Neneve räusperte sich umständlich, ehe sie sich in der Lage sah, den Heiler zum Weitersprechen überreden zu können.
„Was soll das nun genau heißen? Wieso haben sie sich gespalten - und warum wollen sie unbedingt eine Waffenruhe mit euch? Wer seid ihr überhaupt und was…“, begann sie.
„Ich weiß, dass dies zunächst verwirrend klingen mag - um ehrlich zu sein, ist es auch ein wenig verwirrend, aber wenn ihr wünscht, werde ich euch eine kleine Geschichte erzählen…“, unterbrach der Heiler sie. Neneve seufzte. Die Kurzfassung wäre ihr lieber gewesen, vor allem, da sie langsam Hunger bekam und Geduld wirklich nicht zu einer ihrer hervorstechendsten Charaktereigenschaften gehört hatte. Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her, dem Drang, mit ihren Fingern auf den Holztisch zu trommeln, widerstand sie jedoch.
„So viel ich weiß, ist jemand unter uns eine enge Vertraute der Elfenkönigin, Zumira, nicht wahr?“ Der Blick des Heilers gefiel Neneve ganz und gar nicht.
„Bis vor ein paar Wochen hätte ich ohne zu zögern diese Frage bejaht, heute bin ich mir aber nicht mehr so sicher, ob ich wirklich eine ihrer engsten Vertrauten war…“, antwortete sie nach einem Moment der Stille.
„Jedoch“, fuhr sie fort, „verstehe ich nicht, was das mit diesen … Mördern zu tun hat.“
Der Heiler lächelte milde. „Abwarten und Tee trinken“, erklärte er.
„Was zu beißen wäre mir lieber“, grummelte Casper und erntete dafür ein Lächeln vom Heiler.
„Cifer, hole doch bitte etwas aus der Küche für deine Freunde.“
Als alle wieder am Tisch saßen und Neneve vor Neugier schier platzte, erbarmte sich der Heiler ihrer.
„Am besten ist es wohl, wenn ich von vorne beginne, damit ihr mir auch folgen könnt. Das Schicksal nahm vor genau 320 Jahren seinen Laufen, als eine Elfe zu ehrgeizig und machthungrig wurde, sodass sie alle Skrupel über Bord warf“. An Neneves Freunde gewandt, erklärte er: „Ihr müsst wissen, dass zu dieser Zeit noch Zumiras Vorgänger regierte. Ein eher sanfter, nach Frieden und Idylle strebender Elf, der fast schon zu friedfertig für eine solch mächtige Position war. So versuchte er den Zwist zwischen den Elfen und den Dämonen, aber vor allem den Konflikt zwischen ihnen und den Menschen beizulegen. Dafür erntete er natürlich nicht nur Lob, im Gegenteil, immer lauter wurden die Stimmen in den eigenen Reihen. Sie wollten keinen Frieden mit anderen Völkern, sie wollten sich vor allem und in erster Linie um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern. Zu dieser Zeit hatte es einige Dürren im Reich der Elfen gegeben, sodass sie versucht hatten, ihre Gebiete auszudehnen. Dadurch war es erst zu der Anspannung zwischen Elfen und Menschen gekommen. Nun forderten sie vom König, dass er Lösungen - vor allem schnelle Lösungen - für ihr Leid fand, anstatt eine Krisensitzung nach der anderen mit den Menschen zu führen. Wie ihr vielleicht mitbekommen habt, sind die meisten Elfen nicht unbedingt sonderlich barmherzige und offene Wesen, sodass es ihnen recht egal war, ob die Menschen mit ihnen klar kamen oder nicht.
Zumindest tat sich eine Elfe in den Protesten besonders hervor. Sie stammte aus der gleichen Familie wie der König, und da dieser keine eigenen Kinder hatte, war anzunehmen, dass sie eines Tages seinen Platz innehaben würde. Und das brachte die clever, listige, junge Elfe auf einen Plan. Wen würde es noch sonderlich wundern, wenn der König ermordert werden würde? Bei den vielen Anfeindungen wären Verdächtige zur Genüge gefunden worden - und mit Sicherheit wäre auch einer davon verantwortlich gemacht worden. So heuerte sie einen Auftragsmörder an…“
„Einen Assassinen“, flüsterte Sedar.
Der Heiler lächelte. „Aber nein, wieso sollte sie? Wieso das Risiko eingehen, mit einem Geheimbund in Verbindung gebracht zu werden, wenn die Lösung doch so nahe lag. Glaubt ihr etwa, es hätte unter den Elfen nicht auch einige gegeben, die für Geld den Lebensfaden etwas früher als grad durchschnitten hätten?
Aber zurück zu dem König. Das Ganze gestaltete sich doch schwieriger als erwartet. Fast ein halbes Dutzend Mörder - alle engagiert von unserer gewitzten Freundin - verloren ihr Leben, da sie von den Wachen des Königs gefunden und getötet wurden.
Die Zeit drängte für die junge Elfe - nicht nur, dass viele ihrer Verbündeten es müde waren, gegen einen König Stimmung zu machen, wenn sie die Zeit lieber nutzen konnten, um etwas Essbares nach Hause zu bringen. Nein, ihre größte Sorge war der König selbst. Er war vielleicht ein wenig leichtgläubig, aber dumm war er nicht. Und sie wusste genau, dass er einen Verdacht gegen sie hegte und der nächste Anschlag auf jeden Fall erfolgreich sein musste“, der Heiler stoppte an dieser Stelle und nahm einen Schluck Wasser aus dem Becher, der vor ihm stand.
„Ihr müsst wissen“, begann er danach wieder, „dass der Orden der Assassinen noch nicht wirklich als solcher zu dieser Zeit genannt werden konnte. Es waren vor allem einflussreiche und machthungrige Menschen, die sich zusammengeschlossen hatten, um im Verborgenen Morde zu begehen und so vor allem sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Doch es fehlte ihnen vor allem an jungen Nachfolgern, die einmal für sie an vorderster Front standen, sodass sie sich nur noch um die Ausdehnung ihrer eigenen Ansprüche zu kümmern hatten. Es war schwierig, schließlich mussten die Neuen so jung sein, dass sie noch gut geformt werden konnten, sodass sie nicht irgendwann die Seiten wechselten und sich gegen ihre einstigen Meister stellten.
Hier hatten wir also zwei Parteien, die beide vor einem Problem standen, das sie nicht einfach so lösen konnten. Und daher war es auch nicht weiter verwunderlich, dass sie sich zusammenschlossen und eine Vereinbarung trafen: Die Assassinen, die wohl die erfahrensten und besten Mörder waren, die sich die Elfe vorstellen konnte, würden dafür sorgen, dass sie auf den Thron kam. Im Gegenzug versicherte ihnen die Elfe, dass sie ihnen jedes Jahrhundert, das sie an der Macht war, 12 junge, gerade geschlüpften Elfenkinder überlassen würde und der Orden zudem das Recht bekam, bei all ihren Entscheidung mitsprechen und gegebenfalls ihr Veto einlegen konnten.
Nun, wie Neneve sicherlich weiß, wurde der König der Elfen wenig später zu Grabe getragen, während die junge Elfe seine Nachfolge antrat. Ihr alle kennt sie, es ist Königin Zumira…“
Neneve schnappte nach Luft und sprang auf, sodass ihr Stuhl nach hinten kippte und scheppernd auf dem Steinboden aufschlug.
„Lügner! Das sind lauter Lügen!“, schrie sie und stürzte auf den Heiler zu. Blind vor Wut, versuchte sie, ihre Hände um seinen Hals zu legen und ihm die Luft zum Weiterreden zu nehmen.
„Was erlaubst du dir? Du Verräter!“, kreischte sie dabei. Doch ehe sie ihn wirklich lebensgefährlich verletzen konnte, wurde sie von mehreren Händen weggezogen und zu Boden gedrückt. Währen ihr beinahe Schwarz vor Augen wurde und sie sich zu befreien versuchte, liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie konnte sich gar nicht mehr an das Gefühl erinnern und erschrak daher, als ihr etwas Warmes die Wange hinunterronn.
„Lügner“, flüsterte sie noch, obwohl ihr Verstand bereits sagte, dass der Heiler die Wahrheit sprach.
„Er hat Recht, bitte Neneve, denk’ doch darüber nach“, hörte die Elfe eine Stimme. Erst nach einem Moment bemerkte sie, dass die Stimme nicht aus ihrem Kopf kam.
„Aber … sie … sie würde diesen Pakt nie eingegangen sein“, flüsterte Neneve, unterbrochen vom eigenen Schluchzen.
„Glaubst du das wirklich? Nach allem, was passiert ist?“ Erneut eine Stimme und wieder konnte sie sie niemandem zuordnen.
„Ich habe ihr doch vertraut“, hauchte sie, „diese … diese…“ Ihr fehlten die Worte und vor allem auch die Kraft, sich einen passenden Namen zu suchen.
„Verräterin?“ Dies war eindeutig Gyahara.
Und vermutlich war es auch ihre Schulter, an die sich Neneve in dem Moment drückte. Es hätte aber genauso gut auch Casper oder Cifer gewesen.
Nur Sedar konnte sie ausschließen, denn dieser begann gerade hinter ihr zu sprechen.
„Und was hat dies nun mit der Spaltung der Assassinen zu tun?“
„Nun, so weit bin ich noch nicht gekommen…“, erwiderte der Heiler...