Kapitel 7: AUF DIE TOILETTE
Mit einem Mal verspürte ich das dringende Bedürfnis, die Toilette aufzusuchen. Vermutlich war es die Aufregung (oder besser gesagt Angst), die ich bei dem Gedanken an einen riesigen Tumor, der sich an mein Hirn klammerte, empfand. Mein plötzlicher Harndrang ließ mich realisieren, dass es in meinem Zimmer kein Bad gab. Eine Weile schritt ich nachdenklich auf und ab, wie ein Panther im Käfig, dann kam mir ein Gedanke. Es musste hier irgendwo einen Knopf geben, mit dem man die Schwestern alarmieren konnte. Ich war zwar noch nie in einem Krankenhaus gewesen, kannte das aber aus Fernsehserien und Filmen.
Nachdem ich mich kurz umgesehen hatte, entdeckte ich, dass sich zwischen meinem Bett und dem am Fenster eine kleine Tastatur befand. Auf einem ihrer Knöpfe war ein Klo abgebildet. Ich drückte mit dem Daumen darauf und nach nur drei Minuten kam eine alte Frau ins Zimmer. Sie sah mich durch die Gläser ihrer rosaroten Hornbrille misstrauisch an. Ihr Mund war eine dünne, farblose Linie.
„Ich müsste mal auf die Toilette“, sagte ich. Die Alte kniff die Augen zusammen und winkte mich zur Tür hinaus. Als ich auf dem Gang stand, sagte sie: „Komm.“
Die Frau eskortierte mich zu einer Tür, auf der „WC“ stand. Diese sperrte sie auf und ließ mich mit den Worten „Beeil dich!“ ein. In der Kabine gab es ein Klo, ein Waschbecken, einen sensorgesteuerten Seifenspender und einen Drucklufthandreiniger.
Ich klappte die Brille hoch und atmete erleichtert auf, als der Druck, der auf meiner Blase gelastet hatte, langsam nachließ. Als ich den Raum wieder verließ, wartete dort bereits die alte Hornbrille, im Begriff mich zurückzubringen. Ist das hier ein Krankenhaus oder ein verdammtes Gefängnis?
Auf dem Weg zu meinem Zimmer, tastete ich meinen Hinterkopf nach Auswölbungen ab (wie ich es schon dutzende Male getan hatte), wurde aber von Selina unterbrochen, die plötzlich um die Ecke geschlichen kam. Dort, wo durch meinen Schlag ihre Unterlippe aufgeplatzt war, befand sich nun dunkelroter Schorf, der mit einer eitergelben Salbe bestrichen war. Ich wollte ihr aus dem Weg gehen, doch als sie die Alte und mich bemerkte, packte sie meine Schulter, riss mich zu sich und flüsterte: „Warte mal, was gleich passiert.“
„Hey“, fauchte die Alte und zog mich an der anderen Schulter zurück, bevor ich etwas erwidern konnte. „Lass ihn in Ruhe, Selina. Geh zur Gruppe zurück!“
Selina verbeugte sich tief und sagte feierlich: „Jawohl, Euer allerdurchlauchtigste Gnaden!“ Dann hob sie ihren Rock wie eine Tänzerin beim Can Can und hüpfte den Gang hinab. „Ich gehe zur Gruppe zurück, weil ich ein braves Mädchen bin!“, sang sie dabei.
Die Alte murmelte etwas, dann erhellten sich ihre Züge in Erleichterung. „Herr Doktor!“, rief sie. „Kann ich Ihnen Ihren Schützling für einen Moment anvertrauen?“
Dr. Rexroth, der um die Ecke gebogen war, hielt verdutzt inne und noch bevor er antworten konnte, schob die Frau mich in seine Richtung und nahm dann die Verfolgung von Selina auf.
„Hallo“, sagte er und ich merkte, wie unwohl ihm dabei war, mit mir zu sprechen. Trotzdem sagte ich entschlossen: „Es ist ein Hirntumor.“
„Was?“ Sein Gesichtsausdruck spiegelte entweder gespielte oder ehrliche Verwirrung wieder - ich konnte es nicht unterscheiden.
„Ein Hirntumor. Ist das die Lösung?“, hakte ich nach.
„Lösung? Wovon?“
„Sie haben mich gefragt, warum ich hier bin. Habe ich einen …“
„Nein. Nein, natürlich nicht. Wie du gesagt hast, du bist gestürzt. Einfach nur gestürzt.“ Für einen Moment blitzte ein anderer Ausdruck über sein Gesicht. So kurz und seltsam, dass ich nicht sagen konnte, was er bedeutete.
„Schlimm gestürzt?“, fragte ich.
„Nein, du …“
„Warum bin ich dann hier?“ Nun erhob ich die Stimme. Diesmal sollte er wissen, dass es mir ernst war. Ich war die Ungewissheit leid. Ich wollte Antworten, keine komischen Hypnosespielchen.
„Dein Gedächtnis. Wir müssen …“
„Sagen Sie mir doch einfach, was passiert ist!“
„Arkadius, beruhige dich. Gehen wir etwas spazieren.“ Er streckte seine Rechte nach meiner Schulter aus, doch ich schlug sie entschlossen weg. Keine Ausflüchte diesmal.
„Geht es meiner Schwester gut? Kann ich sie sehen ... oder anrufen?“
„Arkadius!“
„Ist es wahr, dass meine Eltern mich nicht mehr besuchen wollen?“
Nun wurde der Doktor sichtlich zornig. Er fragte: „Hat Selina das gesagt?“
„Und wenn schon?“
„Ich weiß nicht, was du von mir willst. Gehen wir ein Stück. Ich bin mir sicher, dass es deinen Eltern gut geht.“
Nun schnellten meine Hände nach vorne und packten den Kragen von Rexroths Cordjacke.
„Das war aber nicht meine Frage! Weiß denn niemand in diesem dreimal verfickten Krankenhaus wie man eine einfache FRAGE BEANTWORTET?!“ Kleine Spucktropfen landeten auf der Brille des Doktors, so nah war ich seinem Gesicht. Andere auf dem Gang blieben stehen, doch Rexroth wies sie mit einer Handbewegung an, nicht einzuschreiten. Bevor sich doch jemand berufen fühlte, ließ ich von ihm ab.
„Hör mir zu“, flüsterte er schwer atmend, während er seine Jacke zurechtrückte. „Wir können das bei einem Spaziergang klären oder ich muss Jonathan hinzuziehen und das will ich nicht. Glaub mir, das will ich wirklich nicht.“
Er sagte es ganz ruhig, fast bedauernd, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er mir drohte. Eine wütende Hitze strömte von meiner Brust aus in meine Glieder und mein Gesicht. Für einen kurzen Moment starrten der Arzt und ich uns an. In seinem Blick konnte ich sehen, dass er nicht wusste, was ich tun würde. Ich wusste es auch nicht, fürchtete jedoch, wieder einen Wutanfall zu erleiden. Das durfte ich mir nicht leisten.
Ein plötzliches schrilles Klingeln unterbrach den Anstarrwettbewerb und ließ uns vor Schreck zusammenzucken. In einem Zimmer in der Nähe begann ein Kind laut zu schreien und aus einem anderen kam eine Frau mit schockiertem Blick und sah sich auf dem Gang um.
„Feuer“, sagte Dr. Rexroth und es klang fast wie eine Frage. Ich fuhr herum, konnte aber nirgendwo Flammen oder Rauch entdecken. Stattdessen hörte ich ein lautes Klirren, wie das Brechen von Glas. Die Alte, die mit mir zum Klo gegangen war, kam von den Fahrstühlen mit wedelnden Armen auf mich zugerannt. Sie rief etwas, aber ich verstand es nicht. Das Klingeln war zu laut. Meinem ersten Impuls (panischer Flucht) widerstand ich - ich wusste ja noch nicht einmal, wo der Ausgang war - und blieb stattdessen wie festgenagelt stehen.
Dr. Rexroth schob sich an mir vorbei und rannte der Alten entgegen. Mittlerweile waren alle Zimmer offen und Kinder wie auch Erwachsene stürmten den Flur. Aus dem Treppenhaus kam Dr. Wolf mit rotem Schädel, gefolgt von einer Schar Angestellter, die in alle Richtungen ausschwärmten.
Er trat zu Rexroth und der Frau, die beide sofort begannen, auf ihn einzureden. Er legte eine Hand ans Ohr, um zu symbolisieren, dass er nicht verstand was sie sagten. Sie traten näher und wiederholten sich.
Die Augen des Arztes weiteten sich und er schnaubte. Dann formte er die Hände zu einem Trichter und brüllte so laut, dass man es sogar über das ohrenbetäubende Klingeln verstehen konnte.
„FALSCHER ALARM! FALSCHER ALARM!“
Erleichtert atmete ich auf. Dr. Wolf wandte sich an die Alte und sagte etwas, wobei er wild gestikulierte. Dr. Rexroth kam zu mir zurück.
„In dein Zimmer!“, sagte er laut, damit ich ihn über das Klingeln verstehen konnte. Ich hätte widersprochen, doch bei dem Krach lohnte es sich nicht, eine Diskussion zu starten, daher ging ich, mit dem Arzt im Rücken, zügig zurück.
Kaum hatte er hinter mir die Tür abgeschlossen, verstummte der falsche Feueralarm und man konnte die anderen Geräusche wieder hören, die vom Gang in mein Zimmer schallten. Schwestern, die erklärten, dass der Alarm falsch war; Kinder, die vor Angst schrien und heulten und Dr. Rexroth, der irgendjemanden fragte: „Wo ist Selina?“
Sie stand hinter mir.