Beiträge von Unor im Thema „Vergissmeinnicht“

    @Kitsune Ja, das mit den Gefühlen und allgemein die Qualität der Kapitel stimmt natürlich. Ich schätze ich war einfach zu wild darauf, nach der langen Wartezeit schnell die Kapitel rauszuhauen. Ich werde die neuen nochmal überarbeiten und dann erst den Schlussteil hochladen.

    Das mit Selina kann ich aber schonmal erklären. Sie war im Krankenhaus, weil sie sich die Unterarme aufgeschlitzt hat (Kapitel 8). Aber das sollte ich vielleicht doch nochmal erwähnen. :hmm:

    LG, Unor

    So, nach dieser EWIG langen Wartezeit, werde ich jetzt versuchen, die letzten Kapitel der Geschichte (6 sind es noch) vor Ende der Osterferien - trotz Abivorbereitung - fertigzustellen. Allen, die nach einem Vierteljahr noch mitlesen, wünsche ich viel Spaß xD

    LG, Unor

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    Kapital 15: NACHHAUSE



    Ein kurzer Blick auf den Fahrplan genügte mir. Natürlich fuhren um diese Uhrzeit keine Busse mehr! Was hatte ich mir dabei gedacht? Viel Zeit zum Ärgern blieb mir jedoch nicht. Selina hatte mit ihrem Geschrei bestimmt jemanden angelockt und auch wenn man sich vorerst mit ihr beschäftigen würde, irgendwann käme man auf die Idee, mein Zimmer zu checken.
    Also zu Fuß. Zumindest vorerst.


    Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ein letzter Blick zum Krankenhaus, bevor ich lossprintete, bestätigte meinen Verdacht, dass ich mich in einer vollkommen fremden Stadt befand. Ich wusste, in meiner Heimatstadt gab es nur ein Krankenhaus und das sah völlig anders aus.
    Aber davon ließ ich mich nicht abbringen. Busse mochten um diese Zeit vielleicht nicht mehr fahren, aber es bestand noch immer die Hoffnung, einen Nachtzug zu erwischen. Vielleicht nicht direkt nachhause, aber immerhin weg von hier.


    Weit und breit waren keine Passanten in Sicht, die man nach dem Weg hätte fragen können. Allerdings war es vielleicht besser so. Ein Junge, der barfuß allein bei Nacht umherirrte würde eh nur dazu verleiten, die Polizei zu rufen. Dass konnte ich nicht gebrauchen. Die würden mich vermutlich zu Rexroth bringen oder ins Krankenhaus.
    Ich musste meinen Weg selbst finden.


    Nach einer ganzen Weile – mittlerweile lief ich nur noch langsam, da mir die Luft ausgegangen war – kam ich zu einem Schild, auf dem „Fußgängerzone“ stand. Dahinter erstreckte sich eine mit Steinfließen gepflasterte Straße. Links und rechts standen Geschäfte, deren Schaufenster selbst zu dieser Uhrzeit – lange nach Ladenschluss – noch beleuchtet waren. Am Ende der Straße, hinter einer Reihe von Häusern, ragte ein Kirchturm in die Höhe. Das schien mir ein geeigneter Fixpunkt, um mich zu orientieren. Daher ging ich darauf zu. Langsam spürte ich meine Füße nicht mehr und ich musste bei einer Sitzbank Halt machen, um sie mit den Händen warum zu reiben. Ich hätte ein paar Schuhe anziehen sollen, vor meiner Flucht. Die Nacht war wolkenlos, dennoch sehr kalt.


    „Entschuldigung?“
    Sofort schnellte ich in die Höhe. Vor mir stand ein uralter Mann. Er trug eine zu kurze Jeans, eine billige Regenjacke und roch unangenehm.
    „Was wollen Sie?“, fragte ich, noch immer schnell atmend. Der Alte kam einen Schritt näher, ich wich zurück, wobei meine Kniekehlen gegen die Bank stießen.
    „Was treibst du hier draußen, ohne Schuhe?“ Der Mann klang eher neugierig, als besorgt und sprach mit einem dicken Akzent.


    „Ich suche den Bahnhof.“
    Er nickte. Ich machte mich auf weitere Fragen gefasst, in meinem Kopf entstand bereits ein Lügenkonstrukt. Wieder pochte es unter dem Verband.
    „Du musste in diese Richtung. Immer geradeaus. Du kommst über zwei Brücken. Dann weiter geradeaus und links.“
    Ich konnte nur dastehen und schweigen. Nach einer kurzen Weile, brachte ich ein „Danke“ hervor und machte mich davon. Der seltsam riechende Kerl war mir nicht ganz geheuer.

    Der Bahnhof war eigentlich ein sehr schönes Gebäude. Aus Ziegelstein, mit Türmen wie eine Burg. Die Dächer aus Kupfer waren mit den Jahren grün geworden, wie die Freiheitsstatue. Doch wie ich so davorstand, wirkten diese Türme und Ziegel irgendwie bedrohlich. Sie erinnerten mich an eine Kurzgeschichte, die ich in der Schule gelesen hatte. „Zentralbahnhof“. Keine schöne Geschichte. Aber davon ließ ich mich selbstverständlich nicht abhalten.

    Ich betrat das Gebäude, in dem sich auch zu dieser Stunde einige Leute befanden, die mich, sehr zu meiner Freude, aber kaum beachteten. Neben einem Kartenautomaten an der Wand hing eine gelbe Tafel, mit allen An-und Abfahrzeiten. Es dauerte keine Minute, da hatte ich den Namen meiner Heimatstadt gefunden. Dreimal schaute ich nach, um sicher zu gehen, dass es kein Traum war. Da fuhr Tatsächlich ein Zug, in nur zwanzig Minuten! Einmal war das Glück also auf meiner Seite. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht machte ich mich auf zum richtigen Gleis.
    Der Bahnsteig – im Gegensatz zur Eingangshalle – war menschenleer. Einige Meter in der Ferne stand ein Getränkeautomat. Der Anblick der Flaschen erinnerte mich daran, wie durstig ich war. Bedauerlicherweise akzeptierte der Automat nur Münzen und ich wollte niemanden nach Geld fragen.

    Daher wartete ich durstig auf meinen Zug, für den ich – das wurde mir jetzt erst klar – keine Fahrkarte hatte. Ich würde mich im Zug verstecken müssen. Oder dem Schaffner etwas vorheulen. Vielleicht auch einfach die Wahrheit sagen? Nein, das auf keinen Fall.
    Das surrende Geräusch der Schienen riss mich aus meinen Gedanken. Es verriet mir, dass ein Zug sich näherte.

    Obschon es eine kalte Nacht war, kam es mir am Bahnsteig sehr warm vor. Fast heiß. Wie ich so dastand, den Blick auf die metallenen Schienen gerichtet, brach ich regelrecht in Schweiß aus. Hinzu kam der Klang des sich nähernden Zuges. Seine Lichter in der Ferne. Sie kamen mir übertrieben hell vor. Sie blendeten geradezu. Mittlerweile schrien die Schienen, als wollten sie vor dem nahenden Zug warnen. Dann das Kreischen der Bremsen - unerträglich. Ich wandte den Blick weg von den Gleisen. Ein Fehler. Die Lichter der Lock brannten in meinen Augen und verursachten Kopfschmerzen, schlimmer als ich sie je gespürt hatte.
    Alles geschah, wie in Zeitlupe.

    Die Bahn, wie sie vor mir zum Stehen kam. Die Bremsen, die nun kreischten, als wären Menschen zwischen die Räder geraten. Ein schreckliches Geräusch. Dann die Stille. Die beiden Türen, die direkt vor mir aufglitten. Es kam mir eine Hitze entgegen, die mir den Rest gab.

    Als ich aufwachte, lag ich rücklings am Boden. Mein Hinterkopf schmerzte und ich schmeckte Blut. Schon wieder hatte ich mir auf die Zunge gebissen.
    Ich schien nur einige Sekunden bewusstlos gewesen zu sein. Der Zug war, zu meiner Erleichterung, noch da, aber niemand stieg ein oder aus. Er machte mir eine Heidenangst. Ein Zug, in dem kein einziger Mensch saß. Die Türen schlossen sich.
    Ich war sofort auf den Beinen und drückte den Knopf, der sie wieder öffnete. Schnell stieg ich ein. Mir den Hinterkopf reibend, setzte ich mich auf den erstbesten Platz. Mein Herz schlug wie besessen in meiner Brust.
    Was für ein dummer Moment für einen Schwächeanfall. Aber ich ärgerte mich nicht.
    Ich war auf dem Weg nachhause!

    Kapitel 14: DIE FLUCHT


    Auf dem Gang war es dunkel und der Wachmann saß tatsächlich in seinem Stuhl zusammengesunken und schnarchte friedlich. Ich sah mich um. Am einen Ende des Flurs sah ich Licht brennen, vom anderen hörte man leises Gerede.
    „Wo lang?“, flüsterte ich, als Selina hinter mir aus dem Zimmer trat. Sie zuckte mit den Schultern und schaute in Richtung der Stimmen. In eben diesem Moment kamen zwei Männer in weißen Kitteln um die Ecke. Einer von ihnen hielt ein Klemmbrett in der Hand, auf das beide interessiert blickten, während sie redeten.
    Selina packte mich, ehe ich reagieren konnte, und zog mich in einen Raum dessen Tür offen stand. Reflexartig verzog ich das Gesicht und schloss die Augen. Fast bildlich konnte ich mir vorstellen, wie eine Schwester in dem Zimmer stand und uns anblickte. Selina boxte mich in die Seite und als ich die Augen öffnete, waren wir ganz allein.
    Glück gehabt.

    Die beiden Ärzte gingen am Zimmer vorbei und sobald ihre Stimmen verklungen waren, verließen wir den Raum wieder und gingen in die Richtung, aus der die Männer gekommen waren.
    Bei jedem Quietschen, das meine Schuhe auf dem Linoleumboden verursachten, hielt ich kurz Inne.
    „Du willst deine Schwester doch rausholen, bevor sie an Altersschwäche stirbt oder? Dann beweg mal deinen Arsch“, fauchte Selina, die einige Meter vor mir war. Ich gab mir einen Ruck und war mit zehn schnellen Schritten bei ihr.
    „Da ist eine Treppe, die führt zum Eingang“, flüsterte das Mädchen und deutete auf eine Tür direkt vor uns.
    Ich griff nach der Klinke, bereit, die Treppe herunterzustürmen.
    „Halt, eines noch“, sagte Selina - viel zu laut.
    „Sei leise“, zischte ich und fuhr herum. Selina stand vor mir und grinste selbstgefällig. In ihren Händen hielt sie eine Bettpfanne und einen Löffel. Ich wusste nicht, wo sie das Zeug her hatte.
    „Wenn sie dich nochmal beim Abhauen erwischen, sperren sie dich für immer ein. Dann hast du genug Zeit darüber nachzudenken, dass man Mädchen nicht schlägt.“

    Und dann schlug sie den Löffel gegen die blecherne Bettpfanne und das Geräusch ging mir durch Mark und Bein. Sie setzte zu einem zweiten Schlag an, aber ich schnellte vor und packte ihr Handgelenk.
    „Hilfe!“, brüllte sie. Sie machte alles kaputt. Mit der Bettpfanne begann sie, auf mich einzuschlagen, aber ich spürte kaum etwas. Mein Körper wurde von Adrenalin durchströmt. Ich riss das Mädchen herum und presste meine Hand auf ihren Mund. Wir tänzelten hin und her, im Bestreben den jeweils anderen richtig zu fassen zu kriegen und dabei stolperten wir ins Treppenhaus. Meine Handfläche wurde von ihren Zähnen eingequetscht und mit dem Löffel schlug sie mir gegen die Schläfe. Explosionsartig zischte ein Schmerz durch meinen Schädel und ich stieß das Mädchen von mir. Sie prallte heftig gegen die Wand.

    „Hilfe. Ein Verrückter!“, brüllte sie und wollte auf den Gang fliehen, doch ich konnte mich fassen und sie am Arm packen. Ehe sie reagieren konnte, riss ich sie herum und ihr Kopf knallte gegen die Wand. Als sie benommen zu einem weiteren Schlag ausholte, trat ich ihr mit aller Kraft in den Bauch und sie stürzte rückwärts die Treppe hinunter. Sie überschlug sich mehrmals, wie in einem Zeichentrickfilm und landete mit dem Gesicht nach unten. Ihr Hals war seltsam verdreht. Irgendjemand hatte diesen Krawall mit Sicherheit mitbekommen, daher ging ich sofort weiter. Selina würdigte ich keines Blickes. Sie war doch selber Schuld! Sie wollte, dass man mich einsperrte. Aber das würde ich nicht zulassen. Auf keinen Fall würde ich Julia im Stich lassen.
    Außerdem war sie bestimmt nur bewusstlos. Und dann noch in einem Gebäude voller Ärzte. Man würde sich schon um sie kümmern.

    Im Eingangsbereich war wenig los. Nur die Rezeption war besetzt aber ich konnte mich vorbeischleichen.
    Als die gläsernen Türen aufglitten und kalte Nachtluft mir entgegenströmte, fühlte ich mich großartig. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit, konnte ich gehen, wohin ich wollte.
    Ich ging zur nächsten Bushaltestelle.

    Kapitel 13: PLÄNE



    Ich war ratlos.
    Nach einer halben Stunde des Wartens, wollte ich um Hilfe rufen. Wer wusste, was die mit dem Polizisten machen würden? Doch ich schwieg stattdessen. War Heydrich womöglich doch eine Art Spion gewesen? Würde Rexroth wirklich das Risiko eingehen und ihn einfach umbringen? Das war unwahrscheinlich. Womöglich hatte er ihn irgendwie überzeugt, seine Ermittlungen einzustellen. Aber worin ermittelte er? War er denen etwa auf der Spur?
    Wieder Kopfschmerzen.

    Tausend Fragen schwirrten und brummten durch meinen Kopf, wie ein Bienenschwarm. Um mich davon abzulenken, trat ich ans Fenster. Von dort aus konnte man den Platz sehen, wo all die Krankenwagen auf ihren Einsatz warteten. In einem kleinen Garten direkt unter mir, spazierte ein Mann mit Krücken umher. Es schien sich diesmal um ein echtes Krankenhaus zu handeln. Meine Hand wanderte zu dem engen Verband um meinen Kopf. Darunter pochte noch immer leise der Schmerz.

    Ich warf einen Blick zur Tür. Sie sah jener meines Gefängnisses sehr ähnlich. Das gefiel mir nicht, aber wenn dies wirklich ein echtes Krankenhaus war, würde sie wohl kaum verschlossen sein. Doch unbewacht würde Rexroth mich ebenfalls nicht lassen. Womöglich saß er dort draußen und wimmelte jeden ab, der zu mir wollte. Wenn überhaupt jemand wusste, dass ich hier war.
    Das Fenster also. Es ließ sich öffnen. Zumindest das. Ein zweiter Blick hinaus, verriet mir, dass einige Meter unter meinem Zimmer - welches sich im dritten Stock zu befinden schien - ein Vordach aus der Hausfassade ragte. Zu weit, für einen Sprung. Auch ließen die Wände links und rechts jegliche Art von Vorsprung oder ähnlichem vermissen, die mir Halt geboten hätten.
    Mehrmals durchmaß ich den Raum. Kein Lüftungsschacht, gar nichts.
    Also doch die Tür.
    Vorsichtig legte ich mein Ohr auf das kalte Holz und sofort vernahm ich allerlei Klänge. Draußen wurde geredet. Etwas Schweres wurde vorbeigerollt, vielleicht eine Trage und ein paar Türen vielen auf und zu. Das war nicht gut. Ein menschenleerer Raum wäre bei einer Flucht weitaus praktischer. Ich würde die Nacht abwarten müssen.

    Siebenmal wurde ich in den nächsten Stunden von verschiedenen Ärzten und Schwestern aufgesucht. Einige warfen nur einen kurzen Blick in den Raum und fragten, wie ich mich fühlte. Ein alter Bärtiger leuchtete mir mit einer Taschenlampe in die Augen und prüfte den Verband. Der letzte Doktor kam kurz vor Mitternacht. Ein junger Schwarzer, der durch seinen perlenweißen Mantel noch schwarzer wirkte, öffnete die Tür und lugte herein.
    „Wer ist da?“, fragte ich. Nun, da er wusste, dass ich wach war, knipste er das Licht an. Meine Augen, die sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten, begannen zu brennen, was augenblicklich meine Kopfschmerzen verschlimmerte.
    „Du solltest schlafen“, meinte der Arzt während er an meinem Bett vorbei ans Fenster trat und die Jalousie herunter ließ. Ich antwortete nicht, sondern wartete darauf, dass er wieder verschwand. Er fing an darüber zu schwafeln, wie wichtig es sei zu schlafen. Er erzählte irgendwas von seiner Freundin, die nie genug schlief oder so etwas. Ich hörte nicht richtig zu, meine Augen waren auf die nun geöffnete Tür gerichtet. War das meine Chance? Einfach loslaufen?
    Nein, das war zu riskant. Erst musste der Doktor verschwinden.

    Es dauerte keine Minute mehr, da verabschiedete der Schwarze sich mit einem Lächeln. Kaum war die Tür zugefallen, sprang ich aus dem Bett und lauschte wieder nach Geräuschen auf dem Gang. Stille.
    Ein paar Minuten stand ich im Zimmer und machte mir allerlei Gedanken. Wohin würde ich überhaupt fliehen? Konnte ich mein Haus von hier aus finden? War ich noch in derselben Stadt?
    Mit einem heftigen Kopfschütteln vertrieb ich die Gedanken. Sie hielten mich nur auf. Alles war besser, als weiter das Versuchskaninchen dieses Rexroth zu sein.
    Ich griff nach der Klinke.

    „Wo solls denn hingehen?“, lachte eine Stimme hinter mir. Nie in meinem Leben bin ich schneller herumgefahren. Aus einer finsteren Ecke des Zimmers trat Selina. Ihr Gesicht zierte ein hämisches Grinsen und ihre Unterarme waren mit frischen Verbänden umwickelt.

    Einen Moment lang konnte ich nicht antworten, doch nach einigen Sekunden schlug mein Herz wieder langsamer.
    „Was zum Teufel machst du hier?“ Ich war bemüht, nicht zu schreien. Selina hob die Arme, die mit frischen Bandagen umwickelt waren und ging wohl davon aus, dass das als Erklärung ausreichend war.
    „Ich hab gesehen, wie sie dich reingerollte haben. Ein filmreifer Fluchtversuch, das muss ich sagen.“
    „Wie bist du hier reingekommen?“, harkte ich nach. Selina rollte mit den Augen, als sei es eine dumme Frage.
    „Ich hab mich hinter dem Arzt reingeschlichen. Der Wachmann vor der Tür hat gepennt.“
    „Da sitzt ein Wachmann vor der Tür?“
    „Denkst du, sie lassen Hannibal Lecter unbewacht? Es wundert mich, dass sie dir nicht noch einen Maulkorb anlegen.“
    „Hör auf so zu reden. Es ist nicht witzig!“ Ich ging ein paar Schritte auf sie zu, sie wich nicht zurück. „Ich weiß jetzt, was Sache ist. Du verarschst mich nicht mehr!“
    Ihre Augen weiteten sich in Erstaunen. „Du bist also endlich dahinter gekommen!“
    „Ich bin nicht krank“, sagte ich. „Ich bin kerngesund. Dieser Rexroth und die anderen, die machen den Eltern nur was vor. Die spritzen den Kindern in ihrem ‚Krankenhaus‘ irgendwelche Drogen und behaupten dann, sie seien todkrank.“ Es endlich laut auszusprechen fühlte sich gut an. Selina fuhr mir durch die Haare; ich schlug ihr die Hand weg.

    „Brav gemacht. Jetzt hast du es also endlich begriffen. Aber wie bist du dahinter gekommen?“
    „Ich habe es gesehen. Ich hatte einen Traum. Aber es war kein Traum. Es hat sich echt angefühlt. Rexroth hat meiner Mutter gesagt, ich sei sehr krank und er müsse mich noch bei sich behalten.“
    Ich hatte sehr lange über diesen Traum nachgedacht.
    „Ich habe das rausgefunden und angefangen nach Julia zu suchen, aber mich haben sie auch einkassiert. Und mit ihren Mitteln haben sie versucht, mein Gedächtnis kaputt zu machen. Deswegen hat der Doktor mich gefragt, ob ich ihn kenne!“
    „Und was willst du jetzt tun?“, fragte Selina. Diesmal wirkte sie ehrlich interessiert. Nicht herablassend.
    „Abhauen“, sagte ich entschlossen und meinte es auch so „Meine Schwester retten.“
    „Da bin ich dabei“, grinste sie und ging an mir vorbei zur Tür. „Komm, der Wachmann schläft noch. Ich kann ihn schnarchen hören.“

    @Miri @Phi Danke für eure netten Worte! :D Also zu dem Polizist kann ich natürlich nichts sagen, aber ich freue mich, dass die Geschichte euch verwirrt (auf eine gute Weise).
    Was den Namen Arkadius angeht, den finde ich selber doof, Miri, daher erwähne ich ihn auch selten. Ich habe mir damit nur einen kleinen Spaß erlaubt. Arkadius bedeutet nämlich "Der Suchende" ;D

    Ja, dass noch kein neuer Teil gekommen ist tut mir leid. Ich muss echt aufhören, Kapitel anzukündigen :D Freut mich natürlich, dass die Geschichte zum Grübeln anregt und ich bin mir sicher, dass an deinen Theorien was wahres dran ist ;D

    LG,
    Unor

    Danke für den Kommentar! :D Wenn es dir doch noch gelingen sollte, in Worte zu fassen, was dir "fehlt", dann lass es mich bitte wissen und ich werde mein bestes tun, es auszubessern! :thumbsup:

    LG, Unor

    Habe aus Versehen den Teil zu früh losgeschickt und jetzt so bearbeitet, dass nur noch dieser Text hier steht (weil man die Beiträge ja nicht löschen kann). Ich werde im Verlauf der nächsten Tage hier das richtige Kapitel einfügen.

    So, hat man das jetzt verstanden? Ach, egal! :D

    LG, Unor

    Kapitel 12: GESTÄNDNIS


    Beinahe wäre alles aus mir herausgeplatzt. Der Keller, die Spritzen, Julia. Die Aussicht, endlich jemandem von diesem Albtraum zu berichten, ließ mich für einen Moment vergessen, dass diesem Kerl hier vor mir nicht zu trauen war. Er trug eine Uniform, schön und gut, die konnte man sich bei jedem Kostümverleih besorgen.

    "Darf ich Ihre Marke sehen?"
    'Herr Heydrich' wirkte etwas verwundert, was meinen Verdacht erhärtete, aber er griff in seine Tasche und holte einen Ausweis und eine Dienstmarke hervor. Ich sah mir beides genau an, obwohl ich gar nicht wusste, woran man die Echtheit solcher Dokumente erkannte. Es sah alles sehr offiziell aus, konnte aber auch gut gefälscht sein.
    "Was meinen Sie mit 'misshandelt'?", fragte ich schließlich, um Zeit zu gewinnen.
    "Ob man dich geschlagen hat?", antwortete der Mann. Er klang ehrlich besorgt und langsam verschwanden meine Zweifel. Ich meine, welchen Vorteil hätten die denn, wenn ich dem Kerl alles erzählte, was passiert war? Sie wussten es ja schon. Wollten sie herausfinden, wie viel ich wusste?

    "Nein, geschlagen hat man mich nicht."
    "Darf ich aufzeichnen, was du mir erzählst?", fragte der Polizist und holte einen Rekorder hervor. Ich nickte.
    "Also, nochmal fürs Protokoll: Man hat dich nicht geschlagen?"
    "Zumindest, kann ich mich nicht erinnern."
    "Wie meinst du das?" Er lehnte sich interessiert nach vorne, die Hände unterm Kinn verschränkt.
    "Ich ... ich habe Probleme mit dem Gedächtnis", erklärte ich. Der Mann nickte, als wüsste er dies bereits oder als wäre es selbstverständlich.
    "Man hat mich festgeschnallt und mir irgendwas gespritzt", kam es plötzlich aus mir heraus. Heydrich lehnte sich seufzend zurück und schien über etwas nachzudenken.
    "Aber man hat dich nicht geschlagen?"
    "Sie haben mich festgehalten!", wiederholte ich eindrücklich. "Und mir Drogen gegeben."
    "Wie festgehalten? Haben sie dich dabei verletzt?"
    "Sie haben mich festgehalten!", keifte ich. "Reicht das etwa nicht? Sie haben meine Schwester entführt!"
    Nun horchte der Alte auf. Damit hatte er wohl nicht gerechnet.
    "Wie meinst du das?", hakte er nach.
    Nun musste ich mich endgültig entscheiden. Diesem Mann trauen und meine vielleicht beste Chance ergreifen, Julia zu finden oder ... oder was?
    "Sie haben sie entführt. Ich bin nicht sicher warum, aber ich habe eine Theorie. Sehen sie, das klingt vielleicht verrückt aber ... ich hatte da einen Traum. Ich war in einem Keller eingeschlossen und da habe ich gesehen wie ..."
    Es klopfte.

    Der Polizist wand sich zur Tür.
    "Jetzt nicht", sagte er und drehte sich wieder zu mir.
    "Es ist äußerst wichtig!", klang es von draußen. Sofort erkannte ich Doktor Rexroths Stimme.
    "Lassen Sie den nicht rein!", platzte es aus mir heraus. Ich packte den Arm des Mannes, der mich erschrocken anschaute.
    "Er hat meine Schwester entführt, er ist es. Nehmen Sie ihn fest!" Meine Stimme klang heiser und überschlug sich. Die Tatsache, dass dieser Mann mir so viel Angst machte, erzürnte mich.
    Die Tür ging auf.
    Der Doktor stand mit einem Bündel aus Papieren und braunen Umschlägen im Rahmen. Instinktiv wich ich zurück. Als der Polizist meine Panik sah, stand er auf.
    "Ich habe Ihnen gesagt, es geht nicht!", sagte er verärgert.
    "Sie verstehen nicht ...", setzte Rexroth an.

    "Festnehmen", brüllte ich.

    "Raus hier", ergänzte der Polizist.

    "Ich bitte Sie, nur fünf Minuten ihrer Zeit!"
    Ich griff nach dem Wecker, der neben mir auf dem Nachttisch stand und warf ihn mit voller Wucht in Richtung Tür. Doktor Rexroth konnte sich leider in letzter Sekunde wegducken.
    "Arkadius!", mahnte Heydrich und stellte sich zwischen mich und die Tür. Rexroth ließ nicht locker.
    "Werfen Sie nur einen kurzen Blick auf die Dokumente", bettelte er.
    "RAUS HIER!", erwiderte ich.

    "GENUG JETZT!" Die Stimme des Polizisten war lauter und durchdringender, als man es von einem Mann seines Alters erwatet hätte. Sowohl Rexroth als auch Ich selbst schwiegen überrascht. Heydrich kam näher zu mir.
    "Ich regle das, Arkadius", meinte er beinahe flüsternd.
    "Nein, gehen Sie nicht", schluchzte ich. Der Gedanke, meine einzige Hoffnung auf Hilfe zu verlieren, ließ mich in Tränen ausbrechen. "Er wird Sie anlügen, ich weiß es. Er wird Sie anlügen, wie er es bei meinen Eltern getan hat. Er ..."
    "Pst", sagte der Polizist. "Ich verspreche dir, dass ich wiederkomme."
    Ich konnte nichts mehr tun, als den Kopf zu schütteln.
    Heydrich verließ den Raum mit Rexroth.
    Er kam nicht mehr wieder.


    Vielen Dank für die netten Worte, @Kitsune :)
    Das mit dem weißen Kittel war ein Fehler (in der ersten Version des Kapitels war der Polizist ein Arzt und ich habe wohl diese Passage beim überarbeiten übersehen).

    LG,
    Unor :)

    Kapitel 11: WIEDERSEHEN

    Zwei Männer hievten mich aus dem Fahrzeug (ein Krankenwagen, wie meine Vermutung sich bestätigte). Einer von ihnen versuchte, den Gurt, mit dem man mich auf der Trage fixiert hatte, enger zu schnallen aber ich wehrte mich. Erinnerungen an den finsteren Keller kamen zum Vorschein und als dann auch noch Dr. Rexroth direkt über mir erschien, begann ich zu strampeln und zu rufen. Keine Worte. Ich konnte nicht sprechen.

    "Bleib ruhig, Junge", sagte der Kerl, der noch immer an meinem Gurt hantierte, während der andere die Trage zügig vor sich her rollte. Ich hatte genug. Schon einmal hatte man mir glauben gemacht, ich sei im Krankenhaus. Wie konnte ich sicher sein, dass sie es nicht wieder tun würden? Nein, ich musste fliehen. Zum ersten mal seit gefühlt einem Monat war ich an der frischen Luft. Es war dunkel, ich konnte schnell laufen. Nur der Gurt hielt mich auf. Ich strampelte heftiger, den furchtbaren Schmerz ignorierend, der bei jeder Bewegung in meinem Schädel aufflammte. Es war vergebens. Nach wenigen Sekunden wurde ich in einen blenden weißen Raum gerollt. Als das grelle Licht der Neonröhren an der Decke mich blendete und einer der Männer neben mir eine Spritze zückte, schienen all meine Schmerzen verflogen. Ein letztes Mal versuchte ich meine Arme zu befreien, die von einem Gurt und einem Paar starker Hände festgehalten wurden. Ich schrie, wie ich noch nie zuvor geschrieen hatte.

    "Nein! Ich will nicht! Nicht schon wieder!"
    Die Muskeln in meinen Armen begannen zu brennen und gerade als ich dachte, ich müsste aufgeben, hörte ich ein leichtes schnappendes Geräusch und mit einem Mal war mein rechter Arm frei. Sofort holte ich aus, blindlings, und schien jemanden im Gesicht zu treffen. Weitere Hände griffen nach mir, dennoch gelang es mir, mich auf den Bauch zu drehen. Nun konnte ich sehen, was sich hinter mir befand. Obwohl ich eigentlich kaum etwas erkennen konnte. Kaum mehr als einen verschwommenen Tunnel, wie wenn man betrunken ist. Aber am Ende dieses Tunnels konnte ich eine Sache ganz deutlich ausmachen. Zwei große gläserne Schiebetüren. Das war mein Ziel.
    Mit einem kräftigen Ruck bewegte ich meinen Körper nach rechts und ehe einer der Männer reagieren konnte, kippte die Trage zur Seite und ich klatschte auf kalte Fliesen. Plötzlich war der Schmerz wieder da. So heftig, dass ich, als ich versuchte aufzustehen, das Gleichgewicht verlor und zur Seite kippte.

    Mit einem Mal fand ich mich wieder in dem großen Wald vor, den ich im Traum gesehen hatte. Alle Schmerzen waren verflogen und es wehte ein sanfter Sommerwind. Ich saß auf der Wurzel des gewaltigen Baumes, neben dem Julia und ich letzen Sommer unser "Geheimversteck" errichtet hatten. Es war nichts besonderes, nur zwei alte Paletten, die wir an den Stamm gelehnt hatten. Den Innenraum hatte Julia mit Blumen und einigen Möbeln, die ich aus Holzresten zusammengezimmert hatte, dekoriert.
    Julia.

    Ich erhob mich von der Wurzel und zog die Decke beiseite, die den Eingang des Verstecks bildete. Als Licht in die dunkle Nische fiel, drehte Julia sich erschrocken zu mir um. Sie saß in der hinteren linken Ecke, die Arme um die Beine geschlungen. Als sie mich sah, lachte sie und zeigte die Lücke, wo einst ihr Milchzahn gewesen war.
    "Du hast mich gefunden!", sagte sie halb enttäuscht und halb glücklich. Das kleine Mädchen sprang auf und rannte mir in die Arme. Ich hielt sie fest, drückte sie an mich, auch als sie mich lachend bat, loszulassen. Schließlich ließ ich doch von ihr ab und als sie sah, dass ich weinte, verschwand ihr Lächeln und sie fragte besorgt, was denn los sei.

    "Gar nichts", schluchzte ich, und rieb mir die Augen. "Es ist schön dich zu sehen." Einen kurzen Moment stand sie da und betrachtete mich nachdenklich, als hätte ich etwas ganz seltsames gesagt. "Gehen wir nachhause", schlug ich vor und schob sie sanft nach draußen. Dort musste ich feststellen, dass es bereits dunkel geworden war. Julia stand auf der Lichtung und zitterte. "Wir sollten uns beeilen", sagte ich und als sie das hörte, lachte sie wieder und begann zu laufen. "Ich werd' erster!", jauchzte sie, als sie im finsteren Wald verschwand. Sofort stürmte ich ihr hinterher, doch ich konnte meine Schwester nicht mehr sehen.

    "Julia!", schrie ich, ohne langsamer zu werden. Niedrig hängende Äste peitschten mir ins Gesicht, während ich voranpreschte. Keine Antwort.

    "Arkadius." Schienen die Bäume zu flüstern. Ich beachtete sie nicht.

    Plötzlich verfing mein Fuß sich in irgendetwas und ich schlug so hart auf den Boden auf, dass es mir die Luft aus den Lungen trieb. In dem Versuch mich wieder aufzurichten, ertaste ich etwas metallenes am Boden. Es war sehr dunkel, daher konnte ich nicht sehen, was es war. Ich ging auf die Knie und erfühlte den Gegenstand mit beiden Händen. Er war länglich, kalt und glatt. Gerade als ich weitergehen wollte, durchfuhr eine Art Strom meinen Körper. Ein Kribbeln. Ich bemerkte, dass die Vibration von dem Gegenstand auszugehen schien.

    "Arkadius!", rief jemand. Ich drehte den Kopf nach rechts und sah Julia. Oder zumindest ihre Silhouette, die sich schwarz von einem immer greller werdenden weißen Licht abhob. Noch bevor ich etwas zu ihr sagen konnte, wurde ich wach.

    Neben meinem Bett saß ein älterer Mann. Er trug eine Polizeiuniform und eine Brille mit durchsichtigem Gestell. Als er sah, wie meine Augen sich öffneten, beugte er sich näher zu mir. Ich wich jedoch zurück. Für einen Moment glaubte ich, das fremde Zimmer wiederzuerkennen, in dem ich am Morgen aufgewacht war. Sehr schnell bemerkte ich jedoch, dass dieser Raum, obwohl mir ebenfalls völlig fremd, wesentlich großzügiger eingerichtet war.
    "Du brauchst keine Angst zu haben", sagte der Uniformierte. "Ich bin von der Polizei."
    Und woher weiß ich, dass das stimmt, dachte ich, sagte aber nichts. Dennoch musste der Mann mein Misstrauen bemerkt haben. Er lehnte sich etwas zurück und meinte: "Ich sage dir die Wahrheit. Du bist im Krankenhaus, schon die ganze Nacht. Ich will dir helfen. Aber damit ich dir helfen kann, musst du mir vertrauen. Kannst du das machen?"
    Ich nickte, da ich wissen wollte, was er zu sagen hatte.
    "Gut", fuhr er fort. "Mein Name ist Hermann Heydrich und ich würde dir gerne ein paar Fragen stellen. Ist das in Ordnung oder sollen wir warten, bis du dich besser fühlst?"
    Mein Kopf, und vor allem meine rechte Schläfe, schmerzte noch immer, doch als ich nach der Wunde tastete, erfühlte ich einen Verband, der eng um meinen Kopf gewickelt war.

    "Was wollen Sie wissen?", fragte ich. Der Polizist beugte sich wieder ein Stück zu mir, hielt jedoch inne, als er bemerkte, wie ich nervös ins Kissen zurücksank.
    "Arkadius", begann er. "Hat man dich irgendwie misshandelt?"

    Danke @Kyelia :D
    Ich glaube, was mir in den letzen Monaten am meisten gefehlt hat, waren die Reviews. Die waren immer mein Motivations-Boost. Aber einmal zulange nix geschrieben und schon hat man diesen Bonus verloren (ist ja auch logisch. kein neuer teil = keine neuen Reviews). Ich hoffe wirklich, dass ich jetzt wieder in die Pötten komme. :D
    Danke nochmal!

    So, lange lange ist es her und ich kann nur sagen ES TUT MIR LEID! Glaubt mir, keiner ist frustrierter als ich, dass es so lange gedauert hat, ich habe es wirklich versucht, aber da stand einfach immer nur Müll auf dem Papier. Nach einiger Auszeit habe ich nun diesen leider sehr kurzen Text zustande gebracht und hoffe, dass damit die Muße zu mir zurückgekehrt ist. Ich wünsche euch erstmal viel Spaß beim lesen. In den nächsten Tagen folgt (hoffentlich) ein weiteres Kapitel (das wird dann auch länger, versprochen :D).
    So, lange Rede wenig Sinn
    Unor Ende :)
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    Kapitel 10: HIN UND HER



    "Rexroth ..."
    Der Name echote irgendwo in der Ferne, als würde mir jemand aus einer tiefen Schlucht zurufen. Weitere Worte folgten, doch sie verschwammen zu einem unverständlichen Rauschen. Als ich versuchte, genauer hinzuhören, blitze ein kurzer Schmerz durch meinen Schädel. Es schien als weigere sich mein Gehirn, zu denken. Alle Sinne waren auf ein Minimum heruntergefahren. Ich konnte nicht sehen; konnte nichtmal sagen, ob meine Augen geöffnet oder geschlossen waren. Auch fühlen konnte ich kaum etwas. Das einzige, was ich wahrnahm, war das sanfte Schaukeln meines Körpers, wie ein Boot auf hoher See. Einen kurzen Moment rauschten Bilder von dem Segelausflug vorbei, den ich mit meiner Familie unternommen hatte, kurz bevor Julia geboren wurde.

    Der Gedanke an meine Schwester ließ mein Hirn erneut vor Schmerz auflammen. Diesmal, als hätte jemand einen Stöpsel gezogen, konnte ich wieder hören. Ich spürte förmlich, wie mein Bewusstsein wieder in meine Glieder kroch. Ich konnte die Luft fühlen, die in meine Lunge strömte. Zunächst langsam und schwach, dann immer stärker. Der erste Versuch mich aufzurichten endete in unbeholfenem Zucken und gequältem Stöhnen.
    "Was dieser Mann denkt ..." Diesmal erkannte ich, dass es sich um eine Frauenstimme handelte. "Unorthodox nennt er es, ich nenne das grausam. Ein Kind so zu quälen."

    Eine weitere Schmerzwelle schwappte über meinen Körper. Beim Versuch, die Augen zu öffnen, wurde es noch schlimmer und ich merkte, wie mein Geist mir wieder zu entgleiten drohte. Widerwillig ließ ich den Kopf zurücksinken, auf ein weiches Kissen, wie ich erst jetzt feststellte.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis ich einen erneuten Versuch wagte. Meine Augenlider waren schwer wie Blei, doch es gelang mir sie zu heben. Zu meiner Enttäuschung musste ich feststellen, dass mein Blick getrübt war. Rechts von mir blinkten einige Lichter und zu meiner Linken ragte eine dunkle Silhouette auf. Es musste sich um die Frau handeln. Als sie zu merken schien, das ich den Kopf zu ihr drehte, hörte sie sofort auf zu sprechen und brachte ihr Gesicht näher an meines.

    "Arkadius?" Sie klang erleichtert. Nach kurzem Zögern fragte sie: "Hast du gehört, was ich gesagt habe?" Ich wollte antworten, doch anstelle eines Neins kamen nur einige Speichelbläschen aus meinem Mund, gefolgt von einem leisen Gurgeln.
    "Du hast es doch nicht gehört, oder? Vergiss es einfach."
    Vergiss alles ...
    "Ich hätte nichts sagen dürfen. Arakadius, du darfst es nicht verraten. Es ist ... ein Geheimnis."

    Ich habe ein Geheimnis.

    Julias Stimme hallte in meinem Kopf wieder. Ich würde sie finden. Ich musste es. Aber erst musste ich herausfinden, wo sie war. Und wo war ich eigentlich? Mein Gedankenzug entgleiste, als das sanfte Schaukeln meines Körpers plötzlich aufhörte. Erst in diesem Moment, als ich eine Art bremsende Kraft in mir spürte, realisierte ich, dass wir die ganze Zeit gefahren waren.
    "Wir sind da", sagte die Frau.
    Diesmal konnte ich sprechen.
    "W-Wo?"
    "Im Krankenhaus natürlich"
    Ein grelles Licht flutete den Raum und von draußen drangen Stimmen herein. Darunter eine, die ich gut kannte. "Haben Sie irgendwas zu dem Jungen gesagt, Frau Jokerst?", fragte Doktor Rexroth.

    So, kurzer Zwischenstand aus dem Schreibkeller: ich will mich bedanken, für all die lieben Kommentare (vor allem zu den letzten paar Teilen) und ich will mich entschuldigen, für die längeren Wartezeiten zwischen den Kapiteln (es hilft vermutlich kaum, wenn ich sage, dass ich kaum Fortschritte mache). Langsam aber sicher nähern wir uns dem Ende der Geschichte (wir sind jetzt knapp über der Hälfte), das heißt, die Sache wird immer heißer. Da mir sehr wichtig ist, dass am Ende alles Sinn macht, werde ich wohl (noch) mehr überarbeiten, als bisher.
    Da ich mir vorgenommen habe, nie wieder anzukündigen, wann das nächste Kapitel kommt, kann ich nur sagen:
    Danke für eure Geduld und das liebe Feedback, ohne das ich vermutlich nicht soweit gekommen wäre.

    PS: Je länger ihr warten müsst, desto mehr steigt die Spannung (Na toll, jetzt setzt ich mich auch noch unter Druck XD)

    LG, Unor

    Kapitel 9: ZURÜCK IM KELLER



    Mit den Handflächen gegen die pochenden Schläfen gepresst, saß ich auf dem Bett. Selinas Worte hallten in meinem Kopf wider und verursachten schlimme Kopfschmerzen, je mehr ich über sie nachdachte, doch schließlich gelang es mir, einen klaren Gedanken zu fassen.

    Ich war nicht in diesem … diesem „Krankenhaus“, weil ich krank war. An meinem Körper zeigten sich keinerlei Spuren einer Verletzung, außer vielleicht die Narben an meinen …
    Aber die konnten ja nichts mit Gedächtnisschwund zu tun haben!

    Nein, ich war hier weil ich … weil ich …
    Meine Schwester gesucht hatte?
    Wieso sollte man mich dafür einsperren, dass ich …
    Sie wollen nicht, dass ich sie finde.

    Plötzlich bohrten sich glühende Dolche in meinen Schädel, zerkochten jeden klaren Gedanken. Meine Muskeln spannten sich wie die Tragseile einer Hängebrücke. Mit den Armen um den Bauch geschlungen, krümmte ich mich nach vorne. Mein Mageninhalt bahnte sich langsam den Weg durch meine Speiseröhre hin zum Mund. Im letzten Moment riss ich den Kopf zurück, kniff die Augen zusammen und schluckte. Die ätzende Flüssigkeit brannte in meinem Rachen und wieder stachen die Dolche zu. Als ich die Augen auftat, hing die Welt schief und ich bemerkte, dass ich zur Seite fiel. Die Schwerkraft ließ sich Zeit, es geschah ganz langsam und doch zu schnell, um zu reagieren. Den Aufschlag spürte ich nicht.

    Als ich wieder zu mir kam, blinzelte ich im fahlen Licht flackernder Neonröhren. Straffe Riemen hielten meine Gliedmaßen in ihrem ledernen Griff. Ein Fluchtreflex ließ mich hochfahren, doch der Gurt, der quer über meine nackte Brust gespannt war, verhinderte dies. Ich hob den Kopf so, dass mein Kinn die Brust berührte und meine Nackenmuskeln sich anspannten. Vor dem Bett, an dem ich fixiert war, stand Dr. Rexroth. Das bleiche Licht warf geisterhafte Schatten auf sein Gesicht. Hinter ihm schien der Raum sich in endloser Dunkelheit zu verlieren.

    Mein Nacken hielt der Belastung nicht mehr stand und mein Kopf sackte zurück ins Kissen. Gerade wollte ich ihn wieder anheben, da erschien der Doktor über mir. Er lächelte.
    „Wo ist meine Schwester?“, fragte ich.
    „Sie ist tot. Leider“, antwortete er mit gekünsteltem Mitleid in der Stimme. Ich glaubte ihm kein Wort.
    „Was habt ihr mit ihr gemacht?“, fauchte ich und zuckte in meinen Gurten.
    „Komm“, flüsterte die Alte im weißen Kittel. „Wir machen ein Fenster auf.“ Die Riemen protestierten, als ich erschrocken zurückzuckte.

    „Was zum …“ Mein Blick ging in die andere Richtung. Dort stand mein Vater, er sagte: „Hör auf, nach ihr zu suchen. Das macht es für dich nur schlimmer!“
    Neben ihm stand meine Mutter. Sie weinte und starrte mich an.
    „Warum weinst du?“, fragte ich besorgt.
    „Du bist so krank“, schluchzte sie und drückte sich dabei ein Taschentuch auf den Mund.
    „Nein!“ Meine Stimme klang heiser. „Nein, bin ich nicht!“
    Dr. Rexroth trat hinter meiner Mutter aus der Dunkelheit und flüsterte ihr ins Ohr.
    „Sehr krank“, hauchte er. Dann: „Ich fürchte, wir …“
    „… müssen dich noch eine Weile bei uns behalten“, sagte die Alte und machte ein Fenster auf. Die Luft, die hereinströmte, war eisig. Draußen blühten Nelken in der Nacht.

    Ich wollte meine Mutter warnen, nicht auf Rexroth zu hören, doch sie war verschwunden. An ihrer Stelle stand nun Julia. Immer noch im grünen Kleid, aber im Neonlicht sah sie nicht mehr niedlich aus. Sie sah krank aus. Todkrank.
    „Wo bleibst du?“, fragte sie. Ich wollte zu ihr. Wollte sie in die Arme schließen, doch die Lederriemen gaben mich nicht frei. Wo sie meine Gelenke umschlossen, begann die Haut zu brennen.

    „Ich werde dich holen!“, rief ich, da löste sich ein Schemen aus der Finsternis, die den Raum erfüllte. Die mächtige Gestalt von Dr. Wolf kam zum Vorschein. Behutsam legte er Julia von hinten die Fleischerhände auf die zarten Schultern. Er sah mich an, wie ich ruckend und zuckend versuchte, mich zu befreien. Genüsslich leckte er sich über die Lippen.
    „Lass die Finger von ihr“, brüllte ich mit Tränen in den Augen. Jeder einzelne meiner Muskeln war steinhart und ich zerrte und rüttelte so heftig, dass die Trage umzufallen drohte. Als sie gerade bedenklich nach rechts kippte, packten sie zwei kräftige Hände. Über mir erschien Jonathan, der Riese. Hinter ihm, der bärtige Rexroth, eine Spritze in der Hand.
    „Pst“, flüsterte er, während er mit dem Zeigefinger gegen die Spritze klopfte, wie es Ärzte in Kinofilmen tun.
    „Damit muss Schluss sein“, raunzte Wolf. Dr. Rexroth sah auf und protestierte: „Aber das Experiment!“
    Dann legte er zwei seiner eiskalten Finger auf meinen Oberarm und als er mir die Spritze in Fleisch trieb, flüsterte er: „Vergiss alles.“

    Um mich herum verschluckte die Dunkelheit die Welt, bis ich allein in einer schwarzen, luftleeren Schwerelosigkeit vor mich hin trieb. Dann, wie ein Taucher, der die Wasseroberfläche durchbricht, kehrte ich mit einem tiefen Atemzug in die Welt der Schwerkraft zurück.
    Auf allen vieren kauerte ich am Boden. Mein Blick ruhte auf einem roten Fleck, etwa so groß wie ein Tennisball, der sich vom grünen Linoleum abhob. In meinem Mund schmeckte ich Blut und meine Zunge brannte, wo ich darauf gebissen hatte. Ich spuckte aus und zu dem Fleck am Boden gesellte sich ein kleiner roter Klecks.

    Dumpfer Schmerz pochte in meiner rechten Schläfe und als ich mit Zeige- und Mittelfinger danach tastete, fühlte es sich an, als wären es glühende Eisenstangen. Meine Hand zuckte zurück.
    Eine Weile kauerte ich am Boden, dann, als der Schmerz nach einigen ruhigen Atemzügen etwas milder wurde, spuckte ich nochmals aus und griff die Kante des Bettes neben mir, um mich daran hochzustemmen.

    Sofort sah ich mich um. Als ich keine Riemen, Doktoren und Schaumstoffwände sah, fühlte ich keine Erleichterung, sondern Verwirrung. Ich hatte fest damit gerechnet zu Dr. Rexroths Füßen zu erwachen, in einem dunklen fremden Raum.
    War es ein Traum gewesen?

    Kleine warme Rinnsale liefen meine rechte Wange hinab und als ich sie mit dem Daumenballen wegwischte, blieben rote Striemen darauf zurück.
    „Blut!“, hörte ich eine Frau kreischen. Als ich herumschnellte, flammte der Schmerz in meiner Schläfe auf und kroch in meinen Schädel hinein. Mein Blick verschwamm und noch bevor ich die Frau sehen konnte, wurde ich wieder ohnmächtig.

    So, da ich zwei Wochen weg war (und die liebe @melli so freundlich darum gebeten hat ;D) schiebe ich gleich nochmal ein Kapitel hinterher. Für morgen hab ich auch schon eins fertig und das nächste ist in der Mache. Viel Spaß beim Lesen! :)
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    Kapitel 8: BLITZMERKER



    Ich fuhr so schnell zurück, dass mein Rücken und mein Hinterkopf gegen die Wand prallten. Mein Herz raste wie verrückt und ich starrte das Mädchen mit aufgerissenen Augen an.
    „Nicht schreien“, zischte sie mit dem Zeigefinger auf den Lippen.
    „Wie bist du…?“
    „Es war offen. Hab mich im Schrank versteckt.“ Sie lächelte und zeigte dabei ihren kaputten Zahn. Mein Blick fiel auf ihre Hände. Dicke Rinnsale dunkelroten Blutes krochen langsam von ihren Handgelenken über die Finger und verwandelten sich in dicke Tropfen, die träge aufs Linoleum fielen.
    „Ich hole Hilfe“, sagte ich und ging zur Tür.
    „Nein!“, fauchte sie.
    „Aber du bist verletzt!“
    Sie kicherte. „Ein Blitzmerker, wie er im Buche steht.“

    Mit Daumen und Zeigefinger zupfte sie einen Splitter aus ihrem linken Daumenballen und schnipste ihn in meine Richtung. Ich erinnerte mich wieder an das Geräusch von zerbrechendem Glas, das ich auf dem Gang gehört hatte.

    „Was hast du gemacht?“
    „Das ein oder andere Fenster zerschlagen; den Feueralarm ausgelöst; Frau Eggs gesagt, sie soll sich ficken…“ Sie zählte die Dinge auf, als wären es Artikel auf einer Einkaufsliste.
    Es überraschte mich nicht, dass sie es gewesen war. Selina war die Art Mensch, die es liebte Chaos zu stiften und anderen eins auszuwischen.

    „Ich sollte es den Ärzten sagen“, meinte ich und hatte Recht damit. Sie konnte ja nicht ewig in meinem Zimmer bleiben. Man würde sie finden und dann sollte es nicht so aussehen, als hätte ich sie versteckt.
    „Wenn du es jemandem sagst, lande ich wieder im Keller.“
    Vor meinem inneren Auge erschien ein dunkler Raum mit Schaumstoffwänden.

    „Sie sperren dich in den Keller, wenn du Ärger machst?“ Das konnte ich nicht glauben. Nun, ich hatte es zunächst gedacht, als „Jonas“ mich runter gebracht hatte, war aber später zu dem Schluss gekommen, dass er sich einfach in der Nummer geirrt haben musste.
    „Sowas darf man im Krankenhaus doch nicht.“

    Selina lachte mich aus, als hätte ich in vollem Ernst behauptet, zwei plus zwei sei fünf. Es war dieses überhebliche Lachen, das mich am Morgen so wütend gemacht hatte.
    „Junge“, kicherte sie, „wir sind hier nicht in einem normalen Krankenhaus.“

    Ich hätte überrascht dreingeblickt, aber in diesem Moment wurde mir klar, dass ich das schon die ganze Zeit gewusst hatte.
    „Du wolltest abhauen. Der Feueralarm war…“
    „Eine Ablenkung. Immer noch der gute alte Blitzmerker.“ Sie grinste.
    „Warum?“
    „Sie wollten mich in den Keller schaffen, aber ich geh da nicht wieder rein. Die können sich ins Knie ficken.“
    Der Keller. Ich dachte an Betten mit Lederriemen.

    „Was machen die im Keller?“, fragte ich und fürchtete mich vor der Antwort. Mir kamen Szenen aus diversen Horrorfilmen in den Sinn.
    Selina grinste. „Du weißt es wirklich nicht mehr, oder?“
    „Nein, woher soll ich es denn…“ Plötzlich fielen mir die Worte des Praktikanten ein.

    Home sweet home.
    „Ich bin schon einmal dort gewesen.“ Es war nur ein Gedanke, aber ich musste ihn unbewusst ausgesprochen haben, denn Selina lachte und klatschte in die Hände.
    „Zehn Punkte für den Blitzmerker!“
    „Ich habe alles vergessen…“, sagte ich fassungslos. Meine Gedärme schnürten sich zusammen und mir kamen die Tränen.
    „Was machen die im Keller. Warum binden sie uns an?“
    „Mich haben sie angebunden, weil ich ihnen Ärger mache.“
    „Und mich?“
    Nun grinste sie breiter denn je. „Wegen deiner Schwester.“

    „Was ist mit ihr?“ Mein Herz klopfte heftig in meiner Brust und ich begann zu schwitzen.
    „Du hast sie gesucht. Du hast Fragen gestellt, immer wieder. Deswegen haben sie dich in den Keller gebracht.“
    Ich packte ihre Schultern mit schweißnassen Händen und zog sie näher an mich.
    „Ich habe sie gesucht?“
    „Ja. Überall.“
    „Warum?“ Meine Stimme wurde so zittrig, dass ich kaum sprechen konnte. Selina sah mir selbstgefällig in die Augen.
    „Sie ist weg.“
    „Wo ist sie?“
    „An einem Ort, von dem es kein Entrinnen gibt.“ In ihren Augen glitzerte es verschwörerisch.
    Mir stockte der Atem. Sie konnte nur einen Ort meinen.
    „Im Keller“, murmelte ich.

    Selina brach in Gelächter aus. Es war ein grausames, hämisches Lachen. Ich packte ihre Schultern noch fester.
    „Hör auf zu lachen! Wie komme ich zu ihr?“
    Das Lachen wurde lauter. Sie krümmte sich in meinem Griff und schnappte keuchend nach Luft.

    „HÖR AUF!“

    Ein schwacher Lufthauch im Nacken verriet mir, dass hinter mir die Tür geöffnet wurde.
    „Selina“, brummte eine Stimme und im nächsten Moment wurde ich von einer fleischigen Pranke an der Schulter gepackt und zur Seite gerissen.
    „Finger weg!“, brüllte Dr. Wolf. Mit erhobenen Händen trat ich zurück und sagte: „Ich habe nichts gemacht! Ich habe gar nichts gemacht!“
    Wolf warf einen Blick auf Selinas aufgeschlitzte Unterarme, drehte sich um und sagte: „Du musst zum Arzt. Dr. Rexroth, erledigen Sie das bitte!“
    Erst jetzt fiel mir Rexroth auf, der in der Tür stand und geschockt ins Zimmer starrte. Er nickte kurz und führte die stark protestierende Selina aus dem Raum, sodass ich mit Wolf allein war.

    „Hast du sie verletzt?“, blaffte er. Auf seinem Kahlkopf trat eine Ader so stark hervor, dass ich dachte, sie könne jeden Moment platzen.
    „Nein“, erwiderte ich bestimmt, wohl wissend, dass er mir nicht glauben würde. „Sie hat sich im Schrank versteckt und sich mit Scherben geritzt, da hab ich sie gepackt und geschrien, sie soll aufhören.“

    Wolfs Bulldogen-Gesicht offenbarte Misstrauen, dicht gefolgt von Unsicherheit. Meine Geschichte ergab zu viel Sinn, um sie einfach als Lüge abzutun.

    Schließlich nickte er und ich unterdrückte den Impuls, erleichtert aufzuatmen. Das hätte ihn nur ins Grübeln gebracht.
    „Na schön“, grunzte er mürrisch und ging zur Tür. Bevor er hinaustrat, drehte er sich noch einmal um und sagte: „Dünnes Eis, Arkadius. Hauchdünn.“

    Ich wollte nach meiner Schwester fragen, doch irgendwie tat ich es doch nicht. Womöglich hatte Selina mir Scheiße erzählt und Julia saß zuhause und wartete auf mich. Oder, was sie gesagt hatte, war die Wahrheit – welchen Grund hätte sie denn, mich zu belügen? In diesem Fall wäre es schlauer, meine Schwester nicht mehr zu erwähnen. Ich hatte den Keller gesehen und wenig Lust, dort zu landen. Oder… wieder zu landen?
    In meinem Kopf begann es wieder zu pochen.

    Kapitel 7: AUF DIE TOILETTE


    Mit einem Mal verspürte ich das dringende Bedürfnis, die Toilette aufzusuchen. Vermutlich war es die Aufregung (oder besser gesagt Angst), die ich bei dem Gedanken an einen riesigen Tumor, der sich an mein Hirn klammerte, empfand. Mein plötzlicher Harndrang ließ mich realisieren, dass es in meinem Zimmer kein Bad gab. Eine Weile schritt ich nachdenklich auf und ab, wie ein Panther im Käfig, dann kam mir ein Gedanke. Es musste hier irgendwo einen Knopf geben, mit dem man die Schwestern alarmieren konnte. Ich war zwar noch nie in einem Krankenhaus gewesen, kannte das aber aus Fernsehserien und Filmen.

    Nachdem ich mich kurz umgesehen hatte, entdeckte ich, dass sich zwischen meinem Bett und dem am Fenster eine kleine Tastatur befand. Auf einem ihrer Knöpfe war ein Klo abgebildet. Ich drückte mit dem Daumen darauf und nach nur drei Minuten kam eine alte Frau ins Zimmer. Sie sah mich durch die Gläser ihrer rosaroten Hornbrille misstrauisch an. Ihr Mund war eine dünne, farblose Linie.
    „Ich müsste mal auf die Toilette“, sagte ich. Die Alte kniff die Augen zusammen und winkte mich zur Tür hinaus. Als ich auf dem Gang stand, sagte sie: „Komm.“

    Die Frau eskortierte mich zu einer Tür, auf der „WC“ stand. Diese sperrte sie auf und ließ mich mit den Worten „Beeil dich!“ ein. In der Kabine gab es ein Klo, ein Waschbecken, einen sensorgesteuerten Seifenspender und einen Drucklufthandreiniger.
    Ich klappte die Brille hoch und atmete erleichtert auf, als der Druck, der auf meiner Blase gelastet hatte, langsam nachließ. Als ich den Raum wieder verließ, wartete dort bereits die alte Hornbrille, im Begriff mich zurückzubringen. Ist das hier ein Krankenhaus oder ein verdammtes Gefängnis?

    Auf dem Weg zu meinem Zimmer, tastete ich meinen Hinterkopf nach Auswölbungen ab (wie ich es schon dutzende Male getan hatte), wurde aber von Selina unterbrochen, die plötzlich um die Ecke geschlichen kam. Dort, wo durch meinen Schlag ihre Unterlippe aufgeplatzt war, befand sich nun dunkelroter Schorf, der mit einer eitergelben Salbe bestrichen war. Ich wollte ihr aus dem Weg gehen, doch als sie die Alte und mich bemerkte, packte sie meine Schulter, riss mich zu sich und flüsterte: „Warte mal, was gleich passiert.“
    „Hey“, fauchte die Alte und zog mich an der anderen Schulter zurück, bevor ich etwas erwidern konnte. „Lass ihn in Ruhe, Selina. Geh zur Gruppe zurück!“
    Selina verbeugte sich tief und sagte feierlich: „Jawohl, Euer allerdurchlauchtigste Gnaden!“ Dann hob sie ihren Rock wie eine Tänzerin beim Can Can und hüpfte den Gang hinab. „Ich gehe zur Gruppe zurück, weil ich ein braves Mädchen bin!“, sang sie dabei.
    Die Alte murmelte etwas, dann erhellten sich ihre Züge in Erleichterung. „Herr Doktor!“, rief sie.
    „Kann ich Ihnen Ihren Schützling für einen Moment anvertrauen?“
    Dr. Rexroth, der um die Ecke gebogen war, hielt verdutzt inne und noch bevor er antworten konnte, schob die Frau mich in seine Richtung und nahm dann die Verfolgung von Selina auf.

    „Hallo“, sagte er und ich merkte, wie unwohl ihm dabei war, mit mir zu sprechen. Trotzdem sagte ich entschlossen: „Es ist ein Hirntumor.“
    „Was?“ Sein Gesichtsausdruck spiegelte entweder gespielte oder ehrliche Verwirrung wieder - ich konnte es nicht unterscheiden.
    „Ein Hirntumor. Ist das die Lösung?“, hakte ich nach.
    „Lösung? Wovon?“
    „Sie haben mich gefragt, warum ich hier bin. Habe ich einen …“
    „Nein. Nein, natürlich nicht. Wie du gesagt hast, du bist gestürzt. Einfach nur gestürzt.“ Für einen Moment blitzte ein anderer Ausdruck über sein Gesicht. So kurz und seltsam, dass ich nicht sagen konnte, was er bedeutete.
    „Schlimm gestürzt?“, fragte ich.
    „Nein, du …“
    „Warum bin ich dann hier?“ Nun erhob ich die Stimme. Diesmal sollte er wissen, dass es mir ernst war. Ich war die Ungewissheit leid. Ich wollte Antworten, keine komischen Hypnosespielchen.
    „Dein Gedächtnis. Wir müssen …“
    „Sagen Sie mir doch einfach, was passiert ist!“
    „Arkadius, beruhige dich. Gehen wir etwas spazieren.“ Er streckte seine Rechte nach meiner Schulter aus, doch ich schlug sie entschlossen weg. Keine Ausflüchte diesmal.
    „Geht es meiner Schwester gut? Kann ich sie sehen ... oder anrufen?“
    „Arkadius!“
    „Ist es wahr, dass meine Eltern mich nicht mehr besuchen wollen?“
    Nun wurde der Doktor sichtlich zornig. Er fragte: „Hat Selina das gesagt?“
    „Und wenn schon?“
    „Ich weiß nicht, was du von mir willst. Gehen wir ein Stück. Ich bin mir sicher, dass es deinen Eltern gut geht.“

    Nun schnellten meine Hände nach vorne und packten den Kragen von Rexroths Cordjacke.
    „Das war aber nicht meine Frage! Weiß denn niemand in diesem dreimal verfickten Krankenhaus wie man eine einfache FRAGE BEANTWORTET?!“ Kleine Spucktropfen landeten auf der Brille des Doktors, so nah war ich seinem Gesicht. Andere auf dem Gang blieben stehen, doch Rexroth wies sie mit einer Handbewegung an, nicht einzuschreiten. Bevor sich doch jemand berufen fühlte, ließ ich von ihm ab.

    „Hör mir zu“, flüsterte er schwer atmend, während er seine Jacke zurechtrückte. „Wir können das bei einem Spaziergang klären oder ich muss Jonathan hinzuziehen und das will ich nicht. Glaub mir, das will ich wirklich nicht.“
    Er sagte es ganz ruhig, fast bedauernd, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er mir drohte. Eine wütende Hitze strömte von meiner Brust aus in meine Glieder und mein Gesicht. Für einen kurzen Moment starrten der Arzt und ich uns an. In seinem Blick konnte ich sehen, dass er nicht wusste, was ich tun würde. Ich wusste es auch nicht, fürchtete jedoch, wieder einen Wutanfall zu erleiden. Das durfte ich mir nicht leisten.

    Ein plötzliches schrilles Klingeln unterbrach den Anstarrwettbewerb und ließ uns vor Schreck zusammenzucken. In einem Zimmer in der Nähe begann ein Kind laut zu schreien und aus einem anderen kam eine Frau mit schockiertem Blick und sah sich auf dem Gang um.
    „Feuer“, sagte Dr. Rexroth und es klang fast wie eine Frage. Ich fuhr herum, konnte aber nirgendwo Flammen oder Rauch entdecken. Stattdessen hörte ich ein lautes Klirren, wie das Brechen von Glas. Die Alte, die mit mir zum Klo gegangen war, kam von den Fahrstühlen mit wedelnden Armen auf mich zugerannt. Sie rief etwas, aber ich verstand es nicht. Das Klingeln war zu laut. Meinem ersten Impuls (panischer Flucht) widerstand ich - ich wusste ja noch nicht einmal, wo der Ausgang war - und blieb stattdessen wie festgenagelt stehen.

    Dr. Rexroth schob sich an mir vorbei und rannte der Alten entgegen. Mittlerweile waren alle Zimmer offen und Kinder wie auch Erwachsene stürmten den Flur. Aus dem Treppenhaus kam Dr. Wolf mit rotem Schädel, gefolgt von einer Schar Angestellter, die in alle Richtungen ausschwärmten.
    Er trat zu Rexroth und der Frau, die beide sofort begannen, auf ihn einzureden. Er legte eine Hand ans Ohr, um zu symbolisieren, dass er nicht verstand was sie sagten. Sie traten näher und wiederholten sich.
    Die Augen des Arztes weiteten sich und er schnaubte. Dann formte er die Hände zu einem Trichter und brüllte so laut, dass man es sogar über das ohrenbetäubende Klingeln verstehen konnte.
    „FALSCHER ALARM! FALSCHER ALARM!“

    Erleichtert atmete ich auf. Dr. Wolf wandte sich an die Alte und sagte etwas, wobei er wild gestikulierte. Dr. Rexroth kam zu mir zurück.
    „In dein Zimmer!“, sagte er laut, damit ich ihn über das Klingeln verstehen konnte. Ich hätte widersprochen, doch bei dem Krach lohnte es sich nicht, eine Diskussion zu starten, daher ging ich, mit dem Arzt im Rücken, zügig zurück.

    Kaum hatte er hinter mir die Tür abgeschlossen, verstummte der falsche Feueralarm und man konnte die anderen Geräusche wieder hören, die vom Gang in mein Zimmer schallten. Schwestern, die erklärten, dass der Alarm falsch war; Kinder, die vor Angst schrien und heulten und Dr. Rexroth, der irgendjemanden fragte: „Wo ist Selina?“

    Sie stand hinter mir.

    So, ich fahre zwei Wochen in Urlaub. Hab kein Netz, aber ich werde fleißig schreiben. Wenn alles läuft, könnte die Geschichte fertig hochgeladen werden, wenn ich zurückkomme.