Beiträge von bigbadwolf im Thema „Ein bunter Haufen“

    Es hatte Adahna nicht viel Zeit gekostet, den kleinen Raum tastend zu erforschen. Die Wände waren aus Stein, fugenlos, fensterlos und ohne eine erkennbare Möglichkeit, überhaupt hier hinein zu kommen. Das Mädchen wusste nicht viel über Magie, aber die Beschaffenheit ihres Gefängnisses erklärte zumindest die vollständige Dunkelheit.
    Ein sanfter Luftzug in ihrem Nacken beendete ihr Alleinsein. Das Mädchen wich vorsichtig in die entgegengesetzte Richtung zurück und schob sich an den kalten Stein.
    „Ich habe dir jemanden mitgebracht“, sagte die Frauenstimme, welche Adahna bereits verhört hatte. „Antworte nach bestem Wissen und wir können diese… diese Umstände vielleicht aufheben.“
    Das Mädchen nickte zuerst nur und ergänzte anschließend ein „Ja“.
    „In… in den östlichen Wäldern von Alios… wohnt ein Panther“, begann eine andere Frauenstimme zögerlich zu sprechen. Adahnas Gedanken wirbelten, ihr Herz geriet in Aufruhr, sie wollte auf die Frau zulaufen, aber sie durfte es nicht. Diese Stimme, so sehr sie sich auch verändert hatte, würde alles aufklären.
    „Sein Fell ist weiß“, fuhr die Frau mit bemüht ruhiger Stimme fort. „Nur wenig schwarz ziert seinen Körper und…“
    Adahnas Augen füllten sich mit Tränen der Freude, als sie nicht mehr länger warten konnte. Sie kannte diese Geschichte einfach zu gut.
    „Ni… Nivo“, unterbrach sie schniefend die Erzählung und hörte, wie jemand nach Luft schnappte. „Nivo hat eine… eine Zeichnung auf dem Rücken, die wie… wie eine kräftige Haarsträhne aussieht.“
    „Lasst sie mich sehen!“, rief die Frau außer sich. „Ich muss sie sehen! Sofort!“
    Einen Augenblick später wurde Adahna zuerst von einer stechenden, bläulichen Flamme geblendet und gleich darauf fand sie sich in einer heftigen Umarmung wieder. Isadora, ihre ehemalige Kinderfrau, liebkoste das Mädchen so sehr, dass einige blaue Flecke zurückbleiben mochten. Durch einen Tränenschleier sah sie die in Ungläubigkeit versteinerte Miene der Magierin, in deren Hand kleine Flämmchen freudig emporzüngelten. Die Innigkeit der Umarmung rief eine Erinnerung an die Freundlichkeit ihrer neuen Gefährten wach.
    „Bitte lasst meine Freunde frei. Wir wollen nur mit euch reden, mehr nicht“, brachte Adahna mühsam hervor, während Isadora sie weiterhin fieberhaft besah, an sich drückte und ungestüm abküsste.
    Die Magierin verharrte unbeweglich und schien die Gedanken einer ganzen Ära zu denken, ehe ihre Mundwinkel kaum wahrnehmbar nach oben wanderten. „Gut, Kind. Ich werde ein Ratstreffen einberufen und die Freilassung veranlassen“, versprach die Magierin und spreizte ruckartig die Finger. Im Licht der kleinen Flamme verlor der Raum plötzlich an Gestalt. Die Wände waberten und vergingen in schmaler werdenden Streifen der magisch errichteten, parallelen Realität. Zurück blieb eine recht schmutzige, aber immerhin sonnenbeschienene Gefängniszelle. „Willkommen zu Hause, Adahna“, verabschiedete sich die Magierin und mit einem echten Lächeln, ehe sie den Raum auf völlig unmagische Weise durch die Tür verließ.

    „Wie ist dein Name, Kind?“, fragte eine angenehme, weibliche Stimme.
    Das Letzte, woran Adahna sich erinnern konnte, war, dass sie mit Tränen in den Augen in der ehemaligen Küche gestanden hatte… und, dass Edgar eine Frau am Fenster gesehen hatte. Die Dunkelheit, welche sie jetzt umfing, mochte von einem Zauber herrühren, denn sie fühlte keine Augenbinde. Aber vielleicht war der Raum selbst auch einfach nur stockfinster.
    „Nun, junge Dame?“
    „Tut mir bitte nicht weh! Das wäre auch in Eurem Interesse“, warnte Adahna mit ehrlicher Sorge.
    „Wir sind uns der dunklen Präsenz in deinem Geist bewusst. Deshalb wurdest du auch als Einzige nicht gefesselt, aber du kannst diesen Raum dennoch nicht ohne mein Zutun verlassen. Für alle anderen wurden die nötigen… Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Ich hatte deinen Namen nicht mitbekommen…“
    „Adahna.“
    „Ist das alles?“, fragte die Stimme nach.
    Es bedurfte einiger Konzentration, sich an ihren Familiennamen zu erinnern. „Delron. Adahna Delron.“
    „Das ist eine Lüge“, entgegnete die Frau kühl. „Adahna Delron ist vor einem Jahr gestorben, der Sturm hat jeden zerschmettert. Wir haben keinerlei Überreste in den Trümmern bergen können, so sehr hat die magische Entladung gewütet."
    Vor Adahnas Augen vermischten sich plötzlich schreckliche Erinnerungen mit Bildern ihrer zermalmten Eltern und sie begann zu schluchzen. Sie versuchte sich einzureden, dass sie keine Schuld traf, aber ihre Gefühle überwältigten sie. Weinend fiel sie auf die Knie.
    „Hör auf mit diesem Schauspiel, Kind!“, befahl die Frau bemüht ruhig, aber Adahna konnte sich nicht beruhigen. „Was willst du von Alios‘ Magiern?“
    „Ich will meine Eltern zurück!“, wimmerte Adahna völlig aufgelöst.
    Endlich regten sich Zweifel im Herzen der Magierin. „Das kann nicht… das ist nicht möglich“, sprach sie mehr zu sich selbst. „Ich bin bald zurück, Kind“, sagte sie schließlich nachdenklich und Adahna hörte eine leise Beschwörungsformel. Dann herrschte Stille.

    Die Taverne machte von innen einen wesentlich besseren Eindruck als noch von außen. Die Gäste wirkten überwiegend gutsituiert, Tische, Stühle und Schankraumdekoration luden die Gruppe zum Verweilen ein. Nach den Strapazen der Wüste und der generell angespannten Situation war dieses Lokal eine willkommene Abwechslung. Insofern hatten es weder Lordas, Adahna noch Ereck besonders eilig, die entspannende Stunde bei Wasser, Bier, Wein und freiem Gespräch durch das Vorantreiben ihrer eigentlichen Pläne zu stören. Schließlich war es jedoch der Wirt selbst, welcher die zusammenhaltstärkende Situation auflöste.
    „Darf ich den Fremden noch etwas bringen?“, trat er an ihren runden Holztisch heran. Die lockeren Gespräche endeten abrupt und Lordas, sein jugendliches, verantwortungsfreies Äußeres Lügen strafend, ergriff das Wort. „Danke, wir sind versorgt, doch wir hätten einige Fragen, die Ihr uns vielleicht zu beantworten vermögt.“ Der Wirt wandte sich Lordas zu und wartete aufmerksam. „Uns kam zu Gehör, dass es hier vor etwa einem Jahr eine… eine schreckliche Tragödie in den Reihen des örtlichen Magierrates gab.“ Der Wirt zog eine Augenbraue hoch und hob abwehrend die Hände. „Seid bitte still!“ Sein Blick huschte suchend durch den Schankraum und ruhte schließlich, eine Spur beruhigter, wieder auf Lordas. „Ihr seid eindeutig Fremde, sonst würdet ihr nicht so offen von diesem… Ereignis sprechen.“ Erneut sah er sich unsicher um. „Angeblich haben die Magier alles vertuscht und jeden verhört, der etwas gesehen hat. Die Magierfamilie soll gänzlich umgekommen sein, die Kinderfrau hat den Verstand verloren haben...“ Adahnas Augen weiteten sich, doch sie schaffte es sich zurückzuhalten. „Fragt, aber fasst euch bitte kurz!“, verlangte der Wirt plötzlich. Lordas schien die Situation rechtzeitig erkannt zu haben und hatte seine Gedanken bereits sortiert. „Wo können wir Kontakt zum Magierrat aufnehmen?“ Der Wirt wirkte, als hätte Lordas ihn nach einem Monat Freibier gefragt. „Gar nicht. Niemand weiß, wo sie ihren Sitz haben und sie geben sich nur den Eingeweihten zu erkennen.“ Lordas‘ Blick wanderte zu Adahna, die traurig in ihren Wasserkrug blickte. „Nun gut, könnt ihr uns zumindest sagen, wie wir zum Ort dieses Ereignisses gelangen? Wir haben zu viele Stunden vergeblich mit der Suche zugebracht“, erklärte er. Der Wirt überlegte einen Moment und rief dann nach dem Küchenjungen. „Enzo, bring diese Fremden zum Sturmhaus! Aber lass dich nicht sehen!“
    Sich ihrer unerwarteten Chance bewusst, leerte die Gruppe rasch ihre Krüge und war binnen Augenblicken abreisebereit. Dankbar drückte Lordas dem Wirt einige Münzen zu viel in die Hand und eilte dem Küchenjungen hinterher, welcher sich einen staubgrauen Mantel mit Kapuze übergeworfen hatte und die Gruppe bereits an der Tür erwartete.

    Adahna legte Lohras Mantel ab und fragte sich unter den aufmerksamen Blicken der Gruppe erneut, ob sie ihre Idee tatsächlich laut aussprechen sollte. Im Grunde genommen war es für sie gleich, an welchen Ort sie ging. Doch die offensichtlich aussichtslose Lage ihrer neuen Gefährten rührte an ihre Hilfsbereitschaft und ließ das Trauma ihrer Vergangenheit unwichtiger erscheinen als sie es sich zunächst eingestehen wollte.
    „Vielleicht könnt ihr in meiner Heimat Hilfe finden“, setzte Adahna vorsichtig an.
    „Woher –“, setzte der Mann, welcher sie vor dem Wesen in ihr beschützen wollte, an, wurde aber von dem jungen Mann namens Lordas unterbrochen.
    „Wo liegt deine Heimat, junge Dame?“, fragte er freundlich. Der andere Mann wollte erneut etwas sagen, schwieg dann aber doch.
    „Da“, antwortete Adahna und deutete in die Richtung, welche sie zuletzt eingeschlagen hatten. „Aus dieser Richtung bin ich mit einer Karawane nach Zesara gekommen. Am Ende der Wüste sind es nur noch wenige Tagesmärsche bis Alios.“ Das Mädchen wartete einen Moment, aber nichts deutete darauf hin, dass die Stadt jemandem bekannt war. „Dort habe ich bis vor etwa einem Jahr mit meinen… mit meinen Eltern gelebt.“ Adahna schloss kurz die Augen und atmete tief die trockene Wüstenluft ein. Mit einem Mal trat Lohra an sie heran, stellte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schulter. Adahna ließ es gern zu, spürte sie doch die eigentümliche Kraft dieser mitfühlenden Berührung. „Ich bedauere deinen Verlust, Mädchen“, ergriff Lordas das Wort, „doch welche Hilfe ist es dann, die du in deiner Heimat für uns alle zu finden hoffst?“
    „Ihr habt mich… gesehen… und dieses Monstrum in meinem Körper. Als es damals in mich gefahren ist, ist ein furchtbarer Sturm losgebrochen und hat unser Haus verwüstet und… meine Eltern haben etwas mit ihren Händen gemacht, was ich noch nie gesehen hatte, aber es half nichts. Sie wurden einfach fortgerissen und der Sturm hörte nicht auf, bis… Ich… Ich habe meine Eltern getötet“, erklärte Adahna weiter und spürte Tränen auf ihren Wangen. Die bedrückende Stille währte lange, Lohra drückte sie noch fester an sich und die Umstehenden sahen sprachlos zu Boden. Das Mädchen war sehr dankbar für die Anteilnahme der anderen, was sie nun zusätzlich in ihrem Wunsch bestärkte, ihnen zu helfen.
    „Sie waren wohl Magier oder so etwas. Ich habe sie nur selten gesehen und sie haben mir nie etwas Genaues über ihre Pflichten gesagt, aber…“ Sie überlegte, wie sie es am besten erklären konnte. „Dieses Leben, zu dem mich dieses Wesen in mir gezwungen hat, ist so anders als die Zeit in Alios. Ich glaube, meine Eltern waren sehr wichtige Leute und hatten großen Einfluss in der Stadt.“
    Adahna bemerkte, wie Lordas verstehend nickte.
    „Das Erbrecht, natürlich. Du bist die Tochter einflussreicher Magier, vielleicht sogar Mitgliedern eines… eines Magierrates oder dergleichen, ja?“
    Das Mädchen nickte langsam.
    „Versteh mich nicht falsch, Kleine“, erklang unvermittelt Erecks Stimme, „aber warum sollten sich diese Magier aus Alios bereit erklären, uns zu unterstützen? Mag ja sein, dass du durch die Erbfolge so eine Art Ratsmitglied geworden bist, aber das dürfte wohl kaum Grund genug sein, völlig Fremden in einem Krieg beizustehen, der deine Heimat nicht im Mindesten betrifft.“
    In der erneuten, nachdenklichen Stille sah Adahna hoch zu Lohra.
    „Wir können ja zumindest fragen, oder?“, überlegte das Mädchen laut.
    Die Frau mit dem violetten Haar lächelte zu ihr hinunter.

    Obwohl sich Adahna während all der üblen Kämpfe stets hinter der gutmütigen Lohra und ihren Gefährten versteckt hatte, schien der seltsame Mann sie sofort zu bemerken. Das Mädchen fühlte sich regelrecht durchdrungen vom Blick des Fremden, welcher noch immer dem jungen Matt gegenüber stand. Anscheinend schätzten ihn die anderen nicht als Gefahr ein, denn schließlich verließen sie gemeinsam das brennende Juwel der Wüste durch das staubumwirbelte Loch in der Stadtmauer. Das Kampfgeschick der Truppe hatte sie ja bereits erfahren dürfen, doch mit welcher Leichtigkeit die Gruppe einen Flankenangriff der Wüstenräuber abwehrte, war schlichtweg unglaublich. Die von beiden Seiten auf sie einstürmenden Angreifer fielen, wie von Kojoten gerissen, ein unbewaffneter Mann fuchtelte wild mit den Armen, als versuchte er verzweifelt Magie heraufzubeschwören. Doch es gelang ihm nicht und selbst im Trubel des Gefechts bemerkte Adahna, dass ihr neuer Verbündeter dafür verantwortlich war. Welche ungewöhnliche Verbindung zu den Strängen der Magie mochte er haben? Solche Fähigkeiten konnten nicht die eines bloßen Menschen sein. War er ebenfalls von einer magischen Wesenheit durchdrungen? „Duck dich!“, rief Ereck plötzlich. Sofot ließ sich Adahna zu Boden fallen. Sein geschleuderter Hammer schlug dumpf in den Magen eines Säbelfechters ein. Binnen eines Augenblicks war Lohra an ihrer Seite und gab dem Mann, dem letzten noch stehenden Angreifer, den Rest. „Weiter! Los!“, trieb Ereck die Gruppe an. In der Ferne war eine Düne, die es zu erreichen galt, um außer Sicht zu gelangen. Doch Adahna wusste, dass diese Düne nur eine von Hunderten war, die noch vor ihnen lagen. Ein letzter Blick zurück verriet ihr, dass die Karawane, mit welcher sie nach Zesara gelangt war, aus dieser Richtung gekommen war. Eine Hand ergriff das Mädchen und zog es mit sanfter Gewalt weiter, die Hand des Fremden. Als ihre Blicke sich trafen, sprach er nur wenige Worte, aber Adahna begann fast augenblicklich zu weinen. „Er wird dich nicht mehr beherrschen.“

    Noch bevor der dicke Mann mit seinem Hammer vortrat, hatte Adahna den bevorstehenden Kampf gewittert. Dennoch konnte sie sich nicht dazu durchringen, wie gewohnt wegzulaufen. Ich hätte sie warnen müssen!, dachte sie betroffen. Sie konnte ihren Blick nicht von der freundlichen Frau abwenden, welche sie in solch große Gefahr gebracht hatte. Unfähig zu handeln hoffte sie, dass Lohras Freunde stark genug waren. Der Hammerschwinger schien sich gut gegen den ekelerregenden Mann zu schlagen, dem während des Kampfes immer wieder die Hose leicht herunterrutschte. Trotz seiner Ablenkung konnte „Hosenlos“ die gezielten Schläge einigermaßen parieren. Zu ihrer Rechten sah es mittlerweile deutlich anders aus. Der junge Mann, sie glaubte sich zu erinnern, dass er Matt hieß, sah sich nun zwei Kämpfern gegenüber, nachdem er den einen plötzlich entwaffnet hatte. Das leichte, rötliche Glühen der in der Wand feststeckenden Klinge war ihr nicht entgangen und insofern wunderte sich das Mädchen, warum der vermeintliche Magier nicht einfach kurzen Prozess mit seinen eher unbeholfenen Gegnern machte. Während Lohra und der Mann, welcher bei Weitem der Netteste der bösen Männer war, den ungelenken Kampf verfolgten, staunte Adahna nicht schlecht über den dritten Mann, den mit dem Buch am Bein. Jener hatte soeben irgendwie aus einem abgebrochenen Stuhlbein und den Stücken zerbrochener steinerner Bierkrüge einen langen Holzspeer mit Steinspitze erschaffen und forderte nun die Aufmerksamkeit von „Ohrpuler“ ein.
    Plötzlich wurde Adahnas Kopf gewaltsam zurückgerissen. Kalter Stahl ritzte die zarte Haut an ihrem Hals. „Nein! Bitte nicht!“, flehte sie panisch. „Bitte…“
    „Waffen runter, sonst wird die Kurze noch kürzer!“, schrie eine Männerstimme hinter ihr über das Klirren der Waffen hinweg.
    „Nein! Bitte!“, wimmerte Adahna. Schon konnte sie fühlen, wie ihr die Kontrolle entglitt. Ihre Hände erbebten.


    Lohra sah die Angst in den Augen des kleinen Mädchens. Nein, sie hat nicht nur Angst. Ihre Panik ist ja schier unermesslich. Was ist mit ihr? Bislang wirkte sie so abgebrüht.
    Ohne ihre Gegenüber aus den Augen zu lassen, ließen Ars, Ereck und Matt von ihren Gegnern ab, die Waffen jedoch weiterhin abwehrbereit erhoben. „Karch! Lass das Mädchen los und kämpfe wie ein Mann, du ehrloses Dreckschwein!“, forderte der Umhang wutentbrannt. Die Klinge an Lohras Hals bewegte sich trotz des Ausbruchs nicht im Mindesten.
    „Schnauze, Halbgesicht! Ich sagte, WAFFEN RUNTER!“, schrie der Entführer, dem von ihrem Treffer mit dem Steinkrug das Blut aus der Stirn troff, nun noch lauter. Langsam ließen ihre Gefährten ihre Waffen sinken.
    „Aufhören, bitte!“, schrie das Mädchen nun geradezu hysterisch. Nun war es an Lohra, Angst zu bekommen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
    Wie zur Antwort riss die Kleine die Augen auf und ihr Blick wurde glasig, während ihre eben noch in weißes Tuch gehüllten Hände plötzlich immens anschwollen und das weiße Tuch zerrissen. Lohra stockte der Atem, als sich die kleinen Hände vor ihren Augen in purpurrote, verhornte Klauen verwandelten, ihre Finger teuflischen Sicheln ähnlich.
    Zu spät bemerkte der Geiselnehmer die erschütterten Gesichter. Mit einem einzigen, heftigen Ruck trennten die dämonischen Klauen dem Mann die Dolchhand ab und noch ehe die Waffe klirrend aufschlug, noch ehe der Verstümmelte aufschreien konnte, riss ihm das Mädchen die Kehle heraus.
    Nun lösten sich die wenigen Tavernengäste aus ihrer Schockstarre und ergriffen in Ermangelung eines alternativen Ausgangs panisch schreiend die Flucht in Richtung der viel zu kleinen Tavernenküche. Die Söldner, sogar der Umhang, warfen sofort ihre Waffen von sich und wichen zwischen den flüchtenden Gästen hindurch an den Tresen zurück, wo sie mit erhobenen Händen stehenblieben.
    Das klauenbewehrte Mädchen ließ von dem zuckenden, gurgelnden Kerl ab und schien auf weitere Angreifer zu warten. Ereck erhob als Erster seine Waffe und trat einen zögerlichen Schritt vor.
    „Lasst sie in Ruhe! Sie wird uns nicht angreifen. Sie hat nur Angst!“, rief Lohra über die panischen Schreie der Flüchtenden hinweg, die gewaltsam in die Küche drängten.
    Einen Augenblick geschah nichts und Lohra betete, dass Ereck auf sie hören würde. Matt und Ars ließen als Erste ihre Waffen fallen. „Ich wusste doch, dass etwas mit ihr nicht stimmt“, murmelte Ars. Während sie vorsichtig zurückwichen, ließ nun auch Ereck endlich seinen schweren Hammer sinken und trat einen Schritt zurück.
    Mit einem markerschütternden Schreien, das an Seele und Verstand aller Anwesenden riss, begann das Mädchen sich zurück zu verwandeln. Ihre Klauen schrumpften und die verhornten Stellen hinterließen offene, blutende Wunden auf ihren Handrücken, während von ihren immer noch verkrümmten Fingern fremdes und nun auch ihr eigenes Blut tropfte. Zuletzt verschwand der glasige Blick aus ihren aufgerissenen Augen. Mit einem gequälten Wimmern fiel sie auf die Knie und begann hemmungslos zu weinen.
    Lohra gewann zuerst ihre Fassung zurück und eilte besorgt zu der Kleinen, vorbei an Erecks ausgestrecktem Arm.
    „Und du meinst wirklich, wir werden uns in Zesara langweilen?“, fragte Matt trocken in Erecks Richtung.

    Beiläufig ließ sie die blutigen, verschmutzten Tücher in einen Lumpenhaufen fallen. Als dieser sich plötzlich hustend erhob, lief Adahna ebenso unauffällig weiter und ließ den alten Bettler in seinen dreckigen Fetzen hinter sich. Mit nun wieder weißen, unauffälligen Händen konnte sich das Mädchen endlich um ihren fast leeren Magen kümmern. Die paar Brocken Dattelbrot mochten sie noch einen Tag bei Kräften halten, aber die Zeit auf der Straße hatte sie gelehrt, dass Vorräte Überleben bedeuteten.
    Eine Reflektion erregte ihre Aufmerksamkeit und ohne, dass einer der Umstehenden auch nur ihre Anwesenheit bemerkte, beugte sich Adahna an der betreffenden Stelle vornüber und nestelte scheinbar an ihren Fußlappen herum. Stattdessen wischten ihre Finger flink über den Gassendreck und erhaschten die kleine verkrustete Silbermünze.
    Der Weg zu den Verkaufsständen war wie immer nicht weit, da Zesara, wie nahezu alle Wüstenstädte, um den Stadtbrunnen samt Marktplatz herum entstanden war. Früher lediglich eine unbedeutende Oase für verirrte Karawanen war die Stadt heute ein etabliertes Etappenziel nahezu aller Reisender, welche es wagten, die Wüste herauszufordern.
    Es war schier unmöglich, diese violette Haarpracht zu übersehen, zumal die Hauptgeschäftszeit auf dem Marktplatz inzwischen vorbei war. Für Adahna waren die zwei Mädchen, welche sich tuschelnd den beiden Frauen am Skorpionstand näherten, sogar noch auffälliger. Sie fürchtete weniger um die Börse der beiden Fremden als um die Hände der beiden Diebinnen. Adahna beeilte sich, die Kinder abzufangen und rempelte eines der Mädchen mit einem leisen „Bis morgen.“ an. Keine Sekunde zu früh verstanden die beiden den unter Zesaras Dieben gebräuchlichen Hinweis und änderten die Richtung, denn schon wandte sich Lohra vollends um und ihre grüblerische Miene wich einem einladenden Lächeln. „Schön, dich wiederzusehen“, begrüßte sie das kleine Mädchen. „Ich sehe, du hast dir bereits selbst geholfen.“ Nun drehte sich auch die andere Frau zu Adahna um, die einen kurzen Moment der Überraschung nicht verbergen konnte und sogar vergaß, ihre Hände hinter ihrem Rücken zu verstecken. Das braune, rissige Kleid und die baren Füße waren ihr zwar seltsam vorgekommen, aber mit einer solch alten Frau hatte sie nicht gerechnet. „Oh, das ist Esme, eine Freundin!“, beeilte sich Lohra, dem Kind den Schrecken zu nehmen. Während Adahna unter dem forschenden Blick der Alten immer unbehaglicher wurde, schien Lohra nervös nach irgendeinem Gesprächsinhalt zu suchen. Allerdings ergriff Esme zuerst das Wort: „Diesmal stehen wir in deiner Schuld. Was können wir also für dich tun?“
    Schwer zu sagen, wer von den beiden verwirrter dreinschaute. Adahna begriff erst, als Esme mit dem Kopf in jene Richtung zuckte, in welcher die jungen Diebinnen verschwunden waren. Vielleicht…, dachte das Mädchen und ihre Augen wanderten zu den aufgespießten Skorpionen, welche appetitlich über einem Kesselfeuer schmorten. Lohras Auffassungsgabe schien zurückgekehrt zu sein, denn Sekunden später hatten einige Münzen und zwei Skorpione ihre Besitzer gewechselt.

    Als sie hinter sich eine Frauenstimme hörte, beschleunigte Adahna ihre Schritte, verschwand in einer Gasse und bog in eine weitere, parallel zum Marktplatz verlaufende, Gasse ab. Dort verbarg sie sich in einem schattigen Hauseingang und lauschte. Nichts.
    Nach einigen Augenblicken ging sie vorsichtig weiter und nahm eine andere Gasse, die sie wieder zurück zum Markt führte. Zurück, in die Nähe des Tuchhändlers. Der Stand des Mannes befand sich genau dort, wo die Gasse auf den Markt führte. Im Gehen erfühlte sie die kleine Armbrust unter ihrem linken Handgelenk und fischte in ihrem Beutelchen nach dem präparierten Bolzen. Die Seiten der etwa zehn Fuß breiten Gasse säumten einige Fässer. Manche waren verschlossen, während andere geöffnet waren und offensichtlich zum Auffangen des seltenen Regens dienten. Die wenigen Menschen um sie herum achteten nur auf den sich vor ihnen ausbreitenden Markt, das Treiben an den Ständen und die Menschen am Brunnen. Vielleicht hätte sie sogar unbemerkt den einen oder anderen Beutel abschneiden können, aber ihre blutigen Bandagen mochten doch zu auffällig sein. Stattdessen zwängte sie sich flink zwischen die zwei letzten Fässer, die nur noch einen Sprung vom Stand des Tuchhändlers entfernt waren.
    Rasch überprüfte sie den Bolzen und zielte testweise mit der winzigen Armbrust auf eine Stützstange des Standes. Über ihre bandagierte Handfläche hinweg sah sie die feilschenden Kunden und auch der dunkelhäutige Mann war in ein Verkaufsgespräch vertieft. Ein kleines, hellgraues Stück Tuch hing von einem gleichfarbigen Stapel herunter. Adahna legte den Bolzen ein, vergewisserte sich, dass niemand in die Schussbahn geriet und zielte. Mit einem leisen Klick sauste der Bolzen los und zog die an ihm befestigte Schnur aus verknoteten Stoffstreifen mit sich. Der Schuss traf und Adahna straffte schnell die dünne Schnur. „Mist!“, fluchte sie, als sie erkannte, dass der Bolzen sich durch das Tuch hindurch ein Stück weit in den Stapel gebohrt hatte. Gerade als sie schon schnell weglaufen wollte, erschien eine Frau am Stand des Tuchhändlers. Eine Frau, wie sie Adahna noch nie gesehen hatte. Vollkommen in schwarz gekleidet bildete ihr violettes Haar einen heftigen Kontrast, ihre elfischen Ohren und der weiße Knauf, welcher aus ihrem Gürtel herausragte, ließen sie wie ein Leuchtfeuer unter den anderen Marktbesuchern hervorstechen. Ihr gleichmäßiger Gang samt Körperhaltung deutete auf eine Gebildete hin. Während sie die Aufmerksamkeit des Händlers band, bewegte sie sich zielstrebig zur Seite des Standes. Mit einer ausschweifenden Bewegung deutete die Frau in Richtung des großen Stadtbrunnens. Während alle Umstehenden ihrer Geste folgten, löste sie blitzschnell den Bolzen aus dem Tuchstapel und hielt dem Verkäufer das kleine hellgraue Tuch unter die Nase. Schnell warf Adahna die Schnur von sich. Sollte sie weglaufen? „Was geschieht hier?“, dachte sie. Mit einem eifrigen Nicken verkaufte dieser die Ware an die ungewöhnliche Kundin, welche sofort mit langsamen Schritten auf die kleine Gasse zuhielt. Hinter den beiden Fässern wurde Adahna noch kleiner und unscheinbarer.
    „Du kannst jetzt rauskommen, Kleine. Ich tu dir nichts“, erklang eine warme Frauenstimme hinter ihr. Langsam hob Adahna den Kopf und sah die seltsame Frau an. Ein Lächeln zierte ihr bemerkenswert hübsches Gesicht. Braune Haut und Augen wie von Bernstein. Einen Moment später fiel ihr auf, dass ihr Mund offen stand und sie schloss ihn rasch. „Ich bin Lohra und das hier“ – sie wedelte sacht mit dem kleinen Stück Stoff – „würde ich dir gern geben.“ Vorsichtig schlüpfte Adahna aus dem Zwischenraum und nahm zögerlich das Tuch an und musterte die schwarze Bekleidung der Frau. „Darf ich mir das mal ansehen? Ich tu dir auch nicht weh, versprochen.“ Die wohltuende Stimme zog sie kurzzeitig in ihren Bann, doch als Lohra nach ihren Händen griff, wich sie schnell zurück und überlegte, wie sie dieser Situation entfliehen konnte. „Wie heißt du?“ Adahna sah die Frau nun direkt an und zwang sich zur Ruhe. „Ich danke Ihnen für das Tuch“, sagte sie und rannte los, mitten hinein in das Gedrängel des Marktplatzes. „Hey, warte!“, rief Lohra ihr hinterher, aber Adahna hielt nicht inne.
    Es tut mir leid.

    Noch immer schniefend aß sie die nächste Feige. Die Blutflecken waren inzwischen getrocknet. Sie musste neue Tücher zum Bandagieren auftreiben. Bald. Sie hätte wissen müssen, dass die Kinderbande sie ausnutzen würde. Eine Fremde war sie hier in Zesara, nichts weiter. Sie hatte Durst, aber die Zisterne von Almos und den anderen Verrätern stand unter ständiger Bewachung.
    Eine weitere Feige. Die fruchtige Süße erinnerte Adahna an die herrlichen Kekse, die ihre Hauslehrerin Isadora früher für sie gebacken hatte. Sie schniefte erneut und wischte sich eine Träne aus dem Auge, als der Wüstenwind sie sanft umstrich und die Gedanken an ihre Kindheit mit sich nahm. Die drei übrigen Feigen und den kleinen Brotling mit Datteln steckte sie wieder in ihr Beutelchen, wobei ihr Blick von den blutigen Tüchern zu den drei kleinen Bolzen wanderte, deren Spitzen sie halb in Stoff eingewickelt hatte. Die Widerhaken waren deutlich unter den kleinen Tuchfetzen zu erkennen. Die Erinnerung an das letzte Mal stieg in ihr auf, an den scheinbar freundlichen jungen Mann mit den lächelnden Augen, an seine… Berührung, an den grün schimmernden Säbel, welchen er plötzlich gezogen hatte. Kurz darauf das Reißen, seine klaffende Wunde, sein überraschtes Schreien, die furchtgeweiteten Augen. Irgendwie hatte er es noch geschafft, vor ihr wegzurennen. Ob er noch lebt? An seinem Arm hatte sie dann die kleine, versteckte Armbrust und die Bolzen gefunden…
    Der nette Stoffhändler fiel ihr wieder ein und sie musste schlucken, aber die Entscheidung war naheliegend. Ihr Durst musste warten, zunächst galt es, ihre Unauffälligkeit wiederherzustellen.

    Adahna konnte nur hoffen, dass der schwer beladene Marktkarren sie lange genug verdeckt hatte. Flink rollte sich das kleine Mädchen unter dem schmutzigen roten Tuch hindurch, welches vom Verkaufstresen eines jungen, dunkelhäutigen Stoffhändlers bis auf das sandige Pflaster herunterhing. Mit ihren bandagierten Händen voran stieß sie heftig gegen eine Wand aus einfachen Holzkisten, unterdrückte ein Wimmern und hielt wartend den Atem an. Es ist alles gut. Ich bin nicht in Gefahr. Ich bin nicht in Gefahr, dachte das junge Mädchen. Glücklicherweise war es dicker, schwerer Stoff, welcher sich hinter ihr binnen Augenblicken wieder ruhig im gleichmäßigen Wüstenwind wog. Durch einen Spalt zwischen Tresen und Kisten konnte Adahna über sich den Hals des dunkelhäutigen Mannes sehen. Im nächsten Moment sah sie seine großen, grünen Augen.
    Hektische Schritte näherten sich dem Verkaufsstand. „Sie war doch gerade noch hier!“, rief ein Junge, vermutlich der starke Almos. Einen Augenblick geschah nichts, Adahna starrte noch immer in die Augen des Händlers, als dieser sich plötzlich abwendete. „Diebin! Meine Stoffe! Haltet sie!“, erscholl seine Stimme über ihr und er begann hektisch in seinem Stand auf und ab zu laufen. Gleichsam entfernten sich eilige Schritte vom Stand. Ganz vorsichtig begann sie einzuatmen, als sich mit einem Mal eine Kiste bewegte. „Schnell!“, flüsterte der Mann und sein Kopf erschien in der zwei Ellen breiten Öffnung. Vorsichtig kroch Adahna aus ihrem Versteck und klopfte sich etwas Schmutz aus ihren zerrissenen Tüchern. Dankbar umschloss sie mit beiden Händen seine Rechte. So war es Brauch in Zesara. Ihre Bandagen hatten sich rötlich verfärbt, es hatte wieder angefangen zu bluten. Ein kurzer Blick, dann lief sie davon. Mal wieder.