Beiträge von Dinteyra im Thema „Eine Welt ohne Namen - Das 3. Tor“

    Hi Kyelia

    danke für deinen Kommi 😊 und schön dass es dich noch gibt 😜

    Ich hatte längst vergessen, an welcher Stelle ich hier eigentlich war. Die Arbeit hat mich fest im Griff. Aber immerhin schaue ich fast täglich im Forum vorbei und lese hier das ein oder andere.

    Irgendwann schreibe ich auch wieder, ein paar Parts sind sogar noch auf dem Rechner.

    Ich hoffe von dir auch mal wieder zu lesen.

    Liebe Grüße

    Din

    Ich schaue dich aber ein schief an, wenn Maja ein zweites Mal durch Fürst Dreizehns Schloss spaziert, als wäre da gerade Tag der offenen Tür :schiefguck:

    Alles klar, ich notiere: Nicht durch die Burg, da ist geschlossene Gesellschaft. :thumbsup: Aber ein ganzer Haufen Glück im Sinne rechtzeitiger Hilfe ist noch angesagt. Ein ganzer Haufen Pech auch und da hast du natürlich recht, denn das hat Maja auch. Ich schau mal, wie weit ich mit dieser Gratwanderung noch komme.

    Maja hat wieder ziemlich viel Glück gehabt, dass ihre Furchtlosigkeit/Naivität ihr Respekt einbringt und sie mit dem richtigen Menschen zur richtigen Zeit gesprochen hat. Und auch Glück, dass sie etwas zum Tauschen hatte.

    Die Frage ist nur: ist es zu viel Glück?

    Wenn ich deine Antworten hier im Moment lese, bekomme ich die Befürchtung, dass ich die Grenzen des Vorstellbaren zu weit strapaziere 🤔

    Na, da ist Majas Ankunft in der Piratenstadt ja genauso katastrophal gelaufen, wie ich vermutet habe. Die ganze Sache war von ihr doch wieder sehr naiv.

    Ja, ein bisschen naiv ist es schon und vielleicht ist die Geschichte hier auch etwas unrealistisch. Aber gibt es wirklich eine mögliche, realistischere Handlung, mit der ich die Ziele erreiche, die ich gesetzt habe? Ich kann Maja ja schlecht in einer Pfütze verrecken lassen. Und es macht mir einfach herrlich Spaß, Maja und einen Haufen Piraten aufeinander prallen zu lassen.

    Danke für deinen Kommi.

    Am Hafen

    Die Begegnung mit dem Mädchen hatte Maja so sehr eingeschüchtert, dass sie sich den ganzen Tag nicht mehr in die Öffentlichkeit wagte. Sie wich jedem Menschen aus, der sich ihr auch nur von Ferne näherte. Die Nacht verbrachte sie auf einem Dach am Stadtrand, gut versteckt hinter einem Schornstein, wo sie mit den Fingern ihre Wunde zusammen presste und schließlich einen neuen provisorischen Verband darum wickelte.
    Sie sah zu, wie die Sonne langsam über den Silberwiesen und den Dächern von Kabaran aufging, dann kletterte sie schließlich vom Dach und machte sich auf den Weg zum Hafen. Sie war aufs Äußerste gespannt, jederzeit bereit mit der rechten Hand über ihre Schulter zum Griff ihres Schwertes zu greifen.
    Am Hafen herrschte bereits rege Betriebsamkeit. Männer schleppten Kisten und Fässer zu den Schiffen, flickten die Segel, schrubbten die Planken und riefen sich gegenseitig Dinge zu. Der Hafen sah gar nicht mal so anders aus als die Häfen, die Maja kannte. Schiffe, Bootsstege, dicke Pfosten zum Vertäuen der Schiffe, ein breiter Platz davor... Nur kam hier niemand auf die Idee, die Anlegestege oder Schiffe in irgendeiner Weise durchzunummerieren.
    Maja blieb eine Weile im Schatten der angrenzenden Häuser stehen und beobachte das Treiben. Sie überlegte, wie sie vorgehen sollte und entschied sich schließlich, einfach direkt auszusprechen, was sie wollte. Nicht gerade subtil, aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Ben-Thala-Mi hatte gesagt, die Piraten und Fürst Dreizehn waren nicht gut aufeinander zu sprechen. Vielleicht konnte sie sich das ja zunutze machen.
    Neben einem der kleineren Schiffe stand schon die ganze Zeit ein alter Mann mit grauem Haar, runzligem Gesicht und gewagt schief sitzender Matrosenmütze. Er überwachte offenbar das Beladen des Schiffes; es schien jedoch keine allzu anspruchsvolle Aufgabe zu sein. Ab und an warf er den Seemännern, die an ihm vorbeigingen, barsche Kommentare zu, doch die meiste Zeit verbrachte er damit, in die Ferne zu starren und langsam und gleichmäßig wie ein Kamel auf etwas herumzukauen. Maja hatte den Eindruck, dass er vielleicht Zeit hatte, ihr ihre Fragen zu beantworten. Sie streckte den Rücken und schlenderte so lässig wie möglich auf ihn zu.
    „Moin“, sagte sie, als sie vor ihm stand. Er antwortete nicht, was sie leicht irritierte, aber vielleicht war er ja von der schweigsamen Sorte und wartete darauf, dass sie sagte, was sie von ihm wollte. „Ich suche ein Schiff nach Süden.“ Maja glaubte zu sehen, dass sein Schnurrbart leicht zuckte, aber vielleicht war es nur der Wind gewesen. Seine Augen starrten weiterhin an ihrer rechten Schulter vorbei, als würde er sie gar nicht wahrnehmen. Innerlich seufzend zog sie ihr letztes Register: „Ich bin auf der Suche nach einem Schiff, das nach Andraya fährt“, sagte sie laut, nur für den Fall, dass er schlecht hörte.
    Mit einem Mal blinzelte er und seine Augen fokussierten sich auf sie. „Was willst’n da?“
    Maja hatte keine Zeit, noch einmal darüber nachzudenken, ob ihre Strategie gut oder schlecht war, also sagte sie so ernsthaft und selbstbewusst wie möglich: „Ich habe eine Rechnung mit Fürst Dreizehn zu begleichen.“
    Der Mann brach in schallendes Gelächter aus. „Ham’ wir das nich alle? Aber ohne Witz, du gefällst mir, Kleine.“ Er klopfte Maja auf die Schulter. Es fühlte sich an, wie Hammerschläge.
    Maja grinste, ganz baff, dass ihre Strategie so aufgenommen worden war.
    „Ich selbst kann dir leider nicht weiterhelfen“, sagte der Mann, „wir fahren nach Spiegelstadt. Aber ich kenne jemanden, den du vielleicht fragen kannst. Siehst du das schwarze Schiff dort hinten, mit den rot-gold gestreiften Segeln? Das ist eines der wenigen Schiffe, die sich noch trauen, Andraya Waren anzubieten. Sie machen Geschäfte mit Demir Dreizehn, aber in Wahrheit verachten sie ihn und spionieren ihn aus. Nur um anderen die Informationen zu verkaufen. Wie auch immer, wenn du ihrem Käpt’n genau das gleiche sagst wie mir gerade, könntet ihr euch vielleicht einig werden.“
    „Danke“, sagte Maja. „Wie finde ich diesen Käpt’n? Wie heißt er?“
    „Rachai. Großer Typ, dunkle Haut, viele Zöpfe. Frag einfach nach ihm. Ach, weißt du was, sag einfach, Kurun hat dich geschickt, das bin ich, dann wird er dich anhören. Und nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass du deine Rechnung begleichen kannst: bestell Dreizehn schöne Grüße von Kurun.“ Er sagte es mit einem fiesen Grinsen im Gesicht. „Das bin ich.“
    Maja nickte und machte sich auf den Weg zu dem Dreimaster mit den gestreiften Segeln. Es sah faszinierend aus, besonders durch die schwarze Farbe im Kontrast mit den rot-goldenen Segeln. Außerdem war es eines der größten Schiffe im Hafen. Auf dem Steg vor dem Schiff lag ein dürrer Mann mit feuerroten Haaren und starrte in den Himmel. Maja sprach ihn an und fragte nach dem Käpt’n.
    „Kurun schickt mich“, erklärte sie.
    Ohne aufzustehen betrachtete er sie mit einem Auge von oben nach unten. Das andere ließ er zugekniffen.
    „Hey Rachai!“, brüllte er dann. „Hier ist so’n Mädel für dich. Behauptet, Kurun schickt sie, ich kann mir aber nicht denken, warum er das machen sollte. Die ist noch nicht mal ausgewachsen.“ Er warf Maja noch einen Blick zu. „Sieht aber ein bisschen gefährlich aus.“
    Sekunden später kam die Antwort vom Deck des Schiffes. „Für’s Denken hab ich dich nicht angeheuert, also spar dir deine Kommentare.“ Ein ziemlich großer Kopf mit schwarzen Rastazöpfen erschien über der Reling, gefolgt von einem noch größeren, muskulösen Körper. „Also, was will Kurun?“, fragte er Maja.
    „Kurun will gar nichts“, sagte Maja. „Er hat mich hierher geschickt, weil ich ein Schiff suche, das mich nach Andraya mitnimmt. Er meinte ihr fahrt dorthin.“
    Rachai runzelte die Stirn. „Das mag vielleicht sein, aber wir nehmen keine Passagiere. Kurun weiß das eigentlich.“
    „Er meinte, ihr würdet mich mitnehmen, wenn ich sage, was ich ihm gesagt habe: Ich habe mit Fürst Dreizehn eine Rechnung zu begleichen.“
    Der Rotschopf schmiss sich weg vor Lachen, aber Rachai starrte Maja nur ausdruckslos an. Einen Moment schien er nachzudenken, dann schüttelte er den Kopf. „Keine Ahnung was das soll, aber ich bleibe dabei: Keine Passagiere.“
    „Nimm sie mit“, sagte plötzlich eine Stimme hinter Maja. Kurun war ihr offenbar in einigem Abstand gefolgt und stand nun nur wenige Schritte von ihr entfernt.
    „Hey Kurun“, sagte Rachai, „was soll der Quatsch? Sie hat ne’ Rechnung mit Fürst Dreizehn zu begleichen? Dieser Unsinn überzeugt vielleicht dich, aber nicht mich.“
    „Wenn’s doch so ist? Manchmal müssen Leute bestimmte Dinge eben einfach tun. Hab ich dich damals abgewiesen, als du ne’ Rechnung mit Jasop Ul’ufur begleichen wolltest?“
    „Oh, dieser Mistkerl“, fluchte Rachai leise. „Irgendwann erwisch ich ihn und dann verfütter ich ihn an die Tintenfische.“
    „Sie wär’ nich hier, wenn’s ihr nich ernst wär“, sagte Kurun. „Und wenn du sie nicht mitnimmst, sucht sie sich’n and’res Schiff und dann sieht sie lebend kein Land mehr.“
    Rachai sah Maja prüfend in die Augen. Sie versuchte so entschlossen wie möglich dreinzublicken.
    „Na schön“, sagte er schließlich. „Aber nur, wenn sie zahlen kann.“
    „Was hast du dabei?“, fragte Kurun Maja.
    Sie begann, hektisch in ihrer Tasche zu wühlen. Die Sachen, die sie darin fand, waren entweder wertlos oder Maja wollte sie nicht hergeben. Schließlich zog sie das Fernglas heraus und hielt es Rachai hin. Er war auf den Steg getreten und nahm es neugierig in Augenschein.
    „Nicht übel“, sagte er, nachdem er hindurch gesehen hatte. „Die Stärke ist ziemlich gut und die Form ist ausgefallen. Was hast du noch?“ Maja wollte weiter kramen, doch er fing ihr Handgelenk ab und zog es zu sich heran. „Die Uhr nehme ich auch. Was ist mit dem Schwert?“
    „Das gebe ich nicht her“, sagte Maja entschieden. Als sie die Hand wieder in die Tasche steckte, ergriff sie als Erstes den Kompass von Selran, aber sie ließ ihn schnell wieder los. Ihre Erinnerungsstücke würde sie erst ganz zuletzt hergeben. Sie drehte Rachai diverse Kleinigkeiten an: ihren Notizblock und die Stifte, einen Löffel, das Paketband und ihre Streichhölzer, doch nichts davon schien ihn so wirklich zu überzeugen. Dann entdeckte sie am Boden der Tasche den Ring der Libellen. Im Gegensatz zu dem Weltentor und dem Lichtstein bedeutete er ihr nichts und sie konnte sich auch nicht vorstellen, wofür sie ihn noch mal brauchen würde.
    „Wie wäre es damit?“, fragte sie und hielt ihn Rachai entgegen, doch bevor er danach greifen konnte, hatte Kurun ihn Maja aus der Hand geschnappt.
    „Kaum zu glauben“, murmelte er. „Wo hast du denn den her?“
    „Er war ein Geschenk“, sagte Maja, was mit etwas Interpretationsfreiheit stimmte.
    „Ich kann mir kaum vorstellen, dass er viel wert ist“, sagte Rachai. „Hör mal zu, Kleine, mir gefällt dein Schwert sehr gut und die Reise würdest du dir damit mehr als verdienen. Ich geb’ dir dafür auch das Fernglas zurück.“
    „Halt die Klappe Rachai, sie ist nicht so blöd, dir ihre Waffe zu geben“, sagte Kurun. „Womit soll sie Dreizehn aufspießen? Womit sich dein Piratenpack vom Hals halten? Aber dieser Ring ist viel mehr wert als das Schwert. Ich rede nicht von Geld, ich rede von Macht.“ Er warf Rachai den Ring zu. „Dieser Ring gehörte den Libellen.“
    „Wirklich?“ Rachai schien interessiert.
    „Ich bin mir absolut sicher. Dieser Ring öffnet in Ostland Tür und Tor.“
    „Das stimmt“, mischte sich Maja ein, „er gehört den Libellen.“
    „Na schön“, sagte Rachai. „Ich nehme ihn. Und das Fernglas und deine Uhr und den anderen Krempel da. Willkommen an Bord der Nessanta. Aber ich sag es noch mal, wir sind kein Passagierschiff. Du wirst das Deck schrubben und Kartoffeln schälen und tun, was man dir sonst noch aufträgt. Und in Andraya verlässt du das Schiff. Es ist mir egal, ob du es dir bis dahin anders überlegst. Nuri wird dir eine Kabine zuweisen.“ Er nickte dem Rotschopf zu, der sich grummelnd von der Erde erhob. „Wir fahren in fünf Stunden los, was immer du bis dahin getan haben willst ist erledigt und du bist an Bord, verstanden? Und steh nicht im Weg herum.“
    „Wunderbare Ansprache“, sagte Kurun und zog eine kleine Flasche aus seiner Manteltasche. „Auf diesen Vertragsabschluss müssen wir trinken. Auf das keiner von euch ihn bereuen wird. Er und Rachai tranken einen Schluck und reichten die Flasche an Maja weiter. Sie war so froh, dass sie offenbar ein Schiff gefunden hatte und das so schnell und ohne Schwierigkeiten, dass sie ohne Nachzudenken die Flasche an den Mund setzte und einen tiefen Schluck nahm. Was sie dort einsog war so scheußlich, dass sie es gleich wieder ausspuckte.
    „Igitt, das brennt“, stöhnte sie, hielt sich den Hals und fing an zu husten.
    „Schau dir das an, sie ist noch ein Kind“, murmelte Rachai.
    Kurun klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern. „Sie weiß, was sie will, das muss man ihr lassen. Ich wette mit dir“, sagte er, „aus diesem Mädchen wird einmal eine großartige Piratin.“




    Ich mach mal direkt weiter. Bei Maja ist im Moment alles kein Problem, da hab ich genug vorrätig und muss nur ein wenig überarbeiten. Karim und Jinna machen mir Probleme.


    Die Reise auf der Nessanta

    Die nächsten fünf Stunden brachte Maja damit zu, ihre Koje zu erkunden und Rachais Piratencrew kennenzulernen. Es waren um die vierzig, die meisten waren ziemlich raue Gesellen, Männer wie Frauen. Manche waren unheimlich, manche erschienen ihr nett zu sein, andere nachdenklich, andere wild und ungebändigt. Ein ziemlich bunter Haufen – keiner war wie der andere. Doch alle lebten und arbeiteten sie auf diesem Schiff. Von Plünderei, soweit Maja das einschätzen konnte.

    „Piraten stehlen doch“, sagte sie zu Arissa, einer ziemlich wild aussehenden Frau, die gleich mit drei Säbeln aufwarten konnte. „Wen bestehlt ihr hier eigentlich?“

    „Alle“, antwortete Arissa mit einem Schulterzucken. „Dreizehns Leute, die Seeleute der zwölf Königreiche, andere Piraten, die Hexen ... die Drachen“, fügte sie leiser hinzu.

    „Wie könnt ihr jemanden in den zwölf Königreichen bestehlen? Es führt kaum ein Weg über das große Gebirge und ich habe gehört, der Seeweg soll noch unmöglicher sein.“

    „Untiefen, Strudel, spitze Felsen, die dein Schiff in Stücke reißen“, zählte Arissa auf. „Aber die Piraten kennen die geheimen Routen, die einen hindurch bringen. Ich habe diese Fahrt schon tausende Male gemacht. Es ist gefährlich, aber das ist das ganze Leben, oder?“

    „Ja“, sagte Maja. „Das ist es. Wie lange brauchen wir eigentlich bis Andraya?“, fragte sie.

    „Wer weiß das schon so genau“, sagte Arissa. „Zwei Wochen, vielleicht weniger, wenn der Wind gut ist, vielleicht mehr, wenn er nicht gut ist oder wir spontan noch was anderes machen. Wir planen nicht alles so genau. Geht auch gar nicht, das Leben auf See ist unberechenbar. Und so sind wir es auch.“

    Die Piraten interessierten sich für Maja, aber – und das gefiel ihr besonders – niemand versuchte ihr ihr Reiseziel auszureden.

    „Sie leben alle gefährlich“, erklärte Arissa, als Maja sie darauf ansprach. „Und alle haben sie in ihrem Leben schon die eine oder andere Dummheit gemacht. Aber uns Piraten von den Silberwiesen und vom Andersrum geht unsere Freiheit über alles. Jeder soll tun was er möchte und was er kann, also mischen wir uns nicht in anderer Leute Angelegenheiten ein. Du hast übrigens Glück, dass du auf diesem Schiff gelandet bist. Wir sind ein komischer Haufen, aber mit Sicherheit anständiger als manch andere Crew. Außerdem ist die Nessanta ein gutes Schiff. Schnell und wendig, aber groß genug, um anderen Piraten zu sagen, dass sie uns besser nicht angreifen sollen. Und Käpt’n Rachai ist weithin bekannt und gefürchtet. Er hat’s drauf, ziemlich gerissener Kerl. Nicht ganz so schlau wie seine Tochter allerdings. Da vorne steht sie.“

    Sie ruckte mit dem Kopf in eine Richtung hinter Majas Schulter und Maja drehte sich um. Dort, neben dem Mast, stand das Mädchen, das sie am Vortag angegriffen hatte und starrte sie mit offenem Mund an.

    „Hey Joyce!“, rief Arissa, „du wirst's nicht glauben, aber wir haben einen Passagier.“ Sie zeigte grinsend auf Maja, offenbar ganz aufgeregt.

    „Ich hab’s schon gehört“, antwortete das Mädchen. Einen Moment zögerte sie, dann kam sie auf Maja zu. „Ich schätze, dann sollten wir für die nächsten Wochen Waffenstillstand schließen“, sagte sie und reichte ihr die Hand.

    „Du hast mich beinahe aufgeschlitzt“, entgegnete Maja feindselig.

    Das Mädchen, Joyce, zuckte mit den Schultern. „Du kannst natürlich auch sauer sein, aber ich bin die Tochter des Käpt’n also machst du dir hier damit keine Freunde. Das war übrigens ein einmaliger Sprung, den du da hingelegt hast.“ Ihr Gesicht drückte eindeutig Bewunderung aus.

    „Was für ein Sprung?“, fragte Arissa neugierig.

    „Sie ist vom Heuboden gesprungen“, erklärte Joyce. „Drei oder vier Meter. Wie ein Katze, hat danach nicht mal gehumpelt. Machst du das öfter?“, fragte sie Maja.

    Maja antwortete nicht.

    „Zeig mir deinen Arm“, sagte Joyce.

    „Warum?“

    „Weil du verletzt bist. Ich will mir die Wunde ansehen.“

    Maja zögerte noch einen Moment, dann krempelte sie seufzend den Ärmel hoch. Die Wunde war teilweise wieder aufgegangen und der Verband feucht und rot. Ohne zu fragen wickelte Joyce ihn ab und betrachtete den Riss in Majas Arm.

    „Autsch“, kommentierte Arissa.

    „Das muss genäht werden“, sagte Joyce. „Sonst reißt es jedes Mal wieder auf, wenn du den Arm bewegst. Ich bring dich zu Gabriel, das ist unser Schiffsarzt.“

    Und so kam es, dass Maja zusammengeflickt wurde, noch bevor sie in See stachen. Es war eine verdammt schmerzhafte Erfahrung und Maja hätte am liebsten laut gebrüllt, aber sie schaffte es, sich zusammenzureißen, die Zähne zusammenzubeißen und keinen Laut über ihre Lippen kommen zu lassen. Es erbrachte ihr einiges an Respekt bei allen, die davon mitbekamen.

    Ich lebe auch noch :) Habe eine Fernsehserie geschaut, die mich richtig inspiriert hat, hier weiter zu schreiben, weil die Hauptcharaktere meinen irgendwie ein wenig ähnlich sahen. Ich sag aber nicht, welche. :D

    Zuerst habe ich überlegt, ob ich dieses Kapitel nicht mit einem fiesen Cliffhanger trennen sollte, aber mich dann dagegen entschieden. Am Ende vergesse ich den zweiten Teil zu posten. Viel Spaß mit dem ganzen Kapitel.

    Der Überfall

    Im nächsten Moment wurde Maja von purem Entsetzen gepackt. Khjavef war über die letzten Tage ihr einziger Begleiter gewesen. Ihr einziger Freund. Er durfte nicht fort sein. Das konnte nicht sein.
    „Khjavef!“, schrie sie. Als ob er ihr antworten würde. Als ob er sie hören konnte. Sie hatte ihn fest angebunden und dass er fort war ließ nur eine Erklärung zu. Ben-Thala-Mi hatte sie gewarnt. Der Wirt vom Hängenden Fisch hatte sie gewarnt. Piraten waren unangenehme Gesellen. Und dies war eine Piratenstadt. Khjavef war gestohlen worden, zusammen mit allem, was er getragen hatte.
    Panisch rannte Maja die Straße auf und ab und versuchte irgendwo noch ein Fitzelchen von Khjavef zu entdecken. Aber es war hoffnungslos. Sie war zu lange in dem Gasthaus gewesen. Wie hatte sie Khjavef nur zurücklassen können? Was hatte sie sich dabei gedacht? Ihr hätte doch klar sein müssen, dass er gestohlen werden könnte.
    Ihr Verhalten lockte inzwischen Schaulustige herbei. Eine Gruppe Frauen versammelte sich auf der Straße, tuschelte vor sich hin und beobachtete sie mit offenkundigem Missfallen. Ein graubärtiger Mann mit Gehstock beschimpfte sie wüst mit Flüchen, die sie nicht verstand, während er vorbei humpelte. Zwei Mädchen beobachteten sie mit offenkundiger Häme aus der Ferne und vier Männer kamen aus dem Gasthaus und lachten schallend über Majas Panik.
    Maja blieb an der Stelle stehen, an der Khjavef angebunden gewesen war und versuchte tief ein- und auszuatmen und sich zu beruhigen. Dann hob sie die Stimme: »Hat irgendjemand gesehen, wer mein Pferd gestohlen hat?«, fragte sie. Es kam keine Antwort, außer der, dass die Männer erneut in Gelächter ausbrachen. Sie gingen Maja schrecklich auf die Nerven, ihr Lachen hinderte sie daran, sich zu konzentrieren.
    »Was hast du gesagt, suchst du?«, fragte plötzlich eine Stimme neben ihr.
    Maja wirbelte herum. Die Stimme gehörte zu einem Mädchen, das wie aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht war. Sie hatte Augen wie nasse Kohlestückchen und dunkelbraune Haut. Das schwarze Haar hatte sie im Nacken zu einem langen Zopf geflochten und mit bunten Perlen verziert. Außerdem trug sie ein Sammelsurium augenscheinlich schlecht zusammenpassender Kleidung: einen knielangen Rock, darunter aber eine Pluderhose und Stiefeletten und am Oberkörper schien sie eine Bluse, eine Weste und zwei Mäntel übereinander zu tragen. Sie musste ungefähr so alt wie Maja sein. Sie verschränkte die Arme und musterte Maja von oben bis unten. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich.
    »Jemand hat mein Pferd gestohlen«, sagte Maja.
    Das Mädchen drehte den Kopf und blickte die Straße hinab. »Kurz bevor du aus dem hängenden Fisch gekommen bist, hat jemand ein Pferd in die Richtung geführt«, sagte sie und zeigte in Richtung des Hafens. »Ich kann dir zeigen wo lang.« Sie packte Maja am Arm und zerrte sie mit sich. Maja ließ sich von ihr an der Gruppe der tuschelnden Frauen vorbeilotsen. Dahinter ließ das Mädchen Maja los und verschwand in eine schmale Gasse. »Er ist hier durchgegangen.«
    Maja beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten und als das Mädchen stehen blieb, lief sie direkt in sie hinein.
    »Pass doch auf«, murmelte sie und schob Maja von sich.
    »Was ist?«, fragte Maja. »Wo sind sie hin?«
    »Weiß ich doch nicht, ich hab nur gesehen, wie sie in diese Gasse gegangen sind.« Maja drängte sich an ihr vorbei und starrte an das andere Ende der Gasse. »Ich glaube«, sagte das Mädchen, »du wirst dein Pferd nicht wieder bekommen. Es ist weg.«
    Maja schluckte. Sie hatte das Gefühl, Khjavef im Stich gelassen zu haben. Hätte sie ihn doch bei Ben-Thala-Mi zurück gelassen. Sie hätte ihn doch ohnehin nicht mitnehmen können, wenn sie wie geplant mit dem Schiff weiter reisen würde. Aber es wäre ihre Pflicht gewesen, dafür zu sorgen, dass er in guten Händen landete. Und jetzt war er gestohlen worden, wer wusste schon von wem. Und außerdem war nun der Großteil ihrer Sachen weg.
    »Zum Glück habe ich meine wichtigsten Sachen hier«, sagte sie erleichtert und griff unwillkürlich nach ihrer grünen Tasche. Alles, was für sie von Bedeutung war, bewahrte sie darin auf: Die Karte, den Kompass, das Messer von Tabea, den Ring der Libellen und so weiter.
    Plötzlich hörte sie das Scharren von Metall hinter sich, das Scharren eines Schwertes, das aus der Scheide gezogen wird.
    »Schön«, sagte das Mädchen, als Maja den Kopf zu ihr herumdrehte. Sie hatte einen langen Säbel mit der Spitze direkt auf Majas Kehle gerichtet. »Dann kannst du sie mir ja gleich aushändigen.«
    Maja starrte sie entsetzt an. Ihr Herz pochte so heftig, dass ihr ganzer Körper bebte und sie war sich plötzlich ihrer eigenen Halsschlagader unangenehm bewusst. Ihre Finger gruben sich fester in die grüne Tasche. Sie konnte sie nicht hergeben. Verloren, wie sich sich fühlte, in diesem unbekannten Teil einer unbekannten Welt, auf der Suche nach ihrem Bruder, ohne große Hoffnung, jemals zurück nach Hause zu kommen, waren diese Gegenstände Teil ihrer Identität. Sie machte einen Schritt rückwärts.
    »Mach keine Dummheiten, ja?«, sagte das Mädchen. In ihren Augen blitzte es gefährlich. Dann grinste sie plötzlich herablassend. »Wie dumm bist du eigentlich? Minuten nachdem dir dein Pferd gestohlen wurde, gehst du mit einem fremden Menschen in eine dunkle, enge Gasse, in der dich niemand hören kann, wenn du um Hilfe schreist.«
    »Vielleicht weil ich nicht gleich das schlechteste von einem Menschen denke«, sagte Maja leise. Ihre Angst wurde jetzt zu Wut, oder eher gesagt zu einer seltsamen Mischung aus beidem. »Ich dachte du wolltest mir helfen.«
    Das Mädchen verdrehte die Augen. »Ernsthaft? Du bist echt blöd.«
    »Ich war in Panik und du hast das schamlos ausgenutzt«, stellte Maja fest.
    »Gewöhn dich dran. So ist das Leben. Und jetzt rück deine Tasche und deinen Schmuck raus, oder willst du, dass ich sie deinen toten Händen entreiße? Das Schwert will ich auch haben. Nimm es ab, aber pack es nicht am Griff an, sonst-«
    »Was dann?«, fragte Maja herausfordernd, griff über ihre Schulter und umfasste den Schwertgriff.
    Das Mädchen verspannte sich und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Nur damit du es weißt, ich habe kein Problem damit, dich zu töten. Bevor du es gezogen hast, ist dein Leben verwirkt.«
    Ach wirklich?, dachte Maja und warf sich nach hinten, während sie gleichzeitig blitzartig das Schwert zog. Das Mädchen stach nach ihr, aber Maja schlug ihren Säbel beiseite. Sie tauschten ein paar schnelle Hiebe aus, dann stand Maja mit dem Rücken zur Wand und hielt das Mädchen mit ausgestrecktem Schwertarm auf Abstand. Aus dem Augenwinkel versuchte sie das Ende der Straße zu erkennen. Es schien erreichbar zu sein. Wahrscheinlich wäre es das Beste, einfach davon zu laufen.
    »Ein dummer Fehler«, zischte das Mädchen ihr zu. »Ich kann mit dem Schwert umgehen, seit ich laufen kann.«
    Maja hätte ihr gerne eine passende Antwort gegeben, doch ihr fiel keine ein. Sie selbst hatte nicht einmal vor einem Jahr mit dem Kämpfen begonnen und ihr Training war eher sporadisch gewesen. Sie musste sich eingestehen, dass sie keine Chance hatte. Wahrscheinlich nicht einmal genug, um sich einen Fluchtweg zu verschaffen. Und trotzdem ...
    Sie wollte nicht weglaufen. Sie wollte nicht um Gnade bitten. Vielleicht war es durch die Ereignisse der letzten Wochen geschehen, vielleicht hatte sich diese Wut aber auch schon das ganze Jahr in Maja aufgebaut. Diese Wut, die sie nun verspürte, als sie das Mädchen ansah. Als sie den Griff um das Schwert enger schloss und sich schließlich von der Wand abstieß und angriff – mit ihrer ganzen Kraft. Das Mädchen wich erschrocken zurück; der Wucht von Majas Schlägen hatte sie nur wenig entgegenzusetzen. Maja setzte nach, schlug von oben und von der Seite zu. Tänzelnd wich das Mädchen ihr aus und dann sprang sie plötzlich wie eine Schlange nach vorne und Maja spürte einen stechenden Schmerz an ihrem linken Oberarm. Erschrocken starrte sie auf ihren Ärmel, in dem ein langer Riss klaffte und der sich schnell mit Blut vollsog. Das Mädchen nutzte ihre Abgelenktheit und griff erneut an. Maja sah sie aus dem Augenwinkel und konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen. Mit zunehmendem Entsetzen spürte sie die Nässe ihres eigenen Blutes am Arm. Sie warf noch einen Blick darauf. Das war nicht bloß eine kleine Schramme. In ihrem Oberarmmuskel klaffte ein Riss. Dem nächsten Stich des Mädchens entging sie, indem sie einen Satz rückwärts machte und dann rannte sie um ihr Leben. Sie hatte das Gefühl, noch nie im Leben schneller gerannt zu sein. Aber auch noch nie in ihrem Leben war sie auf diese Art verletzt worden.
    Fast am Ende der Gasse erblickte sie einen schmalen Torbogen zu ihrer Linken und sie brauchte nicht lange, um sich dazu zu entscheiden, hindurchzuschlüpfen. Auf der Straße würden nur noch mehr von diesem Piratenpack warten und von denen wollte sie keinem mehr begegnen. Sie gelangte in einen kleinen, schmutzigen Hinterhof und zwängte sich durch eine Lücke in einer Holzwand in ein Gebäude, das sich von innen als unbesetzter Pferdestall entpuppte. Eine Leiter führte zu einem Heuboden hinauf. Maja kletterte sie empor, stieß die Leiter um und kauerte sich in einer Ecke zusammen. Zögerlich warf sie noch einen Blick auf ihre Verletzung. Der Anblick war nicht ermutigend, ein ganzer Ärmel ihrer roten Jacke war dunkel vor Blut. Maja zog Jacke und T-Shirt aus. Der Schnitt in ihrem Arm war ziemlich tief und fast zehn Zentimeter lang. Ihr war klar, dass er eigentlich genäht werden musste, aber wie sollte sie das anstellen? Selbst ihn zu verbinden stellte sie vor eine Herausforderung, denn ihr Verbandskasten war in Khjavefs Satteltaschen gewesen. Sie zog auch das Unterhemd aus und schnitt es mit dem Schwert in Streifen. Diese band sie fest um die Wunde. Gerade wollte sie ihre Sachen wieder anziehen, als sie ein Knarren und das Geräusch von Schritten hörte.
    „Du hinterlässt Spuren“, sagte das Mädchen. „Blutspuren. Sie führen hinein, doch nie wieder heraus.“
    Maja verharrte regungslos und umklammerte ihre Besitztümer.
    „Du antwortest ja gar nicht“, sagte das Mädchen missmutig. „Bist du schon tot?“
    So leise wie möglich schlüpfte Maja in ihre Jacke und hängte sich die Tasche wieder über die Schulter.
    „Doch nicht tot“, flüsterte das Mädchen. „Oder sind das Mäuse, die ich da rascheln höre? Kleine, feine, süße Mäuschen mit dünnen Beinchen.“
    Und plötzlich bohrte sich neben Majas Fuß eine scharf Klinge von unten durch den Heuboden. Sie verfehlte ihre Fußsohle bloß um Zentimeter. Erschrocken sprang Maja zur Seite.
    „Ich mache dir ein Angebot“, sagte das Mädchen. „Komm ohne dein Schwert runter und ich nehme dir bloß deine Sachen weg. Alle deine Sachen, aber ich lasse dir dein Leben. Vielleicht schneid ich dir auch ein paar Zehen ab. Aber wie gesagt, ich lasse dir dein Leben. Irgendwann musst du ohnehin runterkommen“, fuhr sie fort, als von Maja nicht die geringste Reaktion kam. „Warum also nicht gleich. Oder soll ich noch ein bisschen zwischen den Dielenbrettern herum pieksen. Dabei kann man auch ein paar Zehen verlieren. Aber lass mich raten, du stehst so, dass ich dich durch die Lücken zwischen den Brettern nicht erreichen kann.“
    Das versuchte Maja gerade, aber es war schwer, durch die Halme trockenen Strohs, die hier oben den Boden bedeckten, die Lücken auszumachen. Das Mädchen meinte also, sie müsse früher oder später ohnehin hier herunter kommen. Na dann doch eher früher, dachte Maja, umklammerte das Schwert aus Taroq und stürzte auf die Kante des Heubodens zu. Mit Anlauf sprang sie die dreieinhalb Meter zu Boden und kam leichtfüßig wie eine Katze auf dem Boden auf – direkt neben der Tür. Als sie den Blick nach hinten wandte, sah sie, dass das Mädchen sie fassungslos anstarrte. Sie stand auf einer hohen Kiste, ihren Säbel hielt sie erhoben, wie um zu prüfen, in welche Lücke sie ihn als nächstes schieben sollte. Scheinbar hatte sie nicht erwartet, dass Maja sich traute, dort hinunter zu springen. Tja, da hatte sie Pech gehabt. Maja hatte es – dank der Kräfte der Kamiraen – im Sportunterricht sogar einmal geschafft, auf diese Höhe hinauf zu springen, sehr zur Verwirrung ihrer Mitschüler und ihrer Lehrerin.
    Das Mädchen sprang von ihrer Kiste herunter, aber Maja ließ sie nicht einmal in ihre Nähe kommen. Sie drehte sich um, stürmte zur Tür hinaus, schlug sie zu und wenige Augenblicke später rannte sie die Straße hinab. Das Mädchen sah sie an diesem Tag nicht wieder.

    Danke Alopex Lagopus :)

    Passend zum neuen Jahr gibt es jetzt einen neuen Teil. Ich mag ihn irgendwie, auch wenn meine Piraten vielleicht von zu vielen Filmen beeinflusst wurden. Der Teil ist etwas länger als die vorherigen. Ich wollte mal fragen, ob die Schriftgröße so okay ist, oder ob ich sie einen Tacken größer machen soll?


    Teil 3

    Kabaran

    Als sie auf dem Hügel ankam, zog Maja an den Zügeln und brachte Khjavef zum Stehen. Eine steife Brise zerrte an ihrer Kleidung und an ihren Haaren. Vor sich sah sie das Meer, dunkel und aufgewühlt. Und davor eine Stadt, die dem Meer seltsam ähnelte: Kabaran. Die Stadt war nicht rund, sondern sichelförmig und schmiegte sich an eine weite Bucht, in der so um die fünfzig Schiffe vor Anker lagen: kleine und große, von winzigen Booten bis zu mächtigen Dreimastern. Genauso zusammengewürfelt waren die Häuser: es gab welche aus Holz, aus Stein, aus Lehm – ein Konzept schien es nicht zu geben. Die Dächer waren dunkel: schwarz, braun, grau, grün oder blau und von oben ähnelten sie tatsächlich den stürmischen Wellen des Ozeans. Es gab Teile der Stadt, in denen die Häuser sehr flach waren, aber auch Teile, in denen mehrere mehrstöckige Häuser beieinander standen und hohe Wellen bildeten. Wäscheleinen waren über die Straße gespannt und erinnerten an schäumende, weiße Wellenkämme. Der Anblick war so faszinierend, dass Maja sich völlig darin verlor. Erst als Khjavef begann, ungeduldig mit den Hufen zu scharren, erinnerte sie sich daran, wo sie war und was sie hier wollte.
    „Dann los“, murmelte sie und machte sich an das letzte Stück des Weges. Unten am Hügel traf sie auf eine schmale Straße, nicht viel mehr als ein Feldweg. Sie folgte ihr und erreichte bald die ersten Häuser. Sie rümpfte die Nase, als ein ekelhafter Geruch ihr entgegen wehte. Eine Mischung aus Salz, Dreck und Fäkalien und schlagartig wurde Maja klar, dass Kabaran im Gegensatz zu Miriam keine Kanalisation hatte. Ein paar Straßen weiter mischten sich andere Gerüche hinzu: Pferdemist, Kotze und möglicherweise Alkohol, aber auch ein angenehmer Duft nach Kaffee und einer warmen Mahlzeit. Als Maja ein graues Ziegelhaus mit der Aufschrift 'Zum hängenden Fisch' erblickte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie spähte die Straße hinunter. In nicht allzu weiter Ferne sah sie das Meer glitzern.
    Zum hängenden Fisch. Wieder las sie die Worte. Das klang schon, als würden sich seeerprobte Piraten abends hier treffen, um ihren Feierabend zu genießen. Oder? Auf jeden Fall würde sie hier etwas zu essen bekommen. Ihr knurrender Magen gab den Ausschlag. Sie band Khjavef an einem Pfosten vor der Tür an, band sich das Schwert um, schnappte ihre grüne Tasche vom Sattel und betrat die Gaststube. Kalter Pfeifenrauch schlug ihr entgegen. Das Gemurmel in der Stube verstummte, kaum hatte sie die Türschwelle überquert, und jedes Gesicht im Raum schien sie anzustarren. Maja nahm die Umgebung in Augenschein. Zwischen pechschwarzen Holzsäulen standen mehrere Tische und unbequeme Stühle, auf denen ebenso unbequeme Menschen saßen. Vier Frauen zählte Maja, drei von ihnen zeigten viel zu viel Haut, die vierte war für ihren Geschmack zu stark bewaffnet. Der Rest im Raum waren Männer in allen Variationen, mit Bärten und ohne Bärte, mit dunkler und heller Haut, blondem, schwarzem und weißem Haar, dick und dünn, tätowiert oder auch nicht, rauchend oder trinkend, gut gekleidet oder eher in etwas bessere Lumpen gehüllt. Manche sahen Maja feindselig an, manche verwundert, andere belustigt und mancher Blick war einfach nur ekelerregend. Hinter der Theke stand ein Mann in weißem Hemd mit gewaltigen, tätowierten Oberarmen und zwei abstehenden grauen Flechtzöpfen. Maja hielt ihn für den Gastwirt und war froh, dass er zu denen gehörte, die sie bloß verwundert ansahen. Sein besonderes Augenmerk schien ihren Turnschuhen zu gelten, sowie dem Schwert auf ihrem Rücken. Maja trat an die Theke und sah ihn unsicher an. Der Mann starrte belustigt zurück. Irgendwann nahm er einen Schluck aus einer braunen Flasche, schwieg aber weiterhin. Im Raum blieb es mucksmäuschenstill. Es war, als würden alle darauf warten, dass Maja das Wort ergriff.
    „Ich hätte gerne etwas zu essen“, sagte Maja schließlich.
    Der Mann grunzte. „Was denn?“
    Maja wollte schon nach der Speisekarte fragen, doch sie besann sich eines Besseren: „Was immer hier so gut riecht.“
    „Was zu trinken dazu?“, fragte der Wirt.
    Maja starrte die braune Flasche an. „Ja, aber keinen Alkohol.“
    Der ganze Raum brach in schallendes Gelächter aus. Der Mann hinter der Theke nahm einen Krug, tunkte ihn in ein Fass unter der Theke und rammte ihn vor Maja auf den Tisch. „Geht auf's Haus“, knurrte er und wieder lachten seine Gäste. Maja schnupperte daran. Es roch nach nichts, woraus sie schloss, dass es Wasser war. Sie zog sich einen Barhocker heran und setzte sich direkt vor die Theke. Sie hätte sich lieber in eine dunkle Ecke verzogen, denn sie mochte es nicht, die anderen Leute so im Nacken zu haben. Die meisten von ihnen starrten Maja immer noch an und sie hatte die letzten Wochen fast allein verbracht und fühlte sich in der Menschenmenge äußerst unwohl. Aber sie hatte Fragen, auf die sie Antworten brauchte. Bevor sie jedoch eine davon stellen konnte, sprach der Wirt sie wieder an. Maja fiel auf, dass er keine Anstalten machte, ihre Bestellung irgendwie weiterzugeben.
    „Kannst du zahlen?“, fragte er. „Normalerweise frage ich nicht, aber du scheinst offensichtlich neu in Kabaran zu sein.“
    Maja fiel ein, dass sie bloß ein paar Euro-Münzen dabei hatte. Sie wusste nicht einmal, ob die etwas wert waren. Aber zur Not konnte sie vielleicht etwas von ihren anderen Besitztümern eintauschen. „Wir werden uns schon einig werden“, sagte sie.
    „Ich würde mich gerne jetzt schon mit dir einig werden“, gab der Mann zurück.
    Wortlos griff sie in ihre Tasche und zog ihr Portemonnaie heraus. Nahm alle Münzen, die darin waren und hielt sie dem Mann unter die Nase. „Nehmen... nimm dir, was du willst.“
    Der Mann pflückte eine Fünzig-Cent-Münze von ihrer Hand und schnupperte daran. Dann biss er darauf. „Ist das Gold?“
    „Ähm. Ich glaub nicht“, sagte Maja.
    Der Mann beugte sich vor und sie spürte seinen heißen Atem an der Wange, als er ihr ins Ohr flüsterte. „Hey, mir ist es egal“, zischte er. „Es sieht aus wie Gold, also nehme ich es. Gib mir einfach alles, das sollte für die Mahlzeit genügen.“ Er stank so sehr nach einer Mischung aus Alkohol und Rosmarin, dass Maja unwillkürlich die Nase rümpfen musste, aber zum Glück sah er es nicht, als er sich wieder zurück lehnte. Sie schüttete all ihr Kleingeld in seine Hand. Neugierig betrachtete er eine Zwei-Euro-Münze. „Ich weiß nicht, ob ich das gebrauchen kann“, sagte er und biss ebenfalls hinein. Maja konnte sehen, dass ihm ein paar Zähne fehlten und fragte sich, ob er sie sich an Münzen ausgebissen hatte.
    Der Wirt verschwand durch einen niedrigen Torbogen in einen angrenzenden Raum und Maja blieb nichts anderes übrig, als auf ihre Hände zu starren, die den Wasserkrug umklammert hielten, und zu warten. Sie spitzte die Ohren, konzentrierte sich angestrengt auf den Raum hinter ihr und bildete sich ein, dass sie es merken würde, wenn jemand sich von hinten an sie anschlich. Die Männer im Raum hatten wieder zu murmeln angefangen, aber Maja hatte das Gefühl, dass einige von ihnen sie immer noch ansahen. Sie fühlte sich so klein, so jung und so allein. Aber sie durfte es sich nicht anmerken lassen. Das war Ben-Thala-Mis letzter Tipp gewesen, bevor er sich von ihr verabschiedet hatte: „Sei selbstbewusst, dann lassen sie dich vielleicht in Frieden. Und wenn das nicht klappt, zögere nicht, deine Waffe zu ziehen. Zeig ihnen, dass du bereit bist, dich zu verteidigen.“ Deshalb hatte Maja sich ihr Schwert für alle sichtbar auf den Rücken geschnallt. Und deshalb versuchte sie, sich nicht wie das kleine Mädchen zu benehmen, als das sie sich fühlte. Versuchte den Eindruck zu erwecken, dass sie ihre Anwesenheit in diesem Raum als überhaupt nichts Unnormales empfand. Sie hatte allerdings nicht das Gefühl, dass es ihr besonders überzeugend gelang.
    Der Wirt kam wieder und verteilte Speisen im Raum, aber für Maja hatte er noch nichts dabei. Dann stellte er sich hinter die Theke und mixte Getränke. Maja betrachtete seine stark tätowierten Oberarme und versuchte zu erkennen, was darauf abgebildet war: Fische, Frauen, vielleicht eine Mischung aus beidem und über seinen Ellbogen zog sich definitiv eine schuppige Seeschlange. Dazwischen schmiegten sich Schriftzeichen, die Maja unbekannt waren. Plötzlich stellte der Mann ein Glas vor Maja ab. Eine blaue Flüssigkeit schwang darin.
    „Der Kerl da drüben schmeißt eine Runde“, sagte er und machte sich mit dem Tablett auf den Weg, den anderen Gästen ihr Getränk zu bringen. Maja warf dem ‚Kerl da drüben’ über die Schulter einen Blick zu. Er grinste sie an. Sie drehte sich schnell weg. Sie dachte nicht daran, das Zeug zu trinken.
    Als der Wirt zurückkam und ihren vollen Becher sah, schüttelte er missbilligend den Kopf. „Du solltest es wirklich trinken. Joron sieht es nicht gerne, wenn man seine Gastfreundschaft ausschlägt. Außerdem ist es das beste Getränk dieses Hauses, also beleidigst du auch mich, wenn du es verschmähst.“
    Maja tunkte ihren Finger in das Glas und leckte ihn ab. Wenn das das beste Getränk des Hauses war, wollte sie nicht einmal in die Nähe der anderen kommen. Außerdem schmeckte es stark nach Alkohol. Richtig stark.
    „Ich darf keinen Alkohol trinken“, sagte sie.
    „Aber Mami und Papi hast du nicht mitgebracht, was?“
    „Sieht so aus, was?“ Sie starrten sich einen Augenblick lang in die Augen.
    „Wenn du keinen Alkohol probieren willst, was willst du dann in dieser Spelunke?“
    Wie passend, dass er darauf zu sprechen kam. „Informationen“, sagte Maja. „Ich brauche ein Schiff, das mich mitnimmt.“
    Der Wirt hob die Augenbrauen. „Ein Schiff? Schiffe gibt’s hier genug, aber ich wüsste von keinem, das Passagiere aufnimmt. Piraten sind nicht so im Kreuzfahrtgeschäft.“
    „Aber vielleicht gibt es jemanden, der eine Ausnahme macht?“
    Der Wirt zuckte mit den Schultern und seine Zöpfe wackelten. „Für hübsche junge Mädchen wie dich bestimmt. Aber ich kann dir nur davon abraten. Die Chancen, dass du das Schiff wieder verlässt, sind gering. Glaube mir, die meisten Piraten sind unangenehme Gesellen. Ich muss es wissen, bin selber einer. Völlig egal, was du mit ihnen ausmachst, sie werden dich über’s Ohr hauen. Ich meine es nur gut mit dir. Wo willst du denn hin, Mädel?“
    „Nach Süden“, sagte Maja.
    „Ein bisschen genauer, wenn’s geht. Du wirst doch wohl wissen, wo du hin willst.“
    „Andraya.“
    Dem Wirt rutschte die Flasche aus der Hand und fiel auf das Glas, das er gerade füllen wollte. Es zerbrach und verteilte Scherben über Theke und Fußboden. Niemand achtete darauf. Der Mann betrachtete die Scherben verwirrt, dann hatte er sich wieder im Griff. „Du siehst nicht aus, wie jemand, der nach Andraya will.“
    „Wie sieht denn jemand aus, der dorthin will?“
    „Älter... Düsterer... Sagen wir, deine rote Jacke passt nicht ganz dazu.“
    Maja strich sich über den Ärmel. „Ich zieh mir einfach was dunkles an, wenn ich dort ankomme“, sagte sie leichthin.
    Der Wirt lachte. „Entweder du bist verrückt oder taffer als du aussiehst. Aber in dieser Kneipe wirst du kein Schiff finden. Hier sitzen nur ausgediente und arbeitslose Seemänner und träumen von alten Tagen. Du musst zum Hafen. Und geh nicht in irgendeine Kneipe, da findest du nur versoffene Gestalten. Frag bei den Schiffen nach, bei den großen zuerst. Und überleg dir, was du ihnen anbieten kannst. Falsches Gold werden sie nicht nehmen.“
    Er schnupperte. „Ich glaube dein Essen brennt gerade an.“
    Es schmeckte leicht angebrannt, aber Maja war es egal, sie genoss es. Als sie geendet hatte, bedankte sie sich für alles und rutschte von ihrem Barhocker. Auf ihrem Weg zur Tür folgten ihr wieder viele Blicke und Maja fühlte sich einmal mehr sehr unwohl. Doch als sie vor die Tür trat, fuhr ihr der Schreck erst so richtig in die Glieder. Die Straße vor der Kneipe war leer. Leerer, als sie sein sollte. Khjavef war verschwunden.

    Alopex Lagopus :

    Spoiler anzeigen
    Da it es hier lange Zeit still und dann drei Posts auf Mal, wenn man mal wieder ins Forum schaut xD Freut mich, das es weiter geht :) Jinna hat in ihrer neuen Ausbildung echt viel zu tun, ein Wunder, dass sie überhaupt noch Zeit für ihre Familie hat. Und Tamor ist doch schon seit einiger Zeit schlecht gelaunt. Was ist dem denn über die Leber gelaufen?

    Die drei Posts habe ich auch in ziemlich kurzem Abstand eingestellt und sie sind nicht sehr lang. Ich hatte ein bisschen Zeit und etwas Text auf der Seite liegen, der nur noch ein wenig verbessert werden musste.

    Tamor ist sauer, weil Kandrajimo ihn daran gehindert hat, eines seiner Häuser in Miriam zu bauen. Außerdem ist er ein geselliger Mensch, der im Moment etwas einsam ist. Alle, die im letzten Jahr Zeit mit ihm verbracht haben, sind weg. Kandrajimo und Tabea sind viel in der anderen Welt unterwegs. Meister Wolf ist wieder in seiner Hütte im Wald. Maja, Feodor und Matthias sind auch fort und Karim und Jinna würden nicht auf die Idee kommen, ihn zu besuchen, wenn sie nichts von ihm wollten. Dabei würde er sich vermutlich freuen, wenn sie einfach nur auf ein Stück Kuchen und einen Plausch über alte Zeiten vorbei schauen würden.

    Wieso die Bindesstriche?

    Weiß ich auch nicht. Vielleicht sollte ich mal einen :duden: aufschlagen :pardon:

    Einen winzig kleinen Abschnitt habe ich noch, danach geht es mit Teil 3 weiter, in dem ich alle Piratenklischees raushauen werde, die ich kenne.


    Bis zum Samstag passierte nicht viel. Karim genoss ein wenig freie Zeit, während Elzos Schriftrolle ungelesen auf dem Schreibtisch des obersten Kamiraens verweilte. Am Samstag-Nachmittag dann, tat sich endlich etwas, aber es war nicht unbedingt nach Karims Geschmack. Er kam gerade vom Kampftraining, als Euen ihn abfing und zu Merin Ellers schickte. Den Schwertkämpfer fand er in seiner Kammer, wo er offensichtlich dabei war, sich für eine Reise bereit zu machen.

    „Hol Jonah“, sagte er bloß knapp, als Karim eintrat. „Packt Sachen. In einer Stunde treffen wir uns in der Eingangshalle.“

    „Wer trifft sich? Wozu?“

    „Wir sollen was von dem Zeugs holen. Elzo, Idela, ich und ihr zwei.“

    Karim fiel entsetzt der Mund auf. „Das ist eine blöde Idee“, stieß er dann hervor.

    „Es ist nicht deine Aufgabe, die Ideen der Kamiraen zu bewerten“, sagte Merin tonlos.

    Karim entschuldigte sich nicht. Merins Körperhaltung und seine knappe Ausdrucksweise verrieten ihm Einiges über die Gemütshaltung des Schwertkämpfers: dieser fand die Idee ebenfalls nicht gut. Aber Karim merkte auch, dass dies nicht der passende Zeitpunkt für weitere Fragen war und so verließ er eilig den Raum. Eine Stunde – das war sehr knapp bemessen, um sich auf eine weitere Reise vorzubereiten. Er trabte los.

    Jonah fand er nach einigem Herumfragen recht schnell im Pferdestall. Als nächstes machte er sich auf die Suche nach Jinna. Sie zu finden war schwieriger, aber schließlich entdeckte er sie in der Wäscherei, wo sie gerade ihre Libellengewänder wusch.

    „Was soll das heißen, du musst schon wieder fort?“ Jinna ließ die Bürste sinken, mit der sie einen besonders hartnäckigen Fleck bearbeitet hatte. Täuschte er sich, oder bekamen ihre Augen einen feuchten Schleier?

    „Ich weiß“, sagte er.

    „Warum wollen sie dich dabei haben?“, fragte Jinna. „Du bist doch ein kompletter Anfänger.“

    „Weil ich dabei war, als wir den Spuk entdeckt haben“, antwortete Karim ein wenig gereizt. Jinnas Worte verletzten ihn. Und weil sie mich auf die Probe stellen wollen, fügte er in Gedanken hinzu. „Glaub mir, ich bin auch nicht begeistert. Du hast das Zeug nicht gesehen, Jinna, es war echt gruselig. Ich denke, dass es keine gute Idee ist, auch nur in die Nähe davon zu kommen, geschweige denn es nach Miriam zu bringen. Aber was soll ich machen? Es ist nicht meine Entscheidung. Ich muss tun, was man mir sagt.“

    „Ich weiß.“ Jinna senkte den Kopf. „Als wir Libellen geworden sind, haben wir uns entschieden, diesen Weg zu gehen. Ich hätte nur nicht gedacht, dass er sich so schnell gabeln und uns auseinander führen würde.“

    Karim schloss sie in die Arme. „Wir sehen uns ja bald wieder. Nach Merialk ist es nicht weit und wir werden zu Pferd unterwegs sein. Vielleicht bin ich nächste Woche schon wieder hier.“ Er küsste sie auf die Stirn und löste sich von ihr. „Ich muss mich beeilen. Hab nur noch eine halbe Stunde, um zu packen. Grüß Mama von mir.“

    Die Sonne neigte sich auf den Horizont zu und die Wolken davor boten ein wundervolles Schauspiel. Sie hatten sich in unterschiedlichen Schichten über den Himmel gelegt, einige waren flauschig und klein, einige dunkel und dicht und andere zogen lange Fäden über den Himmel, die das Licht der Sonne in pures Gold verwandelte. Karim drehte sich im Sattel um und warf einen letzten Blick auf Miriam. Er hatte nicht damit gerechnet, der Stadt so bald schon wieder den Rücken zu kehren, und genauso wenig damit, dass er so früh in seiner Libellenlaufbahn bereits einen so wichtigen Auftrag erledigen sollte – wenn auch nur als Begleitung.

    Jonah schien es genauso zu verblüffen. Er wirkte geradezu geschockt. Stocksteif saß er auf seinem grau-beigen Schecken und hatte auf der ganzen Reise kaum ein Wort gesagt. Viel unterhalten durften er und Karim sich ohnehin nicht. Elzo, Idela und Merin sprachen leise miteinander und es wurde erwartet, dass ihre jüngeren Begleiter respektvoll schwiegen.

    Karim griff nach seinem Trinkschlauch und nahm ein paar Schlucke Wasser. Als er ihn an den Sattel zurückhängte, streiften seine Finger ein bauchiges Gefäß – eine Art Flasche mit weiter Öffnung. Sie war aus magischem Kristallglas gefertigt und mit einem Stopfen aus der Wurzel einer Eiskirsche verschlossen. Angeblich konnte dieses Gefäß Zauber gefangen halten. Elzo trug ebenfalls eines am Sattel, genauso wie Idela – für alle Fälle. Sie sollten den Spuk hineinfüllen und nach Miriam bringen. Karim mochte gar nicht daran denken. Gel, der Mann aus Merialk, hatte ihnen eingeschärft, den Spuk nicht zu berühren und das hatten sie auch nicht vor. Ihn mit sich herumzutragen schien Karim aber ebenfalls nicht die beste Idee zu sein. Doch wie Merin ihm bereits gesagt hatte, war es nicht seine Aufgabe, die Ideen der Kamiraen zu bewerten. Seufzend tätschelte er seinem Pferd Darlino den Hals und lehnte sich im Sattel zurück. Er genoss die letzten Sonnenstrahlen des Tages, die ihm ins Gesicht schienen.

    Das folgende Gespräch ist nicht ganz so rund, weil ich es ungefähr fünfmal überarbeiten musste und jetzt hängt es mir zum Hals heraus. Karims und Jinnas Handlungsstränge verliefen erst etwas anders und ich knacke immer noch daran, sie vernünftig auseinander zu friemeln und zu ändern. Aber so wie es jetzt ist, gefällt es mir zumindest besser.


    Pappsatt kam Jinna der Weg nach Hause viel länger vor als sonst, aber endlich erreichte sie das kleine Haus, stieß die Tür auf und trat in den hellen Wohnraum. Karim saß am Tisch und stopfte Eintopf in sich hinein.
    „Hey Schwesterherz“, sagte er. „Hast du mich vermisst?“
    Das hatte sie, so sehr, dass sie ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre, aber sie tat es nicht. Stattdessen zog sie ein Bündel aus der Tasche und legte es grinsend neben ihrem Bruder auf den Tisch. Neugierig schlug er das Leintuch auseinander und machte große Augen, als er das Gewürzbrot darin entdeckte. Es hatte Jinna so gut geschmeckt, dass sie darum gebeten hatte, einen Rest mit nach Hause nehmen zu dürfen.
    „Perfekt“, sagte Karim und riss sich gleich ein Stück ab, als wäre er am verhungern. Dabei konnte er als Libelle einfach ins Hauptquartier gehen und sich den Magen vollschlagen – egal ob Tag oder Nacht.
    „Wie war es?“, fragte sie. „Was hast du erlebt?“
    „Tja. Wir sind von niemandem umgebracht worden“, mampfte Karim. „Und niemand hat es versucht. Aber wir haben was Komisches entdeckt.“ Und er erzählte ihr eine seltsame Geschichte über einen unheimlichen Spuk: eine schwarze, mit glühenden Fäden durchzogene Masse.
    Jinna verzog angewidert das Gesicht. „Und jetzt?“, fragte sie.
    Karim zuckte mit den Schultern. „Unser Plan war, Hilfe von einem Zauberer zu holen. Das Problem ist, dass du die nicht an jeder Ecke triffst. Wir müssten Kontakt zum Rat der Magier aufnehmen und das wiederum geht nur über die Kamiraen. Elzo hat leider erst am Samstag-Vormittag ein Treffen mit ihnen. Er will einen Notfall-Termin, aber so richtig nimmt man uns in den oberen Etagen nicht ernst.“ Er seufzte. „Die obersten Libellen meinten, die Kamiraen hätten Wichtigeres zu tun, als sich um ein Stück ungewöhnlichen Dreck zu kümmern.“
    „Das ist nicht nett“, meinte Jinna.
    „Wirklich nicht. Aber spätestens Samstag klärt es sich ja von selbst. Und vielleicht auch schon früher: Elzo hat einen Bericht über alles geschrieben, was wir in Thalln erfahren haben und die Beobachtungen aus Merialk – das war das Dorf, in dem wir auf den Spuk gestoßen sind. Die Schriftrolle liegt schon bei Jonathan Niber auf dem Schreibtisch.“
    „Niber ist nicht da“, sagte Jinna. „Er ist mit Kandrajimo in die andere Welt aufgebrochen.“
    „Heißt das, Kandrajimo ist auch nicht da?“
    Jinna schüttelte den Kopf. „Seit du aufgebrochen bist, war er kaum im Hauptquartier. Zwischendurch kommt er mal für einige Stunden vorbei und geht dann wieder. Letzte Woche habe ich ihn kurz gesehen.“
    „Da war er sogar hier in diesem Haus“, erklang eine Stimme von der Treppe. Es war ihre Mutter, die gerade aus dem Dachgeschoss herunter kam. Über der Schulter trug sie ein langes Stück Stoff mit einem rötlich-metallischen Schimmer – eine ihrer Spezialanfertigungen. „Kandrajimo war vor ein paar Tagen bei mir und hat Fragen über das dritte Tor gestellt. Ich wollte dich schon längst drauf ansprechen, Jinna, aber du bist ja in den letzten Tagen kaum hier gewesen.“ Jinna schaute schuldbewusst drein. Sie verbrachte ihre Abende oft in Astrids Zimmer im Hauptquartier. Ihre Mutter fuhr fort: „Ich frage mich, woher Kandrajimos plötzliches Interesse für die Kette kommt, denn eigentlich dachte ich, du würdest gut darauf achtgeben und niemandem davon erzählen.“
    Jinna und Karim warfen sich erschrockene Blicke zu.
    „Ich hab sie Maja gegeben“, erklärte Jinna schuldbewusst. „Ich hatte das Gefühl, sie sollte das Tor haben, weil sie ja eine Kamiraen ist und weil man es eh nur von der anderen Welt aus nutzen kann. Heißt das, Maja hat Kandrajimo davon erzählt?“
    „Oder hat sie es benutzt?“, fragte Karim halb erschrocken, halb hoffnungsvoll.
    „Ich weiß es nicht. Kandrajimo wollte mir nichts sagen und ich konnte ihm leider auch nicht weiterhelfen“, sagte Alma. „Danach hat er Miriam sofort verlassen.“
    „Dann kann ich Elzo nicht weiterhelfen“, murmelte Karim zerknirscht. „Er hatte gehofft, dass ich Kandrajimo vielleicht persönlich auf die Sache mit dem Spuk ansprechen könnte, weil ich ihn ja kenne.“
    Jinna zuckte mit den Schultern. „Am Samstag klärt sich die Sache doch sowieso, hast du gesagt.“
    Karim schüttelte den Kopf. „Aber was, wenn es zu spät ist? Wenn sie dann noch einen Zauberer herrufen müssen – ich kann mir kaum vorstellen, wie lange das dauern wird. Die Menschen in Merialk brauchen dringend Hilfe. Ich wünschte, Feodor wäre noch hier, er hätte uns bestimmt sagen können, was das für Zeugs ist. Vielleicht hätter er sogar mit nach Merialk kommen können. Außer ihm und Meister Wolf kenne ich leider keine Zauberer. Und letzterer sitzt in seiner Hütte im Wald.“
    „Was ist mit Tamor?“, fragte Jinna. „Der ist noch hier, ich habe ihn letztens erst gesehen.“
    „Ach ja, Tamor. Daran hatte ich nicht gedacht. Aber ehrlich gesagt habe ich ihn noch nie richtig zaubern sehen. Er holt bloß immer die ganzen fertigen Speisen aus seinen Schränken.“
    Jinna grinste. „Besser als nichts. Wenn er euch begleitet, müsst ihr wenigstens nicht hungern.“
    „Er müsste uns nicht mal begleiten“, sagte Karim. „Er hat doch diese praktischen Häuser, bestimmt ist eines in der Nähe von Merialk.“
    Ihre Mutter ging zum Esstisch, auf dem eine große Kanne Tee stand. Sie goss sich eine Tasse ein und leerte sie in einem Zug. Dann setzte sie sich in ihren Schaukelstuhl und holte Nadel und Faden hervor. Auch Jinna nahm sich etwas Tee und blickte nachdenklich durch den Raum. Es war schon bemerkenswert, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte. Alma hatte nicht öffentlich gemacht, dass sie eine Spinnenweberin war – dass sie Metall zu Stoffen nähen konnte, die von kaum einer Waffe durchdrungen werden konnten. Andernfalls hätte sie sich vor Auftraggebern vermutlich nicht retten können und wäre innerhalb kürzester Zeit steinreich gewesen. Aber sie führte lieber ein Dasein im Schatten. Das hatte sie immer schon getan. Außerdem sagte sie, dass sie sich dann auch vor Entführern nicht würde retten können und das wolle sie nicht noch einmal durchmachen. Die wenigen Menschen, die von ihrem Talent wussten, hielten dicht und so bekam sie nur einige wenige, ausgewählte Aufträge. Doch es waren mehr als genug. Während sie früher in Jakarestadt oft Sorgen hatten, ob das Geld und die Vorräte reichen würden, kamen sie nun hervorragend zurecht. Ihr Leben hatte sich so sehr verbessert, dass die Kinder sich oft fragten, warum sie nicht einfach früher hergekommen waren.
    Jinna nippte am Rand ihrer Tasse. Der Tee war kalt. „Webst du eigentlich auch mal was für uns?“, fragte sie beiläufig. „Ich meine so Spinnenweber-Zeugs?“
    „Ach, das wird allgemein überschätzt“, sagte Alma. „Auch meine Stoffe müssen sich den Gesetzen der Physik beugen, weißt du?“
    „Was ist Physik?“, fragte Jinna.
    „Naturgesetze“, sagte ihre Mutter. „Sie erklären beispielsweise, warum etwas zu Boden fällt, wenn du es loslässt.“
    „Weil der Boden unten ist“, sagte Jinna.
    Alma schüttelte resigniert den Kopf. „Ich hätte damals nicht nach Jakarestadt ziehen dürfen“, sagte sie. „Dann hättet ihr viel früher eine Schule besuchen können.“
    „Es ist schon verrückt, oder?“, sagte Karim, als würden Jinnas Gedanken noch ihm Raum umherwabern und sich nun auf seine Zunge legen: „Vor etwas mehr als einem Jahr haben wir noch in Jakarestadt gelebt. Und jetzt sind wir hier, im Dienste der Kamiraen. Wir waren in der anderen Welt, auf der anderen Seite des Gebirges und im Dreizehnten Königreich, wir kennen haufenweise Zauberer, haben einen verrückten Hypnotiseur an der Beschwörung eines Dämons gehindert und selbst unsere Mutter hat so etwas wie eine magische Begabung. Und wir sitzen hier ganz gelassen am Küchentisch und unterhalten uns darüber, ob wir einen dieser Zauberer um Hilfe bei der Bekämpfung eines rätselhaften Spuks bitten.“
    Jinna kippte den Tee nun auch in einem Zug herunter. „Ja, genau“, sagte sie. „Lass uns das machen. Lass uns zu Tamor gehen.“

    Doch damit hatten sie keinen Erfolg. Tamor war in überaus schlechter Stimmung: „Ich bin nicht der Haus- und Hofhund der Kamiraen. Ich komme nicht schwanzwedelnd angerannt, wenn sie pfeifen. Nicht, dass ich es kategorisch ausschließen würde, aber dann will ich bitteschön auch eine Hundehütte im Garten haben.“
    Mit diesen Worten schlug er ihnen die Tür vor der Nase zu. Karim stand noch etwa zehn Minuten klopfend davor und versuchte, ihm ins Gewissen zu reden, jedoch ohne Erfolg.

    Ein kurzer Teil, es passte leider nicht anders. Dafür geht es hoffentlich bald schon weiter. Ich denke die nächsten Tage werde ich hier mal ein bisschen Meter machen.


    Als sie zwanzig Minuten später mit ihren Einkäufen durch das Eingangsportal des Hauptquartiers hastete, kam ihr Euen entgegen. Der unauffällige dunkelblonde Junge winkte ihr zu: „Jinna!“
    „Keine Zeit, Euen, lass uns später reden“, antwortete sie, ohne ihr Tempo zu verlangsamen.
    „Karim ist wieder da. Ich dachte, du würdest es wissen wollen.“
    Jetzt bremste sie doch und kam schlitternd in der Mitte der Halle zum Stehen. „Ich hab's schon gehört. Du weißt nicht zufällig, wo er ist?“ Sie blickte sich um, in der Hoffnung, er wäre vielleicht auch hier. Doch weder folgte er Euen noch war er sonst in der Menge auszumachen.
    Wie so oft war es voll hier in der Eingangshalle, Libellen kamen und gingen durch alle Ausgänge. Jinna hatte erst einmal allein in der Halle gestanden und war sich dabei sehr verloren vorgekommen unter der hohen Decke. Wenn man hinaufsah konnte man angesichts des Deckengemäldes denken, geradewegs vom Himmel zu fallen, direkt auf die Stadt Miriam zu. Sie mochte es lieber wenn die Halle voll war, so wie jetzt, und dutzende Menschen sie von dem unheimlichen Bild ablenkten.
    „Ich glaube, er wollte nach Hause gehen“, sagte Euen.
    Jinna biss sich auf die Lippen. Ihr blieb keine Zeit mehr, um nach Hause zu laufen. Sie musste sich so schon beeilen, um rechtzeitig zu ihrem Kurs zu kommen. Aber wenigstens wusste sie nun ganz sicher, dass Karim heil heimgekehrt war.
    „Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast“, rief sie, während ihre Füße sich schon wieder in Bewegung setzten. Eilig trabte sie Stufen hoch und Korridore entlang. Erst als sie schon im ersten Stock war, kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht ein bisschen mehr Würde bewahren sollte. Sie wollte nicht, dass man sie für kindisch oder unbeherrscht hielt. Sie bremste ihre Schritte und ging zügig, aber ohne zu rennen, weiter.

    Madam Takada erwartete sie in einem abgetrennten Bereich der Küche, in dem es mehrere Kochstellen gab, dazu Messer, Schüsseln, Brettchen und alles, was sie benötigen würden. Sie teilte ihre Schülerinnen und Schüler in Dreiergruppen ein und gab ihnen die Rezepte: Vorspeise, Hauptgericht, Nachspeise, ein leichtes Gewürzbrot, dazu marinierter Ziegenkäse und als Krönung Wisskrautbowle, die in der Gegend nördlich des Dschungels bei fast jedem Ereignis ausgeschenkt wurde, gleich in welchem Haushalt, ob arm oder reich. Während ihre jungen Schützlinge sich an die Arbeit machten, ging Madam Takada herum und gab Tipps.
    Nach etwa einer Stunde musste von jeder Gruppe ein Mitglied mit ihr kommen, um ein Stockwerk höher den Tisch zu decken. Hier war ein Speisesaal, der normalerweise für offizielle Anlässe genutzt wurde. Nicht nur mussten sie den Tisch mit Tellern, Gläsern und Besteck decken, sondern auch die Lampen entzünden und die passende Dekoration auswählen. Für den heutigen Tag würde sie eher schlicht sein, ein paar grüne Servietten, ein paar Kräuterzweige in quadratischen Steingefäßen und ein Kerzenhalter in Form eines gewundenen Astes, der mitten in die Mitte des Tisches gelegt wurde. Dann schickte Madam Takada die Gruppe zurück in die Küche, wo es so langsam Zeit wurde, die Lammspieße auf das Feuer zu legen.
    Schließlich waren die Gruppen fertig und trugen ihre Werke in den Speisesaal. Es sah aus, als hätten sie für Fürsten oder Edelfrauen gekocht, doch sie selbst würden dieses herrliche Mahl verspeisen dürfen. Jinna warf Astrid ein breites Grinsen zu, denn diese hatte am Vortag noch verkündet, allein für die Speisen lohne sich der Kurs.
    Madam Takada schnalzte mit der Zunge. „Auf geht’s: umziehen.“
    Sie huschten in den Nebenraum, in dem für jeden von ihnen ein Kleidungsstück aus der örtlichen Mode nördlich des Dschungels bereitlag. Schnell die Hände in der Waschschüssel gesäubert und rein in die Gewänder. Zum Glück waren sie heute nicht allzu kompliziert zu schnüren. Jinna und Astrid halfen sich gegenseitig. Madam Takada hätte es gerne gesehen, wenn sie auch ihr Haar passend frisiert hätten, doch dazu war keine Zeit, wenn nicht das Essen kalt werden sollte. Jinna machte sich eine Notiz im Kopf, sich beim nächsten Mal im Vorfeld darum zu kümmern. Eilig stellten sich alle Mädchen und Jungen an der Tür zum Speisesaal auf. Madam Takada ließ einen Gong ertönen.
    „Die Show beginnt“, murmelte Astrid, denn für die nächsten zwei Stunden würden sie sich fühlen, wie in einem anderen Leben. Das Leben von sehr reichen und gut speisenden Menschen. Nur die Dienerschaft fehlte, um die Illusion perfekt zu machen. Die Tür ging auf und obwohl Jinna die letzte Stunde nichts anderes gerochen hatte, schien der Duft des frischen Brotes und der Lammspieße nun überwältigend.

    Familientreffen

    Es war früher Nachmittag. Die grauweißen Wolken am Himmel färbten die Dächer Miriams in demselben blassen Ton, sodass die Häuser der Stadt seltsam farblos wirkten. Unten in den Gassen dagegen herrschte ein buntes Treiben. Den Tauben auf den Dächern bot sich das Bild von bunten Tupfen aus rot, grün, orange und anderen Farben, die zwischen ebenso farbenfrohen Rechtecken hin und her hasteten. Es war Markttag und Jinna war einer dieser Tupfen, die von Stand zu Stand hechteten.
    »Gibt es hier Chadir?«, rief sie den Händlern zu und ließ die Augen über die Auslagen schweifen. Die Antwort war 'nein', wieder und wieder 'nein'.
    Manche der Gemüsestände waren schon fast ausverkauft und die Händler räumten die leeren Kisten in ihre Karren. Die lokalen Obst- und Gemüsesorten gab es noch, doch alles was von weit her kam, war in letzter Zeit selten geworden. Die Händler hatten Lieferschwierigkeiten.
    Ein würziger Geruch umhüllte Jinna und weckte neue Hoffnung in ihr. Sie folgte dem Duft zu einem Gewürzstand, dessen Auslagen noch sehr voll waren. Ein Blick auf die Preise verriet ihr auch den Grund dafür.
    »Habt Ihr Chadir?«, fragte sie die hagere Frau, die die Hände der Menschen aus dem Schatten der Auslage scharf im Auge behielt. Ihre Augen wanderten suchend umher und fokussierten sich schließlich auf Jinna.
    »Chadir?« Sie schüttelte den Kopf. »Du kannst es mit Tapfenblättern versuchen, die meisten schmecken den Unterschied gar nicht.«
    Jinna überlegte kurz, ob sie den Rat annehmen sollte, verwarf den Gedanken aber schnell. Madam Takada würde es merken.
    »Ich brauche echtes Chadir und zwar heute noch. Habt Ihr eine Idee, wo ich es kaufen könnte?«
    Die alte zuckte die Schultern. »Interessiert mich nicht, solange du es nicht bei mir kaufst.«
    Jinna seufzte. »Sagt Ihr es mir, wenn ich etwas von den Tapfenblättern kaufe?«, fragte sie. Dann hatte sie zur Not wenigstens einen Ersatz. Aber die Blätter würde sie von ihrem eigenen Geld kaufen müssen, da sie nicht auf der Liste standen.
    Die Frau nickte und begann ein paar Blätter abzuwiegen und mit einem Faden zusammenzubinden, während Jinna in ihren Taschen nach Münzen suchte, die ihr selbst gehörten. Zum Glück hatte sie immer ein paar Notgroschen in der Tasche. Sie legte sie auf die Theke, riss der Frau das Bündel aus der Hand und sah sie schließlich erwartungsvoll an.
    »In der Tambachstraße ist ein Feinkostladen. Dort haben sie vermutlich Chadir, aber eine Garantie kann ich dir nicht geben. Dafür ist die Lage im Moment zu unsicher.«
    Jinna bedankte sich nicht. Stattdessen rannte sie los. Sie hatte eine ungefähre Vorstellung, wo die Tambachstraße lag – und zwar am anderen Ende der Stadt. Sie hatte schon jetzt viel zu viel Zeit mit dem Einkauf verbracht und ihre Aufgaben an diesem Morgen vernachlässigt. Eigentlich hätte sie die Korridore im dritten Stock fegen sollen und ein wenig Zeit war ihr zugerechnet worden, um ihre eigenen Libellengewänder in die Wäscherei zu bringen und ihren Schrank auf Vordermann zu bringen. Das würde sie nun alles nicht schaffen und sie konnte nur beten, dass niemand den Korridor kontrollierte, denn um zwei Uhr erwartete Madam Takada sie in einer der Küchen. Es war Mittwoch – der Tag, an dem ihr Kurs jede Woche gemeinsam zu Abend aß. Als Jinna das erste Mal davon gehört hatte, war ihr nicht klar gewesen, dass sie das Essen gemeinsam vorbereiten würden und auch den Einkauf selbst erledigen mussten. Heute sollte es Lammspieße geben nach Art, wie man sie in den Suraki-Ebenen, nördlich des Dschungels von Jorthas aß. Chadir waren kleine scharfe Beeren, die dem Gericht seinen typischen Geschmack gaben.
    Jinna bog um eine weitere Ecke und bremste abrupt ab. Dies war die Tambachstraße und direkt vor ihr verkündete ein buntes Schild, dass es in dem Geschäft darunter Speisen vom Feinsten gab. Schon die Schaufenster und die Eingangstür sahen edel aus, der Griff glänzte golden. Jinna strich ihr Libellengewand glatt. Damit stand ihr zum Glück jede Tür in Miriam offen. In dem geflickten Rock, den sie noch am Vorabend getragen hatte, hätte man sie wohl nicht hineingelassen. Als sie eintrat, läutete eine Glocke über der Tür und sofort erschien ein schmalgesichtiger Mann mit einem Schopf weißen Haares und einem Schnurrbart.
    „Guten Morgen“, grüßte Jinna, „ich möchte bitte Chadir kaufen.“
    Der Mann hob die Augenbrauen. „Du hast Glück“, sagte er dann und Jinna entfuhr ein erleichterter Seufzer. „Es war seit Monaten ausverkauft, aber heute Morgen ist ein Handelstrek aus Thalln eingetroffen und hat mir die seltenen Beeren geliefert.
    „Aus Thalln?“, fragte Jinna. „Das waren nicht zufällig die Händler, die von den Libellen begleitet wurden?“
    „Ebendie“, nickte der Verkäufer.
    Jinna wurde ganz aufgeregt. Wenn stimmte, was der Mann sagte, dann musste Karim ins Hauptquartier zurückgekehrt sein. Fast zwei Monate hatte sie ihren Bruder nicht mehr gesehen, viel länger als erwartet. Sie hätte sich Sorgen gemacht, wenn die Begleiter des Handelszuges nicht regelmäßig Brieftauben geschickt hätten, die dem Hauptquartier verkündeten, dass alles, mal abgesehen von den Straßenverhältnissen, in Ordnung war. Hastig wurde Jinna sich mit dem Verkäufer einig, packte die Beeren ein und verließ überstürzt den Laden. Draußen begann sie zu rennen. Das Gewand der Libellen flatterte hinter ihr her. Wenn sie Karim schnell fand, reichte die Zeit vielleicht noch für eine Umarmung und einen kurzen Wortwechsel, bevor sie zu Madam Takada musste.

    Arrgh, was ist denn hier los? Jetzt muss ich ja weiterschreiben, wenn meine Lieblingsleser auf dem neuesten Stand sind. Damit habe ich dieses Wochenende nicht gerechnet und es tut sehr gut, da ich irgendwie ein leicht mieses Wochenende habe.

    Also vielen, vielen Dank

    Was ist mit Feodor? Der wäre sicherlich hilfreicher als Niber gewesen :D

    Feodor genießt noch Welpenschutz ;)

    Nein, er ist gerade auf Weltreise und läuft irgendwo nahe der Hauptstadt herum. Sie könnten ihn zwar kontaktieren, aber so schnell käme er dort nicht weg, denn er beherrscht die Verschiebung ja nicht. Vielleicht könnte er eines von Tamors Häusern nutzen, als Zauberer könnte er das, aber nach Miriam kommt er damit auch nicht. Ich muss mir mal überlegen, wo Tamors Häuser genau stehen.

    Die Piraten können Maja auch einfach töten uns ihr Habe dann immer noch verkaufen.

    Ja, stimmt, könnten sie. Dann wäre die Geschichte aber schnell zu Ende, oder? :pirate: Und niemand würde herausfinden, was mit Käse passiert ist.

    Hallo Kyelia,

    vielen Dank für deinen Kommentar und dass du alles gelesen hast :love:

    Der Zufall will es, dass ich heute tatsächlich ein wenig Zeit zum Schreiben eingeplant habe, da ich einen langen, leeren Nachmittag vor mir habe. Mal schauen, ob ich da sogar was schaffe.

    Ich glaube Kandrajimo hat nur Humor, wenn er mit Tabea oder Meister Wolf zusammen ist :) Die beiden sind jedenfalls seine engsten Freunde.

    Ich mag es richtig, die Charaktere aus der Welt ohne Namen in unserer herumstreifen zu lassen. Die Szenen sind ja recht kurz und es bleibt nicht viel Zeit für Details. Irgendwann werde ich das Thema noch gründlicher aufgreifen :D

    Mir fiel gerade auf, dass ich nicht mal das Kapitel zu Ende gepostet hatte und es ist schon wieder ein paar Monate her. Aber na gut, hier kommt jedenfalls der Rest:


    Sie gingen in einem weiten Bogen um das Lager von Dreizehns Leuten herum und kamen gut voran, bis Maja plötzlich ein zugegebenermaßen ziemlich verrückter Gedanke kam. Sie wusste nicht, wie sie jetzt darauf kam, er entsprang einfach völlig unerwartet ihren Gedanken: Wenn Dreizehns Leute sie hier erwischten, würden sie Maja nach Andraya bringen. Genau dorthin, wo sie hin wollte. Hin musste. Doch es war keine gute Idee, dass sie den Gedanken sofort aussprach.
    Ben hielt sein Pferd so abrupt an, dass Khjavef in es hinein lief und Ben's Grauer erschrocken nach hinten austrat. Ben beruhigte ihn und drehte sich schließlich im Sattel um, um Maja schockiert anzusehen.
    „Bist du völlig verrückt?“, fragte er.
    „Vielleicht“, antwortete Maja. Okay. Das war keine gute Antwort.
    Ben stieg ab und machte dabei ein Gesicht wie auf einer Beerdigung. „Du bist verrückt“, stellte er fest. „Wie kommst du darauf, dass sie das tun werden?“
    „Weil sie es tun. Ist das nicht das, was sie immer machen? Leute nach Andraya verschleppen? Du hast selbst gesagt, dass sie das tun.“
    „Was weiß ich, was sie tun. Sie könnten dich auch nicht dorthin bringen. Sie könnten dich verletzen oder töten. Was willst du machen? Zu ihnen gehen und sagen, du willst nach Andraya? Sie werden dich auslachen und dich genau dort nicht hinbringen.“
    „Ich werde ihnen einfach sagen, wer ich bin.“
    Ben hob die Augenbrauen. „Und wer bist du?“
    „Maja Sonnfeld.“
    „Soll mir das irgendetwas sagen?“ Er klang sarkastisch.
    „Ich bin eine Kamiraen“, fügte sie hinzu, doch Ben schaute immer noch ratlos und spöttisch drein. „Ihnen wird es etwas sagen.“ Maja sah zu dem Lager hinüber. Sie hatte sich längst entschieden. Verzweifelte Situationen erforderten verzweifelte Maßnahmen. Sie schnalzte und trieb Khjavef an, doch als er los ging, packte Ben sie am Arm und hielt sie fest. „Lass das“, sagte Maja und versuchte, ihn abzuschütteln, aber er ließ sie nicht los. Von Khjavef in die eine und von Ben in die andere Richtung gezogen fiel sie vom Pferd. Da das Gras so weich war, tat sie sich kaum weh, aber sie wurde ziemlich wütend.
    „Spinnst du?“, fauchte sie. Khjavef blieb stehen und glotzte sie verwundert an. Maja rappelte sich auf.
    „Du hast das jetzt nicht wirklich vor?“, fragte Ben.
    „Allerdings.“
    „Und dann? Wie sieht der Rest des Plans aus? Was machst du, wenn du in Andraya bist? Ausbrechen? Wie? Und wie willst du deinen Bruder retten, wenn du selbst gefangen bist?“
    „Ich werde es irgendwie schaffen“, sagte Maja.
    „Ich glaube, da überschätzt du dich gewaltig.“
    „Ich habe es immer irgendwie geschafft.“
    „Immer?“ Ben betrachtete sie von Kopf bis Fuß. „Ich weiß nicht, wofür du dich hältst, aber vielleicht solltest du dein Selbstbild noch einmal überdenken.“
    „Was geht es dich an?“, blaffte Maja ihn an. „Du weißt nichts über mich und meinen Bruder. Nichts. Du weißt nicht, was ich durchgemacht habe, du weißt nicht, was ich schaffen kann. Also misch dich nicht ein.“
    „Stimmt“, sagte Ben ruhig. „Ich weiß nichts über dich und du nichts über mich. Aber ich habe dir das Leben gerettet und ...“
    „Halt die Klappe“, fauchte Maja. „Glaub nicht, bloß weil du mein Leben gerettet hast, hättest du das Recht, darüber zu bestimmen. Das hat schon mal jemand geglaubt und ich habe keine Lust mehr darauf. Ich tue, was ich für richtig halte und wenn ich dabei drauf gehe, dann ist es meine Sache.“
    Ben holte aus und verpasste ihr eine Ohrfeige, dann packte er sie und riss sie zu Boden. Er drückte ihre Hände in den Schlamm, sein Knie presste gegen ihre Brust. „Ich lass nicht zu, dass du das tust. Du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt. Du kannst doch nicht mehr klar denken.“
    Maja riss sich mit einem gewaltigen Ruck los und verpasste ihm ihrerseits eine Ohrfeige. In einem Wirbel aus grünen Haaren fiel er zur Seite und wälzte sich im Schlamm.
    „Mach das nie wieder“, sagte Maja.
    Er drehte den Kopf zu ihr. „Wenn du deinen Bruder retten willst, musst du frei sein. Als Gefangene kannst du ihm nicht helfen und wenn du tot bist auch nicht.“
    „Dein Plan mit den Piraten ist nicht besser als meiner. Du hast selbst gesagt, dass sie mich vielleicht umbringen.“
    „Nur wenn du dich blöd anstellst.“
    Maja starrte ihn eine Weile an und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. „Nicht überzeugt“, sagte sie schließlich.
    „Du kannst wirklich nicht mehr klar denken“, sagte Ben. „Wenn du es noch könntest, würdest du merken, dass du längst aufgegeben hast.“
    „Ich habe nicht aufgegeben.“
    „Doch, das hast du. Aber du kannst einfach nicht aufhören, weiterzugehen. Nur … in Wahrheit ist es dir völlig egal, ob du lebst oder stirbst. Vielleicht willst du sogar sterben. Weil du mit deinem Leben nichts mehr anzufangen weißt.“
    „Ich will nicht ...“ Maja verstummte, weil sie die Wahrheit in seinen Worten erkannte. Es war nur ein kleines Körnchen Wahrheit, aber es war nicht zu leugnen.
    „Du musst lernen zu akzeptieren, dass dein Bruder fort ist. Du musst versuchen, ohne ihn weiter zu leben.“
    „Das kann ich nicht. Das werde ich nicht. Du verstehst das nicht. Ich habe es geschafft, ich habe schon mal jemanden aus Andraya gerettet. Jemanden, den ich nicht einmal kannte. Es war verrückt und leichtsinnig und ich hatte mehr Glück als Verstand, aber wenn ich diese Person damals gerettet habe, wie kann ich meinen eigenen Bruder im Stich lassen? Auch wenn ich nicht glaube, dass es noch einmal klappt, ich muss es versuchen.“
    Ben seufzte. „Du meinst es wirklich ernst oder? Du warst wirklich schon mal in Andraya?“
    Maja nickte.
    Verwirrt schüttelte der Junge den Kopf. „Wer bist du?“
    Maja musste erst darüber nachdenken. „Ich weiß es nicht“, gestand sie.
    „Dann rette ihn“, sagte Ben schließlich. „Versuch es. Geh nach Andraya, aber nicht als Gefangene, das ist nicht der richtige Weg. Geh auf deine Weise. Als freier Mensch. Lass sie nicht wissen, dass du kommst.“
    „Du glaubst doch selbst nicht, dass ich es schaffe“, sagte Maja.
    „Tu ich auch nicht. Aber was ich glaube, spielt keine Rolle. Allein was du glaubst, zählt.“
    Was sie glaubte. Sie glaubte, sie würde dabei draufgehen. Sie hatte schon zu viel Glück gehabt und das hier war einfach nicht schaffbar. Sie und Ben lagen sich gegenüber und starrten sich an. Khjavef und Ben's graue Stute legten die Köpfe übereinander. Ein Regentropfen traf Maja am Auge. Als er über ihren Nasenrücken lief, merkte sie, wie er sich mit Tränen vermischte. Und dann fing sie an zu weinen. Ben stand auf und strich ihr über den Rücken. Es tat gut, nicht allein zu sein.
    Als sie aufgehört hatte zu weinen, war Maja bereit weiter zu gehen. Nach Kabaran. Ben hatte sie nicht überzeugt, aber sie vertraute ihrem eigenen Urteil nicht mehr. Also würde sie tun was er sagte. Sie würde ein Schiff suchen, das sie nach Andraya brachte. Und dann? Ben würde ihr dann nicht mehr sagen können, was sie tun sollte. „Komm mit“, sagte sie. Er hatte Recht, sie wussten nichts voneinander. Sie hatten nicht über persönliches gesprochen. Die beiden Tage, die sie miteinander geritten waren, hatten sie nur über Belangloses geredet. Trotzdem konnte sie den Gedanken nicht ertragen, ohne ihn zu sein. Denn obwohl sie sich nicht kannten, waren sie einander nicht gleichgültig.
    „Nein“, sagte Ben. „Wenn du gehen willst, musst du das alleine tun. Ich kann dich nicht einmal in die Stadt begleiten, denn die Piraten können mein Volk nicht ausstehen. Hey“, sagte er, als sie den Kopf hängen ließ. Du kommst auch alleine zurecht.“
    „Nein, komme ich nicht. Genau das ist ja das Problem“, sagte Maja.
    „Du darfst dich nur nicht aufgeben“, sagte Ben. „Versprich mir, dass du dich nicht aufgibst.“
    Maja seufzte. „Ich verspreche es.“
    „So und jetzt noch einmal mit mehr Überzeugung. Sag es nicht mir, sag es deinem kleinen Bruder.“
    Es war, als würde sie Käse vor sich sehen. Den klugen, mutigen, mitfühlenden Käse. „Ich verspreche es“, sagte sie und dieses Mal steckte sie alle Überzeugung in ihre Stimme, die sie aufbrachte. Und stellte fest, dass sie noch mehr davon hatte, als sie erwartet hatte.

    Der richtige Weg

    Die untergehende Sonne verwandelte das überschwemmte Gebiet vor ihnen in ein Meer aus flüssigem Gold. Der Sonnenuntergang wurde von keinem Wölkchen getrübt und Maja konnte sich nicht daran sattsehen.
    „Siehst du den letzten goldenen Streifen, bevor der Himmel anfängt?“, fragte Ben. „Das ist das Meer. Und der Schatten davor ist Kabaran.“
    Er hatte sich bereiterklärt, sie bis zur Stadt zu begleiten, etwas, wofür ihm Maja mehr als dankbar war. Mit ihm hatte sich ihre Reise komplett verändert. Sie ging nicht mehr stur geradeaus und stopfte sich zwischendurch etwas zu essen rein, um sich dann auf dem trockensten Stückchen Land zum Schlafen zusammenzurollen. Mit Ben-Thala-Mi hatte sie einen geregelten Tagesplan, der ihnen und ihren Pferden Pausen gönnte, sie hatten immer genug zu essen und ein trockenes Zelt, um darin zu schlafen. Ben ließ sie hinein, auch wenn es zu zweit sehr eng wurde. Er brachte ihr auch das Fischen mit einem Speer bei und zeigte ihr, was man aus den Pflanzen der Gegend Essbares herstellen konnte. Er hatte nicht untertrieben: in den Silberwiesen konnte man prinzipiell alles essen. Und schon nach ein paar Tagen fand Maja den Gedanken lächerlich, wie sie je hatte fast verhungern können. Sie öffnete die letzten beiden Dosen Erbsensuppe wider besseres Wissen, denn sie wollte Ben zeigen, wie sie schmeckten. Sie kochten die Suppe über dem Feuer und Ben meinte, sie rieche merkwürdig. Er nannte sie später gewöhnungsbedürftig und viel zu salzig. Aber es schmeckte ihm, seinen gebratenen Fisch darin einzutauchen. Maja fand eher, dass die Silbergrasknollen gewöhnungsbedürftig schmeckten. Und viel zu süß. Da Ben sie in jedes Essen steckte, schmeckte im Grunde genommen alles wie Nachtisch.
    Mit vollerem Magen erlangte Maja ihre Zielstrebigkeit zurück, blöderweise gaben die längeren Pausen ihr auch mehr Zeit und Kraft, um über ihren Bruder nachzudenken. Sie hatte das Gefühl, schon viel zu lange unterwegs zu sein. Wieder zweifelte sie ihren Plan an. Wenn man Käse gar nicht nach Andraya brachte, war alles umsonst. Vielleicht hatte man ihn nicht einmal in diese Welt gebracht. Und weiter die Frage, was Dreizehn überhaupt von ihrem kleinen Bruder wollte. Hatte er vor, ihn auf irgendeine Weise gegen sie zu benutzen? Aber das machte keinen Sinn, denn so leicht wie er Käse hatte entführen lassen, hätte er sie auch einfach töten lassen können. Oder nicht?
    Maja versuchte, ihre eigenen Kräfte abzuschätzen. Sie sah sich immer noch als schwaches, hilfloses Mädchen. Aber sie hatte jetzt schon einiges überlebt. War sie ihm nicht schon ein ganzes Jahr lang erfolgreich entkommen? Tabea hatte ihr das Kämpfen beigebracht, aber das war es nicht, was sie gerettet hatte. Im Ernstfall konnte sie erstaunliche, geradezu unerklärliche Kräfte entwickeln. Die Kräfte der Kamiraen. Maja konnte sie weder kontrollieren noch im Entferntesten abschätzen und besonders zuverlässig waren sie auch nicht, aber es war nicht zu verleugnen, dass sie sie beschützt hatten.
    Andererseits konnte Maja sich nicht vorstellen, dass die dreizehnte Garde in jener Nacht, in der sie Käse entführt hatte, gescheitert wäre, wenn sie stattdessen versucht hätte, Maja zu töten. Oder doch? Maja wusste in dieser Richtung weder ein noch aus und so stopfte sie diese Gedanken in die hinterste Schublade ihres Bewusstseins und versuchte, sie zu vergessen. Zwangsweise kehrten ihre Gedanken daraufhin wieder zu Käse zurück und drehten sich endlos um dieselben Fragen.
    Auch jetzt, während sie über die glühende Ebene schaute, drängten sie sich wieder in ihr Bewusstsein. Um sie fernzuhalten versuchte sie, sich auf Einzelheiten in dem goldgefleckten Wirrwarr zu konzentrieren.
    „Was ist das?“, fragte sie, auf ein dunkles Gebilde zeigend. „Dort drüben. Sieht aus wie ein Gebäude.“
    Ben schüttelte nur den Kopf. „Ich kann nichts sehen.“
    Maja friemelte ihre Satteltaschen auf, zog das Fernglas heraus und hielt es sich vor die Augen. Es dauerte einen Moment, bis sie das Objekt wiedergefunden hatte. „Oh Mann“, sagte sie. Es war eine kleine Festung aus Holz, so etwas wie die befestigen Lager der Römer einst. Und über dem Tor hing die grün-weiße Flagge des dreizehnten Königreichs mit dem schwarzen Halbdrachen darauf. Sie reichte Ben das Fernglas. Aus irgendeinem Grund benutzte er nur eine der Röhren zum Durchschauen, aber es dauerte nicht lange, bis auch er das Lager erblickt hatte.
    „Das ist kein Problem, wir können es weiträumig umgehen“, sagte er. „Aber vielleicht sollten wir heute Nacht kein Feuer machen.“
    Maja sah ihn erstaunt an. „Findest du es nicht schrecklich, dass sie überhaupt da sind?“
    „Wo kommst du denn her, dass du dich darüber so sehr wunderst?“ Und er erklärte ihr, warum ihn die Anwesenheit von Dreizehns Leuten so wenig verwunderte: Sie waren einfach überall. Wie Konfetti auf einer Tischdecke waren ihre Lager über die Silberwiesen verteilt.
    „Warum?“, fragte Maja.
    „Sie leben hier. Sie bilden ihre Soldaten aus und jagen und werfen drohende Blicke in Richtung der Piratenstädte.“
    „Aber warum hier? Warum macht Dreizehn das nicht in seinem eigenen Land?“
    Ben warf ihr einen mitleidigen Blick zu. „Das hier ist sein Land.“
    „Wir sind in Andraya?“
    „Quatsch. Andraya ist nur das Herzstück seines Reiches. Aber er herrscht über viel mehr: Die Silberwiesen, Brieknak, das verlorene Meer, die roten Berge, das Land des ewigen Regens und noch mehr.“
    „Das heißt, eigentlich gehörst du zu Dreizehn?“
    „Nein. Seine Leute und wir leben eher aneinander vorbei. Wir verstecken uns vor ihnen, sie nehmen sich vor uns in Acht ... manchmal endet es blutig ...“ Er pustete sich lässig eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich schlage vor, wir gehen erst mal von dieser Anhöhe runter und umkreisen sie rechts.“
    „Gehören die Piraten auch zu Dreizehn?“, fragte Maja.
    „Nein, die gehören nur sich selbst. Manchmal legen sie in Andraya an und treiben Handel mit Dreizehns Leuten, aber da es meistens darauf hinaus läuft, dass die Piraten ihnen ihre eigenen gestohlene Güter andrehen wollen, sind sie nicht gut aufeinander zu sprechen. Also was ist jetzt? Oder traust du dich nicht weiter?“
    „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mich von denen aufhalten lasse“, sagte Maja, packte Khjavef am Zügel und ging voran.
    Sie kamen nicht weit, bevor es dunkel wurde, also schlugen sie ihr Lager auf und setzten den Weg am nächsten Tag fort.

    Auch wenn ich liebend gerne bei Kandrajimo, Tabea und Niber schreibe, habe ich Maja nicht vergessen und jetzt geht es bei ihr weiter.

    Probleme machen mir im Moment nur Karim und Jinna. Irgendwie kann ich mich in die beiden nicht richtig reinfühlen.


    Ben-Thala-Mi

    Maja ging langsam aber sicher das Essen aus. Zwei Dosen Erbsensuppe hatte sie noch, ansonsten nichts mehr. Und diese zwei Dosen schleppte sie nun schon seit über einem Tag mit sich herum, ohne sie anzurühren. Solche Angst hatte sie vor dem Moment, in dem sie gar nichts mehr zu essen haben würde. Sie war erschöpft und ausgelaugt und jetzt kam auch noch Hunger dazu. Sie musste immer längere Pausen machen und danach war es jedes Mal eine größere Überwindung, aufzustehen und weiter zu gehen. Aber wenigstens regnete es nicht mehr ganz so viel, sodass sie zumindest zeitweise trocken war und ein paar Stunden schlafen konnte.
    Eines Abends erreichte sie einen breiten Bachlauf. Am Grund konnte man Fische vorbei schwimmen sehen. Maja dachte einen Moment nach, dann nahm sie das Schwert aus Taroq und zog es vorsichtig aus der Scheide. Sie watete in die Mitte des Baches und begann nach den Fischen zu schlagen. Sie erwischte keinen einzigen. Wohin sie auch hieb, die Fische schienen immer um Zentimeter an der Klinge vorbeizuflutschen. Das Einzige, das sie aufspießte, war ein Stück Holz. Schließlich warf sie sich frustriert ans Ufer. Erst als der Himmel sich schon rot färbte, stand sie wieder auf und stellte sich in die Mitte des Flusses. Wenn sie nicht bald etwas zu Essen besorgte, würde sie verhungern und die Fische waren die einzige Nahrungsquelle hier. Sie würde es noch einmal probieren – diesmal mit Geduld. Mit erhobenem Schwert stand sie im hüfthohen Wasser und folgte den Fischen mit den Augen. Der Bach war hier sehr klar, aber er spiegelte auch die rote Sonne wieder. Maja konnte nur die Fische sehen, die in ihrem eigenen Schatten schwammen. Dann verschwand der Feuerball hinter dem Horizont und der Himmel wandelte sich zu einem gedämpften Violett. Der Wind blies Maja das Haar aus dem Gesicht und kräuselte das Meer aus Gras um sie herum. Das Rascheln der Halme erfüllte die Luft. Ein besonders großer Fisch kam auf sie zu und sie spannte sich an. Als der Fisch sie fast erreicht hatte, schnellte sie nach vorne und stach zu. Die Spitze des Schwertes bohrte sich durch den Fisch und in den Boden darunter. Maja sah das Blut den Bach entlang fließen. Als sie sicher war, dass der Fisch nicht mehr lebte, packte sie ihn und schleppte sich damit an Land. Dann starrte sie das tote Tier an und fragte sich, wie hungrig sie wohl sein musste, um es roh zu essen, denn hier gab es nichts, womit sie ein Feuer hätte machen können. Sie hob den Fisch an ihr Gesicht und roch daran. Er roch mehr als unappetitlich. Trotzdem nahm sie ihr Messer und begann, ihn zu filetieren. Sie hatte Gendo, Mirno, Karim und Jinna bereits dabei zugesehen, aber die Praxis war dann doch etwas anderes. Am Ende hatte sie nur ein paar kümmerliche Fetzen in denen immer noch Gräten steckten. Der Fisch kam ihr nun noch unappetitlicher vor als zuvor. Mit langen Zähnen biss sie ein winziges Stück ab – und spuckte es sofort wieder aus. Seufzend steckte sie den Fisch in ihre Satteltasche und begann, ihr Lager für die Nacht herzurichten.

    Sie erwachte durch etwas Spitzes, das ihr gegen die Hüfte drückte. Als würde jemand sie mit dem Fuß anstupsen. Als sie die Augen aufmachte sah sie den wolkenverhangenen Himmel und davor eine schlanke Gestalt, die auf sie herab sah. Es war ein Junge. Das Erste, was Maja durch den Kopf schoss war, ob er sich die Haare gefärbt hatte. Sie waren lindgrün, lang und glatt. Er hatte sie im Nacken lose zusammengebunden.
    Im nächsten Moment bekam Maja Panik. Sie wollte nach ihrem Schwert greifen, doch es lag außerhalb ihrer Reichweite. Der grünhaarige Junge war bewaffnet, er trug einen Bogen über der Schulter und ein Messer am Gürtel. Doch seine Hände waren leer und offen und er lächelte.
    „Hallo!“, sagte er auf Paratak.
    Die Sprache brachte Maja einen Moment durcheinander und sie sah ihn verwirrt an, dann sagte sie ebenfalls „Hallo“.
    Der Junge folgte ihrem Blick zu dem Schwert aus Taroq, ging hin und hob es vorsichtig auf. Maja stützte sich auf die Ellbogen und beobachtete ihn argwöhnisch, rührte sich aber nicht von der Stelle.
    „Ich habe dich gestern beim Fischen beobachtet“, sagte der Junge und kniete neben ihren Satteltaschen nieder. „Du warst nicht schlecht. Aber es hat ja ewig gedauert.“
    „Was machst du da?“, fragte Maja. Wollte er sie ausrauben?
    Er zog den Fisch heraus, hielt ihn in die Höhe und roch daran. „Du hast Hunger, oder?“ Er warf ihr den Fisch zu. Maja versuchte, ihn zu fangen, aber er rutschte ihr durch die Finger.
    „Das Gute an des Silberwiesen“, sagte der Junge, „ist, dass darin niemand hungern muss. Man kann hier alles essen, man muss es nur wissen.“ Und mit diesen Worten zog er an einem Büschel Grashalme und riss es aus der Erde. An den langen, silbernen Halmen hing eine Handvoll rot-brauner Knollen, wie winzige Kartoffeln. „Du kommst von weit her, oder?“ Er warf ihr auch die Knollen zu. „Sammel so viele davon, wie du brauchst und wasche sie. Ich mache ein Feuer.
    Der Junge durchsuchte Majas Sachen und nahm auch ihr Messer an sich. Das Schwert hängte er sich über die Schulter. Maja protestierte nicht. Sie war damit beschäftigt, büschelweise Gras aus dem Boden zu reißen und die Knollen von den Wurzeln zu lösen. Konnte man sie wirklich essen? Dann wäre sie beinahe vor der gedeckten Tafel verhungert. Der Junge entfernte sich ein paar Meter und kam mit einem grauen Pferd zurück. Es trug ebenfalls einen Sattel mit Taschen und er nahm verschiedene Dinge heraus: Einen Kessel, Teller aus Holz, eine dünne Schale aus Metall, ein paar rote Brocken, Feuersteine und trockenes Holz. Dann begann er, auf der Schale ein Feuer zu entfachen und ein Gestell für den Kessel zusammenzubauen.
    „Man kann die Knollen auch roh essen, aber gekocht schmecken sie besser“, sagte er, als Maja mit den gewaschenen Knollen zu ihm kam. Er hielt ihr einen Teller hin und sie legte sie darauf. „Such noch mehr“, sagte er. „Und hol Wasser.“
    Zehn Minuten später hockte Maja sich neben ihn und beobachtete, wie er das Feuer schürte. Die Flammen spiegelten sich in seinen hellgrünen Augen. Er hatte ein mädchenhaftes Gesicht und sehr helle Haut mit einem silbrigen Schimmer darauf. Sein Haar reichte ihm bis zu den Hüften. Er trug eine weite, graue Hose, helle Schuhe, die mit Schnüren an seine Knöchel gebunden waren und ein weites, grünes Oberteil. Seine Arme waren bis zu den Schultern mit Armbändern behangen. Er sah Maja nicht an, doch sie sah ihm an, dass er auf's Äußerste gespannt war und auf jede Bewegung von ihr achtete. So wie er dort am Feuer saß, wirkte er schön und geheimnisvoll. Als wäre er kein Mensch, sondern irgendein magisches Wesen.
    „Wer bist du?“, fragte Maja.
    Er sah sie an. „Wie wäre es, wenn du dich erst mal vorstellst. Du bist eindeutig nicht von hier. Kommst du aus Kabaran?“
    „Ich heiße Maja“, sagte sie. „Ich komme von weit weg.“
    „Du siehst jedenfalls nicht aus, als würdest du zu Dreizehn gehören. Seine Leute wissen sich etwas zu essen zu besorgen.“
    Maja senkte den Kopf.
    „Was ist?“, fragte er.
    „Nichts... Es ist mir unangenehm. All die Nahrung und ich weiß nichts davon. Aber ich gehöre wirklich nicht zu Dreizehn.“
    „Und was ist mit den Piraten?“
    „Welche Piraten?“, fragte sie verwirrt.
    Er schaute sie an, als wollte er herausfinden, was in ihrem Kopf vorging. „Nun ja, das war überzeugend“, sagte er. „Woher kommst du?“
    „Von so weit weg, dass ich nicht einmal weiß, wo ich hier bin“, sagte Maja. „Du hast eben etwas von den Silberwiesen gesagt.“ Bei dem Wort klingelte etwas in Majas Hinterkopf. Sie hatte schon mehrmals davon gehört, aber sie hätte auf einer Karte nicht einmal grob darauf zeigen können. Sie wusste nicht einmal, in welchem Teil der Welt sie sich befanden. „Kannst du mir sagen, in welchem Teil der Welt wir sind?“, fragte sie.
    „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“
    „Sind wir vor oder hinter dem Gebirge?“
    „Welches Gebirge?“
    „Sind wir im bewohnten oder unbewohnten Teil dieser Welt?“
    Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich habe schon wieder keine Ahnung, wovon du sprichst. Ich wohne hier und ich kenne eine Menge Leute, die dasselbe tun.“
    „Also im bewohnten“, sagte Maja.
    „Keine Ahnung“, meinte der Junge.
    Maja verlor jetzt die Nerven. „OK, angenommen, du müsstest nach Andraya zeigen, welche Richtung wäre das?“
    Bei diesen Worten war der Junge schneller auf den Beinen als sie zusammenzucken konnte und hielt ihr ihr eigenes Schwert an die Kehle. „Du gehörst also doch zu Dreizehn.“
    Maja starrte ihn an. „Nein“, krächzte sie wütend. „Natürlich nicht.“
    „Was willst du dann in Andraya?“
    „Ich will meinen Bruder retten! Er wurde von Fürst Dreizehn entführt.“
    Der Junge lachte, dann erschlafften seine Mundwinkel plötzlich und er wurde ernst. Er ließ das Schwert sinken. „Du meinst es ernst, oder?“
    Maja nickte.
    „Ich kenne solche wie dich“, sagte er nachdenklich. „Sucher. Verlorene Seelen.“ Er sah ihr in die Augen und in den seinen konnte Maja Mitleid erkennen. „Ja, du siehst aus, wie einer von ihnen. Man kann es an den Augen erkennen. Dieselbe Trauer, dieselbe Hoffnungslosigkeit.“
    „Ich bin nicht hoffnungslos“, sagte Maja. „Ich werde es schaffen, ich werde ihn zurückholen.“
    „Aus welcher Richtung kommst du?“, fragte der Junge. Maja zeigte nach Osten. Daraufhin zeigte der Junge in dieselbe Richtung. Das ist die Richtung, in der Andraya liegt. Aber vorher kommt das Meer.“ Er zeigte nach Norden. „Das ist die Richtung, in die du gehen müsstest, um das Meer zu umgehen. Wie willst du deinen Bruder retten, wenn du nicht einmal die richtige Richtung kennst?“
    Maja wich seinem Blick aus, stattdessen starrte sie in die Flammen, während er den Topf über dem Feuer befestigte und die kleinen Knollen zusammen mit den Fischstückchen hineinwarf. Sagte er die Wahrheit? War sie tatsächlich tagelang in die falsche Richtung gelaufen? Wenn ja, dann hatte er Recht, wie sollte sie ihren Bruder je erreichen? Sie fühlte sich nicht einmal stark genug, den Weg zurück zu schaffen. Aber nur der Gedanke daran, wie Käse in Andraya war, vielleicht in einer der Gefängniszellen saß oder von Dreizehn gequält wurde, war unerträglich. Sie wusste, dass sie auf keinen Fall aufgeben durfte. Eine verlorene Seele – das war sie tatsächlich. Sie versuchte, den Jungen nicht zu beachten, aber trotzdem sah sie aus den Augenwinkeln, wie er ihr immer wieder verwirrte und misstrauische Blicke zuwarf.
    „Ben-Thala-Mi“, sagte er plötzlich.
    „Was?“, fragte Maja durcheinander.
    „Das ist mein Name.“
    „Ben-Wiewarmie?“
    „Ben-Thala-Mi. Aber Ben ist auch in Ordnung.“ Er zögerte einen Moment, dann begann er wieder zu reden: „Wen Dreizehn in seinen Klauen hat, der kommt nicht zurück. Und wenn doch jemand zurück kommt, dann ist er nicht mehr derselbe. Andraya verändert die Leute, bis sie ihren besten Freund nicht wieder erkennen.“
    „Hör zu, ich brauche keine Vorträge von dir“, sagte Maja aufbrausend. „Das ist das einzige, was ich tun kann, außer verrückt zu werden. Und ich lasse mich nicht aufhalten. Ich habe es einmal geschafft und ich werde es wieder schaffen.“
    „Was soll das heißen, du hast es einmal geschafft?“
    „Ich war in Andraya, ich habe dort jemanden befreit.“
    „Das glaube ich nicht“, sagte der Junge.
    „Ich habe dich nicht gebeten, mir zu glauben“, fauchte Maja.
    Daraufhin verfielen sie eine Weile in frostige Stille. Irgendwann verteilte Ben das Essen auf zwei Teller und gab ihr einen davon. Maja ahnte im Hinterkopf, das dieses Essen ihr normalerweise nicht geschmeckt hätte, mit all dem Fisch darin und dem süßlichen Nachgeschmack, aber sie war ziemlich hungrig und nach den Tagen voller kalter Dosensuppe schmeckte die erste warme Mahlzeit in dieser Welt himmlisch.
    „Woher kommst du?“, fragte Ben, als sie aufgegessen hatten.
    „Ist kompliziert“, antwortete Maja pappsatt und ließ sich nach hinten fallen. „Du würdest es nicht verstehen. Warum hast du grüne Haare?“
    „Warum hast du braunes Haar?“
    „Willst du mir erzählen, dass du mit grünen Haaren geboren wurdest?“ Maja dachte an Feodor und Tabea mit ihren schneeweißen Schöpfen und es kam ihr nicht mehr ganz so lächerlich vor.
    „Nein, wurde ich nicht“, sagte Ben. „Aber es gefällt mir so. Warum sagst du, ich würde nicht verstehen, wo du herkommst?“
    „Das ist halt so. Aber warum erzählst du nicht mal von dir? Woher kommst du?“
    „Das ist kompliziert.“
    Maja verdrehte die Augen. „Wohin gehst du? Ich hab dir gesagt, wohin ich gehe, also: Was ist dein Ziel?“
    „Ich habe kein Ziel. Ich gehe, wohin mich der Wind weht. Ich lebe einfach so in den Tag hinein, ich bin ein Wanderer, ein Nomade.“
    „Und der Wind weht dich nicht zufällig in die grobe Richtung von Andraya?“ Sie überlegte, dass er vielleicht keine schlechte Reisebegleitung war. Er wusste auf jeden Fall wie man hier überlebte.
    Ben lachte. „Auf gar keinen Fall.“ Dann wurde er nachdenklich. „Auf dem Landweg schaffst du es niemals bis dort. Aber ich weiß vielleicht eine Möglichkeit. Doch ich muss dich warnen, es ist gefährlich. Wirklich gefährlich.“
    „Was ist es?“
    „Du musst Andraya über den Seeweg erreichen. Hier in der Nähe gibt es eine Stadt namens Kabaran. Eine Piratenstadt. Ich an deiner Stelle würde fragen, ob mich irgendein Schiff Richtung Andraya mitnehmen kann. Wenn dich die Piraten nicht umbringen, helfen sie dir vielleicht. Vorausgesetzt, du kannst ihnen einen vernünftigen Tausch anbieten. Und dieses Schwert von dir könnte dafür gerade genügen. Vielleicht legst du dein Pferd gleich mit drauf, das kannst du auf einem Schiff so oder so nicht mitnehmen.“
    „Richtige Piraten?“, fragte Maja.
    „Jap. Piraten, Seeräuber, mit allem was dazu gehört: Morden, plündern, Dreck und Alkohol. Mein Volk hält sich fern von den Städten an der Küste, aber wir wissen, was dort abläuft. Es ist eigentlich kein Ort, an den sich ein junges Mädchen wagen sollte, aber ich glaube, wenn du wirklich jemals in Andraya ankommen willst, gibt es keine andere Möglichkeit.“
    Maja kannte Piraten nur aus Filmen und Büchern. Selbst das reichte um sich zu denken, besser nicht in ihre Nähe zu kommen. Sie musste aber auch an Jillian denken, die von der Vorstellung einer Piratenstadt vermutlich ganz aus dem Häuschen gewesen wäre. Und außerdem: Was sollte sie sonst tun? Sie war verzweifelt und selbst wenn sie die Reise über Land schaffen konnte, mit dem Schiff zu reisen wäre schneller. Viel schneller.
    „Klingt gefährlich. Aber gut“, sagte sie mit einem zuversichtlichen Lächeln.

    Sie warteten bis nach Mitternacht, ließen Jonathan Niber bei den Büschen zurück und mit einer Mischung aus Tabeas geschmeidiger Effektivität und Meister Wolfs Zauberkreide schafften sie es ins Haus.
    „Keller oder Dachboden?“, flüsterte Kandrajimo. Eine Sekunde sahen sie sich in die Augen, dann nickten sie beide nach oben. Alte Familienerbstücke bewahrte man nicht in feuchten Kellern auf.
    Oben angekommen setzte Kandrajimo sich in den Türrahmen und lauschte auf Geräusche aus dem Haus. Tabea durchsuchte mit einer Taschenlampe das Gerümpel, das sich hier angesammelt hatte. Es machte keinen Sinn, wenn Kandrajimo ihr half, er würde nur unnötig Lärm verursachen. Tabea dagegen war leise wie ein Schatten. Nicht eine einzige unbedachte Bewegung. Kaum ein Rascheln war zu hören. Kandrajimo fragte sich, wo sie das gelernt hatte und wieder einmal wurde ihm bewusst, wie wenig er über sie wusste. Ob Miro Sonnfeld sie besser gekannt hatte? Die beiden waren sehr vertraut gewesen.
    „Schau dir das an“, hauchte Tabea, kam herüber und reichte ihm ein altes Buch. Kandrajimo schlug es auf. Es war handbeschrieben.
    „Ein Tagebuch?“, fragte er.
    „Möglicherweise. Da hinten sind noch mehr davon“, sagte Tabea.
    Sie ging davon, um die anderen Bücher zu holen, während Kandrajimo irgendwo in der Mitte des Buches ein paar Zeilen las:


    Everything is so different here. The grass, the trees, the creatures. Today I saw the most beautiful birds, with colourful feathers the likes I’ve never seen before. Australia really is a land out of a dream. But somehow, when I am alone, I cannot stop myself from holding the gate in my hands, touching the cold ring of stone and thinking about going back to my real dreamland. But I can’t do that to Mary, she is waiting for me to come home.

    „Ich glaube, das ist es“, flüsterte Kandrajimo aufgeregt. „Ein Reisetagebuch. Genau das, worauf wir gehofft haben. Er ist in Australien, aber er erwähnt das Tor und die Welt ohne Namen. Er nennt sie sein wahres Traumland.“
    „Er hat auch über andere Reisen geschrieben?“, fragte Tabea verwundert. „Hier sind etwa zwanzig von diesen Büchern, es dauert ewig, sie durchzulesen.“
    Kandrajimo stand auf und ging zu ihr hinüber. Sie hatte Recht, in dem Karton vor ihr waren etwa zwanzig schmale Bändchen.
    „Wir nehmen sie mit“, sagte er
    „Es sind Erinnerungsstücke, wir können nicht einfach-“
    „Es sind Beweise für die Existenz unserer Welt“, unterbrach Kandrajimo sie. „Als Kamiraen muss ich sie sogar konfiszieren. Aber tröste dich, sie bekommen einen würdigeren Platz als diesen staubigen Dachboden: in der Bibliothek von Miriam. Sind da noch mehr Kisten?“
    Tabea wühlte in dem Gerümpel herum, während Kandrajimo die Kiste hoch hob. Sie war schwerer, als sie aussah. Dann hörte er plötzlich ein leises Geräusch von der Tür. Er konnte später nicht sagen, was es war, das Tappen eines Fußes, oder ein Atmen oder ein leises, wütendes Schnauben … Er sah zur Tür und da stand sie: feuerrotes Haar, silberner Umhang, blitzende Augen. Sie streckte die Hand aus und es riss Tabea von den Füßen, schleuderte sie durch den Raum und gegen die Dachbodenwand. Sie fiel zu Boden, schien jedoch nicht schwer verletzt zu sein, denn sofort danach kamm sie wieder auf die Füße und wollte nach ihrem Schwert greifen. Eine weitere Handbewegung Davina MacLyarks kam ihr zuvor. Etwas Mächtiges, stieß durch den Raum wie ein starker Wind. Es streifte Kandrajimo, der sich durch einen Sprung in Sicherheit brachte, erfasste Tabea, zog sie mit sich, und fuhr schließlich in die Wand hinter ihr. Die Holzbretter zersplitterten und hinterließen ein riesiges Loch, Tabea hielt sich noch einen Moment auf der Kante, dann fiel sie in die Nacht hinaus – in die Tiefe.
    „Tabea!“, schrie Kandrajimo. Während sie fiel zog Davina MacLyark ihre Hand zurück um Kandrajimo auf die gleiche Weise anzugreifen. Warum sie ihn nicht zuerst attackiert hatte, konnte er nicht sagen, vielleicht wollte sie ihn miterleben sehen, wie seine Gefährtin starb. Kandrajimo dachte nicht nach, seine Instinkte griffen ein. Als die Magierin die Hand nach vorne stieß, verschob er sich. Er war nicht schnell genug. Er bekam die Wucht ihres Zaubers voll ab und was immer sie Tabea angetan hatte, das hier war noch mal ein anderes Kaliber. Es traf ihn frontal und sandte einen Schmerz durch seinen Körper, wie er ihn noch nie verspürt hatte. Dann verlor er den Boden unter den Füßen und krachte gegen etwas, das härter war als jedes existierende Material. Er bekam noch mit, wie er rücklings auf dem Boden landete, sein ganzer Körper verkrampfte sich, er sah rote Blitze vor seinen Augen, schnappte verzweifelt nach Luft und verlor das Bewusstsein.

    Als er wieder zu sich kam, tat ihm alles weh und er konnte sich kaum bewegen. Er schaffte es nicht einmal den Kopf zu heben. Eine ganze Weile konnte er nur mit geschlossenen Augen daliegen. Jedes Mal, wenn er sie öffnete, explodierte sein Kopf vor Schmerzen. Doch schließlich zwang er sich, die Lider anzuheben. Er sah einen wolkenverhangenen Himmel und davor Tabeas Gesicht. Sie sah ihn erwartungsvoll an. Erst nach ein paar Minuten konnte er sprechen, wobei seine Zunge sich anfühlte, als würde sie jeden Moment abfallen.
    „Du siehst furchtbar aus“, sagte er. Tabea hatte zahlreiche Wunden und blaue Flecke und ein langer Riss zog sich quer über ihre Wange.
    „Ja, das kam überraschend“, sagte sie. „Aber wenigstens bin ich nicht weiß wie eine Wand.“
    „Dein Haar schon“, nuschelte Kandrajimo.
    „Lass die blöden Witze sein“, herrschte Tabea ihn an. „Wie fühlst du dich?“
    „Hab mich noch nie so scheiße gefühlt.“
    „Wir haben uns nicht getraut, dich zu bewegen“, sagte Tabea. „Aber denkst du, wir können dich auf eine Decke legen?“
    „Mir ist echt egal, worauf ich liege.“
    „Du unterkühlst so.“
    „Hmm.“
    Sie hoben ihn hoch und schleiften ihn auf eine Decke. Er schrie vor Schmerzen, aber danach wurde ihm wärmer. Dann schlief er. Als er das nächste Mal aufwachte, konnte er den Kopf heben und Tabea flößte ihm etwas Suppe ein. Wieder schlief er weiter und wachte irgendwann mitten in der Nacht auf. Sie hatten ein Zelt um ihn herum gebaut und ihn mit noch mehr Decken zugedeckt. Kandrajimo hatte immer noch Schmerzen, aber er konnte sich bewegen und so kroch er vorsichtig aus dem Zelt heraus. Jonathan und Tabea saßen auf Klappstühlen an einem kleinen Campingtisch. Jonathan schlief im Sitzen, während Tabea über Alan MacLyarks Tagebüchern brütete. Als er mit wackeligen Beinen aufstand, sahen sie auf. Sie stellten ihm einen weiteren Stuhl herbei und er setzte sich.
    „Wie hast du es geschafft, diesen Sturz zu überleben?“, fragte er Tabea. „Das Haus war vier Stockwerke hoch.“
    „Falls du es vergessen hast, ich kann mich in einen Vogel verwandeln.“
    „Ach ja. Schuhu“, sagte Kandrajimo. Tabea sah ihn merkwürdig an.
    „Es war dein Glück, sonst hätten wir dich sicher nicht hier, auf dieser gottverlassenen Wiese gefunden. Warum dieser Ort?“
    „Ich wollte mich zum Auto verschieben“, nuschelte er.
    „Das hast du meilenweit verfehlt. Aber wenigstens wird diese Zauberin uns hier nicht entdecken. Und du hattest die Tagebücher im Arm.“ Tabea seufzte. „Gut, dass es dir besser geht“, sagte sie. „Dann können wir morgen losfahren. Wir wissen, wo wir hin müssen. Es gibt tatsächlich ein anderes Tor, gar nicht so weit weg von dem Ausgang des dritten. Und wir haben eine ziemlich gute Wegbeschreibung, sogar eine Karte. Sie wedelte mit einem der Tagebücher.“
    „Toll“, brachte Kandrajimo schwach hervor. „Und wo ist es?“
    „Am anderen Ende der Welt. In Bolivien.“

    Weiter geht es. Ich muss die Zeit nutzen, in der ich kreativ bin. Da es erfahrungsgemäß nicht lange anhält, habt ihr ja später noch Zeit zum aufholen.

    Ich liebe es übrigens, über Kandrajimo und Tabea zu schreiben. Aber vielleicht seht ihr das ja anders. Schreibt mir gerne, wie ihr die Kapitel findet.


    Die Tagebücher

    „Das ist das Haus?“, fragte Tabea.
    „Das ist das Haus“, antwortete Kandrajimo.
    „Sieht nett aus“, sagte Jonathan Niber.
    „Ich wünschte, ich hätte Wolf mitgenommen“, murmelte Kandrajimo, der bei dem Gedanken, was ihn in dem Haus erwarten würde, schwer schlucken musste.
    „Du hast selbst gesagt, dass wir ihm diese Welt nicht antun können“, erinnerte ihn Tabea.
    „Stimmt ja auch.“ Kandrajimos und Tabeas Blick trafen sich und sie verdrehten gleichzeitig die Augen. Weil sich nämlich herausgestellt hatte, dass man Jonathan Niber diese Welt auch nicht antun konnte. Mit den Autos war er noch zurecht gekommen, solange diese nur durch weite, offene Landschaften gefahren waren. In der Stadt war er fast ausgeflippt und hatte auf alle möglichen Dinge gezeigt, zum Beispiel auf leuchtende Aushangschilder oder Geldautomaten oder Ampeln. Dann hatten sie den Flughafen erreicht und auf einmal war alles zu viel für ihn gewesen. Den Kopf gesenkt, war er Tabea gefolgt, das gesamte Umfeld ausblendend, einzig und allein darauf bedacht, Schritt zu halten. Kandrajimo hatte ihm von weitem zugesehen, wie er hinter ihr das Gebäude betrat und mitleidig den Kopf geschüttelt. Wie würde er erst auf die Flugzeuge reagieren. Er selbst flog nie mit einem Flugzeug, er bevorzugte es, die Verschiebung zu benutzen. Hier in dieser Welt, mit all ihren genauen Karten und Fotos von Sehenswürdigkeiten noch viel lieber als in seiner. Mit einem Wimpernschlag war er in Glasgow und gönnte sich zum ersten Mal seit Tagen ein bisschen Ruhe. Es tat ihm gut nach den vielen Verschiebungen in letzter Zeit. Nach einem ausgedehnten Spaziergang und ein paar Stunden in einem Café, holte er Tabea und Niber vom Flughafen ab. Niber sah aus, als wäre ihm ein Geist begegnet. Auf Kandrajimos aufmunternde Worte reagierte er gar nicht. Erst als sie die rauen und einsamen Gegenden Schottlands erreichten, taute er wieder auf. Deshalb war es keine gute Idee, jemanden, der diese Welt nicht kannte, gleich auf eine wichtige Mission mitzunehmen. Aber Jonathan Niber hatte es unbedingt gewollt. Vor allem, weil er der Meinung war, dass der oberste Kamiraen beide Welten kennen sollte. Kandrajimo war prinzipiell derselben Meinung, aber hätten sie sich das nicht früher überlegen sollen? Jonathan war bisher so hilfreich gewesen, wie ein großer Bilderrahmen. Eigentlich war er nur sperrig. Und er hatte sie Zeit gekostet, denn natürlich hatte er von Miriam zum Weltentor reiten müssen. Kandrajimo hatte diese Zeit damit verbracht, zu versuchen, einen Zauberer zu besorgen – ohne Erfolg. Tamor schied aus, weil er sauer auf Kandrajimo war, Meister Wolf konnte man diese Welt nicht antun, alle anderen aus der Welt ohne Namen ... nun ja, man konnte sie der Welt nicht antun. Sie waren sich schon lange einig, dass Zauberer zu dem Volk gehörten, das man für gewöhnlich nicht durch die Tore ließ.
    Ein paar Zauberer lebten natürlich auch in dieser Welt, aber keiner von ihnen hatte sich diesem Auftrag gewachsen gefühlt. Und so hatte Kandrajimo die wertvolle Zeit vollkommen verschwendet, indem er von einem Ende der Welt zum anderen gesprungen war. Als Folge davon hatte ihn eine Art Dauerübelkeit ergriffen, die ihn besonders schlimm beim Autofahren packte. Deshalb saß er ziemlich bleich auf dem Beifahrersitz.
    „Wir sollten uns einen Plan überlegen“, sagte Kandrajimo, während Tabea das Lenkrad herumriss und den schneidigen Leihwagen zwischen ein paar Büschen zum Stehen brachte. „Nicht dass wir am Ende alle als Frösche enden.“
    „Wir haben einen Plan“, sagte Tabea.
    „Ach ja.“
    Der Plan war, in das Haus einzubrechen und nach irgendetwas zu suchen, das Alan MacLyark möglicherweise zurückgelassen hatte. Auch wenn Tabea und Jonathan genau die Leute waren, die er zu einem Einbruch mitnehmen würde, war es kein besonders guter Plan. Wenn Kandrajimo die letzten Tage noch einmal Revue passieren ließ, dann musste er sich eingestehen, dass sie alles andere als gut verlaufen waren. Als Frösche in einem Gartenteich zu landen wäre vermutlich ein passender Höhepunkt dafür.
    „Warum warten wir nicht, bis diese Davina das Haus verlassen hat?“, fragte Kandrajimo. Es grauste ihn schon, wenn er nur an diese rothaarige Hexe dachte.
    „Wir haben Leute, die dieses Haus ausspioniert haben“, sagte Tabea. „Keiner hat es die letzten vier Tage verlassen.“
    „Manchmal müssen sie gehen, sonst bräuchten sie nicht diese schicken Autos. Es gefällt mir einfach nicht, dort einzubrechen. Mit Sicherheit gibt es eine Alarmanlage und vielleicht sogar einige magische Sicherheitsvorkehrungen. Ich sage, lass uns einfach mit dem Mann sprechen, mit dem ich zuerst gesprochen habe. Ean MacLyark. Er schien mir ganz vernünftig zu sein. Wir könnten versuchen, ihn anzurufen.“
    „Wir werden nicht am Telefon über Weltentore sprechen“, sagte Tabea. „Du als Kamiraen solltest–“
    „Wir könnten ein Treffen arrangieren.“
    „Das ist mir zu riskant“, sagte Tabea.
    „Aber ein Einbruch ist dir nicht zu riskant?“, fragte Kandrajimo. „Ganz zu schweigen davon, dass du nicht mal weißt, ob du etwas findest. Oder wo du suchen sollst.“
    „Du musst ja nicht mitkommen. Hast du noch die Zauberkreide von Meister Wolf?“
    „Ja.“ Kandrajimo ahnte, was sie fragen wollte. Es würde nicht funktionieren.
    „Das Zeichen, das du auf die Vase gezeichnet hast, mit der du sie unsichtbar gemacht hast – funktioniert das auch bei Menschen?“, fragte Tabea.
    „Nein. Zu gefährlich, du könntest dabei sterben.“
    „Was heist ‚könntest’?“
    „Fünfundachtzigprozentige Wahrscheinlichkeit. Mindestens.“
    Sie runzelte die Stirn. „OK. Dann nicht.“
    „Aber ich könnte die Alarmanlage ausschalten.“

    Hier kommt jetzt mal ein sehr kurzer und irgendwie auch überflüssiger Teil, aber ein bisschen Spaß muss sein :)


    Drei Stunden später stand Kandrajimo wieder vor Tamors Tür. Es waren zwei chaotische Stunden gewesen. Zuerst hatte er sich mit Alma getroffen und sie nach dem dritten Tor gefragt. Sie hatte ihm erzählt, dass sie es von ihrer Tante bekommen hatte, ebenfalls einer Spinnenweberin. Doch ob diese es benutzt hatte oder nicht, das wusste niemand genau. Sie hätte die Gelegenheit gehabt, denn sie hatte regelmäßig die andere Welt besucht und war mehrere Male über Jahre verschwunden gewesen, hatte aber nie von ihren Erlebnissen berichtet. In dieser Richtung kam Kandrajimo also noch nicht weiter.
    Er holte Tabeas Schwert aus ihrem Zimmer. Bevor er es einsteckte, zog er es aus der Scheide und betrachtete es einen Moment. Tabea besaß eine der schönsten Waffen, die er kannte. Lang, schmal und mit seltsam welligen Schneiden schimmerte das Schwert milchig weiß. Die Farbe von Nebel.
    Als er aus Tabeas Zimmer trat, lief er Fiona Arwen-Trug Femeno in die Arme. Sie war überrascht ihn zu sehen und schleppte ihn sofort in die nächste Sitzung der Kamiraen. Er berichtete, was geschehen war und erhielt überraschend Unterstützung: Jonathan Niber, der Vorsitzende der Kamiraen, hatte angeboten, ihn zu unterstützen. Kandrajimo glaubte zuerst, dass ein schlechtes Gewissen Jonathan zu diesem Schritt brachte, schließlich hatte er ihr das Leben bisher ganz schön schwer gemacht. Aber Jonathan klärte ihn schnell über die wahre Natur seines Interesses auf: „Wenn die Chance besteht, ein weiteres Tor zu finden, dann müssen die Kamiraen sämtliche Kräfte darauf verwenden“, erklärte er ambitioniert.
    Kandrajimo war das Tor so richtig gleichgültig, er wollte nur Maja retten und den gewaltigen Schaden wiedergutmachen, den sie in ihrem Leben angerichtet hatten. Er hatte es den Kamiraen nicht gesagt und er würde es auch Tabea nicht sagen, aber wenn er Maja gefunden hatte, würde er danach alles daransetzen, um ihren Bruder zu retten. Irgendwie. Das war er Maja schuldig.
    Er blieb auch für den Rest der Versammlung und was er dort mitbekam konnte er im Augenblick überhaupt nicht gebrauchen. Und es war der Grund, weshalb er nun schon wieder vor Tamors Tür stand, dieses Mal allerdings ziemlich schlecht gelaunt. Wenn er ehrlich sein sollte, war er stinkwütend.
    „Tag“, sagte er, als die Tür aufging. „Wie geht dein Bauvorhaben voran?“
    An Tamors konsterniertem Blick erkannte er, dass dieser nicht vorgehabt hatte, es ihm zu erzählen, sondern vielmehr gehofft hatte, Kandrajimo würde es niemals erfahren. „Ich nehme nicht an, dass du es den anderen Kamiraen erzählen wolltest?“
    Tamor war verwirrt. „Erzählen? Natürlich hab ich es ihnen erzählt, ich brauche ihre Genehmigung.“
    „Genau. Und die wirst du wohl nicht bekommen, wenn sie erfahren, dass nach dem Bau eines deiner Häuser in Miriam jeder Zauberer hier ein und aus spazieren kann, wie er möchte.“
    „Ach das.“ Tamor winkte mürrisch ab und wirkte dabei wie ein alter Mann.
    „Mach dir keine Sorgen, ich hab es ihnen nun gesagt«, berichtete Kandrajimo kalt. »Und sie sind nicht erfreut. Genauso wenig wie ich. Du weißt genau, was es bedeuten würde, aber du hast es mit Absicht verschwiegen.“
    „Jetzt mach mal nicht so ein Drama“, sagte Tamor ärgerlich, „es ist nur ein Haus. Weißt du in wie vielen Städten ich eines stehen habe?“
    „Miriam ist nicht bloß irgendeine Stadt“, rief Kandrajimo mit erhobenen Armen. „Du weißt genau, dass wir es hier mit der Sicherheit etwas enger nehmen. Enger nehmen müssen.“
    „Ohne meine Erlaubnis kommt niemand durch mein Haus“, sagte Tamor bestimmt.
    „Wie sicher ist das? Wer sagt uns, dass ein mächtiger Magier es nicht doch schaffen könnte? Abgesehen davon bist nicht du es, der die Erlaubnis geben darf, Miriam zu betreten. Dazu hast du kein Recht.“
    „So meinte ich das nicht.“
    „Wie schön. Zu deiner Info, es wird auch nicht dazu kommen. Der Bau ist abgeblasen.“
    Tamor sah Kandrajimo schmallippig an. Dann schlug er ihm wortlos die Tür vor der Nase zu. Und Kandrajimo verließ vor Wut schnaubend das Hauptquartier.
    Das war mal wieder typisch für Tamor gewesen. Er war manchmal einfach so egoistisch. Wenn er etwas wollte, dann versuchte er, es durchzusetzen, auch wenn er dafür die negativen Folgen gerne mal verschwieg. Wie ein kleines Kind ging er dann zu dem Elternteil, das am wenigsten wahrscheinlich ‚Nein’ sagte. Und auch wenn er erstaunlich klug und bedacht sein konnte, war er manchmal einfach so unvernünftig. Wie damals, als er Maja über das Gebirge geholfen hatte.

    Nebel

    Kandrajimo war schon wieder schwindelig von seinen Verschiebungen. In letzter Zeit übertrieb er es wirklich. Tabea war Schuld daran: weil er am schnellsten vorwärts kam, schickte sie ihn voraus. So hatte er sich erst zum Weltentor teleportiert, war hindurch gegangen und hatte sich dann ins Zentrum des Hauptquartiers verschoben. Genauer gesagt auf den Hof vor dem Krankenhaus, denn in Gebäude hinein oder aus ihnen heraus konnte er sich nicht verschieben. Das war Wolfs Spezialität.
    Bemüht, sein Gleichgewicht zu halten, stolperte er auf das Hauptgebäude zu. Er war so verwirrt, dass es ihn drei Versuche kostete, das richtige Zimmer zu finden. Ein mürrisch wirkender Tamor öffnete die Tür, aber als er Kandrajimo sah, erhellte sich seine Miene. „Kandrajimo, altes Haus. Schön, dich auch mal wieder in dieser Welt begrüßen zu dürfen.“ Kandrajimo konnte nicht antworten, zu fasziniert war er von Tamors Hut. Es war tatsächlich ein mitternachtsblauer Spitzhut. Am Körper trug Tamor ein Gewand derselben Farbe, mit aufgestickten silbernen Blättern.
    Tamor schien sich im Hauptquartier wirklich wohl zu fühlen. Anfang des Jahres war er für einige Zeit nach Hause zurückgekehrt, aber schon im April war er wieder zurückgekommen und hatte sich seither für die Kamiraen als äußerst nützlich erwiesen. Er war weise, viel in der Welt herumgekommen und kannte sich außergewöhnlich gut mit Magie aus. Außerdem stammte er aus der anderen Welt und stand immer für Fragen dazu zur Verfügung.
    „Komm rein“, sagte Tamor und hielt die Tür weit offen. Kandrajimo trat in das kleine Zimmer. Tamor hatte wirklich alles aus dem begrenzten Raum herausgeholt. Es war bunt bis an die Schmerzgrenze, aber ebenso gemütlich. Die Sessel sahen aus wie pelzige, orangefarbene Tiere. Es hätte Kandrajimo nicht gewundert, wenn sie im nächsten Moment angefangen hätten, an Tamors seltsamen, dickblättrigen Pflanzen zu knabbern. Während Kandrajimo sich setzte, schüttelte Tamor ein Kissen aus und ein Haufen bunter Pralinen fiel heraus.
    „Manchmal bist du echt unglaublich“, sagte Kandrajimo. „Sind die selbst gemacht?“
    „Aber klar doch.“ Tamor nahm ein gefülltes Glas Wein aus seiner Standuhr und reichte es ihm.
    „Nein danke“, lehnte Kandrajimo ab. „Mir ist schon schwindlig genug.“
    „Also Tee“, sagte Tamor, nippte selbst an dem Weinglas und lächelte plötzlich. „Vielleicht sollte ich dich mal wirklich beeindrucken“, sagte er und hob den Spitzhut von seinem Kopf. Darunter kam auf seinem blonden Schopf stehend eine dunkelblaue Tasse mit Sternenmuster zum Vorschein. Vielversprechender Dampf quoll heraus. Tamor gab Kandrajimo die Tasse.
    „Wie machst du das nur?“, fragte Kandrajimo. Er roch an dem Tee. „Frisch aufgebrüht. Wie kann er frisch aufgebrüht sein?“
    „Es ist schwieriger als es aussieht“, gab Tamor zu.
    Kandrajimo schnupperte noch einmal. „Und genau die richtige Ziehzeit.“
    „Jetzt überraschst du mich aber“, lachte Tamor. „Du kannst riechen, dass der Tee lange genug gezogen hat?“
    „Ach was, ich mache nur Spaß.“
    Mit einem Schlag wurde Tamor ernst. „Du siehst gestresst aus. Ist alles in Ordnung?“
    Kandrajimo schüttelte den Kopf. „Nichts ist in Ordnung.“ Und er erzählte ihm, was passiert war. Als er geendet hatte, schwiegen sie eine ganze Weile.
    „Arme Maja“, sagte Tamor schließlich. „Sie muss so viel durchmachen.“
    „Wir werden sie finden. Deshalb bin ich hier. Tabea und ich würden uns gerne deine Halbdrachen ausleihen.“
    Tamor sah ihn einen Moment nachdenklich an. „Nein“, sagte er schließlich.
    Es war so direkt, dass Kandrajimo die Kinnlade herunter klappte. „Nein? Warum nicht? Sind sie wieder im Sommerschlaf?“
    „Noch nicht ganz.“
    „Also warum nicht?“
    „Weil es keinen Sinn macht. Wie wollt ihr Maja finden?“
    „Indem wir sie suchen.“
    „Wo? Ich glaube, du machst dir keine Vorstellung davon, wie groß diese Welt ist. Schon dieser Teil. Doch der Teil hinter dem Gebirge, Westland, wie es einst genannt wurde, ist noch mal mindestens doppelt so groß. Ist dir das überhaupt klar? Denn obwohl du mit deiner Gabe gehen kannst, wohin du willst, hast du ja nie besonders viel Interesse an diesen Gebieten gezeigt.“
    „Es ist gefährlich, mich an einen Ort zu verschieben, von dem ich nichts weiß. Ich bräuchte eine ungefähre Vorstellung oder wenigstens eine Karte.“
    „Es gibt eine Karte. Hier im Hauptquartier.“
    „Die ist wohl kaum genau.“
    „Aber hast du sie dir mal angesehen? Hast du gesehen, wie groß das Land hinter dem Gebirge ist? Wenn Maja auf dieser Seite ist, hinterlässt sie vielleicht Spuren, aber wenn sie drüben ist, wie willst du sie da finden?“
    „Ich hab dir doch gesagt, dass wir versuchen herauszufinden, wo das dritte Tor hinführt. Ich werde Alma Feyes fragen, sie hat es als letztes besessen.“
    „Alma Feyes weiß im Leben nicht, wo es hinführt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es je benutzt hat.“
    „Aber ihre Vorfahren vielleicht.“
    „Selbst wenn. Was erwartest du? Koordinaten?“
    Kandrajimo wusste, dass Tamor recht hatte, aber Tabea und ihm war nichts Besseres eingefallen. „Eine ungefähre Beschreibung der Umgebung würde ausreichen. Mit den Halbdrachen können wir wenigstens von oben suchen.“
    Tamor setzte sich bequemer hin und legte die Fingerspitzen aneinander. „Gut. Angenommen sie sagt, dass ein See in der Nähe ist. Willst du jeden See in dieser Welt abklappern? Die meisten kennst du nicht einmal. Sie könnte auch von Bergen sprechen. Von Wäldern, Wiesen oder Meer und du wüsstest immer noch nicht, wo du Maja finden solltest. Es ist ja wohl höchst unwahrscheinlich, dass sie dir sagt, das dritte Tor führt zum Glockenturm in Celon.“
    „Ich weiß. Aber einen Versuch ist es wert.“
    Tamor trank seinen letzten Schluck Wein. „Ihr seid euch sicher, dass das Tor immer an den gleichen Ort führt?“
    „Ja.“
    „Dann war es keine schlechte Idee, ihn herauszufinden. Aber ihr zieht die falschen Schlüsse daraus.“ In Kandrajimos Kopf formte sich ein großes Fragezeichen. Er konnte seinen Freund nur skeptisch ansehen. „Wenn dieser Mann in Schottland das Tor benutzt hat, welche Frage müsst ihr euch dann stellen?“
    Kandrajimo fühlte sich wie ein Schuljunge. „Ähm. Wem hat er davon erzählt?“
    „Eine gute Frage. Aber nicht die, die ich meinte. Ich würde fragen, wie er wieder zurück gekommen ist. Denn ich weiß über das dritte Tor, dass es nur in eine Richtung funktioniert.“
    „Das ist allgemein bekannt.“
    „Verstehst du, warum ich diese Frage stellen würde? Wenn er in der Welt ohne Namen war und zurückgekehrt ist, dann bedeutet das, er muss ein zweites Tor benutzt haben. Eines das möglicherweise in der Nähe war. Was ist, wenn dieses Tor in zwei Richtungen funktioniert? Dann ist das eure Chance, in die andere Welt zu gelangen und zwar in Majas Nähe.“
    Kandrajimo vergrub schon wieder das Gesicht in den Händen. „Der Gedanke ist bestechend“, sagte er, „aber wir wissen nicht, wie lange er dort war. Er könnte hunderte von Kilometern zurückgelegt haben.“
    „Ja, das ist möglich. Aber du musst trotzdem zurück zu dieser schottischen Familie. Frag, was sie noch von diesem Mann wissen. Ob sie Aufzeichnungen von ihm haben, vielleicht Reiseberichte. Was er erzählt hat, wenn er abends am Kaminfeuer saß. Du kannst gerne zu dieser Spinnenweberin gehen und fragen, was sie weiß, aber ich garantiere dir, dass diese schottische Familie mehr darüber weiß, als irgendjemand sonst. Sie sind der Schlüssel.“
    „Mag sein, aber sie können mich nicht ausstehen“, seufzte Kandrajimo.
    Tamor verdrehte die Augen. „Benimm dich nicht wie ein Kind. Du wirst schon eine Lösung finden. Jedenfalls werde ich dir meine Halbdrachen erst leihen, wenn du weißt, wo du hin willst.“
    Kandrajimo dachte eine Weile nach. Er würde als nächstes Alma befragen, aber Tamor hatte Recht. Er hätte vielleicht mehr aus den MacLyarks herauskitzeln können. Wenn sie ihn nicht hochkant herausgeschmissen hätten. „Tja“, sagte er schließlich. „Dann werde ich wohl mal wieder losgehen. Ich habe einiges zu tun. Unter anderem muss ich Nebel beschaffen. Tabea hat mir ihren Schlüssel gegeben.“
    „Nebel?“
    „Tabeas Schwert. Hast du noch nicht davon gehört?“
    Tamor schüttelte den Kopf.
    „Nun ja, es ist legendär.“
    „Ist es magisch?“
    „Nein. Ein ganz normales Schwert, wenn auch ein sehr gutes. Aber Tabea lässt es meist im Hauptquartier, damit es nicht in die falschen Hände gerät. Wenn Tabea Nebel herausholt, dann ist es wichtig. Und dann möchte ich ihr nicht im Weg stehen.“

    Und ich mache gleich weiter, das Kapitel oben ist ja ein altes, das ihr schon gelesen habt, wenn auch in anderer Form. Es geht weiter mit Kandrajimo in unserer Welt. Zur Erinnerung: Tabea hat Kandrajimo nach Schottland geschickt, um etwas über das dritte Tor herauszufinden, das Maja in die Welt ohne Namen gebracht hat. Sie wissen bereits, dass es sich vor zweihundert Jahren im Besitz der Familie MacLyark befand. Herausfinden soll Kandrajimo, wohin das Tor seinen Besitzer bringt und in wessen Händen es sich vor oder nach den MacLyarks befand. Ich stelle das ganze Kapitel rein, weil ich einfach nicht weiß, wo ich es trennen soll.


    In Schottland

    Hoch im Norden von Schottland kämpfte sich Kandrajimo über eine Hügelkuppe. Tabea hatte ihm erklärt, wohin er musste, nämlich in ein kleines Dorf namens Foggieloan in der Nähe von Inverness. Da er Foggieloan auf keiner Karte finden konnte, verschob er sich nach Inverness und fragte ein paar Passanten. Nur um festzustellen, dass Foggieloan längst nicht mehr so genannt wurde sondern Aberchirder und dass es nicht einmal annähernd in der Nähe von Inverness lag. Jedenfalls nach seinen Maßstäben. In einem hatte Tabea allerdings Recht: der Ort war nicht besonders groß, zumindest für die Maßstäbe dieser Welt. Als er schließlich dort ankam, schickten die Ortsansässigen ihn noch ein paar Mal hin und her und als er endlich auf einem Hügel stand und vor sich tatsächlich das Anwesen der MacLyarks erblickte, war ihm schwindelig von sieben Verschiebungen am selben Tag und er war gezwungen, den Rest des Weges zu Fuß zu gehen.
    Man sah dem Haus an, dass es bereits viele Jahre hier stand und Wind und Wetter trotzte. Es war ziemlich groß und sah mit seinen großen, graubraunen Steinen, den Dachgauben und den zahlreichen Anbauten ein wenig wie eine kleine Burg aus. Rund um das Gebäude erstreckte sich ein großer Garten mit bunten Blumen und alten Bäumen. Ein Zufahrtsweg führte zu einem Rondell, an dessen Rand mehrere teure Autos standen. Kandrajimo fand, dass sie nicht in das Bild dieses alten schottischen Anwesens passten, aber so war diese Welt nun mal. Und einen gewissen Reiz hatten sie schon. Bequemer als seine Verschiebungen waren sie allemal.
    Während er auf das Haus zu humpelte, versuchte er, sich auf das kommende Gespräch vorzubereiten. Er rief sich alles in Erinnerung, was Tabea ihm über die Familie erzählt hatte. Früher hatte sie mit der Welt ohne Namen in engem Kontakt gestanden, doch diese Zeiten waren lange vorbei. Die Familie hatte zwar das Recht, das Wissen um die andere Welt an ihre direkten Nachfahren weiterzugeben, doch vermutete Kandrajimo, dass es nach dieser langen Zeit eher den Status einer Legende angenommen hatte. Vielleicht wäre es einfacher für ihn, sich einfach nach dem Mann zu erkundigen, der zuletzt mit dem dritten Tor in Verbindung gebracht worden war: Alan MacLyark. Ein Mann, der in seinem Leben viel gereist war, angeblich nicht bloß durch eine Welt. Er war bereits vor sechzig Jahren gestorben, aber sein Enkelsohn lebte Tabeas Informationen nach noch in diesem Haus.
    Kandrajimo stieg die Stufen vor dem Haus hinauf und betätigte die Klingel. Es dauerte nicht lange, bis ihm eine Frau mittleren Alters mit rundem Gesicht und braunen Haaren öffnete. Sie sah ihn neugierig an.
    „Good afternoon“, sagte er freundlich. „My name ist Jimo Kandrajimo. I'm looking for Ean MacLyark.“
    Die Frau sah ihn so verwirrt an, dass Kandrajimo schon glaubte, er habe aus Versehen die falsche Sprache erwischt. Nach den ganzen Verschiebungen fühlte sein Hirn sich ohnehin ein wenig matschig an.
    »Good afternoon«, sagte sie schließlich zögernd. »I don't think my father is expecting anyone.«
    „Nein, ich denke nicht, dass er mich erwartet«, entgegnete Kandrajimo auf Englisch. »Aber ich habe Fragen über seinen Großvater, Alan MacLyark. Wirklich wichtige Fragen.«
    »Aber wer sind Sie überhaupt?«
    Kandrajimo seufzte erneut. »Könnten Sie ihn bitte fragen, ob er mit mir sprechen würde? Es wird nicht lange dauern, ich verspreche es.«
    Die Frau betrachtete ihn misstrauisch von oben bis unten, doch schließlich bat sie ihn herein und führte ihn in das Wohnzimmer.
    Es war groß und modern eingerichtet, mit teuren, hellen Möbeln, die gut zu den Autos vor dem Haus passten. Kandrajimo fühlte sich gleich unwohl, bis er den Kamin erblickte: Alt und groß an einer steinernen Wand. Auch wenn kein Feuer darin brannte, rief er in Kandrajimo Erinnerungen wach. Es war die Sorte Kamin mit der er groß geworden war, an der er schon als kleiner Junge im Winter gesessen und Brot geröstet hatte. Er lächelte und setzte sich auf das Sofa neben der Feuerstelle. Erst jetzt bemerkte er die Porträts an den Wänden. Familienangehörige, vermutete er, und einige von ihnen waren vor langer, langer Zeit gemalt worden. Es war verwirrend, wie alt und neu in diesem Raum zu verschmelzen schienen.
    „Darf ich Ihnen etwas anbieten?“, fragte die Frau. Sie betrachtete ihn vom Haarschopf bis zu den Schuhspitzen. „Tee, Kaffee, Whiskey?“ Bei letzterem umspielte ein schelmisches Lächeln ihre Lippen.
    „Vielen Dank. Etwas Wasser würde mir genügen.“
    Immer noch lächelnd öffnete die Frau einen Schrank und zog eine Flasche Wasser und ein Glas hervor.
    „Sie sind nicht von hier“, stellte sie fest, während sie ihm eingoss.
    „Nein, das bin ich nicht.“
    „Ich erkenne es an Ihrem Akzent. Niemals habe ich jemanden so sprechen hören. Woher kommen Sie?« Sie drückte ihm das Glas in die Hand und er hob es an. Über seinen Rand betrachtete er sie einen Moment und überlegte, was er ihr antworten sollte.
    „Norwegen“, sagte er schließlich.
    Sie lachte. „Wirklich?“ Und er wusste, dass sie ihm nicht glaubte. „Nun, ich gehe meinen Großvater holen“, sagte sie schließlich. „Warten Sie bitte einen Moment.“ Und wenige Sekunden später war Kandrajimo allein mit einem Haufen moderner Möbel und alter Portraits. Er fragte sich, ob eines von ihnen Alan MacLyark zeigte. Der dort hinten sah wie der Abenteurer aus, als den Kandrajimo ihn sich vorstellte: Breite Schultern, entschlossener Blick, etwas abenteuerlicher Haarschnitt – jedenfalls für seine Zeit ... Der Mann auf dem Bild daneben allerdings sah eher unheimlich aus. Er war in einen silbernen Umhang gehüllt, den eine flammenförmige Brosche an seinem Platz hielt. An den Händen trug er schwere Ringe. Sein flammend orange-farbenes Haar fiel ihm über die Schultern und seine Augen funkelten böse auf Kandrajimo hinab. Es waren diese Augen, die ihm Unwohlsein bereiteten. Sie waren dunkel und kalt. Er kannte solche Augen, er hatte sie in seinem Leben schon hunderte Male gesehen. Mitleidlos. Furchteinflößend. Als Kandrajimo den Blick über die anderen Portraits schweifen ließ, sah er noch mehr solcher Augen, mehr Gesichter, die ihm ebensolche Schauer über den Rücken sandten. Frauen wie Männer. Viele von ihnen trugen einen silbernen Umhang. Kandrajimo nahm an, dass es derselbe war: ein Familienerbstück. Er nahm noch einen Schluck Wasser und setzte sich aufrecht hin. Dann wandte er demonstrativ den Blick von den Gemälden. Es waren nur Bilder, nichts, wovor man sich fürchten musste. Er hoffte nur, dass Ean MacLyark nicht so gruselig aussah, wie seine Vorfahren.
    Doch er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Der Mann sah aus, wie ein gutmütiger, alter Großvater. Er hatte weißes Haar, eine Menge Falten und ein paar Altersflecken. Er trug eine Cordhose und einen ausgewaschenen Strickpullover. Seine braunen Augen stachen aus seinem blassen Gesicht hervor. Doch lächeln tat er nicht.
    „Wie geht es Ihnen Mr Kandrajimo“, fragte er, während er auf seinen Stock gestützt zu dem Schaukelstuhl am Kamin humpelte, ihn ein Stück verschob, bis er Kandrajimo genau gegenüberstand, und sich setzte.
    Kandrajimo blickte auf seine Krücken und den Verband an seinem Fuß hinab. Dann zuckte er mit den Schultern. »Wunderbar, danke.«
    „Nun, sie sehen auch gut aus. Aber ich komme nicht drumherum zu bemerken, dass Ihre Augen älter aussehen, als der Rest von Ihnen. Viel älter – sogar älter als ich.«
    „Bitte was?“
    MacLyark zog die Augenbrauen hoch. „Andererseits sagen die Leute, dass die Augen eines Mannes mit seiner Erfahrung altern. Mit den Dingen, die er gesehen hat. Ich schätze, Sie sind einfach ein sehr erfahrener Mann.“
    „Das bin ich“, sagte Kandrajimo. Der Gesprächsverlauf verwirrte ihn etwas, aber er war Schlimmeres gewöhnt. Am Königshof von Thirga Lyona konnte man sich vor mehrdeutigen Andeutungen meist kaum retten.
    „Warum sind Sie hier?“
    Sie kamen also gleich zum Punkt. Kandrajimo war froh darüber. »Ich bin hier, weil ich mich für das Leben Ihres Großvaters interessiere.«
    „Meines Großvaters?“, sagte der Mann verwundert.
    „Sprach er je mit Ihnen über sein frühes Leben?“
    Der Mann sah Kandrajimo lange an. „Das tat er allerdings. Aus dem schließend, was er erzählte, hatte er ein sehr interessantes Leben. Nicht so interessant wie Ihres vielleicht.«
    Kandrajimo seufzte genervt. Was sollten diese ganzen Andeutungen des alten Mannes? Wenn er wusste, wer Kandrajimo war, warum sagte er es nicht einfach? Und wenn er es nicht wusste, warum sagte er all diese Dinge`? Kandrajimo war so gereizt, dass er nicht auf die Worte des Mannes einging. Stattdessen starrte er ihn schweigend an und wartete darauf, dass er weiter redete.
    „Er hat mir Geschichten erzählt“, sagte der Alte schließlich. „Geschichten voller Wunder. Dinge, die Ihr nicht glauben würdet.“
    „Vielleicht würde ich sie glauben. Wie Sie sagten hatte ich ein interessantes Leben.“ Jetzt machte er schon selbst bei diesen Andeutungen mit. Doch Ean MacLyark sprach nicht weiter. Er sah ihn nur bedeutungsvoll an. Seufzend ergriff Kandrajimo erneut das Wort und erklärte, warum er gekommen war: „Ich suche nach etwas, dass sich lange Zeit im Besitz Eures Großvaters befand. Eine Halskette mit einem grünen Ring aus Stein.« Er hatte das dritte Tor niemals gesehen, er gab nur Tabeas Beschreibung wieder.
    »Eine Halskette“, sagte McLyark. Um seine Augen bildeten sich verschmitzte Fältchen. „Wenn Sie nach Schmuck für Ihre Lady suchen, sollten Sie es vielleicht bei einem Juwelier versuchen. Davon abgesehen trifft Ihre Beschreibung auf tausende Ketten zu, die Sie auf dem Flohmarkt kaufen können – für ein paar Pfund.“ Er rümpfte die Nase.
    „Ich spreche nicht über irgendein gewöhnliches Schmuckstück. Dieses Objekt ist außerordentlich. Ich nehme an, dass Ihr Großvater es stets bei sich hatte oder es an einem geheimen Ort versteckt hielt.«
    Der Schalk verschwand endlich aus MacLyarks Augen und er wurde ernst. „Da war tatsächlich eine Halskette. Er trug sie immer bei sich, sie war sehr wertvoll für ihn. Ich dachte immer dass sie jemandem gehört hatte, den er sehr geliebt hatte. Doch schließlich verkaufte er sie.“
    „An wen?“
    „Eine Frau. Sie besuchte dieses Haus damals einmal im Jahr. Sie verkaufte uns Kleidung aus dem edelsten Stoff, den ich je gesehen habe. Wir besitzen immer noch viel davon. Ihre Familie und meine haben schon seit Jahrhunderten miteinander gehandelt. Ein Jahr fragte sie nach der Kette. Ich hätte es nie erwartet, aber mein Großvater sagte er wäre alt und würde sie nicht länger brauchen. Er gab sie ihr.“
    „Wissen Sie noch irgendetwas anderes über diese Frau? Vielleicht sogar ihren Namen?“
    In dem Moment hörten sie vor der Wohnzimmertür einen Tumult. Ein lautes Scheppern erklang, als wäre etwas sehr schweres und sehr teures aus Metall zu Boden gefallen.
    „Du kannst jetzt nicht hier reingehen“, rief eine Frauenstimme. Kandrajimo war sich sicher, dass es die Frau war, die ihm die Tür geöffnet hatte. Eine andere Frauenstimme herrschte sie an: „Geh mir aus dem Weg!“ Dann flog die hohe Wohnzimmertür mit einem lauten Krachen auf und im Türrahmen erschien das wütendste Wesen, das Kandrajimo je gesehen hatte. Vielleicht mit Ausnahme von Maja Sonnfeld.
    „Verschwinden Sie von hier!“ Die Frau hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit den Menschen auf den Porträts, die Kandrajimo so beunruhigt hatten. Sie war hochgewachsen, das feuerrote, lange Haar trug sie offen. Es fiel ihr in wilden Strähnen in die dunklen, kalten Augen. Sie war in ein schwarzes, bodenlanges Kleid gewandet und über den Schultern trug sie einen silbernen Umhang – den Umhang. Denselben, der auf den Porträts abgebildet war. Und jetzt, wo er ihn in der Wirklichkeit sah, erkannte Kandrajimo, dass es nicht einfach nur ein Umhang aus silbernem Stoff war. Der Umhang schien aus Silber zu bestehen. Kandrajimo betrachtete ihn erstaunt. Wenn ihn nicht alles täuschte, wusste er jetzt, wer die Frau aus Ean McLyarks Geschichte war. Wenn er so darüber nachdachte, machte alles Sinn.
    „Raus hier!“, brüllte die Frau mit den roten Haaren ihn an. Dann machte sie einen Schritt ins Zimmer hinein. Ein Windstoß fuhr durch den Raum und Kandrajimo wurde unsanft aus seinen Gedanken gerissen. „Sie haben kein Recht hierher zu kommen! Sie haben kein Recht Fragen zu stellen!“
    „Davina“, zischte Ean. „So kannst du dich nicht benehmen.“
    „Ich kann und werde. Du hast keine Ahnung wer er ist.“
    Kandrajimo räusperte sich: „Ich verspreche, dass ich in bester Absicht komme.“
    „Halten Sie den Mund!“, fauchte sie ihn an.
    „Wissen Sie, wer ich bin?“, fragte Kandrajimo.
    „Sie können Ihre Fähigkeiten nicht vor mir verbergen“, erklärte Davina, während sie langsam auf ihn zu schritt. Kandrajimo erhob sich von seinem Sofa und machte ein paar vorsichtige Schritte auf das Fenster zu. „Ich habe Ihre Aura schon gespürt, als Sie den ersten Schritt über unsere Schwelle setzten. Sie wurden von Magie berührt.“
    „Kein Grund mir zu misstrauen“, sagte Kandrajimo, „Sie selbst scheinen magische Fähigkeiten zu besitzen, ich nehme sogar an, dass sie meine um Längen über–“, doch bevor er den Satz beenden konnte, unterbrach sie ihn mit tiefer, mächtiger Stimme und begann eine Art Singsang. Kandrajimo verstand nicht was sie sagte, denn sie sprach nicht mehr Englisch. Er vermutete, dass es eine sehr alte Sprache aus der Gegend war, vielleicht Gälisch? In jedem Fall waren ihre Worte magisch – gefährlich wie eine blanke Klinge.
    Kandrajimo wurde bitterkalt und heiß zugleich, der Raum um ihn herum schien zusammenzuschrumpfen und dunkler zu werden und er wurde von dem sehnlichen Wunsch ergriffen, diesen Ort sofort zu verlassen und nie wieder zurück zu kommen. Sie verzauberte nicht bloß die Umgebung, sondern ihn. Das war beunruhigend. Er griff nach dem Fenstergriff, riss das Fenster auf und kletterte auf das Fensterbrett. Dort oben drehte er sich noch einmal um. Ean und die Frau mit den braunen Haaren starrten Davina entsetzt an. Sie war blass wie Schnee geworden, doch ihre Augen wirkten noch dunkler als zuvor. Die Sehnen an ihren Händen und an ihrem Hals traten hervor und ihre Wangen schienen hohl. Ihr Haar wurde an den Ansätzen schwarz. Sie war eine mächtige Magierin. Kandrajimo hatte keine Ahnung, wie er sie so gegen sich aufgebracht hatte, aber er verschwendete keine Zeit mehr. Er lehnte sich so weit er konnte aus dem Fenster und verschob sich an den ersten Ort, der ihm einfiel: Inverness. Er hatte, was er wollte.
    Er verdrückte sich in eine schmale Seitenstraße, zog sein Handy hervor und rief Tabea an. Sie nahm sofort ab.
    „Couldn't you just warn me that they are magicians?“, fauchte Kandrajimo sie an.
    „Warum redest du Englisch?“, fragte Tabea seelenruhig auf Paratak.
    „Ich meine es ernst.“
    „Ich hatte keine Ahnung. Warum, was ist passiert?“
    „Ich sah mich auf einmal Auge in Auge mit einer stocksauren Magierin. Und ich weiß nicht einmal, warum sie so wütend war. Sie hielt mich für einen anderen Magier. Ich bestreite ja gar nicht, dass ich den ein oder anderen Zaubertrick beherrsche, aber das ist kein Grund so auszuflippen.“
    „Aber woher sollte ich wissen, dass eine von denen zaubern kann?“
    „Nicht bloß eine von denen. Ich glaube, wir haben es hier mit einem sehr alten Magiergeschlecht zu tun.“
    „Was für Magier? Zauberer? Schwarzmagier? Hexenmeister?“
    „Was weiß ich?“ Er schnaubte. Diese Wörter wurden so oder so von jedem anders definiert.
    „Und was sollen wir jetzt tun?“
    „Nichts. Wir lassen sie in Ruhe. Ich habe glücklicherweise, was ich wollte.“
    „Du weißt, wer das Tor hatte?“
    „Wenigstens habe ich eine Vermutung. Rate mal, wen ich gerade mit einem Umhang aus Silber gesehen habe. Davina MacLyark.“
    „Du sprichst nicht von einem gewöhnlichen Umhang aus silbernem Stoff?“
    „Nein. Dieser Umhang war aus Silber. Von einer Spinnenweberin gewebt. Von dem, was ich aus der Unterhaltung verstanden habe, treiben diese Leute seit Jahrhunderten Handel mit den Spinnenwebern. Und es macht Sinn, erinnerst du dich an Karim und Jinna?“
    „Wie könnte ich die vergessen?“
    „Ihre Mutter ist eine Spinnenweberin. Maja muss das Tor von ihr bekommen haben. Wo bist du gerade?“
    „Moelv.“
    „Und wo ist das?“
    „In Norwegen.“
    „Wow. Echt präzise.“ Er ärgerte sich immer noch über die ungenaue Ortsangabe vom Vormittag.“
    „Es liegt zwischen Lillehammer und Hamar. Nördlich von Oslo.“
    Kandrajimo verdrehte die Augen. „Vergiss es, ich gehe los und kaufe mir einen Atlas“, sagte er und legte resigniert auf.