Da ich zur Zeit absolut keine Motivation für eines meiner anderen Projekte habe, mir aber gefühlt 1000 Ideen durch den Kopf rennen und sich gegenseitig mit bunten Bällen abschießen, heute mal eine Kurzgeschichte XD
Thx an @Chaos Rising und @Myrtana222, die ich nerven durfte
Puls der Nacht
Dakaria fingerte die Uhr aus ihrer Manteltasche und blickte bereits zum zehnten Mal innerhalb der gleichen Minute den kleinen Zeiger grimmig an. Langsam kam sie sich nicht nur albern vor, sondern verspürte gleichfalls den Drang, der Mülltonne neben sich einen Tritt zu verpassen. Allerdings würde ihr der Lärm nur noch mehr Kopfschmerzen bereiten. Vom Gestank ganz zu schweigen. Das Letzte, das sie wollte, waren dreckige Schuhe. Immerhin gehörte sie nicht zu diesen glücklichen Schnepfen, die massenhaft sauberer Paare in einem Regal lagerten.
Sie knirschte die Zähne, steckte die alte Taschenuhr zurück und vergrub ihre Hände in ihrem Mantel. Sanft fielen ihr die blonden Haare in den Nacken, als sie an der steilen Wand nach oben sah und müde den Himmel betrachtete. Die Nacht war zu hell erleuchtet und die Häuserschlucht zu eng, um die Sterne oder den Mond erkennen zu können. Wie sie es vermisste. Das sanfte Leuchten des Firmaments und das Gefühl von Freiheit, das die hellen Gestirne in die Nacht trugen. In der Stadt hatte sie dieses Gefühl nie gehabt. Beengt und voll war es dort und gäbe es einen Ort, an dem sie einfach das sein durfte, das sie war, sie wäre noch in diesem Moment losgelaufen. Doch die Arbeit und der Hunger hatten sie immer wieder zurückgerufen.
Es gab kein Entkommen.
Ein Krankenwagen rauschte an der Gasse vorbei, blendete sie und die Sirene dröhnte ihr in den Ohren. In der Ferne erklang das Schlagen einer Autotür und das Lachen einer Gruppe Jugendlicher, die die Nacht zum Feiern nutzten. Wann hatte sie das letzte Mal lachend mit Freunden beisammengesessen? Wann hatte sie das letzte Mal überhaupt die Kraft gehabt, sich mit Freunden zusammenzusetzen?
Eine Bewegung am anderen Ende der Gasse riss Dakaria aus ihren Gedanken.
Da war er.
Dakaria richtete ihren Mantel, prüfte den Sitz ihres Kostüms. Einen schlechten Eindruck würde sie sich niemals verzeihen, würde er ihrem Ruf schaden. Und nicht nur ihrem, sondern dem ihrer ganzen Zunft.
Sie straffte die Schultern und vergewisserte sich, dass ihr Schirm noch immer an ihrem Arm hing.
Der hochgewachsene Mann mit dem adretten Anzug näherte sich zielgerichtet, warf keinen Blick zurück zur Straße, keinen nach links und keinen nach rechts. Stur sahen seine dunklen Augen ihr entgegen. Unter dem Hut und den grau melierten Haaren konnte sie seinen Blick nur erahnen, aber Dakaria hatte ihn oft genug gesehen und wusste wie er tickte.
Sie konnte ihn nicht leiden.
Unberührt betrachtete sie den langen Mantel, der hinter ihm herschwebte und dabei hypnotisch bei jeder Bewegung hin und her schwang. Entfernt erinnere der schwere Stoff an ihr eigenes Kleidungsstück, doch war ihres um ein Vielfaches älter, mit aufgenähten Flicken übersäht. Die neuste Ware konnte sie sich nicht leisten. Genauso wenig wie ein zweites Paar Schuhe.
»Ihr seid zu spät«, begrüßte sie den Neuankömmling.
Ein kaum merkliches Zucken huschte über sein sonst ausdrucksloses Gesicht und Dakaria spürte seine Angst. Eine Angst, die ihr das Gefühl einer Gänsehaut bescherte, obwohl sich nicht ein Haar auf ihrem Arm bewegte.
Unweit von ihr blieb der Mann stehen. Er kam gerade weit genug heran, dass es nicht unhöflich wirkte, sie ihn aber auch mit ausgestrecktem Arm und Schirm nicht hätte berühren können. Für das ungeübte Auge wäre sein Zögern nicht sichtbar gewesen, lediglich eine Vorsichtsmaßnahme. Doch Dakaria kannte ihn. Ihn und seine Vorgesetzten. Keiner von ihnen traute ihr und umgekehrt verhielt es sich nicht anders. Die perfekte Geschäftsbasis also.
»Dann lasst uns nicht noch mehr Zeit verschwenden.« Seine Stimme erinnerte die Frau an das Ding, das sie vor einigen Tagen in der Kanalisation gefunden hatte – ein nicht zu identifizierendes Etwas umhüllt von einer Menge Schleim.
Der Mann deutete ein leichtes Nicken an und verwies auf den schwarzen Koffer in seinen Händen, ehe er die Augen auf sie richtete.
»Ich hasse Verspätungen«, gab Dakaria kühl von sich. Sie rührte keinen Muskel und auch der Mann stand ihr bewegungslos gegenüber. Entgegen der ruhigen Ausstrahlung, wuchs seine Angst jedoch und steigerte sich in Panik.
Dakaria genoss es, saugte die Furcht in sich auf und ließ sie ihren eigenen Körper durchströmen. Eine Menschlichkeit, die sie nur selten spürte und die ihr Adrenalin nur schleppend schürte. Es war kein Ersatz zu früher, kein Ersatz für eine Jagd, aber es musste ihr genügen. Wenn diese Kerle ihr doch nur den Gefallen tun würden, die Angst auch nach außen zu zeigen. Die Befriedigung wäre deutlich größer. Leider waren ihre beiden Organisationen aber nicht für Gefallen bekannt.
Dakaria seufzte innerlich und löste schließlich ihre Starre zuerst, indem sie die Hand zu ihrem Mantel führte. Die Augen ihres Gegenübers folgten ihr, beobachteten alles mit einer Mischung aus Vorsicht und Erwarten.
»Ist Ihnen jemand gefolgt?«, fragte die blonde Frau beiläufig, während sie den Blick von ihrem Gegenüber abwandte und einen Umschlag aus der Innentasche ihrer schwarzen Jacke holte.
»Nein«, erhielt sie die schlichte Antwort.
Das war, was sie hören wollte.
Zwischen Zeige- und Mittelfinger hielt Dakaria den Umschlag von sich. Der gut gekleidete Mann trat näher und streckte seinerseits den Arm aus. Schon war der Koffer in ihrer Reichweite. Beide griffen sie gleichzeitig nach Ware und Bezahlung.
Doch während Dakaria den Umschlag langsam aus ihren Fingern gleiten ließ, ging ein Ruck durch ihren anderen Arm. Ehe sich der Mann versah, fiel er ihr stolpernd entgegen, hielt er noch immer seinerseits den Koffer fest.
Sie fing ihn auf, packte ihn am Unterarm und beugte sich seinem Gesicht weit entgegen. Weit genug, um seinen warmen Atem spüren zu können und nah genug, um durch die Augen direkt in seine Seele blicken zu können. Eine leere Hülle, alleinstehend, ohne Frau oder Kinder, die eigenen Eltern vor Jahren gestorben. Er war ein kleines Licht, ein Handlanger – Kanonenfutter, niemand, dem man mehr als diesen Botengang zutraute.
»Übrigens«, hauchte sie dem Mann entgegen, »mein Herr mag auch keine Verspätungen.« Ihr sonst mimikloses Gesicht formte für Sekunden ein Grinsen, während sie zufrieden feststellen durfte, dass ihr Gegenüber sich deutlich anspannte und ihm Schweiß über den Rücken floss. Der salzige Geruch brannte in ihrer Nase und sein Blut pulsierte unter ihrem Griff. Stark genug, dass sie es durch den dicken Stoff des Mantels spüren konnte.
»Es tut mir leid«, hauchte der Mann. Sollte sie ihn endlich gebrochen haben? Nach zahllosen Wochen des Hochmuts? »Es kommt nicht wieder vor. Beim nächsten Mal werde ich … «
Das Lächeln verschwand aus Dakarias Gesicht.
»Ihr langweilt mich.« Sie ließ von ihm ab und strich seine Krawatte glatt. »Ihr Menschen haltet euch für überlegen«, sprach sie ruhig, »dabei seid ihr nur ein Witz, ein notwendiges Übel, ein Sprungbrett für meinesgleichen.«
Sie seufzte, ehe sie einen Schritt zurücktrat und den Schirm in die gleiche Hand wechselte, in der sie auch den Koffer hielt.
»Schön mit Euch Geschäfte zu machen.«
Der Mann nickte und schien aufzuatmen. Eine Erleichterung, die Dakaria nur abgewartet hatte.
Gerade als der Mann einen Schritt zurückmachen und sich von ihr entfernen wollte, ließ sie Koffer und Schirm zu Boden fallen und sprang auf ihr Gegenüber zu. Mit langen Krallen fischte sie nach seiner Kleidung. Ein von Wahnsinn und Gier zerfressenes Grinsen legte sich auf ihre Lippen und spiegelte sich in den von Panik gefluteten Augen des Mannes.
»Es wird kein nächstes Mal geben«, gab sie von sich, ihre Stimme rau und trocken. Dann biss sie zu, vergrub ihre Zähne tief in seinem Hals. Vor Schmerz wollte der Mann aufschreien, doch verkam sein Ruf zu einem gurgelnden Röcheln als ihm sein Blut in den Rachen und über die Lippen lief. Dakaria presste ihm die Hand auf den Mund, um das Rinnsal zu stoppen. Nichts sollte verschwendet werden.
Sie spürte die Kraft in sich wachsen, schmeckte das Blut, das Eisen und sein Leben. Gier überkam sie, Gier nach immer mehr. Zu lang war es her, dass sie das letzte Mal etwas so Kostbares zu sich genommen, es auf ihrer Zunge geschmeckt hatte. Alles andere war fad und langweilig. Nur das Blut eines Menschen belebte ihren toten Körper wieder.
Seine nutzlose Gegenwehr erstarb immer mehr und während die Existenz aus seinem Körper floss, fühlte sich Dakaria seit Jahren das erste Mal wieder stärker und stärker.
Das hätte sie schon viel eher machen sollen. Schon vor Wochen. Als die Gier sie das erste Mal heimgesucht hatte. Stattdessen hatte sie den Drang niedergekämpft, sich zurückgezogen, ihrem Vorgesetzten Folge geleistet. Aber sie konnte einfach nicht mehr. Zu gut war das Gefühl von Freiheit.
»Das wird dem Chef nicht gefallen«, erklang eine Stimme hinter ihr, zerfetzte das Trugbild einer ungestörten Mahlzeit. Eine Stimme, die den gleichen Klang aufwies, als würde man mit Fingern über eine Tafel kratzen. Sie brannte in den Ohren. »Heikel«, meinte die Stimme.
Seufzend ließ Dakaria von dem mittlerweile bewegungslosen Mann ab, betrachtete die fahle Haut und die farblosen Augen. Nun war die leere Hülle restlos hohl.
Dann ließ sie ihn achtlos fallen. Kraftlos faltete sich der Körper zusammen, ohne Spannung, ohne Leben.
»Hast du nur zu meckern?«, fragte sie, als sie sich umwandte. Mit dem Handrücken wischte sie die letzten Reste ihrer Mahlzeit aus dem Mundwinkel, während sie die hagere Gestalt im Schatten einer Mülltonne suchte. Zusammengekauert hockte der Ghul dort und war für menschliche Augen nicht zu erkennen. Lediglich zwei milchige Iriden verrieten seine Position.
Dakaria fischte ein Stofftuch aus ihrer Manteltasche und reinigte in aller Ruhe ihr Gesicht. Das Blut an ihrem Mantel und am Kragen ihrer Bluse konnte sie leider nicht verstecken. Aber darin zeigte sich einer der wenigen Vorteile einer Stadt – nur wenige Menschen achteten auf ihre Umgebung. Es würde niemandem auffallen und selbst wenn, würde man nicht direkt an ein Verbrechen denken. Diese Welt hatte sich verändert.
Dennoch versteckte sie ihre blutverschmierten Hände in Handschuhen, während der Ghul langsam aus dem Schatten kroch und sich ihr und dem Mann näherte. Hektische Augen wanderten von ihr zu ihm und zurück.
»Natürlich kann ich auch loben«, gab er ruhelos von sich, während seine Augen auf nichts und niemandem liegen blieben. Etwas Speichel tropfte aus seinem Mundwinkel.
Gleichgültig bückte sich Dakaria nach dem Briefumschlag in der Tasche des Mannes, nahm ihn wieder an sich und verstaute ihn an der gleichen Stelle, wo sie ihn hergenommen hatte. Dann betrachtete sie einige Zeit das leblose Häufchen, ehe sie dieses um den teuren Mantel erleichterte. Er würde ihn nicht mehr benötigen.
»Ich bin fertig. Also sorg dafür, dass nichts von ihm übrigbleibt.« Kaum hatte sie den Satz beendet, stürzte sich das drahtige Wesen auf den Mann. Knochen knackten widerlich, als sich Krallen und mehrreihige Zähne in das noch frische Fleisch gruben.
Dakaria wandte den Blick ab. Still bewunderte sie die jugendliche Energie ihres Partners und betrachtete erneut den Himmel. Ein einzelner Stern hatte sich gegen das Licht der nächtlichen Stadt durchgesetzt, leuchtete hell genug, damit man ihn erkennen konnte.
Schwer blies Dakaria die Luft aus und sog die stickige Stadtluft ein. Noch waren sie schwach, aber ihre Zunft würde zurückkehren, stärker und besser als vor dreihundert Jahren. Sie würden sich genauso zurück an die Spitze kämpfen, genauso hell leuchten und die Nacht wieder für sich einnehmen.
Die Geräusche ihres Partners im Rücken, griff sie nach dem Koffer und ihrem Schirm.
Die Jagd war eröffnet.