben konnte. Wild ging er auf den Träger derStangenwaffe zu und deckte ihn mit einem Hagel aus Schlägen zu. Ihr Angriffhatte die feindliche Truppe erheblich geschwächt und die Elfen drängten sieimmer mehr in ihre Richtung. Nicht mehr lange, dann würden sie inalle Richtungen davonrennen. Aber zwischen den Körpern ihrer Gegner lagenauch Leichen der Verteidiger, die im jähen Ende dieser Schlacht ihr eigenesgefunden hatten. Auf ihrer Seite drohte sie die Menge der Gegner zu überrennenund hielten sie nicht stand, würden sie sich einfach vor den Elfen zurückziehenkönnen. Verzweifelt stemmte sich Jaris gegen die Last der Gegner, die ihmentgegen gedrängt wurde. Aus den Augenwinkeln sah er, wie ein Mann derStadtwache strampelnd und um sich schlagend von seinem Pferd gezogen wurde undein anderer verzweifelt weiter focht, obwohl der Schaft eines Speeres ausseinem Körper herausragte.
    Ein Schlag traf ihn unvorbereitet und stieß ihn zu Boden. Erwollte sich geradezu Seite rollen, da fiel sein Blick plötzlich auf Thyra undDaphne, die Seite an Seite standen. Daryk stand ein ganzes Stück entfernt und kämpfte gleich gegen drei Feinde. Ein ungleicher Kampf. Für die Soldaten... Plötzlich fiel ihm jedoch eine Hand voll Bogenschützen auf, die ein paar Meter von den beiden Frauen entfernt Stellung bezogen hatten. Sie legten gerade auf diese an und schossen eine Hand voll Pfeile auf sie ab. Unglücklicherweise standen sie so, dass Thyra und Daphne die Gefahr gar nicht bemerkten. Er öffnete den Mund, um eineWarnung zu rufen. Doch bevor er einen Ton herausbekam, bemerkte er eine Klingeaus seinem Augenwinkel herabfahren. Es war zu spät um die eigene zu heben oderauf dem Boden zu probieren auszuweichen.

    Die Klinge schoss heran und ihm kam es vor, als ob die Zeitplötzlich langsamer ablief. Sein vermutlich letzter Atemzug hallte ihm in den Ohren nachund seine Gedanken schweiften zu Thyra. Er konnte so nicht gehen. Nicht ohnesie vor den Pfeilen gewarnt zu haben. Doch es war zu spät. Er kniff die Augenzusammen und wartete auf die Schneide des Schwertes.

    Verwundert öffnete er die Augen wieder und blickte sich nach derKlinge um. Sie war da, direkt über ihm, doch sie war tatsächlich langsamer geworden.Merklich langsamer. Beinahe zum Stillstand verurteilt. Ohne nachzudenken rollteer sich zur Seite, stand auf und stach mit seiner eigenen zu. Sie traf den Mannund kostete ihm das Leben, doch er fiel nicht zu Boden. Beziehungsweise erfiel, doch er tat das unglaublich langsam. Ebenso wie die Klinge vor ihm.

    Es war ihm egal, wie seltsam es war, was die Ursachen waren oderob er das wiederholen konnte. Er sprintete zu Thyra und Daphne schlug diePfeile, die sich ihnen weiterhin langsam näherten, zur Seite. Sie flogen in völlig andereRichtung weiter und würden wohl die eigenen Männer treffen. Jedenfalls, wennsie je dort ankamen. Er sah sich um, wollte gerade das Schwert erheben, um sichso vieler Feinde wie möglich zu entledigen, da wurde ihm schwarz vor Augen under sank zu Boden.

    Die Mauern der Burg türmten hoch über der Stadt auf. Schulter an Schulter, Seite an Seite standen auf den zinnenbewehrten Wehrgängen Männer und sogar einige Frauen, die die Verteidigung ihrer Stadt nicht allein dem anderem Geschlecht überlassen wollten. Eine unzählbare Menge aus grimmig dreinschauenden Gesichtern und blitzendem Eisen, doch er wusste, dass sie trotz ihres Plans, der bisher erstaunlich gut funktioniert hatte, wie ein Wassertropfen im Angesicht einer Flutwelle scheinen mussten. Erschöpft streckte er die Glieder. Die Schlacht tobte schon seit Stunden und er fühlte sich ausgepumpt und leer. Sein Körper war übersät mit blauen Flecken und flachen Einschnitten, die das Salz in seinem Schweiz brennen ließ. Die ganze Zeit in der er überzeugt gewesen war, dass sie siegen würden, siegen mussten, war wie weggeblasen. Verloren sie eine Stellung, konnten sie sich bisher immer zurückziehen, fiel ein Krieger, füllte ein anderer seine Lücke. Das hier war jedoch die letzte Bastion, das letzte Aufgebot, die letzte Möglichkeit. Fiel die Festung so viel auch die Stadt und ihnen wären alle Fluchtwege versperrt. Die, die sich auf die Schiffe zurückgezogen hatten, als noch Zeit dafür war, hätten vielleicht eine Chance, aber die Männer und Frauen, die neben ihm standen wären dem Feind restlos ausgeliefert. Genauso wie Daphne, Theical, Zacharas, Daryk und Thyra, die ein paar Meter von ihm entfernt auf einem der vielen Türme stand, die noch über die Mauer hinausragten. Er hatte sie nicht mehr gesehen, seit Daphne sie vor dem Einsturz in der Mauer bewahrt hatte. Es existierten keine Worte, die die Erleichterung, die er verspürt hatte sie lebend und nahezu unverletzt aufzufinden, als sie das Innere der Festung betreten hatten. Daryk dagegen stand keine zwei Schritte von ihm entfernt. Seine Kleidung war blutbefleckt, er machte jedoch keinen Hehl daraus, dass der Großteil davon nicht von ihm stammte. Theical, schweißüberströmt aber ohne sichtbare Wunden, befand sich direkt neben Zacharas und Kuen. Dem Herzog war die Anstrengung anzusehen, so wie ihnen alle, doch die ehemalige Soldatin ihres Feindes hatte den Arm auf seinen gelegt und das schien ihm Kraft und ein entschlossenes Funkeln in den Augen zu geben. Daphne dagegen war die einzige, die er in der Menge nicht finden konnte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die taffe Schurkin gefallen war. Nicht mit ihren Fähigkeiten und bestimmt nicht schon wieder. Das konnte einfach nicht sein und angesichts der zwar besorgten, aber nicht bedrückten Gesichter der Nordmänner sprachen auch dagegen. Das Tor schloss sich krachend unter seinen Füßen und ließ eine leichte Erschütterung durch den Stein gehen. Die letzten Flüchtigen waren durch die schweren Holzflügel gelangt. In Minuten würden die Feinde den aufgegebenen Fluss überwunden haben und sich wie eine Flut über sie ergießen.
    Plötzlich ertönte ein lautes Donnern und Rauschen aus der Ferne. Über den Dächern, die die Sicht auf den Fluss versperren, wuchs eine gewaltige Wassermasse und senkte sich bedrohlich nach vorne. Von Geisterhand festgehalten, wurde sie mit einem Ruck nach vorne gestoßen und ergoß sich krachend auf alles, was in ihrem Schatten lag. Selbst aus der Entfernung konnte man Männer schreien hören. Häuser, die nahe dem Fluss gestanden hatten, stürzten geräuschvoll ein und Pferde wieherten. Sprachlos starrten hunderte auf die Szene, die immer noch vor ihren Blicken verborgen lag. Dann erhob sich erster Jubel, als ihnen bewusst wurde, dass die Welle ihren Feinden gegolten haben musste. Daphne erschien auf dem Platz. Sie wirkte ausgezerrt und erschöpft rannte jedoch auf die scheinbare Sicherheit der Festung zu. Der Jubel wurde lauter und ergoss sich über sie. Einige wollten schon zu den Torflügeln eilen und sie für die Prinzessin öffnen, doch sie zog sich bereits an einer Wassertentakel die Mauer hoch und kam zitternd auf dem Wehrgang zum Stehen. Die Umstehen begrüßten sie und klopften ihr beglückwünschend auf die Schulter. Jaris jedoch bemerkte, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge und kam zeitgleich mit Daryk und Thyra bei der Schurkin an. Die Soldaten um sie herum wichen respektvoll zurück. Aus irgendeinem Grund sahen sie sie und die anderen ihrer Gruppe als Anführer an und gehorchten ihren Befehlen. Dabei waren sie bis auf Zacharas und Daphne natürlich weder von Adligem Geblüt noch von entsprechendem Range, der dies rechtfertigte. Allein die Tatsache, dass sie Begleiter des Herzogs waren, schien auszureichen.
    "Geht es dir gut", fragte Daryk sofort und hielt ihr eine helfende Hand hin. Daphne stützte sich widerspruchslos an dem Hünen ab, nickte aber.
    "Es geht schon", behauptete sie.
    "Warst du das mit der Welle?" fragte Jaris, obwohl ihm die Antwort natürlich bekannt war. Daphne nickte wieder.
    "Es hat aber nicht genug erledigt, um sie lange aufzuhalten", behauptete sie mit finsterer Miene und bestätigte damit, was Jaris gedacht hatte. Die Welle musste etliche verletzt und wer weiß wie viele getötet haben, aber die gegnerische Armee war einfach zu groß, um davon ernsthaft geschwächt zu werden. Aber immerhin mussten sie jetzt gegen ein paar Männer weniger kämpfen und die Wassermassen hatten bestimmt die Brücken zerstört, was ihnen Zeit verschaffte.
    "Dafür werden sie sich jetzt kaum in unsere Nähe wagen", gab Thyra mit einem Grinsen zu bedenken. "Geschweige denn in deiner." Nun stießen auch Zacharas und Theic zu ihnen. Schnell schilderten sie ihnen die Umstände. Sofort gab der Herzog Anweisungen, dass die Soldaten die Zeit nutzen sollten, um sich auszuruhen.

    Kaum zwei Stunden später erklangen die ersten Hörner von dieser Seite des Flusses. Sofort stürmten die Soldaten wieder auf die Mauern und nahmen ihre Positionen ein. Die Pause, die sie genutzt hatten um zu verschnaufen und etwas zu sich zu nehmen, hatte ihnen sichtlich gut getan. Neuer Elan machte sich breit, jedoch nur so lange, bis die ersten Soldaten, die zwischen den Häusern erschienen, die Straßen schwarz färbten. Es waren noch immer so viele. Tausende. Allem zum Trotz waren sie den Verteidigen bestimmt immer noch um mehr als das doppelte überlegen. Vielleicht sogar das Dreifache. Kriegsmaschinen rollten durch den daliegenden Schutt. Wahrscheinlich waren sie größtenteils für die Länge ihrer Pause verantwortlich, nun würden sie ihnen es dutzendfach zurückzahlen müssen. Schwere Steine lagen in den Munitionswägen für die Katapulte und die Belagerungstürme warfen bedrohliche Schatten auf den Platz vor der Festung. Anspannung kroch durch die Reihen der Verteidiger und hunderte Bogen spannten sie im gleichem Moment, als Jaris das Kommando dafür gab. Wieder war es Thyra, die zuerst schoss und einen Gegner in unmöglicher Ferne erledigte. Prüfend warf er einen Blick auf die Jägerin. Er hatte sie schon schwierige, ganz und gar unglaubliche Schüsse ausführen sehen, aber diese Reichweite konnte einfach kein gewöhnlicher Bogen haben. Der in den Händen der Nomadin glitzerte auch ungewohnt. Sie sah seinen fragenden Blick nicht, da sie schon wieder den Bogen spannte. Der nötige Pfeil erschien einfach übergangslos und angelegt an der Sehne. Er kniff die Augen zusammen. Wofür waren dann überhaupt, die in dem Köcher, den sie mit sich trug und der immerhin bereits zur Hälfte leer geschossen war. Seine Gedanken kehrten wieder zu den Gegnern zurück, die langsam in gewöhnliche Schussweite kamen, und er wandte sich gezwungenermaßen ab. Die Fragen würde sie ihm auch später noch beantworten können. Hoffentlich.
    "Feuer", brüllte er entschlossen und ein dichter Teppich aus Pfeilen erhob sich in den Himmel und verdunkelte die Sonne.

    Sie fielen hinab und prasselten in einem tödlichem Regen auf die gegnerischen Reihen ein. Metallplatten wurden durch schlagen, Leder durchbohrt und Haut aufgerissen. Die Schreie der sterbenden erklangen nur kurz, dann wurden sie von den nachrückenden Massen niedergetrampelt. Immer näher kamen die Leitern und Belagerungstürme. Steine flogen über die Mauern, schlugen in ihrem Rücken in die aufragenden Palastgebäude. Jaris umklammerte sein Schwert fester. Ein Gedicht kam ihm in den Sinn. Er wusste nicht woher, doch es stammte bestimmt nicht aus diesem Leben.

    "Krieg ist wichtig
    Liebe nicht
    Töten so richtig
    Hassen ist Pflicht

    Wir schmeißen Speere und Pfeile
    Auf alle Feinde, die wir haben
    Wir treiben Stöcke und Keile
    In alte Wunden und Narben

    Ich träume
    Von einer anderen Zeit
    Versäume
    Nur Krieg, Tod und Leid

    Wir können uns hassen
    Ein Spiel der Intrigen
    Schlag um Schlag verpassen
    Doch wir können nicht lieben

    Was hilft es zu sterben
    Ohne gelebt zu haben
    Und den Tod zu vererben
    Ist alles, was wir gaben

    Ich träume
    Von einer anderen Zeit
    Versäume
    Nur Krieg Tod und Leid

    Eines Tages
    Wird es so sein
    Eines Tages
    Blumen statt Stein

    Liebe ist wichtig
    Krieg ist es nicht
    Leben so richtig
    Träumen ist Pflicht"

    Ein Pfeil riss die Haut an seiner Wange auf und er zuckte zurück. Um ihn herum war die Hölle ausgebrochen. Geschosse flogen von beiden Seiten, Leitern stießen krachend gegen die Mauer und wurden postwendend zurückgestoßen. Doch nicht alle. Die ersten Feinde sprangen auf den schon jetzt blutverschmierten Wehrgang. Körper, die sich ihnen entgegen drängten, verhinderten, dass sie den Halt auf dem glitschigem Boden verloren. Zorn übermannte Jaris. Ein Blitz stieß mit einem Knall herab. Nicht von seinen Händen sondern vom Himmel. Dunkle Wolken waren aufgezogen. Er traf den Platz mitten vor der Festung und allein der Donner warf Dutzende um. Auch seine Ohren klingelten, doch er verschwendete keine Zeit, sondern trieb die Klinge in den ersten gegnerischen Soldaten, den er vor sich hatte. Der Mann hatte sich zusammengekauert und hielt die Hände auf den Ohren. Im Krieg gab es keine Gnade.
    Wie von etwas fremden gesteuert, automatisch und gewissenlos, wirbelte er durch die feindlichen Reihen. Seine Klinge fuhr herab auf seine Feinde wie die Axt eines Henkers und genauso oft nahm sie Leben. Weitere Blitze flackerten auf, ferner jetzt zwar, jedoch immer noch nah genug, um seine Feinde zusammenzucken zu lassen. Heranfliegende Schneiden oder vorstoßende Speere ignorierte er schlichtweg. Eisen durchschlug sein Kettenhemd am rechten Oberarm, hatte jedoch zuviel Kraft verloren, um die Haut mehr als oberflächlich anzuritzen. Eine Prellung blieb trotzdem. Ein Speer schaffte es nicht durch die Rüstung, hinterließ aber eine schmerzhaft pochende Stelle. Es war ihm egal. Seine Feinde sollten bluten und wenn er sein Leben dafür ließ, war ihm das recht. Mehrfach retteten seine Freunde ihn, was er nur am Rande registrierte. Daryk stieß einen Mann, der sich seitlich an Jaris heranschlich von der Mauern, Daphne schleuderte einen weiteren hinfort. Ein Soldat, der hinter ihm stand, ging in Flammen auf, als einer von Zacharas Feuerbällen ihn traf. Eine Klinge hielt nur Zentimeter von seinem Hals entfernt inne und verschaffte dem Söldner genügend Zeit um deren Träger zu erledigen. Der Pfeil, der ihn wohl erledigt hätte, wurde einen Bruchteil, bevor er auf seiner Schläfe auftraf, von einem anderem aus der Luft gewischt. Der Schock riss Jaris aus seinem Wüten und ließ ihn zurückschrecken. Der Zorn war wie weggeblasen. Alle Schmerzen und Eindrücke stürmten auf ihn ein. Er war blutüberströmt, doch kaum etwas davon war sein eigenes, die Spur seiner Verwüstung zog sich über Meter entlang der Mauer hinweg. Doch ohne seine Freunde wäre er längst tot.
    Sein Blick fiel auf Thyra, die ihn ebenso schockiert ansah, wie er sie. Es war ein unglaublicher Schuss gewesen, doch sie musste gesehen, wie er dem Zorn anheim fiel. Wie hatte es ihm egal sein können, ob er starb. Allein ihr zuliebe. Hinter der Jägerin traf just in diesem Augenblick eine Leiter auf den Stein und unzählige Feinde ergossen sich über den Wehrgang. Ohne nachzudenken rannte er zu ihr. Das Blut, das seine Füße zum Rutschen brachte, die Körper, die verstreut vor ihm lagen, hielten ihn auf, so dass er erst bei ihr ankam, als die ersten Gegner sie schon ins Visier genommen hatten. Er blockte eine der Klingen, die auf sie zuschossen, mit seiner eigenen. Thyra erschoss, zwei weitere Angreifer, bevor deren Schwerter sie erreicht hatten. Ein Faustschlag ließ den Soldaten, dessen Klinge er blockiert hatte zurücktaumeln und von der Mauer fallen.
    Gemeinsam wichen sie zurück, während immer mehr Gegner auf sie einstürmten. Die Verteidiger warfen sich verzweifelt gegen die Eindringlinge, die diesen Abschnitt zu übernehmen drohten. Sie mussten ihn halten. Mächtige Explosionen erklangen, als Zacharas dutzende von Feuerbällen und Blitzen in die feindliche Menge warf, doch immer mehr drängten nach. Flammen wischten über die Verteidiger hinweg und verbrannte Freund wie Feind, jedoch in erster Linie die Verteidiger. Der Mann in schwarzer Rüstung, der sie unlängst vor der Bedrohung gewarnt hatte, hatte eine der Leitern erklommen oder im Inneren eines der Belagerungstürme empor gestiegen. Sein Feuer, mit dem sie bereits Bekanntschaft gemacht hatten, fraß sich in die ihm entgegenschwemmenden Truppen und dutzende Ritter in ebenso schwarzen Rüstungen fingen alles ab, was gegen ihn geschleudert oder geschossen wurde.
    Jaris blickte zu Thyra, die an seiner Seite stand und Pfeile schoss. Jeder einzelne kostete einem Gegner das Leben, doch selbst das schien nicht zu helfen. Diese Schlacht drohte verloren zu gehen und sie mit ihr. Es konnte so nicht enden. Es sollte so nicht enden. In seinem Kopf formte sich ein Gedanke, der sich in letzter Zeit schon öfter in sein Bewusstsein geschlichen hatte. Er war nur zu ängstlich gewesen, doch jetzt konnte er es nicht ertragen zu sterben, bevor er es versucht hatte. Energisch drückte er Thyra hinter die letzten Reihen der Verteidiger. Auch hier flogen Pfeile über die Brüstung, doch wenigstens griffen sie keine mordlustigen Soldaten an. Verwirrt blickte sie ihn an, als er auf ein Knie fiel. In ihren Augen machte flammte Angst auf, hoffentlich weil sie dachte, dass er zu verletzt war, um zu stehen, und nicht weil sie ahnte, was er vorhatte. Er musste schreien, um den Lärm der um sie herum tobenden Schlacht zu übertönen. Natürlich war hier nicht der richtige Ort dafür und jetzt nicht die richtige Zeit, aber was wenn es der letzte Ort und der letzte Zeitpunkt, der ihnen blieb, war.
    "Willst du mich heiraten?"

    Jaris trat wieder in den Schankraum des Gasthauses. Sie vermieden das, was ihn umtrieb und es floss Bier, Wein und Schnapps. Daphne kam zurück. Seine Verwandte! Er hatte, seit dem Tod seiner Mutter, jeden Anschein von Familie verdrängt, doch jetzt prasselte auf einmal alles auf ihn ein. Er hatte wieder Familie. Wenn auch nur eine noch so ferne Cousine. Es war ein seltsames Gefühl. Sie alle verbrachten ihre Zeit damit zu reden und zu spaßen. Keiner erwähnte die kommende Schlacht. Trotzdem wurde die Stimmung irgendwann gedrückter und nach und nach gingen sie alle ins Bett. Alle außer Thyra und Jaris. Beide schienen ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, jedenfalls so lange, bis sie die einzigen im Raum waren.
    "Was ist mit dir los", wollte Thyra wissen und sah ihm direkt in die Augen. "Ich weiß, du hast viel verwirrendes erlebt, aber wieso hast du so lange gebraucht um etwas zu sagen? Ich meine, ich hätte dir helfen können." Sie blickte ihn eindringlich an und er sank ein wenig zusammen.
    "Es war nicht alles", behauptete er und erwiderte ihren Blick. Das was ich erzählt habe, meine ich."
    "Was meinst du?", fragte Thyra und runzelte die Stirn.
    "Es gibt so viel", begann er und zuckte hilflos mit seinen Schultern. "Manchmal war ich gut und habe mich bemüht anderen zu helfen, aber ich war nicht immer rechtschaffen. Ich habe enttäuscht, betrogen und gemordet. Es gibt bestimmt Millionen, die wegen mir ihr Grab gefunden habe. Ich habe andere in den Tod geschickt, Frauen und Kinder betrogen und verlassen. Manchmal hatte ich soviel Macht und nicht immer habe ich sie klug eingesetzt. Menschen wurden ausgepeitscht, zu Tode gefoltert oder gehängt, nur weil es meiner Laune entsprach. Es gibt Leichen, die eine Rechnung mit mir offen haben und so viele Tote, denen ich etwas schulde. Ich habe Blut vergossen, Herzen zerbrochen und über meine Taten gelacht. Manchmal habe ich Vergnügen empfunden, bei dem was ich unrechtes Tat. Ich verdiene tausendmal den Kerker und unzählige Male den Tod."
    "Das warst nicht du", behauptete die Jägerin und legte eine Hand auf sein Knie. "Das hast du selbst gesagt."
    "Ich weiß", gab er zu. "Aber es entsprach nicht ganz der Wahrheit. Auch wenn ich nicht mehr derselbe bin, waren all meine vergangenen Ichs doch immer Teil von mir. Die Seele bleibt gleich. Immer!" Thyra lehnte sich näher zu ihm hin.
    "Es ist egal", eröffnete sie ihm. "Egal was du in deinen früheren Leben getan hast. Jetzt bist du du und ich weiß verdammt nochmal, was du tun würdest und was nicht." Sie lehnte sich noch weiter vor, so dass er ihrem Atem auf seiner Wange spüren konnte.
    "Wirklich?", verlangte er unbeirrt zu wissen. "Was ist, wenn sich meine wahre Person noch offenbart. Ich habe in diesem Leben bereits so viele Menschen getötet. Bedenke erst was wird nach dieser Schlacht sein wird?"
    "Du wirst niemals glücklich über einen Toten sein." Thyras Stimme klang unnachgiebig. "Ich kenne dich. Es ist unwichtig was du früher gewesen bist. Heute würdest du nie Töten, wenn es nicht nötig ist und keinem gerne Schaden zufügen." Dann trafen seine Lippen auf die ihren und seine Gedanken lösten sich in Licht auf.
    "Ich habe auch viele Menschen verloren, die ich geliebt habe", ergänzte er, als sie eine Atempause machten. "Ich weiß nicht, ob ich das nochmal könnte. Nicht bei dir." Sie schwiegen für einen Moment.
    "Würdest du heute etwas anders machen?", wollte sie wissen. "War es das wert." Er küsste sie erneut.

    Am nächsten Morgen wachten sie Seite an Seite auf. Zum Glück hatte Habger auch große Doppelbetten zur Verfügung gehabt. Daphne stürmte, kaum dass die Sonne erwacht war, in den Raum.
    "Sie sind da", platzte sie heraus, bevor sie überhaupt zu Atem gekommen war.
    "Wer?", fragten Thyra und Jaris wie aus einem Munde.
    "Die feindliche Armee", antwortete Daphne. "Und ihr Lager erstreckt sich bis über den Horizont."

    Jarick blickte kurz auf, als Daphne den Raum betrat, genau wie seine Freunde.
    "Du, hier?", fragte Thyra erstaunt, aber alles andere als verstimmt.
    "Bin mal wieder abgehauen!", gestand Daphne und zuckte beiläufig mit den Schultern.
    "Müssen wir uns Sorgen machen, dass gleich hundert Nordmänner den Raum stürmen?", scherzte Jaris, aber sein Lächeln verschwand, als er bemerkte, dass ihn das eigentlich gar nicht so sehr wundern würde. Die Nordmänner waren seltsame Gesellen.
    "Dann sollte ich lieber noch ein paar Fässer aufmachen", ergänzte Habger seinen Scherz.
    "Keine Sorge", beruhigte Daphne sie. "Mit hundert werde ich fertig." Jaris grinste vorsichtig, war sich aber aufgrund ihres Gesichtsausdrucks nicht sicher, ob sie das nicht doch ernst meinte.
    "Ihr habt gerade über etwas gesprochen", wechselte die Prinzessin das Thema und brachte sie damit auf ihr altes zurück. Er hatte gehofft, dass ihre Ankunft dieses ein wenig länger verdrängen würde.
    "Jaris war gerade dabei uns zu erzählen, was auf der Reise alles passiert ist", erklärte Theic und warf ihm einen auffordernden Blick zu. Der Taschendieb wirkte in letzter Zeit irgendwie anders. Selbstbewusster.
    "Oh Klasse, ich werde Patentante", erwiderte Daphne grinsend und nun schallte wirklich Lachen durch den Raum. Das hieß Habger, Theical und Daphne lachten, Jaris und Thyra liefen nur rot an und verzogen die Mundwinkel.
    "Darüber haben wir nicht geredet", stellte die Nomadin klar und warf Jaris einen Blick zu. "Es ging vielmehr um Jaris Vater." Jetzt lehnte sich Daphne interessiert vor.
    "Ihr habt ihn also gefunden?"
    "Sein Grab", antwortete der Halbelf knapp. "Und... seine Leiche." Er sah wie die anderen ihr Gesicht mitleidig verzogen. Als hätten sie nicht alle jemanden in ihrem Leben verloren.
    "Das tut mir wirklich leid", versicherte ihm Daphne und Theical nickte dazu.
    "Muss es nicht", widersprach Jaris. "Kurz darauf hatte ich eine Art Vision."
    "Was für eine Vision?" Es war Habger, der sich mit seiner ruhigen Stimme in das Gespräch einbrachte. Der Halbelf war sich eigentlich sicher gewesen, dass ihn der alte Mann, der nicht dasselbe wie ihre Gruppe durchlebt hatte, ihn als erstes für verrückt erklären würde. Vielleicht kam das ja noch.
    "Mein Vater hat mit mir gesprochen." Er beschloss die Details ihrer Begegnung wegzulassen. Der körperlose Raum, in dem er sich befunden hatte, würde bestimmt nicht zu seiner Glaubwürdigkeit beitragen.
    "Dein Vater, dessen Leiche du gesehen hast", wiederholte Theical skeptisch, der Blick in seinen Augen war jedoch undefinierbar.
    "Mein Vater... Er ist kein Mensch." Er wusste wie lächerlich das klang, spürte jedoch Thyras Hand, die seine drückte.
    "Was ist er dann?" Wieder war es Habger, der fragte.
    "Ich weiß es nicht", antwortete Jaris wahrheitsgetreu. "Er schien sich selbst nicht ganz sicher zu sein. Einige Menschen verehren die, die wie er sind, wohl als Götter."
    "Die, die wie er sind", merkte Daphne an. "Das heißt es gibt mehrere." Jaris nickte. Sie zogen ihm die Antworten aus der Nase wie Theic sonst seinen Mitspielern das Geld aus den Taschen.
    "Einige", behauptete er. "Mindestens zwei Familien. Ich glaube ich habe noch nicht alle von ihnen getroffen."
    "Getroffen", hackte Thyra nach und sah ihn von der Seite her forschend an. Er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, als er seinen Versprecher bemerkte. Seufzend ließ er die Schultern sinken. Schuldbewusst ihr etwas verschwiegen zu haben. Irgendwann hätte es ja sowieso dazu kommen müssen. Wieso also nicht jetzt?
    "Ja... Nein." Er sammelte sich, um von vorne zu beginnen. "Nicht ich, zumindest nicht wirklich. Da sind Erinnerungen von einem fremden Leben. Von hunderten, abertausenden Leben. Jedes einzelne von mir gelebt, nur dass ich nicht jedes Mal genau derselbe bin. Trotzdem sind es meine Leben."
    Er spürte die Blicke, die auf ihm lasteten wie Granit. Steinlawinen, die ihn unter sich begraben wollten.
    "Ich weiß, dass klingt verrückt", gab er zu. "Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich ja verrückt." Thyra drückte seine Hand und drehte seinen Kopf mit ihrer Hand sanft in ihre Richtung.
    "Du bist nicht verrückt", behauptete sie und sah ihm dabei fest in die Augen. Unnachgiebig wie ein Fels. Für den Moment schien nur sie in diesem Raum zu existieren. Dann räusperte sich Habger und die Illusion war dahin. Ob absichtlich oder zufällig, konnte er nicht sagen.
    "Das hätte ich gemerkt", ergänzte sie schnell und wandte sich wieder ihren Freunden zu. Jaris tat es ihr gleich, dann stürmten die Fragen auf ihn ein.
    "Was soll das heißen?", verlangte der Taschendieb zu wissen. "Woran erinnerst du dich alles."
    "Ich weiß nicht", gab Jaris zu. "Einiges habe ich vergessen, vieles ist verschwommen und bei ein paar Sachen ist es, als lägen sie offen vor mir, aber ich kann sie nicht sehen. Andererseits kann ich mich an einen Jagdausflug vor etlichen Jahren mit einem Sohn, den ich damals hatte, erinnern. An Berufe, Schlachten, Bestimmungen, Freunde, Frauen, die ich geliebt habe, Kinder und so vieles mehr. Verdammt, ich habe vom Herrscher über den Bettler, bis hin zum Verbrecher so ziemlich alles gesellschaftlichen Stufen durchlebt. Wortwörtlich."
    "Frauen", wiederholte Thyra bemüht beiläufig. Er grinste sie an.
    "Keine Angst", beruhigte er sie. "Das war nicht ich. Zumindest nicht wirklich. Sie sind nur in meinen Erinnerungen, aber nicht in meinem Herzen. Nicht in diesem Herz."
    "Deshalb der neue Kampfstil", lenkte ihn Daphne erneut ab. Jaris schüttelte den Kopf.
    "Ich habe nur ein paar Techniken ausprobiert, die ich in meinem Kopf hatte. Offensichtlich ist Wissen und Beherrschen nicht dasselbe. Vielleicht mit etwas Zeit und Übung. Aber Zeit haben wir derzeit nicht. Womöglich werde ich nach der Schlacht versuchen einiges von dem, was ich weiß, auch zu erlernen."
    "Könnte uns irgendetwas für diesen Kampf nützlich sein", wollte Theic aufs praktische konzentriert wissen. Jaris zuckte mit den Schultern.
    "Keine Ahnung", gab er zu. "Da ist so viel. Zu viel, um jetzt schon alles nachzuvollziehen." Habger nickte verständig.
    "Mir genügen schon die Erfahrungen, die ich in diesem Leben gemacht habe", murmelte er leise, jedoch so, dass es jeder mitbekommen konnte.
    Was folgte waren viele weiteren Fragen. Auf einige davon wusste er die Antwort, auf andere nicht. Bei der Frage, wie alt er alle Leben zusammengerechnet jetzt sei - natürlich kam sie provokant gestellt von Daphne -, konnte er nur ein Lachen erwidern. Zu anderen vermochte er dagegen etwas zu sagen und bei einigen schwieg er absichtlich. Wo Licht war, da war immer auch Schatten.

    "Warte kurz", rief er Daphne hinterher. Sie hatte das Gasthaus gerade verlassen, aber er wollte noch ein paar Worte allein mit ihr wechseln. Sie drehte sich stirnrunzelnd um.
    "Was ist?", wollte sie wissen. Die Aussicht zurück in ihr Lager zu gehen schien ihr überhaupt keine gute Laune zu machen, obwohl sie noch nicht entschieden hatte, ob sie dort auch die Nacht verbringen wollte oder nur ein paar Sachen holen. Natürlich hatte Habger ihr, wie ihnen allen, eine Unterkunft angeboten. Ein Horn erklang von der Stadtmauer.
    "Das müssen unsere Verbündeten von Gerisa sein", vermutete Jaris vor allem, weil er nicht wusste wie er den nächsten Satz beginnen sollte. Die Prinzessin sah ihn nur stirnrunzelnd an.
    "Jedenfalls gibt es da vielleicht etwas, was ich dir erzählen sollte", behauptete er zögernd. Ihre Miene wurde fragend.
    "Sagt dir der Name Calypso etwas?", wollte er wissen.

    Yorick sprach ihn an, während er gerade ein Zelt aufbaute, genauso, wie es sein Halbbruder zuvor getan hatte.
    "Hey", bluffte er ihn an, kaum, dass sich der blondhaarige Mann ihm auf die Schulter getippt hatte. "Ich bin nur ein Söldner. Verstehst du. Ich bin vergeben, bringe deine Prinzessin nicht in Gefahr und bin bestimmt kein potenzieller Ehemann für ihre Majestät." Seine Stimme war gereizt.
    "Offensichtlich seit ihr meinem Halbbruder schon begegnet". antwortete der Prinz mit einem Grinsen. "Ich glaube ihr könntet einen Drink vertragen."

    Kaum eine Stunde später saßen sie inmitten einer Menge, die sich um eines der vielen Lagerfeuer herum versammelt hatte.
    "Weißt du", begann Jaris gerade mit leicht lallender Stimme. "Thyra ist etwas besonderes. Vielleicht ist sie die Eine. Die mit der ich mein restliches Leben verbringen könnte. Mit der ich Kinder bekommen könnte." Er blickte Yorick misstrauisch an. Aller Vorbehalte zum Trotz schien Yorick tatsächlich ein guter Kerl zu sein. Immerhin hatte er ihn bisher in seiner Beziehung nur bestärkt.
    ""Ich denke, wenn du sie wirklich liebst, dann solltest du dir Gedanken über den nächsten Schritt machen", behauptete der Nordmann und zwinkerte ihm zu. "Vielleicht solltest du mal mit ihr darüber reden."
    "Wo wir schon bei dem Thema sind", begann Jaris. "Wie kommt ihr überhaupt darauf eure eigene Prinzessin in Ketten zu legen." Jorick sah ihn erstaunt an.
    "Denkt ihr, ich kenne eure Sitten nicht", fuhr er fort. "Ihr blendet eine Prinzessin und verunstaltet diejenigen, die sich ihr nähern dürfen. Ihr verwehrt ihr ebenso die Gelegenheit auf die wahre Liebe, wie ihr mit vorschlagt sie zu ergreifen."
    "Inzwischen begnügen wir uns mit simplen Regeln und Kapuzen", entgegnete der Prinz nach einer kurzen Pause. "Niemand wird mehr verstümmelt oder geblendet. Aber woher kennt ihr diese Bräuche? Dies Vergangenheit von Delyveih ist nur den Königlichen zugängig." Jaris nahm einen einfachen Schluck von dem Bier, dass ihm in die Hand gedrückt worden war. Es schmeckte ein wenig nach Honig.
    "Sagen wir einfach ich habe schon viele Dinge gehört", sagte er und stand auf. Augenblicklich war der Schwindel verflogen, der sich im sitzen noch gezeigt hatte. Es war merkwürdig, aber kaum hatte er entschieden, dass dies nicht die Zeit war um betrunken zu sein, da war er wieder nüchtern geworden. Wortlos entfernte er sich von dem Prinzen und ignorierte seine Rufe. Er erinnerte sich an Leben im Meervolk. Kannte ihre Sitten, die mittlerweile wohl veraltet waren. Genauso erinnerte Daphne ihn an etwas. Er wartete nur auf einen Augenblick, da er ihr diese Vermutung mitteilen konnte. Unvermittelt stieß er beinahe mit einem Mann zusammen, der mit energischem Schritt, um ein Zelt herum geschritten kam.
    "Jaris, es ist gut, dass ich dich hier treffe", behauptete er. "Ich wollte mich bei dir entschuldigen..."
    "Dich entschuldigen?", höhnte Jaris. "Das wäre kaum etwas neues. Wisst ihr, dass ich ein ganzes Reich regiert habe, ohne ein abfälliges Wort zu meinen Untertanen zu äußern. Oder schlimmer noch. Zu meinen Freunden." Herausfordernd betrachtete er den Lord, während er auf eine seiner üblichen Tiraden wartete, doch kein Wort verließ den halb offen stehenden Mund des Herzogs.
    Ohne ein weiteres Wort zu sagen ging er an dem Lord vorbei. Er war beunruhigt. Am morgen waren Berichte über die feindliche Armee gekommen. Nordmänner hin oder her. Sie würden restlos unterlegen sein. Selbst, wenn die Hilfe aus Jandir (Sie mussten wohl erfolgreicher gewesen sein, als sie geglaubt hatten, angesichert der Tatsache, dass der Fürst ihnen Verstärkung zusicherte) eintraf, wären ihre Siegchancen wohl bestenfalls ernüchternd gewesen. Er verließ Zacharas ohne einen weiteren Ton von sich zu geben. Mochte dieser Schnösel alles über sie denken, was er wollte. Die anderen hatten ihm alles erzählt. Eine Nebensächlichkeit wollte er nicht sein. Energisch schritt er an dem Herzog vorbei. Morgen würden die Elfen eintreten, doch die Armee des Feindes fasste mindestens dreizigtausend, wenn nicht mehr, Männer. Es war eines die Zahlen dem Volk, doch etwas andere sie der eigenen Taktik vorzuenthalten. Morgen würden die Elfen kommen, doch noch immer wären sie hoffnungslos Überlegen. Sie waren Hilflos, nahezu am Ende.

    Die Nachtluft kühlte ihre Gesichter und Hände und sie banden die Umhänge, die sie an hatten, enger. Jaris schwieg immer noch. Es war weniger sein Wille, nicht darüber zu reden, als vielmehr sein Unvermögen es in Worte zu fassen, was ihn zurückhielt. In seinem Kopf staute sich das Wissen von tausenden Leben. Vielleicht zehntausend, vielleicht eine Millionen, er konnte es unmöglich sagen. Anders als eine Einbildung, eine Vision oder ein Traum für das er das hier zuerst hielt, verblassten sie nicht. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass so viele Erinnerungen in seinen Kopf passten, doch es war so. Er lächelte unbewusst, als er an die etlichen Kinder, die Familien und Freunde dachte, die er in all den Leben gehabt hatte. Es war er gewesen, der sie gelebt hatte, obwohl keine Version von ihm gleich war. Er erinnerte sich daran ein König gewesen zu sein, über ein mächtiges Reich, dass sich über Länder erstreckte, deren Namen ihm heute Morgen nicht mal etwas gesagt hätten. Damals war er er gewesen, aber auch ungleich eingebildeter und voller Ansprüche an sich und jeden anderen. Beinahe etwas so wie Zarkaras. Vielleicht brachte das das Leben als Herrscher einfach mit sich. Andere Erinnerungen handelten von ihm als Gaukler, einem extrem lebensfrohen Menschen, der jeden zum Lachen bringen wollte, von ihm als Seefahrer oder Pirat, manchmal gewissenlos manchmal Pflichtbewusst, von ihm als Kesselflicker, sorgenfrei und neugierig, und vielem anderem mehr, doch immer war es im Kern derselbe Mann. Und er erinnerte sich an all die Male, da er gestorben war - vollkommen unabhängig, ob friedlich im Schlaf oder durch Gewalt. Schaudernd zog er den Umhang noch fester. Er sah all die letzten Augenblicke vor sich, atmete jeden einzigen letzten Atemzug und hauchte tausende letzte Worte. Ein Totenreich hatte er nie betreten. Vielleicht war es ihm, der auf ewig wiedergeboren wurde, verwehrt oder er war zwischen den Leben dort gewesen und erinnerte sich nicht mehr daran. Daphne konnte auch kaum Details über das Totenreich berichten und sie war in kein neues Leben geboren, sondern in ein altes zurückgebracht worden.

    Auf erstaunliche Art und Weise war das erdrückende Chaos in seinem Kopf jedoch geordnet. Wie eine Bibliothek in der man alle Bücher gleichzeitig liest, sich aber auf eines fixieren konnte. Ein Vorteil, den das alles mit sich brachte, war eine schier unendliche Ansammlung von Wissen über die unterschiedlichsten Dinge. Er könnte auf der Stelle ein Schiff segeln, ein Schwert schmieden oder eine Skulptur in Stein hauen. Nicht so geübt wie jemand mit geübten Händen - sein Körper verhielt sich trotz aller neuen Erfahrungen nicht anders -, aber die Theorie beherrschte er. Nicht übernommen hatte er all die früheren Vorlieben seiner vergangenen Ichs, obwohl einige darunter waren, die er bei sich vielleicht einfach noch nicht entdeckt hatte. Er vermutete, dass das so war, da seine Seele zwar gleich blieb, seine Mutter, Kindheit und Leben aber jedes mal andere waren.
    Er konnte sich auch ganz genau an seinen Vater erinnern. Sie hatten unzählbar viele Unterredungen gehabt. Manchmal war sein Körper wie in diesem Leben gestorben und manchmal blieb er auch bei ihm, bis er erwachsen war, freiwillig weggegangen war er allerdings kein einziges Mal.
    Er wusste von seinen Brüdern und Schwestern, einige kannte er sogar, andere hatte er nie getroffen. Ein paar Dinge meinte er zu wissen, kam aber nicht drauf, wie bei einem Wort, dass einem auf der Zunge liegt. Er fragte sich, ob er, sollten ihm diese Dinge wieder einfallen, sagen konnte, wer das in Fenrir war und was er oder sie mit Thyra zu tun hatte. Oder täuschte er sich vielleicht bezüglich des Wolfes.

    Noch vor Einbruch der Dunkelheit - ursprünglich hatten sie mit dem Sonnenaufgang ankommen wollen - erreichten sie Jandír. Gestern noch war diese Stadt eine Verlockung gewesen, eine unfassbare Besonderheit, die einem Wunder gleichkam, heute erinnerte er sich an zahlreiche schönere und größere Städte der Elfen, Menschen oder anderen Völkern. Manchmal hatte er sie besucht, manchmal dort gelebt und manchmal über sie geherrscht. Ein paar Mal war er in ihnen gestorben. Wachen mit konischem Helm und langer Kettenrüstung, die ihre schlanke Gestalt begrub, grüßten sie und ließen sie wortlos passieren. Fenrir war vor den Stadttoren geblieben, doch auf dem zweiten Blick wäre das gar nicht nötig gewesen. Tiere unterschiedlichster Größe un Gattungen trotteten zwischen den Bewohnern umher. Tödliche Räuber passierten ängstliche Beutetiere ohne auch nur ein Knurren erklingen zu lassen. Elfen schritten die schmalen Gassen herab, die mit Holzhütten, welche jedem Steinhaus in Eleganz in nichts nachstanden, gesäumt waren. In der Mitte vor ihren Augen erhob sich eine mächtige Eiche, so hoch, dass sie die komplette Innenstadt in den kühlen Schatten ihrer Äste nahm. Nicht, dass das an einem Tag wie heute nötig gewesen wäre, aber im Sommer war dies gewiss ein Segen. Zwischen den Ästen waren kunstvolle Gebäude errichtet worden, mit Hängebrücken verbunden. Der Palast. Dies war ihr Ziel. Ohne einen Augenblick länger zu verharren gingen sie darauf zu, um heute noch angehört zu werden.
    Jaris kämpfte die ganze Zeit damit Thyra auch das mit den früheren Leben zu berichten. Würde sie es verstehen, es akzeptieren?
    Er würde es ihr, das schwor er sich, auf dem Heimweg erzählen.

    Goldene Lichtstrahlen der Morgensonne fielen durch das dichte Laub über ihren Köpfen und schufen seltsame Muster auf den Boden. Die Blätter, die sie zeichneten gehörten zu dem Wald von Irishmir, den sie bereits vor einer Stunden erreicht hatten. In weniger als zwei weiteren Stunden würden sie ihn durchquert haben und vor Mittag bis nach Jandir gelangen, die berühmte Stadt der Elfen. Jaris erinnerte sich daran als Kind immer davon geträumt zu haben nach Jandir zu gehen, doch obwohl sie so nahe bei Felodun lag, war sie doch immer ein unerreichbarer Ort geblieben. Als Kind konnte man nicht einfach alleine die Stadttore passieren - nicht dass er es nicht versucht hätte - und später, als er im Söldnerlager gelebt hatte, war er überzeugt gewesen endlich wieder ein Zuhause gefunden zu haben. Außerdem gehörten die Elfen von Jandir einem vollkommen anderem Volk an, den Hochelfen aus dem Norden und nicht den Elfen von Irishmir, und er war noch dazu zur Hälfte ein Mensch. Vermutlich hätten sie ihn gleich wieder heraus geschmissen, wenn er versucht hätte in dieser Stadt zu leben. Jaris blickte auf Thyra, deren Gesicht ebenfalls von dem hellem Sonnenschein erhellt wurde und konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Sie bemerkte seinen Blick.
    "Was ist?", fragte sie neugierig und erwiderte sein Lächeln.
    "Ach nichts", behauptete er und grinste, was sie mit einem Knuff in seine Seite quittierte.
    "Du Schuft", warf sie ihm vor. "Das sagst du nur, damit ich das Interesse an dir nicht verliere."
    "Muss ich mir denn Sorgen machen?", wollte er herausfordernd wissen. Sie verschränkte die Arme und grinste ihn nun ihrerseits an.
    "Wer weiß", sagte sie und tat so als würde sie überlegen. Lachend wollte er sie packen und an sich ziehen, doch sie entwand sich ihm und tänzelte spielerisch ein paar Schritte zurück.
    Nach kurzer Zeit - Jaris hegte den Verdacht, dass Thyra absichtlich langsam gewesen war - lag er auf ihr und drückte ihre Handknöchel in den weichen Waldboden.
    "Das ist unfair, du bist viel schwe...", setzte sie an, doch er verschloss ihr die Lippen mit einem Kuss bevor sie den Satz zu ende führen konnte. Nach einem Augenblick oder einer Ewigkeit lösten sie sich von einander und jede Form von gespieltem Protest war aus ihren Augen verschwunden. Sie war etwas außer Atem und ihre Wangen waren gerötet. Sie blickten sich an und er wollte sich gerade zu einem weiterem Kuss hinabbeugen, als etwas in seinem Augenwinkel seine Aufmerksamkeit erregte. Thyra spürte sein Zögern offenbar und folgte seinem Blick.
    "Ist das?", fragte sie und er nickte. Sich auf der Erde abstützend erhob er sich und half ihr dann auf die Beine. Fassungs- und Tonlos schritt er ein paar weiter auf das Bild zu, dass sich ihm bot. Zitternde Finger strichen über den Stumpf einer verkohlten Eiche, die einst so mächtig gewesen war, dass ihr Zeugnis bis heute nicht vergangen war. Er konnte sich an ihr Bild erinnern, wie sie sich noch höher, als die Bäume um sie herum, gewesen, während sie ihre Äste wie in lautloser Begierde dem Himmel entgegen streckte. In ihrer Umgebung lagen weitere Andeutungen etwas längst vergangen und vergessenem herum. Gegenstände aus Metall oder die Reste eines steinernem Ofen, die nicht so schnell verbrannten wie Holz und Stoff. Sie waren alles, was von dem Dorf, in dem er geboren war, geblieben war. Er spürte wie Thyra neben ihn trat und seine Hand tröstend ergriff. Er schüttelte den Kopf und wandte sich dann rückartig zu ihr um, damit er sie anstatt der ungewollten Erinnerungen anblicken konnte.
    "Wenn das hier mein Dorf war, muss mein Vater hier gestorben sein", stellte er fest.
    "Was bedeutet, dass sein Grab hier irgendwo sein müsste", wandte sie ein. Sie trennten sich, um die Gegend abzusuchen. Schließlich rief Thyra nach ihm und nachdem er sie erreicht hatte, stand er vor einer Höhle, die sich in flachem Winkel windend und schwarz in den Boden grub. Obwohl sie nicht wirkte, als sei sie von Menschenhand herschaffen worden, reichte ihre Größe gerade für einen aufgerichteten Mann, der nicht allzu hochgewachsen war.
    "Das sieht doch wie ein Grab aus", vermutete sie und Jaris erwiderte nur ein Nicken. In einem hellem Aufblitzen erschien ein winziger Lichtball in seiner Hand, der mit seinem Schein gegen die drückende Dunkelheit vor ihnen ankämpfte.


    Mit klopfendem Herzen betraten die beiden die Höhle, doch bereits nach wenigen Biegungen, keine zehn Meter unter dem Erdboden, endete der Tunnel schon wieder in einem kleinem Hohlraum. Halb vergammelte Leinentücher lagen über unförmigen Gegenständen am Boden und die Luft roch abgestanden und nach Erde. Vorsichtig kniete sich Jaris neben das vorderste Leintuch und hob es an. Der Stoff fühlte sich dünn und steif an, doch er zerfiel wenigstens nicht sofort. Darunter kam ein Skelett zum Vorschein, das ihn aus leeren Augenhöhlen in stillem Vorwurf anblickte.
    "Das sind die Toten vom Überfall auf mein Dorf sein", vermutete Jaris.
    "Und mein Vater muss auch darunter sein", fügte er in Gedanken hinzu. Neben der Leiche war eine dünne Steinplatte gelegt, auf der der Name geritzt worden war. Schnell verständigte er sich mit Thyra und gemeinsam suchten sie den Boden nach weiteren Steintafeln und dem Namen seines Vaters ab. Nach kurzer Zeit fand Jaris sie. Eine dünne Platte auf der "Saro" eingeritzt war, gelegt neben einem Leinentuch, dass nicht anders als die anderen in diesem Raum war. Mit klopfendem Herzen schlug er es zurück und ihm stockte der Atem, als ihn ein Schädel angrinste. Ein Schädel mit leeren Augenhöhlen, der auf einem Skelett saß.
    "Es gibt nun keinen Zweifel mehr", sagte Jaris zu Thyra, die sich neben ihn gekniet hatte. "Mein Vater ist tot und wird es immer bleiben." Die Jägerin griff nur mit ihrer Hand nach seiner, sagte aber nichts. Eine Weile blieb er dort knien und betrachtete das, was von seinem Vater noch übrig war. Nichts als Knochen und Erinnerung, wobei zweiteres sehr schwach ausfiel. Er spürte wie ihm Tränen über die Wangen flossen, konnte sich aber eigentlich nicht erklären wieso. Immerhin hatte er seinen Vater kaum gekannt und immer gewusst, dass er tot war. Es nun bestätigt zu wissen, hätte ihm eigentlich beinahe wie eine Erleichterung vorkommen müssen, doch dem war nicht so.
    "Wir sollten langsam gehen, wenn wir heute noch eine Audienz in Jandir bekommen wollen", wies ihn Thyra behutsam auf die bereits verstrichene Zeit hin. Jaris nickte und erhob sich schwerfällig. Er war einen letzten Blick auf den Toten zu seinen Füßen, dann drehte er sich um.

    Dunkelheit umfing ihn. Weit entfernt, irgendwo am anderem Ende des Universum spürte er wie sein Körper hart auf dem erdigem Boden aufschlug, doch hier war er allein und nur ein einziges helles Licht am Rande seines Blickfelds, wie ein Glühwürmchen in einer Wolkenverhangenen Nacht, zeugte von der Existenz dieses Ortes.
    "Du hast lange gebraucht", behauptete eine tiefe Stimme. Auch sie befand sich am Rande seines Bewusstseins und doch schien es ihm, als flüstere sie ihm direkt ins Ohr.
    Jaris richtete sich auf, wenn so etwas in dem körperlosem Zustand, in dem er sich befand, überhaupt ging und versuchte den Lichtpunkt anzusehen, doch egal wohin er den Blick auch richtete, er befand sich immer gerade so in seinem Augenwinkel.
    "Wer bist du?", fragte er laut und wunderte sich, dass die Worte tatsächlich in seinen Ohren erklangen.
    "Ist das nicht offensichtlich", fragte wieder die tiefe Stimme.
    "Saro", vermutete er laut und wusste in diesem Moment, dass er richtig lag.
    "Oder Himmelskönig, Donnerträger, Spéir", führte der Mann, sein Vater, weiter aus. "Ich habe viele Namen."
    "Du bist kein Mensch", stellte Jaris fest.
    "Hat das je jemand behauptet?", entgegnete die Stimme.
    "Wer bist du dann?" Jaris spürte die Aufregung und die Angst, die in ihm, wie die Sehne einer Laute, schwang.
    "Diese Frage haben schon viele gestellt, hast du schon viele Male gestellt.", antwortete sein Vater. Hätte Jaris eine Stirn besessen, er hätte sie gerunzelt. "Ich würde sie dir so gerne beantworten, mein Sohn, doch auch wenn ich so vieles weiß, so kann ich es nicht. Manche von uns halten sich für Götter, andere für Herrscher oder Beschützer. Mein Lieblingsbegriff ist immer noch der, den einige Menschen uns gaben. Die Herren der Zeit." Etwas in Jaris Erinnerung regte sich. Diese Formulierung hatte er schon einmal gehört.
    "Manche von uns?", wiederholte er. "Du bist wie Selchior, oder?" Die Stimme lachte. Es war ein herzhaftes Lachen, das klang als käme es tief aus dem Bauch.
    "Selchior ist mein Bruder", bestätigte sie dann. "Ich habe viele Brüder und Schwestern. Und einige, die so sind wie ich, aber nicht meine Brüder oder Schwestern sind." Bei dem Gedanken an das wirre Bewusstsein, dass sich in Regars Körper festgekrallt hatte, kam ihm etwas anderes in den Sinn.
    "Du willst mich", behauptete er. "Meinen Körper, damit du ihn dir nehmen kannst, wie Selchior es mit Regar gemacht hat."
    "Nein", kam die Antwort schnell und beinahe erschrocken. "Du bist mein Sohn. Überhaupt nehmen sich nur wenige von uns einen Körper mit Gewalt. Dies meisten die von Tieren und andere die von Totgeburten oder erst kürzlich verstorbenen. Wir bewahren ihre Körper und heilen sie, jedoch erst, wenn das Bewusstsein dort drin verloschen ist."
    "Ihr nehmt die Körper von Toten?", fragte nun Jaris und wusste nicht, ob er neugierig oder abgeschreckt sein sollte.
    "Besser als die von Lebenden", entgegnete Saro. Oder wie er auch immer genannt werden wollte. "Versteh mich nicht falsch. Nicht alle von uns haben Skrupel, aber es ist anstrengend ein fremdes Bewusstsein auf Dauer zu unterdrücken. Nur einige wenige wie Cynda machen sich einen Spaß daraus." In seiner Stimme klang für einen Augenblick Verachtung mit.
    "Und was war mit Saro?", wollte Jaris wissen. "Oder wie auch immer der Mann hieß, dem dieser Körper gehörte."
    "Er war tot und wurde zum Glück neben mir vergraben, bevor er zu verwesen begann. Wenn unser Körper stirbt, verbleibt der Teil unseres Bewusstseins, der der die Lebenden berühren kann, bei der Leiche."
    "Und was ist mit dem Rest", erwiderte Jaris.
    "Ein Teil von uns ist immer und überall, während ein anderer bei den Toten weilt", behauptete sein Vater rätselhaft.
    "Und was war mit diesen komischen Sätzen von Selchior über die Zukunft und so weiter", wollte er nun wissen.
    "Wie gesagt: Ein Teil unseres Bewusstseins ist immer." Eine kurze Pause entstand.
    "Und was heißt das nun?", fragte Jaris. "Werde ich dich je richtig kennen lernen, dich je wieder sehen oder bleibst du... tot? Und was ist mit mir. Was bedeutet das, dass ich Sohn bin?" Ein Gefühl von wärme umfing ihn einen Moment.
    "Was die Folgen für dich sind, wird sich offenbaren. Ob wir uns in der Zukunft je wiedersehen, da schweigt selbst meine Erinnerung. Und du kennst mich bereits." In diesem Moment schien es als berühre eine glühende Zange seinen Kopf und fräße sich hindurch. Vergangene Leben, gelebte Leben, beendete Leben, Erinnerungen, Geburte, Tode fluteten seinen Verstand. Er war ein Soldat, ein König, ein Bauer, ein Hufschmied, ein General, ein Pirat, ein Wanderer, ein Barde, ein Familienvater, ein Hofdiener, ein Graf, ein Magier, ein Mensch, ein Zwerg, ein Troll, ein seltsames echsenartiges Wesen und sovieles mehr. Es schien als würde ein ganzes Universum mit Gewalt in seinen Kopf gedrückt und dieser dann von allen Seiten umfasst, damit nichts wieder hinaus konnte. Nur am Rande nahm er wahr, dass er wieder die Augen aufschlug und in der Höhle lag, über sich Thyra, die ihn besorg anblickte.

    Die Soldatin saß auf dem Boden mit verschränkten Beinen. Ihr Rücken war durchgestreckt und sie wirkte nicht wie eine Gefangene, auch wenn die Fesseln um ihre Hände etwas anderes sagten. Jaris ärgerte sich immer noch, dass er sie nicht einfach hatte besiegen können. Sicher hatte die Tatsache, dass er zuvor mit ihren Kumpanen hatten kämpfen müssen und ihre Rüstung, an der seine Treffer nahezu wirkungslos abgeglitten waren, eine Rolle gespielt. Das sagte er sich zumindest selbst, doch er konnte nicht behaupten, dass sie keine gute Schwertkämpferin wäre. Die anderen waren einfache Soldaten gewesen, sie dagegen eine Meisterin ihres Faches.
    Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu und ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als wisse sie, womit er haderte. Ruckartig drehte er sich um und inspizierte die Rüstung, die sie ihr abgenommen hatten - obwohl sie ihr die Kleidung, die sie darunter trug selbstverständlich gelassen hatten. An der Innenseite der Metallplatten und des Kettenhemdes waren Ledereinlagen genäht worden, was die Widerstandsfähigkeit gegen seine Blitze erklärte. Zum Glück waren die übrigen Rüstungen mit nichts ähnlichem versehen gewesen, so dass er annehmen konnte, dass es ein zufälliger Einzelfall war.
    "Wer seid ihr und warum wart ihr hier?", fragte er in scharfem Tonfall, wobei er sich wieder zu der Soldatin umdrehte. Sie starrte ihn trotzig an und machte keine Anstalten zu antworten.
    "Ihr habt euch ergeben, also antwortet ihm", blaffte der Herzog sie an. Sie betrachtete den hochgewachsenen Mann einen Moment lang.
    "Also gut", antwortete sie schließlich. "Ich bin Teil einer Vorhut, die geschickt worden ist, um Informationen zu sammeln."
    "Vorhut von was?", verlangte Zacharas zu wissen. "Und Informationen wofür?"
    "Einer Armee", beantwortete die Frau die erste Frage, als sei es doch eigentlich logisch. "Und natürlich für einen Angriff." Es fehlte nur noch, dass sie die Augen verdrehte.
    "Woher kommt ihr, wie groß ist diese Armee und warum will sie Felodun angreifen." Die Soldation zuckte die Schultern.
    "Ich nehme an ihr bekommt hier wenige Informationen aus dem Westen oder Norden." Jaris sah sie fragend an. Im Norden lag das Frostgebirge und im Westen die Daris Wüste. Was dahinter war, hatte ihn nie groß beschäftigt. Wahrscheinlich weitere Länder. Ein paar Händler kamen gelegentlich über das Frostgebirge, das wusste Jaris, aber niemand außer den Nomaden war so verrückt, die Daris-Wüste zur Gänze zu durchqueren. Selbst ihre Wanderung, die nicht einmal bis ins Zentrum der Wüste reichte, hatte ja schon an Wahnsinn gegrenzt.
    "Nur Gerüchte", antwortete Zacharas. "Gerüchte von einem großem Krieg, aber das ist weit weg."
    "Jetzt nicht mehr", behauptete die Soldatin. "Schon bald wird es hier von Soldaten nur so wimmeln. Bornhold will die ganze Welt beherrschen."
    "Bornhold?", fragte Jaris.
    "Ein Lord", erklärte sie. "Eigentlich war er nur ein Angehöriger des Landadels, doch mittlerweile hat er ein ganzes Reich gegründet und immer mehr Staaten und Städte fallen unter seine Flagge."