Mich hat schon lange kein Buch mehr derart sprachlos zurückgelassen wie Ilja Leonard Pfeijffers „Grand Hotel Europa“ (2019) – was problematisch ist, wenn man dann anschließend eine Rezension drüber schreiben will. Auf die Gefahr hin, dass ich vielleicht doch gar nicht so wortwörtlich sprachlos bin, versuch ich’s trotzdem.
Will man wissen, worum es geht, liest man am besten nicht den Klappentext. Keine Ahnung, wer sich den ausgedacht hat, aber er hat im Prinzip ein Dreiviertel des Buchinhalts mal eben ganz elegant – oder auch weniger elegant – weggekürzt. „Grand Hotel Europa“ ist faszinierenderweise eine wilde Melange aus Gattungen, die der Autor so übergangslos ineinander mischt, dass man schwerlich einen Überbegriff für das Ganze findet. Unzweifelhaft finden sich starke autobiografische Bezüge, dann ist da das klassische postmoderne Liebesdrama inklusive retardierendem Moment, die Komik kommt auch nicht zu kurz, stark durchschlagend sind auch die Reisereportage und sogar ein fast schon kriminalistischer Kunsthistoriker-Quest-Thriller. Und steht das Buch auch völlig zu Recht im Belletristik-Regal jeder gut sortierten Bibliothek, fasziniert doch am meisten das, was nicht ausgedacht ist: Pfeijffer streut so mühelos Fakten, Entwicklungen, Prozesse über Europa, den Massentourismus, Alte Meister, Fluggesellschaften, klassische Musik, AirBnB, den Untergang Italiens und Globalisierungstrends ein, dass es eine wahre Freude ist, sich auf diese Weise weiterzubilden.
Ja, okay. Und worum geht es jetzt eigentlich?
Ein Schriftsteller, etwas verleibt, wie von seiner (Ex)Freundin ständig betont wird, und in den besten Jahren, zieht sich in ein altes Nobelhotel der Extraklasse zurück, um dort den Niedergang seiner großen Liebe (eben jene nörgelnde Exfreundin) aufzuschreiben. Zunächst oberflächlich die Mechanismen, den Verfall und die Neukreation dieses Grandhotels bestaunend und mit dem Piccolo des Hotels über dessen traumatisierende Flucht aus Afrika philosophierend, taucht er schon bald in die Tiefen seiner holländisch-italienisch-europäischen Vergangenheit ab. Das hehre Ziel, von seiner Exfreundin, der Historikerin Clio („die Muse der Geschichtsschreibung“) zu berichten, hält er aber nicht stringent durch, sondern teilt seine ursprünglichen literarischen Absichten schon bald in eine facettenreiche Kritik des Tourismus, das mysteriöse Lebensende Caravaggios und die Bemühungen mehrerer verpeilter Kleinkünstler auf, die aus seinem letzten Buch einen Avantgarde-Kunstfilm machen wollen. Zwischendurch philosophiert er über Europa, das so sehr zu seiner Heimat geworden ist, dass er den Verfall, den schlechten Ruf, das Leben inmitten von kultureller Vergangenheit (die sich nicht mehr reproduzieren lässt) ebenfalls vielseitig beleuchten kann. Natürlich nicht, ohne eine gewisse Wehmut zu verspüren.
Zwischendurch recht essayistisch angehaucht, sind der elegante, detailgetreue Schreibstil und die ausgemacht feinsinnige Komik dahinter zwei weitere Glanzlichter des Romans. Beim Lesen geschah es nicht selten, dass mir der Mund offen stehenblieb – so vieles, was man am Phänomen Europas oder des Tourismus unterbewusst schon kennt, hat Pfeijffer gnadenlos in Fakten verpackt auf Papier gebändigt, so dass man ein ganz neues Verständnis davon bekommt, was es heißt, als Städtereisender durch Museen und Paläste zu marschieren, überall Fotos zu machen, um zu beweisen, dass man dort war, und damit nicht besser zu sein als die Horden aus China, die sich eine Europareise einmal im Leben leisten und demzufolge alles und jeden abknipsen. Und ja, ich weiß, dass ich gerade einen extremen Schachtelsatz über viele Zeilen geschrieben habe.
Lange Rede, kurzer Sinn: Fünf Sterne. Auch, wenn man nach dem Klappentext etwas ganz anderes erwartet, wird man nicht enttäuscht.