Beiträge von Dinteyra im Thema „Eine Welt ohne Namen - Das 3. Tor“

    So, dann geht es hier mal wieder mit meinem Lieblingstrio weiter. Falls ich hier Blödsinn über Bolivien schreibe, weist mich gerne darauf hin. Ich habe zwar etwas recherchiert, war aber noch nie dort. ;)


    Weltreise


    Die Autofahrt zum nächsten Flughafen erledigte Kandrajimo beinahe und da sich niemand vorstellen konnte, dass er in dem Zustand einen Interkontinentalflug überstehen würde, geschweige denn ins Flugzeug gelassen werden würde, blieben sie noch ein paar Tage in einem Hotel in der Stadt. Das gab Jonathan Niber auch noch ein wenig Zeit, sich an diese Welt und den Gedanken des bevorstehenden Fluges zu gewöhnen. Während Kandrajimo den ganzen Tag im Bett blieb und sich erholte, schleifte Tabea Jonathan in die Stadt und brachte ihm bei, sich wie ein normaler Mensch zu benehmen. Sie war damit tatsächlich erfolgreich, auch wenn es noch seine Zeit brauchen würde, bis das Chaos einer Großstadt ihm keine Angst mehr einjagen würde.
    Abends saß Tabea mit einem nagelneuen Laptop auf ihrem Bett und durchsuchte das Internet nach Informationen über den Standort des Tores. Kandrajimo beobachtete sie dabei stumm. Das Internet war eines der wenigen Dinge in dieser Welt, mit dem er so wenig anfangen konnte, wie Jonathan Niber mit Telefonen. Tabea hatte zunächst Informationen zu Bolivien gesucht und dann versucht, das Gebiet, in dem sich das Tor befand, ein wenig einzugrenzen. Es handelte sich um einen sehr abgeschiedenen Teil Boliviens, mitten im tropischen Regenwald. Das wunderte weder Tabea noch Kandrajimo, denn wäre das Tor an einem bevölkerten Ort gewesen, hätte man es bereits entdeckt. Tabea grenzte mithilfe von MacLyarks Tagebüchern die Position etwas ein und suchte dann nach Legenden, die möglicherweise das Tor erwähnten. Ohne Erfolg, sie würden es in Bolivien noch einmal versuchen, indem sie die Einheimischen nach Geschichten und Gerüchten fragten. Dann installierte sie ein Programm, mit dem sie die Landschaft von oben betrachten konnte, wie ein Vogel. Kandrajimo war fasziniert davon. Gemeinsam mit ihr suchte er das Gebiet mit den Augen ab, aber auch damit hatte sie keinen Erfolg. Sie sahen nichts als Bäume und besonders scharf war das Bild auch nicht.
    „Du kannst mir nicht zufällig irgendwelche Spionage-Software besorgen?“, fragte sie Kandrajimo schließlich. „Irgendwas, mit dem man Zugriff auf Satelliten hat?“
    „Frag mal in Norwegen nach“, meinte Kandrajimo. „Aber ich sehe deine Chancen als nicht so groß an, die meisten Länder mit Spionagesatelliten wissen nichts von unserer Welt und haben somit auch nur wenig Kontakt mit uns.“
    „Warum nicht?“, fragte Tabea.
    „Zu paranoid. Außerdem würden die die Wahrheit doch gar nicht verkraften.“


    Kandrajimo schmerzte noch immer jede Bewegung. Trotzdem quälte er sich am Abend des zweiten Tages aus dem Bett und sagte Tabea, sie solle einen Flug buchen. Beim Gedanken an das Fliegen war ihm eigentlich nicht besonders wohl. Er war noch nie mit einem Flugzeug geflogen und der Gedanke behagte ihm nicht. Halbdrachen – jederzeit, aber Flugzeuge? Maschinen? Doch an eine Verschiebung wagte er in seinem Zustand nicht einmal zu denken. Und sie mussten endlich los. Wie lange war es her, dass Maja aufgebrochen war? Er zählte nach, es waren jetzt über zwei Wochen. Und seitdem hatten sie nichts von ihr gehört. Nichts.
    Wäre Kandrajimo ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte er sich eingestanden, dass sie keine Chance hatten, Maja wieder zu finden. Das Mädchen war auf sich allein gestellt. Aber Kandrajimo wollte sich das nicht eingestehen und er wollte alles geben, um Maja zu retten. Tabea war da schon nüchterner eingestellt. Sie hielt sich aber zurück und sagte nicht, was sie dachte. Stattdessen arbeitete sie konzentriert daran, die kleine Chance, die sie hatten, zu nutzen. Jonathan Niber hielt mit seiner Meinung dagegen nicht hinterm Berg. Für ihn war die Suche nach Maja vergebens, es ging ihm nur um das Auffinden eines neuen Weltentores.
    Tabea buchte einen zeitnahen, jedoch fürchterlich teuren und sehr langen Flug nach Bolivien und sie brachen früh am Morgen auf.
    Sie alle drei trugen Schwerter bei sich und es war nicht ganz unproblematisch, sie durch die Gepäckkontrolle zu bekommen, aber mit einer Kombination aus Zauberkreide und den Amuletten der Kamiraen gelang es.
    In der Wartehalle klebte Jonathan Niber geradezu an der Fensterscheibe und sah den Flugzeugen beim Starten und Landen zu. Er war beinahe wie ein kleines Kind.
    „Hat er das beim letzten Mal auch gemacht?“, fragte Kandrajimo Tabea.
    „Nein, da saß er herum wie ein paralysiertes Eichhörnchen.“
    „Scheint langsam aufzutauen, der Gute.“
    Tabea lachte, ohne von ihrer Strickarbeit aufzusehen. Ja genau. Tabea strickte. Sie hatte sich außerdem das Haar zu einem Knoten gebunden sowie einen weiten, grauen Rock und eine beigefarbene Jacke überzogen. Es war kaum zu glauben, was diese Kleidung aus ihr machte. Plötzlich sah sie so alt aus. Tabea hatte ein altersloses Gesicht, aber von ihrem Wesen und ihrer Dynamik her hatte sie immer so jung auf Kandrajimo gewirkt. Und jetzt sah sie wie eine alte Oma aus, wenn auch nicht annähernd so alt, wie sie wirklich war. Kandrajimo betrachtete sie. Sie war ein seltsamer Mensch. Und sie konnte sich wirklich gut tarnen.
    Er kaufte sich eine Zeitung, vergrub die Nase darin und versuchte, den absolut unscheinbaren Normalbürger zu mimen.
    „Welche Sprache spricht man eigentlich in Bolivien?“, fragte er irgendwann. „Bolivianisch? Bolivisch?“
    „Spanisch“, antwortete Tabea. „Unter anderem.“
    „Oh. Und, sprichst du Spanisch?“
    „Ja.“
    Warum fragte er überhaupt. Tabea sprach viele Sprachen. In all den Jahren, die sie lebte, hatte sie viel Zeit gehabt, sie zu lernen.
    Ihr Flug hatte Verspätung und Kandrajimo nickte auf seinem Sitz ein. Dann, zwei Stunden nach Plan, ging es endlich los. Der Start tat ihm gar nicht gut, er verkrampfte sich und bekam stechende Schmerzen im Kopf und in der Brust. Doch als sie erst einmal in der Luft waren ging es ihm wieder besser und er nutzte den fast 20-stündigen Flug (Tabea hatte einfach keinen schnelleren bekommen können), um sich zu erholen. Zwei Mal mussten sie den Flieger wechseln, dann kamen sie endlich an.
    Als sie aus dem Flughafen traten, stand bereits ein Auto für sie bereit. Tabea hatte offenbar an alles gedacht. Es war ein altes, etwas rostiges und gut für das Gelände geeignetes Auto. Mehr konnte Kandrajimo nicht darüber sagen, er hatte keine Ahnung von Automarken. Na ja, er konnte noch sagen, dass es grün war.
    Es war recht kühl und Kandrajimo war leicht schwindelig. Er lehnte sich gegen das Auto. Tabea beobachtete ihn, offensichtlich besorgt.
    „Geht es?“, fragte sie.
    „Mhm. Kann es sein, dass die Luft hier komisch ist?“
    „Möglich. Wir sind in 4100 Metern Höhe. Das hier ist der höchstgelegene internationale Flughafen der Welt.“
    „Aha“, nuschelte Kandrajimo. Er hatte das Bedürfnis, sich sofort hier weg zu verschieben, vielleicht an die Norwegische Küste. Oder irgendwohin, wo ihn ein warmer Kamin erwartete.
    „Warum ist es so kalt?“, fragte er.
    „Wie gesagt, wir sind sehr weit oben“, erklärte Tabea. „Außerdem befinden wir uns auf der Südhalbkugel der Erde. Hier ist gerade Winter.“
    „Wie, hier ist Winter?“, fragte Niber. „Wie kann es hier Winter sein?“
    Tabea seufzte, öffnete die Autotür und setzte sich auf den Fahrersitz. „Steigt ein, ihr beiden. Kandrajimo, du kannst schlafen, während ich deinem Boss Nachhilfe in Erdkunde gebe.“
    „Er ist nicht mein Boss, zumindest nicht in dem Sinne. Wir Kamiraen sind gleichberechtigt, das solltest du am besten wissen, Tabea. Und sei nicht zu streng mit ihm, woher soll er wissen, dass hier Winter ist? In unserer Welt ist überall immer die gleiche Jahreszeit.“

    Die Landschaft, durch die sie fuhren, war zunächst nicht besonders spektakulär, eher trostlos und karg, auch wenn der Blick auf La Paz hinab einfach nur umwerfend war. Die Stadt lag in einem Canyon 400 Meter unterhalb des Flughafens. Über ihr, aber noch unter den Betrachtern, schwebten flauschige Wolken. Der Anblick konnte einem geradezu den Atem rauben.
    Sie brauchten fast drei Tage, um das Gebiet, in dem Tabea das Tor vermutete, zu erreichen. Es lag östlich der Anden und hier sah die Landschaft schon besser aus. Hauptsächlich bestand sie aus stark bewaldeten, sehr steilen Bergen. Die Temperaturen wurden wärmer und die Luft feuchter. Die Vegetation wandelte sich zu einem tropischen Wald. Die Straßen führten abenteuerlich nahe am Abgrund entlang. Kandrajimo und Niber konnten beide kaum hinsehen.
    Doch jetzt ging die Suche erst richtig los. Sie zogen von Ort zu Ort und fragten nach den typischen Anzeichen eines Weltentores. Tabea übernahm die Befragungen der Ortsansässigen, denn sie war die einzige, die sich mit ihnen verständigen konnte. Sie fragte nach Legenden über andere Welten oder ähnlichem. Sie fragte, ob es irgendwelche rätselhaft Verschwundenen gab, oder, im Gegenteil, ob Leute hier unvermittelt aufgetaucht waren, die nicht hierher passen zu schienen und sich beim Anblick ganz gewöhnlicher Dinge, wie zum Beispiel Autos, irgendwie unnormal verhielten.
    „So wie er?“, fragte ein Tankstellenbesitzer sie irgendwann und zeigte auf Niber. Er umkreiste gerade staunend die Zapfsäule. „Ehrlich gesagt finde ich euch alle etwas seltsam.“

    Kisa ,

    dann halte mich gerne auf dem Laufenden, wo du so bist. Ich meinte übrigens gar nicht, dass ich hier abbrechen will. Es geht eher darum, dass ich in den letzten Jahren einfach nicht mehr so zum Schreiben komme. Dann klappt es mal ein paar Wochen und anschließend monatelang gar nicht. Deshalb möchte ich hier nichts versprechen, was ich nicht halten kann. Gerade bin ich aber sehr motiviert und habe auch wieder angefangen, die Geschichte weiter zu spinnen, über das hinaus, was ich mir schon ausgedacht hatte. Es macht Spaß und tut gut. Und die nächsten paar Kapitel sind sowieso schon länger fertig, müssen aber weiter überarbeitet werden.

    LG Din


    Er folgte Keon durch den Wald von Ilwera, durch das Tal der Seelen und am Fluss Teljorok entlang. Immer geduldig auf eine Gelegenheit wartend. Auf den Moment, zuzuschlagen.
    Eines Abends hielt Keon an einer kleinen Bucht am Flussufer. Er entzündete ein Feuer, briet ein paar Maiskolben und Nunas und unterhielt sich leise mit Sariphas. Sie sprachen über Gut und Böse, über Recht und Unrecht, über Licht und Finsternis – wie es Feen nunmal gerne tun.
    Ela-Olin stand unter einer Weide und beobachtete sie, bis er im letzten Licht des Tages etwas anderes sah: Einige hundert Meter entfernt, über den Wipfeln der Bäume, stieg Rauch auf.
    Hinterhältigen Gedanken folgend machte er sich sofort auf den Weg dorthin und gelangte schließlich auf eine Lichtung. Eine Gruppe Menschen saß dort am Feuer, sprach mit leisen Stimmen, unterbrochen von manch verhaltenem Lachen. Ihren Gesichtern sah man den tiefen Kummer an, der ihre Seelen überschattete und der Hunger stand in ihren Augen. Es waren dürre, unterernährte Gestalten, besonders die Kinder. Ela-Olin sah seine Chance und trat aus dem Schatten der Bäume heraus.
    Die Leute blickten erschrocken auf – Angst in den Gesichtern. Ein paar standen abwehrbereit auf.
    ‚Ich bin nur ein armer Wanderer’, rief Ela-Olin mit erhoben Händen. ‚Bitte helft mir. Ich bin so hungrig. Bitte, ich flehe euch an: gebt mir zu essen.’
    ‚Wir haben selbst nichts’, sagten die Leute am Feuer.
    Ela-Olin sank auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Er begann, mit hoher Stimme zu jammern und eine wirre Geschichte zu erzählen. Von Räubern, die ihm alles genommen hatten, außer der Kleidung, die er am Leib trug. Von seinen Kindern, die vor seinen Augen getötet wurden. Von seiner Frau, die verschleppt worden war. Und von dem Essen, das er bei sich getragen hatte, und das er eigentlich den Armen und Bedürftigen hatte geben wollen.
    Es war eine Show, aber es war eine gute Show. Vielleicht ein wenig übertrieben, doch die Menschen am Feuer waren selbst erst vor kurzem ausgeraubt worden und ihre Wut war schnell entfacht. Sie beschimpften Ela-Olins Peiniger und verfluchten den Krieg.
    ‚Einer von ihnen ist noch in der Nähe’, sagte Ela-Olin schließlich. ‚Er hat sich von den anderen getrennt, weil er in der Ferne einen Hof gesehen hat und seine Grausamkeiten dort fortsetzen will.’
    Die Leute am Feuer verfluchten diesen einen und drückten ihre Besorgnis aus. ‚Sollte man die Bewohner des Hofes nicht warnen?’, fragten sie.
    ‚Wir stoppen den Kerl!’, rief plötzlich einer von ihnen. ‚Er wird bereuen, was er getan hat.’
    Viele stimmten ihm zu und prompt standen sechs wütende Männer und drei Frauen auf, um es in die Tat umzusetzen.
    Keon saß nichts ahnend am Feuer. Doch als er in der Ferne die Menschen auf sich zukommen sah, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Sie trugen eine Spannung mit sich, die nichts Gutes verheißen konnte.
    Er stand langsam auf und trat ihnen entgegen. Die leeren Handflächen streckte er nach vorne aus und mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht versuchte er, seinen guten Willen zu signalisieren.
    Doch die Gruppe wurde nicht langsamer, sie schien eher noch an Geschwindigkeit zuzunehmen, als sie ihn sah, und die Menschen fingen wütend an zu brüllen. Sie beschimpfen ihn als Mörder, als Räuber und Plünderer. Als Kinderschlächter.
    Keon wusste nicht, wie er reagieren sollte. Hier lag offensichtlich eine Verwechslung vor.
    ‚Ich bin nicht der, den ihr sucht!’, rief er, doch gegen das Geschrei der Gruppe kam er nicht an.
    Er zog sein Schwert, doch auch das vermochte nicht, sie auszubremsen.
    Er betrachtete ihre Waffen. Sie trugen Messer und Schwerter, sahen allerdings nicht so aus, als wären sie in ihrem Gebrauch geübt. Doch sie waren zu neunt und zu allem bereit, während er sie lieber nicht verletzen wollte. Nein, zu zehnt. Keon erstarrte, als er die Schattengestalt im Hintergrund erkannte. Es war Ela-Olin. Mit einem Schlag wurde ihm klar, was hier vor sich ging.
    ‚Ich habe dich vor ihm gewarnt’, sagte Sariphas mit piepsiger Stimme. Der Feenmann war hervorgekommen und schwirrte neben Keons Ohr auf der Stelle.
    Und was der Anblick von Keons Waffe nicht vermocht hatte, das vermochte der Anblick dieses zarten Geschöpfes. Die Gruppe blieb auf einen Schlag stehen und ihr Geschrei verstummte.
    ‚Was ist los?’, zischte Ela-Olin, ‚warum tötet ihr ihn nicht?’
    ‚Das ist eine Fee’, sagte einer der Männer.
    Ela-Olin musste ihm zustimmen. ‚Na und?’
    ‚Eine Fee würde niemals einen Räuber und Mörder begleiten’, erklärte einer der Männer.
    ‚Er war auch nicht bei den Räubern, die uns überfallen haben’, sagte eine der Frauen. ‚Sein Gesicht kommt mir unbekannt vor. Ist das wirklich der Mann, der dich überfallen hat?’, fragte sie Ela-Olin.
    Ela-Olin wusste, dass sie ihm nicht glauben würden, wenn er ja sagte. ‚Ich bin mir nicht sicher’, sagte er deshalb.
    Die Männer und Frauen steckten ihre Waffen weg und auch Keon senkte sein Schwert.
    ‚Verzeiht, Wanderer’, sagten sie. ‚Wir hatten dich für Teil einer schlimmen Räuberbande gehalten. Aber dank der Fee in deiner Begleitung wissen wir, dass du ein reines Herz hast. Wenn du möchtest, so verbringe doch die Nacht mit uns. Wir haben zwar nichts zu Essen, aber wir haben Wasser und den Schutz einer großen Gruppe.’
    Keon lehnte dankend ab. Dann sah er Ela-Olin an. In den Augen des unheimlichen Fremden erkannte er Hass und Mordgier. Keon hatte den Eindruck, dass er sie alle am liebsten vernichtet hätte.
    Doch Ela-Olin tat nichts davon. Er kehrte ihnen bloß den Rücken zu und verschwand im Wald.
    Keon wartete, bis auch die anderen Leute seinen Lagerplatz verlassen hatten, dann packte er seine Sachen und machte sich wieder auf den Weg. Er wollte die Nacht nicht mehr hier verbringen. Nun war er gewarnt. Er wusste, dass Ela-Olin ihm Schaden zufügen wollte.
    Der übrige Teil der Reise verlief recht ruhig. Ela-Olin versuchte noch das eine oder andere Mal mit Arg und Tücke Keon um sein Leben zu bringen, doch er und Sariphas gingen den Anschlägen vorsichtig aus dem Weg und meisterten jede Gefahr. Schließlich erreichten sie Chrarimato. Ihr Hilferuf wurde erhört und die Stadt sandte eine große Armee aus um Talingo von den Belagerern zu befreien.
    Ela-Olin stand auf einer Anhöhe vor der Stadt. Bis hierher war er Keon gefolgt. Als er nun die Armee sah, die sich vor den Toren Chrarimatos versammelte, wurde er wütend. Das Keon ihm so lange entkommen war und nun die Hilfe bekommen sollte, die er suchte, dass Talingo nicht untergehen sondern gerettet werden sollte ... all das erfüllte ihn mit grenzenlosem Zorn. Und er ging und bat die Nachthexe von Pal um Hilfe.“
    „Oh, die Hexe von Pal“, rief Merin plötzlich aus. „Von der hab ich gehört. Sie war die mächtigste Hexe aller Zeiten. Angeblich konnte sie - “
    „Sie konnte alles“, unterbrach Elzo ihn. „Was sie wünschte, das ging in Erfüllung. Und sie war eine sehr alte Freundin von Ela-Olin. Sie erfüllte ihm gerne seinen Wunsch.“
    „Welchen Wunsch?“, fragte Jonah. „Was hat er sich gewünscht?“
    „Er wünschte sich, dass die Armee von Chrarimato niemals Talingo erreichen würde. Und die Nachthexe von Pal verneigte sich vor ihm, spuckte auf den Boden und begann, in ihrer eigenen alten Sprache zu singen. Und sie riss diese Welt auseinander. Genau in der Mitte zwischen Chrarimato und Talingo stampfte sie ein Gebirge aus der Erde, dass sich durch die ganze Welt zog. Und nie wieder sollte es jemandem aus einer der Städte gelingen, die andere Stadt zu erreichen. Und der Glutkönig verwandelte Talingo in einen Berg aus Asche.
    In dem Moment, als das Gebirge entstand, wurde das Gleichgewicht dieser Welt so sehr erschüttert, dass Sariphas und mit ihm die Hälfte seiner Artgenossen starben. Feen sind zarte, empfindsame Wesen. Einer solchen Erschütterung hatten sie nichts entgegenzusetzen.
    Keon weinte bitterlich um seinen treuen Freund und begrub ihn unter einem Magnolienbaum. Er bemerkte, dass er beobachtet wurde. Auf einem Hügel stand Ela-Olin und sah ihm schweigend zu.
    Nachdem die Beerdigung vollendet war, ging Keon zu ihm.
    ‚Das hier ist Euer Werk’, sagte er. ‚Ihr habt Sariphas getötet und Talingo ins Verderben gestürzt.’
    ‚Ich gebe es zu und es erfüllt mich mit Freude. Nur Euch konnte ich nicht vernichten. Was werdet Ihr jetzt tun?’, fragte Ela-Olin.
    ‚Sariphas ist tot – von nun an soll die Einsamkeit mein Begleiter sein. Ich werde mir einen ruhigen Ort suchen und dort mein Leben verbringen. Ich werde um meinen Freund und meine Stadt trauern.’
    ‚Dann trennen sich unsere Wege hier vorerst’, sagte Ela-Olin. ‚Es war mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen. Und ich freue mich schon auf unser nächstes Treffen.’
    ‚Dazu wird es nicht kommen. Ich will Euch niemals wieder sehen.’
    ‚Oh, ich fürchte, das wird sich nicht vermeiden lassen.‘
    ‚Warum?‘
    ‚Ich bin Ela-Olin. Ich bin der Tod. Und niemand entkommt dem Tod.’“
    Die letzten Worte sprach Elzo mit einer rauen, unheilvollen Stimme, die es schaffte, sie alle erschaudern zu lassen. Dann schwieg er und sie alle starrten ins Feuer.
    „Das Ende ist unheimlich“, sagte Merin schließlich.
    Idela zuckte mit den Schultern. „Ein bisschen aus dem Zusammenhang gerissen“, murrte sie. „Und ich hätte gerne mehr über Keons Reise gehört.“
    „So geht eben die Geschichte“, knurrte Elzo. „Genau so ist sie mir selbst vor vielen Jahren von einem guten Freund erzählt worden.“
    „Ela-Olin war also der Tod?“, sagte Karim.
    Elzo nickte. „So sagt man. Ela-Olin. Der Name des Todes in seiner menschlichen Gestalt.“
    „Glaubt ihr, er läuft wirklich irgendwo herum?“, fragte Karim.
    „Natürlich nicht“, schnaubte Idela, „es ist eine Geschichte. Das Große Gebirge wurde auch nicht von einer Hexe erschaffen.“
    „Sicher?“, fragte Jonah. „Ich habe schon von der Nachthexe gehört.“
    „Ganz sicher. Gebirge entstehen in einem Zeitraum von Milliarden von Jahren durch Verschiebungen des Untergrundes. Nicht indem eine alte Frau auf den Boden spuckt. Das Große Gebirge gibt es schon länger als die Menschheit.“
    „Könntet ihr aufhören, meine Geschichte zu verderben?“, fragte Elzo. „Ich hatte eigentlich gehofft, dass ihr euch gruselt, nicht dass ihr euch zankt.“ Doch er sah nicht allzu verärgert aus, tatsächlich schmunzelte er.
    „Wir zanken ja gar nicht“, murmelte Jonah.
    Merin spießte ein Stück Brot auf einen Ast und hielt es über das Feuer. „In dieser Welt gibt es viele Dinge“, sagte er. „Und wer weiß. Vielleicht wandelt auch irgendwo der Tod unter uns.“

    Chaos Rising ,

    vielen Dank für den Link. Ich hatte tatsächlich noch im Hinterkopf, dass hier mal darüber gesprochen wurde und dass irgendwo in diesem Forum eine Anleitung stand, aber dank dir konnte ich sie super schnell finden.

    Kisa ,

    ich hoffe du hast nur vor, den dritten Band noch mal von vorne zu lesen. Das muss ich tatsächlich auch, wenn ich hier weiter kommen will. Habe mit Karims und Jinnas Parts angefangen, damit ich da weiter machen kann.

    Der nächste Teil ist allerdings sowieso ein bisschen außerhalb der Gesamtgeschichte, eher eine Kurzgeschichte, die ich schon vor Ewigkeiten geschrieben habe. Man sollte sie nicht zu ernst nehmen, ihr wahrer Kern ist über Hunderte von Jahren doch sehr zusammengeschrumpft.

    Außerdem noch ein Dank an alle, die mir hier Herzen und Daumen gelassen haben. Es ist toll, wenn man nach so langer Zeit etwas schreibt und gleich mehrere Reaktionen bekommt. :)


    Die Sage von Keon


    Karims Gruppe kam gut voran. Dass sie zu Pferd unterwegs waren, erleichterte ihre Reise entschieden, trotzdem waren Karim und Jonah an jedem Abend hundemüde. Elzo, Idela und Merin verlangten viel von ihren beiden Begleitern. Sie mussten die Pferde versorgen, sich um das Auf- und Abbauen des Lagers kümmern, Feuerholz sammeln, beim Kochen helfen und Wasser schleppen. Es gab einiges zu tun, bis schließlich ein paar Pilze, Wurzeln und ein halbes Huhn, das sie tagsüber von einem Bauern gekauft hatten, über dem Feuer brutzelten. Es roch köstlich.
    „Auf geht’s“, sagte Merin, nachdem sie alle ihre Schalen geleert hatten und warf Karim und Jonah zwei Holzstücke zu – wie jeden Abend. Karim stöhnte, nahm den ihm bestimmten aber entgegen und wenig später wirbelten die zwei Jungen über die Wiese. Jonah war besser als er – nicht verwunderlich, denn er hatte viele Jahre mehr Übung. Trotzdem verletzte jeder seiner Treffer nicht nur Karims Glieder, sondern auch seinen Stolz. Merin gab den Jungen Tipps und mischte manchmal ein wenig mit. Von Idela dagegen kam wenig Hilfreiches, sie hatte nur spöttische Kommentare für die stümperhaften Fechtversuche übrig. Karim wusste, dass sie selbst meisterhaft kämpfte, vielleicht sogar besser als Merin.
    Nach den Kampfübungen setzten sie sich meistens noch ans gemütliche Lagerfeuer und dann begann jemand eine Geschichte zu erzählen. Idela hatte vor drei Tagen damit angefangen und Merin und Jonah hatten an den darauffolgenden Abenden nachgelegt. Nun schien es schon beinahe eine Tradition zu sein. Alle schauten gespannt Elzo und Karim an. Bevor Karim sich für eine der ihm bekannten Geschichten entscheiden konnte, räusperte sich Elzo.
    „Dann bin wohl heute ich an der Reihe“, stellte er fest, zog einen glühenden Ast aus dem Feuer und pustete ihn an, bis er Funken schlug. „Nun gut. Aber beschwert euch später nicht, wenn ihr nicht schlafen könnt.“ Er pustete den Ast noch einmal vorsichtig an und ein rötliches Flackern erhellte für einen Moment sein Gesicht. „Denn in dieser Geschichte hat der Tod persönlich einen Auftritt.“ Er blickte in die Runde, sah jedem einzelnen nacheinander ins Gesicht. „Es ist eine Geschichte, die ihr alle kennen solltet. Eine wahre Geschichte. Eine Geschichte, die vor Tausenden von Jahren wirklich passiert ist. Und sie erzählt davon, wie das Große Gebirge entstanden ist.“
    Sie sahen sich gegenseitig an, wagten es aber nicht einmal zu flüstern. Der Beginn der Geschichte klang vielversprechend und Elzo erzählte sie wie ein Meister. Bei Karim stellten sich jetzt schon die Nackenhaare auf.
    „Zu der Zeit, in der diese Geschichte spielt, herrschte Chaos in unserer Welt. Ein schrecklicher Krieg war ausgebrochen und jeder kämpfte gegen jeden. Wisst ihr, wo heute die Stadt Dewien liegt?“, fragte er.
    „In der Nähe von Arand“, antwortete Merin. Am Rande des Großen Gebirges.
    Elzo nickte. „Einst befand sich in der Nähe von Dewien eine noch größere Stadt: Talingo. Talingo war eine prachtvolle Stadt, beinahe so prächtig wie Miriam oder Thirga Lyona heute. Was diese Stadt so prachtvoll machte, waren unzählige Ornamente, die an die Wände und Säulen der Stadt gemalt worden waren. Ornamente, die in jedem Stadtteil eine andere Farbe hatten: Grün wie frisches Laub, Orange wie der Sonnenuntergang, Weiß wie der Schnee, Blau wie der Himmel und Schwarz wie Kohle. Im Zentrum der Stadt aber waren sie von einem satten Purpur. Hier tagten die Stadtobersten.
    Talingo war einst reich gewesen, doch zu der Zeit, zu der diese Geschichte spielt, war die Stadt vom Krieg gebeutelt, die Menschen in den Häusern hungerten und die Kinder weinten. Die Stadt befand sich unter einer Belagerung durch den Glutkönig, einem Heerführer so erbarmungslos und schrecklich, dass sein Name an den Lagerfeuern bloß geflüstert wurde. Er wollte Talingo nicht erobern, der Glutkönig hatte keine Freude an einer schönen Stadt. Er wollte vernichten und verbrennen. Deshalb wurde er so genannt: wohin er kam, hinterließ er bloß graue Asche und rote Glut.
    Die Stadtobersten von Talingo wussten, dass sie trotz der hohen Mauern die Stadt nicht mehr lange würden halten können. Jedenfalls nicht allein. Sie brauchten Hilfe. Talingo hatte einige verbündete Städte, doch die waren weit entfernt und der Weg zu ihnen war gefährlich.
    Der Stadtrat traf sich im Zentrum der Stadt, in den Sälen mit purpurnen Ornamenten an den Wänden. Sie diskutierten lange und heftig, was zu tun war, und schließlich entschlossen sie sich, einen Helden auszuwählen und ihn nach Chrarimato zu schicken, die mächtigste ihrer verbündeten Städte. Die Wahl des Helden fiel ihnen nicht schwer: Keon von Abniras sollte es sein.
    Keon war ein wahrer Held: Stark, schön und tapfer. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, seine Stadt im Stich zu lassen, um sich selbst zu retten. Er sagte sofort zu. Man schmuggelte ihn durch einen geheimen Tunnel aus der Stadt und er brach ohne weitere Verzögerungen zu der gefährlichen Reise auf. Er ging nicht allein. Sein stetiger Begleiter war ein kleines Feenwesen namens Sariphas. Denn Keon hatte ein so reines Herz, dass selbst die Feen seine Nähe suchten.“
    In dem Moment stieß Idela ein lautes Schnauben aus. Elzo sah sie an.
    „Also bitte“, sagte Idela. „Er hatte ein so reines Herz, dass selbst die Feen seine Nähe suchten? Größeren Stunk hab ich echt noch nie gehört.“
    „So geht die Geschichte“, sagte Elzo. „Aber du musst sie nicht anhören. Niemand zwingt dich dazu.“ Er sagte es sehr freundlich, trotzdem senkte Idela schuldig den Kopf. Dann kratzte sie sich verlegen am Ohr. „Nein, nein, ich möchte sie hören. Entschuldige bitte.“
    Elzo holte tief Luft und sprach weiter:
    „Zwei Wochen war er unterwegs, als ihm an einer Weggabelung auf einmal ein Fremder entgegentrat. Es war eine düstere Gestalt, in einen langen, dunklen Kapuzenumhang gehüllt, unter dem man kaum sein Gesicht sehen konnte. Sariphas mochte ihn auf den ersten Blick nicht und er versteckte sich blitzartig unter dem Hut unseres Helden.
    ‚Wohin des Weges, Wanderer?’, fragte der Fremde, als er Keon erblickte.
    Keon zögerte. Sein Auftrag war streng geheim, er durfte dem Fremden auf keinen Fall die Wahrheit sagen. ‚Ich bin bloß ein einfacher Mann, auf der Flucht vor dem Krieg’, log er.
    ‚Der Krieg ist überall’, sagte der Fremde ‚Ihm entkommt ihr nicht.’
    ‚Vielleicht. Aber ich habe noch Hoffnung. Darf ich fragen, wer Ihr seid?’
    Der Fremde zögerte, bevor er seinen Namen sprach, doch schließlich stellte er sich vor: ‚Mein Name ist Ela-Olin.’
    ‚Und wohin seid ihr des Weges?’
    ‚Was Ihr fürchtet, das will ich erreichen. Ich bin auf dem Weg in den Krieg.’
    Keon vermutete, dass er es mit einer Art Söldner zu tun hatte, doch als er Ela-Olin danach fragte, zerschlug dieser seinen Verdacht schnell:
    ‚Ich bin kein guter Kämpfer. Ich liebe den Krieg einfach nur. Das Chaos, die Zerstörung ... Es lässt mich spüren, warum ich lebendig bin.’
    Keon verstand nun, warum Sariphas sich beim Anblick dieses Mannes versteckt hatte. Ein so dunkles Herz war ihm lange nicht begegnet. Ihm selbst war mulmig zumute und er verabschiedete sich hastig, um weiter seines Weges zu gehen. Doch Ela-Olin folgte ihm.
    ‚Was wollt Ihr von mir?’, fragte Keon schließlich wütend. ‚Ihr wart in einer anderen Richtung unterwegs. Warum folgt ihr mir?’
    ‚Der Krieg ist überall’, antwortete Ela-Olin. ‚Es spielt keine Rolle, in welche Richtung ich gehe. Ich werde ihn finden.’
    ‚Ihr widert mich an’, sagte Keon.
    ,Tu ich das? Tu ich das wirklich, Keon von Abniras?’
    Keon erschrak fürchterlich. Er hatte dem Fremden seinen Namen gar nicht genannt. ‚Woher wisst Ihr, wie ich heiße?’
    ‚Ich kann in Eure Seele blicken und dort steht Euer Name klar und deutlich geschrieben. Genau wie das, was Ihr wirklich denkt. Ihr seid kein einfacher Mann auf der Flucht vor dem Krieg. Ihr seid ein Krieger. Ihr selbst sehnt euch nach dem Krieg. Nur dass Ihr euch nicht nach Chaos und Vernichtung sehnt, sondern nach Ruhm und Ehre. Aber macht es wirklich einen Unterschied, weshalb wir den Krieg wollen?’
    ‚Ich bin nicht auf der Suche nach Ruhm und Ehre’, erwiderte Keon. ‚Ich will meine Stadt retten. Dafür würde ich alles riskieren.’
    ‚Wovor willst du deine Stadt retten?’, fragte Ela-Olin.
    Und Keon erzählte es ihm. Obwohl er wusste, dass es gefährlich war. Und obwohl ihn Sariphas zartes Stimmchen unter seinem Hut davor warnte.’
    Danach verabschiedete sich Keon von Ela-Olin, denn er war höflich, nichtsdestotrotz fiel die Verabschiedung sehr knapp aus. Keon war der Fremde immer unsympathischer geworden. Mittlerweile fürchtete er sich regelrecht vor ihm. Er wollte ihn so schnell wie möglich loswerden und sich wieder auf den Weg machen.
    Dieses Mal folgte Ela-Olin ihm nicht auf dem Fuß. Stattdessen schlich er ihm heimlich nach, verborgen im Schatten der Bäume. Denn Ela-Olin hatte ein dunkles Herz und es gierte ihn nach Zerstörung und Verderben.
    Ihm war der Gedanke gekommen, dass Talingo untergehen würde, wenn Keon sein Ziel nicht erreichte und diese Aussicht erfüllte ihn mit unbändiger Freude. Und er traf den Entschluss, sich Keon in den Weg zu stellen.
    Nun hatte Ela-Olin aber nicht gelogen: Er war wirklich kein guter Kämpfer. Er war nicht besonders kräftig und hatte noch niemals in seinem Leben ein Schwert in der Hand gehalten. Seine Ziele erreichte er durch Arglist und Tücke und indem er schwache Geister manipulierte.

    Ich hatte ein bisschen Lust hier weiter zu machen. Irgendwie hab ich in den letzten Tagen verstanden, warum Majas Persönlichkeit für mich so reizvoll ist. Mit ein bisschen holprigem Piratenkitsch geht es also hier weiter. Danach soll wieder ein Kapitel bei Karim und Jinna kommen, aber da muss ich mich echt noch reinlesen. Weiß gar nicht mehr, was die zuletzt gemacht haben.

    PS: Irgendwie komme ich mit der Formatierung nicht zurecht. Wenn ich den Text in den Quellcode setze, gehen alle Zeilenumbrüche verloren. Setze ich ihn direkt ein, ist jedes Mal ein Abstand dazwischen. Ich lasse es jetzt mal so und wenn ich herausgefunden habe, wie, kann ich es ja noch ändern.

    LG Din


    Am frühen Nachmittag setzten sie die Segel und fuhren aus dem Hafen aus. Maja stand an der Reling und starrte ins Meer. Der Wind peitschte ihr durch die Haare und die Gischt spritzte ihr ins Gesicht. Sie schloss die Augen. Es fühlte sich ein bisschen an wie Fliegen. Plötzlich stand Joyce neben ihr.

    „Ist das dein erstes Mal auf einem Schiff?“, fragte sie.

    „Ja“, antwortete Maja. „Auf einem richtigen. Aber ich hab mal ein paar Wochen auf einem Floß verbracht.“

    „Einem Floß? Ich glaube, das ist was ganz anderes.“

    „Kann schon sein.“

    „Na dann freu dich schon mal darauf, wenn du seekrank wirst“, sagte Joyce.

    „Ich werde nicht seekrank.“

    „Woher willst du das wissen?“

    „Ich weiß es einfach.“

    Joyce zog etwas aus ihrer Tasche. Bei genauerem Hinsehen erkannte Maja den Ring der Libellen, den sie unter anderem für ihre Überfahrt hergegeben hatte.

    „Mein Vater hat ihn mir geschenkt“, sagte Joyce. „Aber vorher hat er dir gehört. Wie bist du da ran gekommen?“

    „Das ist eine lange Geschichte“, sagte Maja.

    „Ich wette, das ist es. Ich hab Zeit.“

    „Aber ich keine Lust, sie zu erzählen.“

    Joyce schnippte den Ring in die Luft und fing ihn wieder auf. „Du bist immer noch sauer, weil ich dich ausrauben wollte, oder?“

    „Kann schon sein.“

    „Hör zu: Kabaran ist voller Piraten. Was hast du geglaubt, was passiert? Okay, es tut mir Leid“, sagte sie.

    „Es tut dir Leid?“, fragte Maja ungläubig. „Du siehst nicht so aus.“

    Joyce stand lässig grinsend an die Reling gelehnt. „Doch, ehrlich. Ich finde dich echt interessant. Die Art, wie du gekämpft hast, dass du nach Andraya willst, deine ganzen Geheimnisse ...“

    „Dir tut es Leid, weil du mich interessant findest?“

    „Ja. Und weil ich glaube, dass wir gut zusammen passen. Du wärst ne tolle Piratin, denke ich. Wir könnten Freunde werden.“

    „Wozu, damit du mich später auslachst, weil ich dir vertraut habe und mir dann ein Messer in den Rücken rammst? Ich denke eher nicht“, sagte Maja verächtlich.

    Joyce verzog das Gesicht. „Boah, du bist echt nachtragend“, sagte sie.

    „Lass mich allein“, sagte Maja.

    „Hey. Ich kann stehen wo immer ich will und gerade mal gefällt es mir hier. Wenn du allein sein willst, bist du auf einem Schiff sowieso am falschen Ort.“

    „Schön“, sagte Maja giftig und machte sich auf den Weg in ihre Kabine.

    Maja sollte Recht behalten, dass ihr nicht schlecht wurde. Das Schwanken des Schiffes machte ihr überhaupt nichts aus, Purzelbäume machte ihr Magen bloß, wenn sie an den Ort dachte, an den es sie bringen sollte.

    Joyce sollte auch Recht behalten: ein Schiff war kein Ort zum Alleinsein. Sie musste sich ihre Kabine mit drei anderen teilen: Arissa, einer Piratin namens Nama und dem Schiffsjungen Freddy. Er war kaum älter als Käse, allerdings um einiges frecher. Die Meinung auf dem Schiff über ihn war geteilt: die einen glaubten, dass er einmal zu den berühmtesten und berüchtigsten aller Piraten gehören würde, die anderen prophezeiten ihm ein frühes und blutiges Ende. Maja war nicht besonders glücklich, mit ihm in einer Kabine zu schlafen, denn er ließ sich von ihr nichts sagen und außerdem schlief er immer mit einem Messer unter dem Kopfkissen, was sie mehr als beunruhigend fand. Vor dem Einschlafen spielte er oft noch damit herum oder pulte sich mit der Spitze den Dreck unter den Fingernägeln weg. Dabei machte er freche Gesichtsausdrücke in Majas Richtung. Nach zwei Nächten legte Maja sich ebenfalls ein Messer unters Kopfkissen: das von Tabea. Er warf ihr argwöhnische Blicke zu und war in den folgenden Tagen nicht mehr ganz so frech zu ihr.

    Auch tagsüber war Maja kaum allein. Eigentlich war immer jemand überall: an Deck sowieso, in der Kombüse auch und selbst auf den Gängen stand stetig jemand herum und sah sie an, wenn sie vorbei ging. Maja hatte genug zu tun, um nicht vollends in Langeweile und Untätigkeit zu zerfließen. Sie musste beim Kochen und Spülen helfen, mit Freddy das Deck schrubben, Waffen polieren, die Fässer aufstellen, wenn sie umgefallen waren und so weiter. Es gab allerdings auch weite Zeitspannen, in denen sie nichts zu tun hatte und den meisten an Deck ging es ähnlich. Dann vertrieben sie sich die Zeit mit Karten- und Würfelspielen (letztere machten vor allem bei Seegang Spaß), damit, sich Geschichten, Witze und Rätsel zu erzählen und damit, Alkohol zu trinken. Die Piraten boten auch Maja ein bisschen an. Anfangs lehnte sie ab, doch irgendwann langte sie kräftig zu, bis sie kotzend über der Reling hing und nur noch Unsinn verkündete. Jedenfalls war es in den Ohren der Piraten Unsinn, denn Maja hatte mit besoffenem Kopf scheinbar nichts Besseres zu tun, als Geschichten über ihre Welt zu erzählen. Die Crew attestierte ihr daraufhin eine blühende Fantasie und Maja hielt sich fortan mit dem Alkohol zurück.

    Ihre Verletzung am Arm verheilte gut, aber es war klar, dass es eine dicke Narbe geben würde. Sie wechselte regelmäßig den Verband und säuberte die Wunde.

    Ihre Beziehung mit Joyce dagegen verlief nicht so gut. Maja konnte sie nicht leiden und Joyce hasste es, dass Maja sie unfreundlich behandelte und oft abblitzen ließ. Maja versuchte Joyce aus dem Weg zu gehen, aber es war nicht einfach. Die Nessanta war kein kleines Schiff, aber klein genug, dass man jemandem nur schwer ausweichen konnte. Vor allem Joyce. Sie war nicht bloß die Tochter des Käpt’ns. Sie war sein inoffizieller erster Maat. Alle taten ohne zu zögern, was sie sagte. Und soweit Maja das einschätzen konnte, hatte sie das auch mehr als verdient. Sie konnte segeln als hätte sie schon ein Jahrhundert Erfahrung. An ihren Vater kam sie allerdings noch lange nicht heran. Was ihr dazu fehlte war sein Talent, die Mannschaft zusammen-zuhalten. Er kannte jeden seiner Leute und wenn es irgendwo Streit gab, beendete er ihn und sorgte dafür, dass die Kontrahenten für eine Weile an unterschiedlichen Aufgaben arbeiteten. Je nachdem mit wem er redete und wie die Situation war konnte er verständnisvoll oder autoritär sein, aber er verlor niemals die Kontrolle. Außerdem war er ein echter Seebär. Schon allein dadurch, dass sie ihn beobachtete, lernte Maja eine Menge über die Seefahrt.

    Überraschenderweise fühlte Maja sich auf der Nessanta gar nicht mal so übel. Sie mochte die Piraten irgendwie. Ja, es waren grobe Gesellen und sie lachten über Dinge, die Maja bloß widerlich fand. Ja, sie hatten kaum eine Moral und die meisten von ihnen waren egoistisch, gierig und brutal. Aber sie alle hatten ein hartes Leben voller Widerstände hinter sich und deshalb fühlte Maja sich ihnen verbunden. Fast alle von ihnen hatten jemanden verloren: Verwandte, Freunde und Geliebte. Sie lebten in einer grausamen Welt und sie hatten entschlossen, sich davon nicht ihr Leben diktieren zu lassen. Was diese Piraten wollten, zumindest die aus Rachais Crew, war Freiheit. Sie lebten einfach so in den Tag hinein, unkompliziert, ohne einen Gedanken an die Zukunft oder die Vergangenheit zu verschwenden. Sie taten was sie wollten, nicht was man ihnen vorschrieb. Maja beneidete sie dafür und manchmal wünschte sie sich, genauso leben zu können. Plötzlich verstand sie Jillian mit ihrem Wunsch, Piratin zu werden. Aber wegen Käse kam das nicht in Frage. Nichts würde sie dazu bringen, ihn im Stich zu lassen.

    Hi Kyelia

    danke für deinen Kommi 😊 und schön dass es dich noch gibt 😜

    Ich hatte längst vergessen, an welcher Stelle ich hier eigentlich war. Die Arbeit hat mich fest im Griff. Aber immerhin schaue ich fast täglich im Forum vorbei und lese hier das ein oder andere.

    Irgendwann schreibe ich auch wieder, ein paar Parts sind sogar noch auf dem Rechner.

    Ich hoffe von dir auch mal wieder zu lesen.

    Liebe Grüße

    Din

    Ich schaue dich aber ein schief an, wenn Maja ein zweites Mal durch Fürst Dreizehns Schloss spaziert, als wäre da gerade Tag der offenen Tür :schiefguck:

    Alles klar, ich notiere: Nicht durch die Burg, da ist geschlossene Gesellschaft. :thumbsup: Aber ein ganzer Haufen Glück im Sinne rechtzeitiger Hilfe ist noch angesagt. Ein ganzer Haufen Pech auch und da hast du natürlich recht, denn das hat Maja auch. Ich schau mal, wie weit ich mit dieser Gratwanderung noch komme.

    Maja hat wieder ziemlich viel Glück gehabt, dass ihre Furchtlosigkeit/Naivität ihr Respekt einbringt und sie mit dem richtigen Menschen zur richtigen Zeit gesprochen hat. Und auch Glück, dass sie etwas zum Tauschen hatte.

    Die Frage ist nur: ist es zu viel Glück?

    Wenn ich deine Antworten hier im Moment lese, bekomme ich die Befürchtung, dass ich die Grenzen des Vorstellbaren zu weit strapaziere 🤔

    Na, da ist Majas Ankunft in der Piratenstadt ja genauso katastrophal gelaufen, wie ich vermutet habe. Die ganze Sache war von ihr doch wieder sehr naiv.

    Ja, ein bisschen naiv ist es schon und vielleicht ist die Geschichte hier auch etwas unrealistisch. Aber gibt es wirklich eine mögliche, realistischere Handlung, mit der ich die Ziele erreiche, die ich gesetzt habe? Ich kann Maja ja schlecht in einer Pfütze verrecken lassen. Und es macht mir einfach herrlich Spaß, Maja und einen Haufen Piraten aufeinander prallen zu lassen.

    Danke für deinen Kommi.

    Am Hafen

    Die Begegnung mit dem Mädchen hatte Maja so sehr eingeschüchtert, dass sie sich den ganzen Tag nicht mehr in die Öffentlichkeit wagte. Sie wich jedem Menschen aus, der sich ihr auch nur von Ferne näherte. Die Nacht verbrachte sie auf einem Dach am Stadtrand, gut versteckt hinter einem Schornstein, wo sie mit den Fingern ihre Wunde zusammen presste und schließlich einen neuen provisorischen Verband darum wickelte.
    Sie sah zu, wie die Sonne langsam über den Silberwiesen und den Dächern von Kabaran aufging, dann kletterte sie schließlich vom Dach und machte sich auf den Weg zum Hafen. Sie war aufs Äußerste gespannt, jederzeit bereit mit der rechten Hand über ihre Schulter zum Griff ihres Schwertes zu greifen.
    Am Hafen herrschte bereits rege Betriebsamkeit. Männer schleppten Kisten und Fässer zu den Schiffen, flickten die Segel, schrubbten die Planken und riefen sich gegenseitig Dinge zu. Der Hafen sah gar nicht mal so anders aus als die Häfen, die Maja kannte. Schiffe, Bootsstege, dicke Pfosten zum Vertäuen der Schiffe, ein breiter Platz davor... Nur kam hier niemand auf die Idee, die Anlegestege oder Schiffe in irgendeiner Weise durchzunummerieren.
    Maja blieb eine Weile im Schatten der angrenzenden Häuser stehen und beobachte das Treiben. Sie überlegte, wie sie vorgehen sollte und entschied sich schließlich, einfach direkt auszusprechen, was sie wollte. Nicht gerade subtil, aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Ben-Thala-Mi hatte gesagt, die Piraten und Fürst Dreizehn waren nicht gut aufeinander zu sprechen. Vielleicht konnte sie sich das ja zunutze machen.
    Neben einem der kleineren Schiffe stand schon die ganze Zeit ein alter Mann mit grauem Haar, runzligem Gesicht und gewagt schief sitzender Matrosenmütze. Er überwachte offenbar das Beladen des Schiffes; es schien jedoch keine allzu anspruchsvolle Aufgabe zu sein. Ab und an warf er den Seemännern, die an ihm vorbeigingen, barsche Kommentare zu, doch die meiste Zeit verbrachte er damit, in die Ferne zu starren und langsam und gleichmäßig wie ein Kamel auf etwas herumzukauen. Maja hatte den Eindruck, dass er vielleicht Zeit hatte, ihr ihre Fragen zu beantworten. Sie streckte den Rücken und schlenderte so lässig wie möglich auf ihn zu.
    „Moin“, sagte sie, als sie vor ihm stand. Er antwortete nicht, was sie leicht irritierte, aber vielleicht war er ja von der schweigsamen Sorte und wartete darauf, dass sie sagte, was sie von ihm wollte. „Ich suche ein Schiff nach Süden.“ Maja glaubte zu sehen, dass sein Schnurrbart leicht zuckte, aber vielleicht war es nur der Wind gewesen. Seine Augen starrten weiterhin an ihrer rechten Schulter vorbei, als würde er sie gar nicht wahrnehmen. Innerlich seufzend zog sie ihr letztes Register: „Ich bin auf der Suche nach einem Schiff, das nach Andraya fährt“, sagte sie laut, nur für den Fall, dass er schlecht hörte.
    Mit einem Mal blinzelte er und seine Augen fokussierten sich auf sie. „Was willst’n da?“
    Maja hatte keine Zeit, noch einmal darüber nachzudenken, ob ihre Strategie gut oder schlecht war, also sagte sie so ernsthaft und selbstbewusst wie möglich: „Ich habe eine Rechnung mit Fürst Dreizehn zu begleichen.“
    Der Mann brach in schallendes Gelächter aus. „Ham’ wir das nich alle? Aber ohne Witz, du gefällst mir, Kleine.“ Er klopfte Maja auf die Schulter. Es fühlte sich an, wie Hammerschläge.
    Maja grinste, ganz baff, dass ihre Strategie so aufgenommen worden war.
    „Ich selbst kann dir leider nicht weiterhelfen“, sagte der Mann, „wir fahren nach Spiegelstadt. Aber ich kenne jemanden, den du vielleicht fragen kannst. Siehst du das schwarze Schiff dort hinten, mit den rot-gold gestreiften Segeln? Das ist eines der wenigen Schiffe, die sich noch trauen, Andraya Waren anzubieten. Sie machen Geschäfte mit Demir Dreizehn, aber in Wahrheit verachten sie ihn und spionieren ihn aus. Nur um anderen die Informationen zu verkaufen. Wie auch immer, wenn du ihrem Käpt’n genau das gleiche sagst wie mir gerade, könntet ihr euch vielleicht einig werden.“
    „Danke“, sagte Maja. „Wie finde ich diesen Käpt’n? Wie heißt er?“
    „Rachai. Großer Typ, dunkle Haut, viele Zöpfe. Frag einfach nach ihm. Ach, weißt du was, sag einfach, Kurun hat dich geschickt, das bin ich, dann wird er dich anhören. Und nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass du deine Rechnung begleichen kannst: bestell Dreizehn schöne Grüße von Kurun.“ Er sagte es mit einem fiesen Grinsen im Gesicht. „Das bin ich.“
    Maja nickte und machte sich auf den Weg zu dem Dreimaster mit den gestreiften Segeln. Es sah faszinierend aus, besonders durch die schwarze Farbe im Kontrast mit den rot-goldenen Segeln. Außerdem war es eines der größten Schiffe im Hafen. Auf dem Steg vor dem Schiff lag ein dürrer Mann mit feuerroten Haaren und starrte in den Himmel. Maja sprach ihn an und fragte nach dem Käpt’n.
    „Kurun schickt mich“, erklärte sie.
    Ohne aufzustehen betrachtete er sie mit einem Auge von oben nach unten. Das andere ließ er zugekniffen.
    „Hey Rachai!“, brüllte er dann. „Hier ist so’n Mädel für dich. Behauptet, Kurun schickt sie, ich kann mir aber nicht denken, warum er das machen sollte. Die ist noch nicht mal ausgewachsen.“ Er warf Maja noch einen Blick zu. „Sieht aber ein bisschen gefährlich aus.“
    Sekunden später kam die Antwort vom Deck des Schiffes. „Für’s Denken hab ich dich nicht angeheuert, also spar dir deine Kommentare.“ Ein ziemlich großer Kopf mit schwarzen Rastazöpfen erschien über der Reling, gefolgt von einem noch größeren, muskulösen Körper. „Also, was will Kurun?“, fragte er Maja.
    „Kurun will gar nichts“, sagte Maja. „Er hat mich hierher geschickt, weil ich ein Schiff suche, das mich nach Andraya mitnimmt. Er meinte ihr fahrt dorthin.“
    Rachai runzelte die Stirn. „Das mag vielleicht sein, aber wir nehmen keine Passagiere. Kurun weiß das eigentlich.“
    „Er meinte, ihr würdet mich mitnehmen, wenn ich sage, was ich ihm gesagt habe: Ich habe mit Fürst Dreizehn eine Rechnung zu begleichen.“
    Der Rotschopf schmiss sich weg vor Lachen, aber Rachai starrte Maja nur ausdruckslos an. Einen Moment schien er nachzudenken, dann schüttelte er den Kopf. „Keine Ahnung was das soll, aber ich bleibe dabei: Keine Passagiere.“
    „Nimm sie mit“, sagte plötzlich eine Stimme hinter Maja. Kurun war ihr offenbar in einigem Abstand gefolgt und stand nun nur wenige Schritte von ihr entfernt.
    „Hey Kurun“, sagte Rachai, „was soll der Quatsch? Sie hat ne’ Rechnung mit Fürst Dreizehn zu begleichen? Dieser Unsinn überzeugt vielleicht dich, aber nicht mich.“
    „Wenn’s doch so ist? Manchmal müssen Leute bestimmte Dinge eben einfach tun. Hab ich dich damals abgewiesen, als du ne’ Rechnung mit Jasop Ul’ufur begleichen wolltest?“
    „Oh, dieser Mistkerl“, fluchte Rachai leise. „Irgendwann erwisch ich ihn und dann verfütter ich ihn an die Tintenfische.“
    „Sie wär’ nich hier, wenn’s ihr nich ernst wär“, sagte Kurun. „Und wenn du sie nicht mitnimmst, sucht sie sich’n and’res Schiff und dann sieht sie lebend kein Land mehr.“
    Rachai sah Maja prüfend in die Augen. Sie versuchte so entschlossen wie möglich dreinzublicken.
    „Na schön“, sagte er schließlich. „Aber nur, wenn sie zahlen kann.“
    „Was hast du dabei?“, fragte Kurun Maja.
    Sie begann, hektisch in ihrer Tasche zu wühlen. Die Sachen, die sie darin fand, waren entweder wertlos oder Maja wollte sie nicht hergeben. Schließlich zog sie das Fernglas heraus und hielt es Rachai hin. Er war auf den Steg getreten und nahm es neugierig in Augenschein.
    „Nicht übel“, sagte er, nachdem er hindurch gesehen hatte. „Die Stärke ist ziemlich gut und die Form ist ausgefallen. Was hast du noch?“ Maja wollte weiter kramen, doch er fing ihr Handgelenk ab und zog es zu sich heran. „Die Uhr nehme ich auch. Was ist mit dem Schwert?“
    „Das gebe ich nicht her“, sagte Maja entschieden. Als sie die Hand wieder in die Tasche steckte, ergriff sie als Erstes den Kompass von Selran, aber sie ließ ihn schnell wieder los. Ihre Erinnerungsstücke würde sie erst ganz zuletzt hergeben. Sie drehte Rachai diverse Kleinigkeiten an: ihren Notizblock und die Stifte, einen Löffel, das Paketband und ihre Streichhölzer, doch nichts davon schien ihn so wirklich zu überzeugen. Dann entdeckte sie am Boden der Tasche den Ring der Libellen. Im Gegensatz zu dem Weltentor und dem Lichtstein bedeutete er ihr nichts und sie konnte sich auch nicht vorstellen, wofür sie ihn noch mal brauchen würde.
    „Wie wäre es damit?“, fragte sie und hielt ihn Rachai entgegen, doch bevor er danach greifen konnte, hatte Kurun ihn Maja aus der Hand geschnappt.
    „Kaum zu glauben“, murmelte er. „Wo hast du denn den her?“
    „Er war ein Geschenk“, sagte Maja, was mit etwas Interpretationsfreiheit stimmte.
    „Ich kann mir kaum vorstellen, dass er viel wert ist“, sagte Rachai. „Hör mal zu, Kleine, mir gefällt dein Schwert sehr gut und die Reise würdest du dir damit mehr als verdienen. Ich geb’ dir dafür auch das Fernglas zurück.“
    „Halt die Klappe Rachai, sie ist nicht so blöd, dir ihre Waffe zu geben“, sagte Kurun. „Womit soll sie Dreizehn aufspießen? Womit sich dein Piratenpack vom Hals halten? Aber dieser Ring ist viel mehr wert als das Schwert. Ich rede nicht von Geld, ich rede von Macht.“ Er warf Rachai den Ring zu. „Dieser Ring gehörte den Libellen.“
    „Wirklich?“ Rachai schien interessiert.
    „Ich bin mir absolut sicher. Dieser Ring öffnet in Ostland Tür und Tor.“
    „Das stimmt“, mischte sich Maja ein, „er gehört den Libellen.“
    „Na schön“, sagte Rachai. „Ich nehme ihn. Und das Fernglas und deine Uhr und den anderen Krempel da. Willkommen an Bord der Nessanta. Aber ich sag es noch mal, wir sind kein Passagierschiff. Du wirst das Deck schrubben und Kartoffeln schälen und tun, was man dir sonst noch aufträgt. Und in Andraya verlässt du das Schiff. Es ist mir egal, ob du es dir bis dahin anders überlegst. Nuri wird dir eine Kabine zuweisen.“ Er nickte dem Rotschopf zu, der sich grummelnd von der Erde erhob. „Wir fahren in fünf Stunden los, was immer du bis dahin getan haben willst ist erledigt und du bist an Bord, verstanden? Und steh nicht im Weg herum.“
    „Wunderbare Ansprache“, sagte Kurun und zog eine kleine Flasche aus seiner Manteltasche. „Auf diesen Vertragsabschluss müssen wir trinken. Auf das keiner von euch ihn bereuen wird. Er und Rachai tranken einen Schluck und reichten die Flasche an Maja weiter. Sie war so froh, dass sie offenbar ein Schiff gefunden hatte und das so schnell und ohne Schwierigkeiten, dass sie ohne Nachzudenken die Flasche an den Mund setzte und einen tiefen Schluck nahm. Was sie dort einsog war so scheußlich, dass sie es gleich wieder ausspuckte.
    „Igitt, das brennt“, stöhnte sie, hielt sich den Hals und fing an zu husten.
    „Schau dir das an, sie ist noch ein Kind“, murmelte Rachai.
    Kurun klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern. „Sie weiß, was sie will, das muss man ihr lassen. Ich wette mit dir“, sagte er, „aus diesem Mädchen wird einmal eine großartige Piratin.“




    Ich mach mal direkt weiter. Bei Maja ist im Moment alles kein Problem, da hab ich genug vorrätig und muss nur ein wenig überarbeiten. Karim und Jinna machen mir Probleme.


    Die Reise auf der Nessanta

    Die nächsten fünf Stunden brachte Maja damit zu, ihre Koje zu erkunden und Rachais Piratencrew kennenzulernen. Es waren um die vierzig, die meisten waren ziemlich raue Gesellen, Männer wie Frauen. Manche waren unheimlich, manche erschienen ihr nett zu sein, andere nachdenklich, andere wild und ungebändigt. Ein ziemlich bunter Haufen – keiner war wie der andere. Doch alle lebten und arbeiteten sie auf diesem Schiff. Von Plünderei, soweit Maja das einschätzen konnte.

    „Piraten stehlen doch“, sagte sie zu Arissa, einer ziemlich wild aussehenden Frau, die gleich mit drei Säbeln aufwarten konnte. „Wen bestehlt ihr hier eigentlich?“

    „Alle“, antwortete Arissa mit einem Schulterzucken. „Dreizehns Leute, die Seeleute der zwölf Königreiche, andere Piraten, die Hexen ... die Drachen“, fügte sie leiser hinzu.

    „Wie könnt ihr jemanden in den zwölf Königreichen bestehlen? Es führt kaum ein Weg über das große Gebirge und ich habe gehört, der Seeweg soll noch unmöglicher sein.“

    „Untiefen, Strudel, spitze Felsen, die dein Schiff in Stücke reißen“, zählte Arissa auf. „Aber die Piraten kennen die geheimen Routen, die einen hindurch bringen. Ich habe diese Fahrt schon tausende Male gemacht. Es ist gefährlich, aber das ist das ganze Leben, oder?“

    „Ja“, sagte Maja. „Das ist es. Wie lange brauchen wir eigentlich bis Andraya?“, fragte sie.

    „Wer weiß das schon so genau“, sagte Arissa. „Zwei Wochen, vielleicht weniger, wenn der Wind gut ist, vielleicht mehr, wenn er nicht gut ist oder wir spontan noch was anderes machen. Wir planen nicht alles so genau. Geht auch gar nicht, das Leben auf See ist unberechenbar. Und so sind wir es auch.“

    Die Piraten interessierten sich für Maja, aber – und das gefiel ihr besonders – niemand versuchte ihr ihr Reiseziel auszureden.

    „Sie leben alle gefährlich“, erklärte Arissa, als Maja sie darauf ansprach. „Und alle haben sie in ihrem Leben schon die eine oder andere Dummheit gemacht. Aber uns Piraten von den Silberwiesen und vom Andersrum geht unsere Freiheit über alles. Jeder soll tun was er möchte und was er kann, also mischen wir uns nicht in anderer Leute Angelegenheiten ein. Du hast übrigens Glück, dass du auf diesem Schiff gelandet bist. Wir sind ein komischer Haufen, aber mit Sicherheit anständiger als manch andere Crew. Außerdem ist die Nessanta ein gutes Schiff. Schnell und wendig, aber groß genug, um anderen Piraten zu sagen, dass sie uns besser nicht angreifen sollen. Und Käpt’n Rachai ist weithin bekannt und gefürchtet. Er hat’s drauf, ziemlich gerissener Kerl. Nicht ganz so schlau wie seine Tochter allerdings. Da vorne steht sie.“

    Sie ruckte mit dem Kopf in eine Richtung hinter Majas Schulter und Maja drehte sich um. Dort, neben dem Mast, stand das Mädchen, das sie am Vortag angegriffen hatte und starrte sie mit offenem Mund an.

    „Hey Joyce!“, rief Arissa, „du wirst's nicht glauben, aber wir haben einen Passagier.“ Sie zeigte grinsend auf Maja, offenbar ganz aufgeregt.

    „Ich hab’s schon gehört“, antwortete das Mädchen. Einen Moment zögerte sie, dann kam sie auf Maja zu. „Ich schätze, dann sollten wir für die nächsten Wochen Waffenstillstand schließen“, sagte sie und reichte ihr die Hand.

    „Du hast mich beinahe aufgeschlitzt“, entgegnete Maja feindselig.

    Das Mädchen, Joyce, zuckte mit den Schultern. „Du kannst natürlich auch sauer sein, aber ich bin die Tochter des Käpt’n also machst du dir hier damit keine Freunde. Das war übrigens ein einmaliger Sprung, den du da hingelegt hast.“ Ihr Gesicht drückte eindeutig Bewunderung aus.

    „Was für ein Sprung?“, fragte Arissa neugierig.

    „Sie ist vom Heuboden gesprungen“, erklärte Joyce. „Drei oder vier Meter. Wie ein Katze, hat danach nicht mal gehumpelt. Machst du das öfter?“, fragte sie Maja.

    Maja antwortete nicht.

    „Zeig mir deinen Arm“, sagte Joyce.

    „Warum?“

    „Weil du verletzt bist. Ich will mir die Wunde ansehen.“

    Maja zögerte noch einen Moment, dann krempelte sie seufzend den Ärmel hoch. Die Wunde war teilweise wieder aufgegangen und der Verband feucht und rot. Ohne zu fragen wickelte Joyce ihn ab und betrachtete den Riss in Majas Arm.

    „Autsch“, kommentierte Arissa.

    „Das muss genäht werden“, sagte Joyce. „Sonst reißt es jedes Mal wieder auf, wenn du den Arm bewegst. Ich bring dich zu Gabriel, das ist unser Schiffsarzt.“

    Und so kam es, dass Maja zusammengeflickt wurde, noch bevor sie in See stachen. Es war eine verdammt schmerzhafte Erfahrung und Maja hätte am liebsten laut gebrüllt, aber sie schaffte es, sich zusammenzureißen, die Zähne zusammenzubeißen und keinen Laut über ihre Lippen kommen zu lassen. Es erbrachte ihr einiges an Respekt bei allen, die davon mitbekamen.

    Ich lebe auch noch :) Habe eine Fernsehserie geschaut, die mich richtig inspiriert hat, hier weiter zu schreiben, weil die Hauptcharaktere meinen irgendwie ein wenig ähnlich sahen. Ich sag aber nicht, welche. :D

    Zuerst habe ich überlegt, ob ich dieses Kapitel nicht mit einem fiesen Cliffhanger trennen sollte, aber mich dann dagegen entschieden. Am Ende vergesse ich den zweiten Teil zu posten. Viel Spaß mit dem ganzen Kapitel.

    Der Überfall

    Im nächsten Moment wurde Maja von purem Entsetzen gepackt. Khjavef war über die letzten Tage ihr einziger Begleiter gewesen. Ihr einziger Freund. Er durfte nicht fort sein. Das konnte nicht sein.
    „Khjavef!“, schrie sie. Als ob er ihr antworten würde. Als ob er sie hören konnte. Sie hatte ihn fest angebunden und dass er fort war ließ nur eine Erklärung zu. Ben-Thala-Mi hatte sie gewarnt. Der Wirt vom Hängenden Fisch hatte sie gewarnt. Piraten waren unangenehme Gesellen. Und dies war eine Piratenstadt. Khjavef war gestohlen worden, zusammen mit allem, was er getragen hatte.
    Panisch rannte Maja die Straße auf und ab und versuchte irgendwo noch ein Fitzelchen von Khjavef zu entdecken. Aber es war hoffnungslos. Sie war zu lange in dem Gasthaus gewesen. Wie hatte sie Khjavef nur zurücklassen können? Was hatte sie sich dabei gedacht? Ihr hätte doch klar sein müssen, dass er gestohlen werden könnte.
    Ihr Verhalten lockte inzwischen Schaulustige herbei. Eine Gruppe Frauen versammelte sich auf der Straße, tuschelte vor sich hin und beobachtete sie mit offenkundigem Missfallen. Ein graubärtiger Mann mit Gehstock beschimpfte sie wüst mit Flüchen, die sie nicht verstand, während er vorbei humpelte. Zwei Mädchen beobachteten sie mit offenkundiger Häme aus der Ferne und vier Männer kamen aus dem Gasthaus und lachten schallend über Majas Panik.
    Maja blieb an der Stelle stehen, an der Khjavef angebunden gewesen war und versuchte tief ein- und auszuatmen und sich zu beruhigen. Dann hob sie die Stimme: »Hat irgendjemand gesehen, wer mein Pferd gestohlen hat?«, fragte sie. Es kam keine Antwort, außer der, dass die Männer erneut in Gelächter ausbrachen. Sie gingen Maja schrecklich auf die Nerven, ihr Lachen hinderte sie daran, sich zu konzentrieren.
    »Was hast du gesagt, suchst du?«, fragte plötzlich eine Stimme neben ihr.
    Maja wirbelte herum. Die Stimme gehörte zu einem Mädchen, das wie aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht war. Sie hatte Augen wie nasse Kohlestückchen und dunkelbraune Haut. Das schwarze Haar hatte sie im Nacken zu einem langen Zopf geflochten und mit bunten Perlen verziert. Außerdem trug sie ein Sammelsurium augenscheinlich schlecht zusammenpassender Kleidung: einen knielangen Rock, darunter aber eine Pluderhose und Stiefeletten und am Oberkörper schien sie eine Bluse, eine Weste und zwei Mäntel übereinander zu tragen. Sie musste ungefähr so alt wie Maja sein. Sie verschränkte die Arme und musterte Maja von oben bis unten. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich.
    »Jemand hat mein Pferd gestohlen«, sagte Maja.
    Das Mädchen drehte den Kopf und blickte die Straße hinab. »Kurz bevor du aus dem hängenden Fisch gekommen bist, hat jemand ein Pferd in die Richtung geführt«, sagte sie und zeigte in Richtung des Hafens. »Ich kann dir zeigen wo lang.« Sie packte Maja am Arm und zerrte sie mit sich. Maja ließ sich von ihr an der Gruppe der tuschelnden Frauen vorbeilotsen. Dahinter ließ das Mädchen Maja los und verschwand in eine schmale Gasse. »Er ist hier durchgegangen.«
    Maja beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten und als das Mädchen stehen blieb, lief sie direkt in sie hinein.
    »Pass doch auf«, murmelte sie und schob Maja von sich.
    »Was ist?«, fragte Maja. »Wo sind sie hin?«
    »Weiß ich doch nicht, ich hab nur gesehen, wie sie in diese Gasse gegangen sind.« Maja drängte sich an ihr vorbei und starrte an das andere Ende der Gasse. »Ich glaube«, sagte das Mädchen, »du wirst dein Pferd nicht wieder bekommen. Es ist weg.«
    Maja schluckte. Sie hatte das Gefühl, Khjavef im Stich gelassen zu haben. Hätte sie ihn doch bei Ben-Thala-Mi zurück gelassen. Sie hätte ihn doch ohnehin nicht mitnehmen können, wenn sie wie geplant mit dem Schiff weiter reisen würde. Aber es wäre ihre Pflicht gewesen, dafür zu sorgen, dass er in guten Händen landete. Und jetzt war er gestohlen worden, wer wusste schon von wem. Und außerdem war nun der Großteil ihrer Sachen weg.
    »Zum Glück habe ich meine wichtigsten Sachen hier«, sagte sie erleichtert und griff unwillkürlich nach ihrer grünen Tasche. Alles, was für sie von Bedeutung war, bewahrte sie darin auf: Die Karte, den Kompass, das Messer von Tabea, den Ring der Libellen und so weiter.
    Plötzlich hörte sie das Scharren von Metall hinter sich, das Scharren eines Schwertes, das aus der Scheide gezogen wird.
    »Schön«, sagte das Mädchen, als Maja den Kopf zu ihr herumdrehte. Sie hatte einen langen Säbel mit der Spitze direkt auf Majas Kehle gerichtet. »Dann kannst du sie mir ja gleich aushändigen.«
    Maja starrte sie entsetzt an. Ihr Herz pochte so heftig, dass ihr ganzer Körper bebte und sie war sich plötzlich ihrer eigenen Halsschlagader unangenehm bewusst. Ihre Finger gruben sich fester in die grüne Tasche. Sie konnte sie nicht hergeben. Verloren, wie sich sich fühlte, in diesem unbekannten Teil einer unbekannten Welt, auf der Suche nach ihrem Bruder, ohne große Hoffnung, jemals zurück nach Hause zu kommen, waren diese Gegenstände Teil ihrer Identität. Sie machte einen Schritt rückwärts.
    »Mach keine Dummheiten, ja?«, sagte das Mädchen. In ihren Augen blitzte es gefährlich. Dann grinste sie plötzlich herablassend. »Wie dumm bist du eigentlich? Minuten nachdem dir dein Pferd gestohlen wurde, gehst du mit einem fremden Menschen in eine dunkle, enge Gasse, in der dich niemand hören kann, wenn du um Hilfe schreist.«
    »Vielleicht weil ich nicht gleich das schlechteste von einem Menschen denke«, sagte Maja leise. Ihre Angst wurde jetzt zu Wut, oder eher gesagt zu einer seltsamen Mischung aus beidem. »Ich dachte du wolltest mir helfen.«
    Das Mädchen verdrehte die Augen. »Ernsthaft? Du bist echt blöd.«
    »Ich war in Panik und du hast das schamlos ausgenutzt«, stellte Maja fest.
    »Gewöhn dich dran. So ist das Leben. Und jetzt rück deine Tasche und deinen Schmuck raus, oder willst du, dass ich sie deinen toten Händen entreiße? Das Schwert will ich auch haben. Nimm es ab, aber pack es nicht am Griff an, sonst-«
    »Was dann?«, fragte Maja herausfordernd, griff über ihre Schulter und umfasste den Schwertgriff.
    Das Mädchen verspannte sich und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Nur damit du es weißt, ich habe kein Problem damit, dich zu töten. Bevor du es gezogen hast, ist dein Leben verwirkt.«
    Ach wirklich?, dachte Maja und warf sich nach hinten, während sie gleichzeitig blitzartig das Schwert zog. Das Mädchen stach nach ihr, aber Maja schlug ihren Säbel beiseite. Sie tauschten ein paar schnelle Hiebe aus, dann stand Maja mit dem Rücken zur Wand und hielt das Mädchen mit ausgestrecktem Schwertarm auf Abstand. Aus dem Augenwinkel versuchte sie das Ende der Straße zu erkennen. Es schien erreichbar zu sein. Wahrscheinlich wäre es das Beste, einfach davon zu laufen.
    »Ein dummer Fehler«, zischte das Mädchen ihr zu. »Ich kann mit dem Schwert umgehen, seit ich laufen kann.«
    Maja hätte ihr gerne eine passende Antwort gegeben, doch ihr fiel keine ein. Sie selbst hatte nicht einmal vor einem Jahr mit dem Kämpfen begonnen und ihr Training war eher sporadisch gewesen. Sie musste sich eingestehen, dass sie keine Chance hatte. Wahrscheinlich nicht einmal genug, um sich einen Fluchtweg zu verschaffen. Und trotzdem ...
    Sie wollte nicht weglaufen. Sie wollte nicht um Gnade bitten. Vielleicht war es durch die Ereignisse der letzten Wochen geschehen, vielleicht hatte sich diese Wut aber auch schon das ganze Jahr in Maja aufgebaut. Diese Wut, die sie nun verspürte, als sie das Mädchen ansah. Als sie den Griff um das Schwert enger schloss und sich schließlich von der Wand abstieß und angriff – mit ihrer ganzen Kraft. Das Mädchen wich erschrocken zurück; der Wucht von Majas Schlägen hatte sie nur wenig entgegenzusetzen. Maja setzte nach, schlug von oben und von der Seite zu. Tänzelnd wich das Mädchen ihr aus und dann sprang sie plötzlich wie eine Schlange nach vorne und Maja spürte einen stechenden Schmerz an ihrem linken Oberarm. Erschrocken starrte sie auf ihren Ärmel, in dem ein langer Riss klaffte und der sich schnell mit Blut vollsog. Das Mädchen nutzte ihre Abgelenktheit und griff erneut an. Maja sah sie aus dem Augenwinkel und konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen. Mit zunehmendem Entsetzen spürte sie die Nässe ihres eigenen Blutes am Arm. Sie warf noch einen Blick darauf. Das war nicht bloß eine kleine Schramme. In ihrem Oberarmmuskel klaffte ein Riss. Dem nächsten Stich des Mädchens entging sie, indem sie einen Satz rückwärts machte und dann rannte sie um ihr Leben. Sie hatte das Gefühl, noch nie im Leben schneller gerannt zu sein. Aber auch noch nie in ihrem Leben war sie auf diese Art verletzt worden.
    Fast am Ende der Gasse erblickte sie einen schmalen Torbogen zu ihrer Linken und sie brauchte nicht lange, um sich dazu zu entscheiden, hindurchzuschlüpfen. Auf der Straße würden nur noch mehr von diesem Piratenpack warten und von denen wollte sie keinem mehr begegnen. Sie gelangte in einen kleinen, schmutzigen Hinterhof und zwängte sich durch eine Lücke in einer Holzwand in ein Gebäude, das sich von innen als unbesetzter Pferdestall entpuppte. Eine Leiter führte zu einem Heuboden hinauf. Maja kletterte sie empor, stieß die Leiter um und kauerte sich in einer Ecke zusammen. Zögerlich warf sie noch einen Blick auf ihre Verletzung. Der Anblick war nicht ermutigend, ein ganzer Ärmel ihrer roten Jacke war dunkel vor Blut. Maja zog Jacke und T-Shirt aus. Der Schnitt in ihrem Arm war ziemlich tief und fast zehn Zentimeter lang. Ihr war klar, dass er eigentlich genäht werden musste, aber wie sollte sie das anstellen? Selbst ihn zu verbinden stellte sie vor eine Herausforderung, denn ihr Verbandskasten war in Khjavefs Satteltaschen gewesen. Sie zog auch das Unterhemd aus und schnitt es mit dem Schwert in Streifen. Diese band sie fest um die Wunde. Gerade wollte sie ihre Sachen wieder anziehen, als sie ein Knarren und das Geräusch von Schritten hörte.
    „Du hinterlässt Spuren“, sagte das Mädchen. „Blutspuren. Sie führen hinein, doch nie wieder heraus.“
    Maja verharrte regungslos und umklammerte ihre Besitztümer.
    „Du antwortest ja gar nicht“, sagte das Mädchen missmutig. „Bist du schon tot?“
    So leise wie möglich schlüpfte Maja in ihre Jacke und hängte sich die Tasche wieder über die Schulter.
    „Doch nicht tot“, flüsterte das Mädchen. „Oder sind das Mäuse, die ich da rascheln höre? Kleine, feine, süße Mäuschen mit dünnen Beinchen.“
    Und plötzlich bohrte sich neben Majas Fuß eine scharf Klinge von unten durch den Heuboden. Sie verfehlte ihre Fußsohle bloß um Zentimeter. Erschrocken sprang Maja zur Seite.
    „Ich mache dir ein Angebot“, sagte das Mädchen. „Komm ohne dein Schwert runter und ich nehme dir bloß deine Sachen weg. Alle deine Sachen, aber ich lasse dir dein Leben. Vielleicht schneid ich dir auch ein paar Zehen ab. Aber wie gesagt, ich lasse dir dein Leben. Irgendwann musst du ohnehin runterkommen“, fuhr sie fort, als von Maja nicht die geringste Reaktion kam. „Warum also nicht gleich. Oder soll ich noch ein bisschen zwischen den Dielenbrettern herum pieksen. Dabei kann man auch ein paar Zehen verlieren. Aber lass mich raten, du stehst so, dass ich dich durch die Lücken zwischen den Brettern nicht erreichen kann.“
    Das versuchte Maja gerade, aber es war schwer, durch die Halme trockenen Strohs, die hier oben den Boden bedeckten, die Lücken auszumachen. Das Mädchen meinte also, sie müsse früher oder später ohnehin hier herunter kommen. Na dann doch eher früher, dachte Maja, umklammerte das Schwert aus Taroq und stürzte auf die Kante des Heubodens zu. Mit Anlauf sprang sie die dreieinhalb Meter zu Boden und kam leichtfüßig wie eine Katze auf dem Boden auf – direkt neben der Tür. Als sie den Blick nach hinten wandte, sah sie, dass das Mädchen sie fassungslos anstarrte. Sie stand auf einer hohen Kiste, ihren Säbel hielt sie erhoben, wie um zu prüfen, in welche Lücke sie ihn als nächstes schieben sollte. Scheinbar hatte sie nicht erwartet, dass Maja sich traute, dort hinunter zu springen. Tja, da hatte sie Pech gehabt. Maja hatte es – dank der Kräfte der Kamiraen – im Sportunterricht sogar einmal geschafft, auf diese Höhe hinauf zu springen, sehr zur Verwirrung ihrer Mitschüler und ihrer Lehrerin.
    Das Mädchen sprang von ihrer Kiste herunter, aber Maja ließ sie nicht einmal in ihre Nähe kommen. Sie drehte sich um, stürmte zur Tür hinaus, schlug sie zu und wenige Augenblicke später rannte sie die Straße hinab. Das Mädchen sah sie an diesem Tag nicht wieder.

    Danke Alopex Lagopus :)

    Passend zum neuen Jahr gibt es jetzt einen neuen Teil. Ich mag ihn irgendwie, auch wenn meine Piraten vielleicht von zu vielen Filmen beeinflusst wurden. Der Teil ist etwas länger als die vorherigen. Ich wollte mal fragen, ob die Schriftgröße so okay ist, oder ob ich sie einen Tacken größer machen soll?


    Teil 3

    Kabaran

    Als sie auf dem Hügel ankam, zog Maja an den Zügeln und brachte Khjavef zum Stehen. Eine steife Brise zerrte an ihrer Kleidung und an ihren Haaren. Vor sich sah sie das Meer, dunkel und aufgewühlt. Und davor eine Stadt, die dem Meer seltsam ähnelte: Kabaran. Die Stadt war nicht rund, sondern sichelförmig und schmiegte sich an eine weite Bucht, in der so um die fünfzig Schiffe vor Anker lagen: kleine und große, von winzigen Booten bis zu mächtigen Dreimastern. Genauso zusammengewürfelt waren die Häuser: es gab welche aus Holz, aus Stein, aus Lehm – ein Konzept schien es nicht zu geben. Die Dächer waren dunkel: schwarz, braun, grau, grün oder blau und von oben ähnelten sie tatsächlich den stürmischen Wellen des Ozeans. Es gab Teile der Stadt, in denen die Häuser sehr flach waren, aber auch Teile, in denen mehrere mehrstöckige Häuser beieinander standen und hohe Wellen bildeten. Wäscheleinen waren über die Straße gespannt und erinnerten an schäumende, weiße Wellenkämme. Der Anblick war so faszinierend, dass Maja sich völlig darin verlor. Erst als Khjavef begann, ungeduldig mit den Hufen zu scharren, erinnerte sie sich daran, wo sie war und was sie hier wollte.
    „Dann los“, murmelte sie und machte sich an das letzte Stück des Weges. Unten am Hügel traf sie auf eine schmale Straße, nicht viel mehr als ein Feldweg. Sie folgte ihr und erreichte bald die ersten Häuser. Sie rümpfte die Nase, als ein ekelhafter Geruch ihr entgegen wehte. Eine Mischung aus Salz, Dreck und Fäkalien und schlagartig wurde Maja klar, dass Kabaran im Gegensatz zu Miriam keine Kanalisation hatte. Ein paar Straßen weiter mischten sich andere Gerüche hinzu: Pferdemist, Kotze und möglicherweise Alkohol, aber auch ein angenehmer Duft nach Kaffee und einer warmen Mahlzeit. Als Maja ein graues Ziegelhaus mit der Aufschrift 'Zum hängenden Fisch' erblickte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie spähte die Straße hinunter. In nicht allzu weiter Ferne sah sie das Meer glitzern.
    Zum hängenden Fisch. Wieder las sie die Worte. Das klang schon, als würden sich seeerprobte Piraten abends hier treffen, um ihren Feierabend zu genießen. Oder? Auf jeden Fall würde sie hier etwas zu essen bekommen. Ihr knurrender Magen gab den Ausschlag. Sie band Khjavef an einem Pfosten vor der Tür an, band sich das Schwert um, schnappte ihre grüne Tasche vom Sattel und betrat die Gaststube. Kalter Pfeifenrauch schlug ihr entgegen. Das Gemurmel in der Stube verstummte, kaum hatte sie die Türschwelle überquert, und jedes Gesicht im Raum schien sie anzustarren. Maja nahm die Umgebung in Augenschein. Zwischen pechschwarzen Holzsäulen standen mehrere Tische und unbequeme Stühle, auf denen ebenso unbequeme Menschen saßen. Vier Frauen zählte Maja, drei von ihnen zeigten viel zu viel Haut, die vierte war für ihren Geschmack zu stark bewaffnet. Der Rest im Raum waren Männer in allen Variationen, mit Bärten und ohne Bärte, mit dunkler und heller Haut, blondem, schwarzem und weißem Haar, dick und dünn, tätowiert oder auch nicht, rauchend oder trinkend, gut gekleidet oder eher in etwas bessere Lumpen gehüllt. Manche sahen Maja feindselig an, manche verwundert, andere belustigt und mancher Blick war einfach nur ekelerregend. Hinter der Theke stand ein Mann in weißem Hemd mit gewaltigen, tätowierten Oberarmen und zwei abstehenden grauen Flechtzöpfen. Maja hielt ihn für den Gastwirt und war froh, dass er zu denen gehörte, die sie bloß verwundert ansahen. Sein besonderes Augenmerk schien ihren Turnschuhen zu gelten, sowie dem Schwert auf ihrem Rücken. Maja trat an die Theke und sah ihn unsicher an. Der Mann starrte belustigt zurück. Irgendwann nahm er einen Schluck aus einer braunen Flasche, schwieg aber weiterhin. Im Raum blieb es mucksmäuschenstill. Es war, als würden alle darauf warten, dass Maja das Wort ergriff.
    „Ich hätte gerne etwas zu essen“, sagte Maja schließlich.
    Der Mann grunzte. „Was denn?“
    Maja wollte schon nach der Speisekarte fragen, doch sie besann sich eines Besseren: „Was immer hier so gut riecht.“
    „Was zu trinken dazu?“, fragte der Wirt.
    Maja starrte die braune Flasche an. „Ja, aber keinen Alkohol.“
    Der ganze Raum brach in schallendes Gelächter aus. Der Mann hinter der Theke nahm einen Krug, tunkte ihn in ein Fass unter der Theke und rammte ihn vor Maja auf den Tisch. „Geht auf's Haus“, knurrte er und wieder lachten seine Gäste. Maja schnupperte daran. Es roch nach nichts, woraus sie schloss, dass es Wasser war. Sie zog sich einen Barhocker heran und setzte sich direkt vor die Theke. Sie hätte sich lieber in eine dunkle Ecke verzogen, denn sie mochte es nicht, die anderen Leute so im Nacken zu haben. Die meisten von ihnen starrten Maja immer noch an und sie hatte die letzten Wochen fast allein verbracht und fühlte sich in der Menschenmenge äußerst unwohl. Aber sie hatte Fragen, auf die sie Antworten brauchte. Bevor sie jedoch eine davon stellen konnte, sprach der Wirt sie wieder an. Maja fiel auf, dass er keine Anstalten machte, ihre Bestellung irgendwie weiterzugeben.
    „Kannst du zahlen?“, fragte er. „Normalerweise frage ich nicht, aber du scheinst offensichtlich neu in Kabaran zu sein.“
    Maja fiel ein, dass sie bloß ein paar Euro-Münzen dabei hatte. Sie wusste nicht einmal, ob die etwas wert waren. Aber zur Not konnte sie vielleicht etwas von ihren anderen Besitztümern eintauschen. „Wir werden uns schon einig werden“, sagte sie.
    „Ich würde mich gerne jetzt schon mit dir einig werden“, gab der Mann zurück.
    Wortlos griff sie in ihre Tasche und zog ihr Portemonnaie heraus. Nahm alle Münzen, die darin waren und hielt sie dem Mann unter die Nase. „Nehmen... nimm dir, was du willst.“
    Der Mann pflückte eine Fünzig-Cent-Münze von ihrer Hand und schnupperte daran. Dann biss er darauf. „Ist das Gold?“
    „Ähm. Ich glaub nicht“, sagte Maja.
    Der Mann beugte sich vor und sie spürte seinen heißen Atem an der Wange, als er ihr ins Ohr flüsterte. „Hey, mir ist es egal“, zischte er. „Es sieht aus wie Gold, also nehme ich es. Gib mir einfach alles, das sollte für die Mahlzeit genügen.“ Er stank so sehr nach einer Mischung aus Alkohol und Rosmarin, dass Maja unwillkürlich die Nase rümpfen musste, aber zum Glück sah er es nicht, als er sich wieder zurück lehnte. Sie schüttete all ihr Kleingeld in seine Hand. Neugierig betrachtete er eine Zwei-Euro-Münze. „Ich weiß nicht, ob ich das gebrauchen kann“, sagte er und biss ebenfalls hinein. Maja konnte sehen, dass ihm ein paar Zähne fehlten und fragte sich, ob er sie sich an Münzen ausgebissen hatte.
    Der Wirt verschwand durch einen niedrigen Torbogen in einen angrenzenden Raum und Maja blieb nichts anderes übrig, als auf ihre Hände zu starren, die den Wasserkrug umklammert hielten, und zu warten. Sie spitzte die Ohren, konzentrierte sich angestrengt auf den Raum hinter ihr und bildete sich ein, dass sie es merken würde, wenn jemand sich von hinten an sie anschlich. Die Männer im Raum hatten wieder zu murmeln angefangen, aber Maja hatte das Gefühl, dass einige von ihnen sie immer noch ansahen. Sie fühlte sich so klein, so jung und so allein. Aber sie durfte es sich nicht anmerken lassen. Das war Ben-Thala-Mis letzter Tipp gewesen, bevor er sich von ihr verabschiedet hatte: „Sei selbstbewusst, dann lassen sie dich vielleicht in Frieden. Und wenn das nicht klappt, zögere nicht, deine Waffe zu ziehen. Zeig ihnen, dass du bereit bist, dich zu verteidigen.“ Deshalb hatte Maja sich ihr Schwert für alle sichtbar auf den Rücken geschnallt. Und deshalb versuchte sie, sich nicht wie das kleine Mädchen zu benehmen, als das sie sich fühlte. Versuchte den Eindruck zu erwecken, dass sie ihre Anwesenheit in diesem Raum als überhaupt nichts Unnormales empfand. Sie hatte allerdings nicht das Gefühl, dass es ihr besonders überzeugend gelang.
    Der Wirt kam wieder und verteilte Speisen im Raum, aber für Maja hatte er noch nichts dabei. Dann stellte er sich hinter die Theke und mixte Getränke. Maja betrachtete seine stark tätowierten Oberarme und versuchte zu erkennen, was darauf abgebildet war: Fische, Frauen, vielleicht eine Mischung aus beidem und über seinen Ellbogen zog sich definitiv eine schuppige Seeschlange. Dazwischen schmiegten sich Schriftzeichen, die Maja unbekannt waren. Plötzlich stellte der Mann ein Glas vor Maja ab. Eine blaue Flüssigkeit schwang darin.
    „Der Kerl da drüben schmeißt eine Runde“, sagte er und machte sich mit dem Tablett auf den Weg, den anderen Gästen ihr Getränk zu bringen. Maja warf dem ‚Kerl da drüben’ über die Schulter einen Blick zu. Er grinste sie an. Sie drehte sich schnell weg. Sie dachte nicht daran, das Zeug zu trinken.
    Als der Wirt zurückkam und ihren vollen Becher sah, schüttelte er missbilligend den Kopf. „Du solltest es wirklich trinken. Joron sieht es nicht gerne, wenn man seine Gastfreundschaft ausschlägt. Außerdem ist es das beste Getränk dieses Hauses, also beleidigst du auch mich, wenn du es verschmähst.“
    Maja tunkte ihren Finger in das Glas und leckte ihn ab. Wenn das das beste Getränk des Hauses war, wollte sie nicht einmal in die Nähe der anderen kommen. Außerdem schmeckte es stark nach Alkohol. Richtig stark.
    „Ich darf keinen Alkohol trinken“, sagte sie.
    „Aber Mami und Papi hast du nicht mitgebracht, was?“
    „Sieht so aus, was?“ Sie starrten sich einen Augenblick lang in die Augen.
    „Wenn du keinen Alkohol probieren willst, was willst du dann in dieser Spelunke?“
    Wie passend, dass er darauf zu sprechen kam. „Informationen“, sagte Maja. „Ich brauche ein Schiff, das mich mitnimmt.“
    Der Wirt hob die Augenbrauen. „Ein Schiff? Schiffe gibt’s hier genug, aber ich wüsste von keinem, das Passagiere aufnimmt. Piraten sind nicht so im Kreuzfahrtgeschäft.“
    „Aber vielleicht gibt es jemanden, der eine Ausnahme macht?“
    Der Wirt zuckte mit den Schultern und seine Zöpfe wackelten. „Für hübsche junge Mädchen wie dich bestimmt. Aber ich kann dir nur davon abraten. Die Chancen, dass du das Schiff wieder verlässt, sind gering. Glaube mir, die meisten Piraten sind unangenehme Gesellen. Ich muss es wissen, bin selber einer. Völlig egal, was du mit ihnen ausmachst, sie werden dich über’s Ohr hauen. Ich meine es nur gut mit dir. Wo willst du denn hin, Mädel?“
    „Nach Süden“, sagte Maja.
    „Ein bisschen genauer, wenn’s geht. Du wirst doch wohl wissen, wo du hin willst.“
    „Andraya.“
    Dem Wirt rutschte die Flasche aus der Hand und fiel auf das Glas, das er gerade füllen wollte. Es zerbrach und verteilte Scherben über Theke und Fußboden. Niemand achtete darauf. Der Mann betrachtete die Scherben verwirrt, dann hatte er sich wieder im Griff. „Du siehst nicht aus, wie jemand, der nach Andraya will.“
    „Wie sieht denn jemand aus, der dorthin will?“
    „Älter... Düsterer... Sagen wir, deine rote Jacke passt nicht ganz dazu.“
    Maja strich sich über den Ärmel. „Ich zieh mir einfach was dunkles an, wenn ich dort ankomme“, sagte sie leichthin.
    Der Wirt lachte. „Entweder du bist verrückt oder taffer als du aussiehst. Aber in dieser Kneipe wirst du kein Schiff finden. Hier sitzen nur ausgediente und arbeitslose Seemänner und träumen von alten Tagen. Du musst zum Hafen. Und geh nicht in irgendeine Kneipe, da findest du nur versoffene Gestalten. Frag bei den Schiffen nach, bei den großen zuerst. Und überleg dir, was du ihnen anbieten kannst. Falsches Gold werden sie nicht nehmen.“
    Er schnupperte. „Ich glaube dein Essen brennt gerade an.“
    Es schmeckte leicht angebrannt, aber Maja war es egal, sie genoss es. Als sie geendet hatte, bedankte sie sich für alles und rutschte von ihrem Barhocker. Auf ihrem Weg zur Tür folgten ihr wieder viele Blicke und Maja fühlte sich einmal mehr sehr unwohl. Doch als sie vor die Tür trat, fuhr ihr der Schreck erst so richtig in die Glieder. Die Straße vor der Kneipe war leer. Leerer, als sie sein sollte. Khjavef war verschwunden.

    Alopex Lagopus :

    Spoiler anzeigen
    Da it es hier lange Zeit still und dann drei Posts auf Mal, wenn man mal wieder ins Forum schaut xD Freut mich, das es weiter geht :) Jinna hat in ihrer neuen Ausbildung echt viel zu tun, ein Wunder, dass sie überhaupt noch Zeit für ihre Familie hat. Und Tamor ist doch schon seit einiger Zeit schlecht gelaunt. Was ist dem denn über die Leber gelaufen?

    Die drei Posts habe ich auch in ziemlich kurzem Abstand eingestellt und sie sind nicht sehr lang. Ich hatte ein bisschen Zeit und etwas Text auf der Seite liegen, der nur noch ein wenig verbessert werden musste.

    Tamor ist sauer, weil Kandrajimo ihn daran gehindert hat, eines seiner Häuser in Miriam zu bauen. Außerdem ist er ein geselliger Mensch, der im Moment etwas einsam ist. Alle, die im letzten Jahr Zeit mit ihm verbracht haben, sind weg. Kandrajimo und Tabea sind viel in der anderen Welt unterwegs. Meister Wolf ist wieder in seiner Hütte im Wald. Maja, Feodor und Matthias sind auch fort und Karim und Jinna würden nicht auf die Idee kommen, ihn zu besuchen, wenn sie nichts von ihm wollten. Dabei würde er sich vermutlich freuen, wenn sie einfach nur auf ein Stück Kuchen und einen Plausch über alte Zeiten vorbei schauen würden.

    Wieso die Bindesstriche?

    Weiß ich auch nicht. Vielleicht sollte ich mal einen :duden: aufschlagen :pardon:

    Einen winzig kleinen Abschnitt habe ich noch, danach geht es mit Teil 3 weiter, in dem ich alle Piratenklischees raushauen werde, die ich kenne.


    Bis zum Samstag passierte nicht viel. Karim genoss ein wenig freie Zeit, während Elzos Schriftrolle ungelesen auf dem Schreibtisch des obersten Kamiraens verweilte. Am Samstag-Nachmittag dann, tat sich endlich etwas, aber es war nicht unbedingt nach Karims Geschmack. Er kam gerade vom Kampftraining, als Euen ihn abfing und zu Merin Ellers schickte. Den Schwertkämpfer fand er in seiner Kammer, wo er offensichtlich dabei war, sich für eine Reise bereit zu machen.

    „Hol Jonah“, sagte er bloß knapp, als Karim eintrat. „Packt Sachen. In einer Stunde treffen wir uns in der Eingangshalle.“

    „Wer trifft sich? Wozu?“

    „Wir sollen was von dem Zeugs holen. Elzo, Idela, ich und ihr zwei.“

    Karim fiel entsetzt der Mund auf. „Das ist eine blöde Idee“, stieß er dann hervor.

    „Es ist nicht deine Aufgabe, die Ideen der Kamiraen zu bewerten“, sagte Merin tonlos.

    Karim entschuldigte sich nicht. Merins Körperhaltung und seine knappe Ausdrucksweise verrieten ihm Einiges über die Gemütshaltung des Schwertkämpfers: dieser fand die Idee ebenfalls nicht gut. Aber Karim merkte auch, dass dies nicht der passende Zeitpunkt für weitere Fragen war und so verließ er eilig den Raum. Eine Stunde – das war sehr knapp bemessen, um sich auf eine weitere Reise vorzubereiten. Er trabte los.

    Jonah fand er nach einigem Herumfragen recht schnell im Pferdestall. Als nächstes machte er sich auf die Suche nach Jinna. Sie zu finden war schwieriger, aber schließlich entdeckte er sie in der Wäscherei, wo sie gerade ihre Libellengewänder wusch.

    „Was soll das heißen, du musst schon wieder fort?“ Jinna ließ die Bürste sinken, mit der sie einen besonders hartnäckigen Fleck bearbeitet hatte. Täuschte er sich, oder bekamen ihre Augen einen feuchten Schleier?

    „Ich weiß“, sagte er.

    „Warum wollen sie dich dabei haben?“, fragte Jinna. „Du bist doch ein kompletter Anfänger.“

    „Weil ich dabei war, als wir den Spuk entdeckt haben“, antwortete Karim ein wenig gereizt. Jinnas Worte verletzten ihn. Und weil sie mich auf die Probe stellen wollen, fügte er in Gedanken hinzu. „Glaub mir, ich bin auch nicht begeistert. Du hast das Zeug nicht gesehen, Jinna, es war echt gruselig. Ich denke, dass es keine gute Idee ist, auch nur in die Nähe davon zu kommen, geschweige denn es nach Miriam zu bringen. Aber was soll ich machen? Es ist nicht meine Entscheidung. Ich muss tun, was man mir sagt.“

    „Ich weiß.“ Jinna senkte den Kopf. „Als wir Libellen geworden sind, haben wir uns entschieden, diesen Weg zu gehen. Ich hätte nur nicht gedacht, dass er sich so schnell gabeln und uns auseinander führen würde.“

    Karim schloss sie in die Arme. „Wir sehen uns ja bald wieder. Nach Merialk ist es nicht weit und wir werden zu Pferd unterwegs sein. Vielleicht bin ich nächste Woche schon wieder hier.“ Er küsste sie auf die Stirn und löste sich von ihr. „Ich muss mich beeilen. Hab nur noch eine halbe Stunde, um zu packen. Grüß Mama von mir.“

    Die Sonne neigte sich auf den Horizont zu und die Wolken davor boten ein wundervolles Schauspiel. Sie hatten sich in unterschiedlichen Schichten über den Himmel gelegt, einige waren flauschig und klein, einige dunkel und dicht und andere zogen lange Fäden über den Himmel, die das Licht der Sonne in pures Gold verwandelte. Karim drehte sich im Sattel um und warf einen letzten Blick auf Miriam. Er hatte nicht damit gerechnet, der Stadt so bald schon wieder den Rücken zu kehren, und genauso wenig damit, dass er so früh in seiner Libellenlaufbahn bereits einen so wichtigen Auftrag erledigen sollte – wenn auch nur als Begleitung.

    Jonah schien es genauso zu verblüffen. Er wirkte geradezu geschockt. Stocksteif saß er auf seinem grau-beigen Schecken und hatte auf der ganzen Reise kaum ein Wort gesagt. Viel unterhalten durften er und Karim sich ohnehin nicht. Elzo, Idela und Merin sprachen leise miteinander und es wurde erwartet, dass ihre jüngeren Begleiter respektvoll schwiegen.

    Karim griff nach seinem Trinkschlauch und nahm ein paar Schlucke Wasser. Als er ihn an den Sattel zurückhängte, streiften seine Finger ein bauchiges Gefäß – eine Art Flasche mit weiter Öffnung. Sie war aus magischem Kristallglas gefertigt und mit einem Stopfen aus der Wurzel einer Eiskirsche verschlossen. Angeblich konnte dieses Gefäß Zauber gefangen halten. Elzo trug ebenfalls eines am Sattel, genauso wie Idela – für alle Fälle. Sie sollten den Spuk hineinfüllen und nach Miriam bringen. Karim mochte gar nicht daran denken. Gel, der Mann aus Merialk, hatte ihnen eingeschärft, den Spuk nicht zu berühren und das hatten sie auch nicht vor. Ihn mit sich herumzutragen schien Karim aber ebenfalls nicht die beste Idee zu sein. Doch wie Merin ihm bereits gesagt hatte, war es nicht seine Aufgabe, die Ideen der Kamiraen zu bewerten. Seufzend tätschelte er seinem Pferd Darlino den Hals und lehnte sich im Sattel zurück. Er genoss die letzten Sonnenstrahlen des Tages, die ihm ins Gesicht schienen.

    Das folgende Gespräch ist nicht ganz so rund, weil ich es ungefähr fünfmal überarbeiten musste und jetzt hängt es mir zum Hals heraus. Karims und Jinnas Handlungsstränge verliefen erst etwas anders und ich knacke immer noch daran, sie vernünftig auseinander zu friemeln und zu ändern. Aber so wie es jetzt ist, gefällt es mir zumindest besser.


    Pappsatt kam Jinna der Weg nach Hause viel länger vor als sonst, aber endlich erreichte sie das kleine Haus, stieß die Tür auf und trat in den hellen Wohnraum. Karim saß am Tisch und stopfte Eintopf in sich hinein.
    „Hey Schwesterherz“, sagte er. „Hast du mich vermisst?“
    Das hatte sie, so sehr, dass sie ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre, aber sie tat es nicht. Stattdessen zog sie ein Bündel aus der Tasche und legte es grinsend neben ihrem Bruder auf den Tisch. Neugierig schlug er das Leintuch auseinander und machte große Augen, als er das Gewürzbrot darin entdeckte. Es hatte Jinna so gut geschmeckt, dass sie darum gebeten hatte, einen Rest mit nach Hause nehmen zu dürfen.
    „Perfekt“, sagte Karim und riss sich gleich ein Stück ab, als wäre er am verhungern. Dabei konnte er als Libelle einfach ins Hauptquartier gehen und sich den Magen vollschlagen – egal ob Tag oder Nacht.
    „Wie war es?“, fragte sie. „Was hast du erlebt?“
    „Tja. Wir sind von niemandem umgebracht worden“, mampfte Karim. „Und niemand hat es versucht. Aber wir haben was Komisches entdeckt.“ Und er erzählte ihr eine seltsame Geschichte über einen unheimlichen Spuk: eine schwarze, mit glühenden Fäden durchzogene Masse.
    Jinna verzog angewidert das Gesicht. „Und jetzt?“, fragte sie.
    Karim zuckte mit den Schultern. „Unser Plan war, Hilfe von einem Zauberer zu holen. Das Problem ist, dass du die nicht an jeder Ecke triffst. Wir müssten Kontakt zum Rat der Magier aufnehmen und das wiederum geht nur über die Kamiraen. Elzo hat leider erst am Samstag-Vormittag ein Treffen mit ihnen. Er will einen Notfall-Termin, aber so richtig nimmt man uns in den oberen Etagen nicht ernst.“ Er seufzte. „Die obersten Libellen meinten, die Kamiraen hätten Wichtigeres zu tun, als sich um ein Stück ungewöhnlichen Dreck zu kümmern.“
    „Das ist nicht nett“, meinte Jinna.
    „Wirklich nicht. Aber spätestens Samstag klärt es sich ja von selbst. Und vielleicht auch schon früher: Elzo hat einen Bericht über alles geschrieben, was wir in Thalln erfahren haben und die Beobachtungen aus Merialk – das war das Dorf, in dem wir auf den Spuk gestoßen sind. Die Schriftrolle liegt schon bei Jonathan Niber auf dem Schreibtisch.“
    „Niber ist nicht da“, sagte Jinna. „Er ist mit Kandrajimo in die andere Welt aufgebrochen.“
    „Heißt das, Kandrajimo ist auch nicht da?“
    Jinna schüttelte den Kopf. „Seit du aufgebrochen bist, war er kaum im Hauptquartier. Zwischendurch kommt er mal für einige Stunden vorbei und geht dann wieder. Letzte Woche habe ich ihn kurz gesehen.“
    „Da war er sogar hier in diesem Haus“, erklang eine Stimme von der Treppe. Es war ihre Mutter, die gerade aus dem Dachgeschoss herunter kam. Über der Schulter trug sie ein langes Stück Stoff mit einem rötlich-metallischen Schimmer – eine ihrer Spezialanfertigungen. „Kandrajimo war vor ein paar Tagen bei mir und hat Fragen über das dritte Tor gestellt. Ich wollte dich schon längst drauf ansprechen, Jinna, aber du bist ja in den letzten Tagen kaum hier gewesen.“ Jinna schaute schuldbewusst drein. Sie verbrachte ihre Abende oft in Astrids Zimmer im Hauptquartier. Ihre Mutter fuhr fort: „Ich frage mich, woher Kandrajimos plötzliches Interesse für die Kette kommt, denn eigentlich dachte ich, du würdest gut darauf achtgeben und niemandem davon erzählen.“
    Jinna und Karim warfen sich erschrockene Blicke zu.
    „Ich hab sie Maja gegeben“, erklärte Jinna schuldbewusst. „Ich hatte das Gefühl, sie sollte das Tor haben, weil sie ja eine Kamiraen ist und weil man es eh nur von der anderen Welt aus nutzen kann. Heißt das, Maja hat Kandrajimo davon erzählt?“
    „Oder hat sie es benutzt?“, fragte Karim halb erschrocken, halb hoffnungsvoll.
    „Ich weiß es nicht. Kandrajimo wollte mir nichts sagen und ich konnte ihm leider auch nicht weiterhelfen“, sagte Alma. „Danach hat er Miriam sofort verlassen.“
    „Dann kann ich Elzo nicht weiterhelfen“, murmelte Karim zerknirscht. „Er hatte gehofft, dass ich Kandrajimo vielleicht persönlich auf die Sache mit dem Spuk ansprechen könnte, weil ich ihn ja kenne.“
    Jinna zuckte mit den Schultern. „Am Samstag klärt sich die Sache doch sowieso, hast du gesagt.“
    Karim schüttelte den Kopf. „Aber was, wenn es zu spät ist? Wenn sie dann noch einen Zauberer herrufen müssen – ich kann mir kaum vorstellen, wie lange das dauern wird. Die Menschen in Merialk brauchen dringend Hilfe. Ich wünschte, Feodor wäre noch hier, er hätte uns bestimmt sagen können, was das für Zeugs ist. Vielleicht hätter er sogar mit nach Merialk kommen können. Außer ihm und Meister Wolf kenne ich leider keine Zauberer. Und letzterer sitzt in seiner Hütte im Wald.“
    „Was ist mit Tamor?“, fragte Jinna. „Der ist noch hier, ich habe ihn letztens erst gesehen.“
    „Ach ja, Tamor. Daran hatte ich nicht gedacht. Aber ehrlich gesagt habe ich ihn noch nie richtig zaubern sehen. Er holt bloß immer die ganzen fertigen Speisen aus seinen Schränken.“
    Jinna grinste. „Besser als nichts. Wenn er euch begleitet, müsst ihr wenigstens nicht hungern.“
    „Er müsste uns nicht mal begleiten“, sagte Karim. „Er hat doch diese praktischen Häuser, bestimmt ist eines in der Nähe von Merialk.“
    Ihre Mutter ging zum Esstisch, auf dem eine große Kanne Tee stand. Sie goss sich eine Tasse ein und leerte sie in einem Zug. Dann setzte sie sich in ihren Schaukelstuhl und holte Nadel und Faden hervor. Auch Jinna nahm sich etwas Tee und blickte nachdenklich durch den Raum. Es war schon bemerkenswert, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte. Alma hatte nicht öffentlich gemacht, dass sie eine Spinnenweberin war – dass sie Metall zu Stoffen nähen konnte, die von kaum einer Waffe durchdrungen werden konnten. Andernfalls hätte sie sich vor Auftraggebern vermutlich nicht retten können und wäre innerhalb kürzester Zeit steinreich gewesen. Aber sie führte lieber ein Dasein im Schatten. Das hatte sie immer schon getan. Außerdem sagte sie, dass sie sich dann auch vor Entführern nicht würde retten können und das wolle sie nicht noch einmal durchmachen. Die wenigen Menschen, die von ihrem Talent wussten, hielten dicht und so bekam sie nur einige wenige, ausgewählte Aufträge. Doch es waren mehr als genug. Während sie früher in Jakarestadt oft Sorgen hatten, ob das Geld und die Vorräte reichen würden, kamen sie nun hervorragend zurecht. Ihr Leben hatte sich so sehr verbessert, dass die Kinder sich oft fragten, warum sie nicht einfach früher hergekommen waren.
    Jinna nippte am Rand ihrer Tasse. Der Tee war kalt. „Webst du eigentlich auch mal was für uns?“, fragte sie beiläufig. „Ich meine so Spinnenweber-Zeugs?“
    „Ach, das wird allgemein überschätzt“, sagte Alma. „Auch meine Stoffe müssen sich den Gesetzen der Physik beugen, weißt du?“
    „Was ist Physik?“, fragte Jinna.
    „Naturgesetze“, sagte ihre Mutter. „Sie erklären beispielsweise, warum etwas zu Boden fällt, wenn du es loslässt.“
    „Weil der Boden unten ist“, sagte Jinna.
    Alma schüttelte resigniert den Kopf. „Ich hätte damals nicht nach Jakarestadt ziehen dürfen“, sagte sie. „Dann hättet ihr viel früher eine Schule besuchen können.“
    „Es ist schon verrückt, oder?“, sagte Karim, als würden Jinnas Gedanken noch ihm Raum umherwabern und sich nun auf seine Zunge legen: „Vor etwas mehr als einem Jahr haben wir noch in Jakarestadt gelebt. Und jetzt sind wir hier, im Dienste der Kamiraen. Wir waren in der anderen Welt, auf der anderen Seite des Gebirges und im Dreizehnten Königreich, wir kennen haufenweise Zauberer, haben einen verrückten Hypnotiseur an der Beschwörung eines Dämons gehindert und selbst unsere Mutter hat so etwas wie eine magische Begabung. Und wir sitzen hier ganz gelassen am Küchentisch und unterhalten uns darüber, ob wir einen dieser Zauberer um Hilfe bei der Bekämpfung eines rätselhaften Spuks bitten.“
    Jinna kippte den Tee nun auch in einem Zug herunter. „Ja, genau“, sagte sie. „Lass uns das machen. Lass uns zu Tamor gehen.“

    Doch damit hatten sie keinen Erfolg. Tamor war in überaus schlechter Stimmung: „Ich bin nicht der Haus- und Hofhund der Kamiraen. Ich komme nicht schwanzwedelnd angerannt, wenn sie pfeifen. Nicht, dass ich es kategorisch ausschließen würde, aber dann will ich bitteschön auch eine Hundehütte im Garten haben.“
    Mit diesen Worten schlug er ihnen die Tür vor der Nase zu. Karim stand noch etwa zehn Minuten klopfend davor und versuchte, ihm ins Gewissen zu reden, jedoch ohne Erfolg.

    Ein kurzer Teil, es passte leider nicht anders. Dafür geht es hoffentlich bald schon weiter. Ich denke die nächsten Tage werde ich hier mal ein bisschen Meter machen.


    Als sie zwanzig Minuten später mit ihren Einkäufen durch das Eingangsportal des Hauptquartiers hastete, kam ihr Euen entgegen. Der unauffällige dunkelblonde Junge winkte ihr zu: „Jinna!“
    „Keine Zeit, Euen, lass uns später reden“, antwortete sie, ohne ihr Tempo zu verlangsamen.
    „Karim ist wieder da. Ich dachte, du würdest es wissen wollen.“
    Jetzt bremste sie doch und kam schlitternd in der Mitte der Halle zum Stehen. „Ich hab's schon gehört. Du weißt nicht zufällig, wo er ist?“ Sie blickte sich um, in der Hoffnung, er wäre vielleicht auch hier. Doch weder folgte er Euen noch war er sonst in der Menge auszumachen.
    Wie so oft war es voll hier in der Eingangshalle, Libellen kamen und gingen durch alle Ausgänge. Jinna hatte erst einmal allein in der Halle gestanden und war sich dabei sehr verloren vorgekommen unter der hohen Decke. Wenn man hinaufsah konnte man angesichts des Deckengemäldes denken, geradewegs vom Himmel zu fallen, direkt auf die Stadt Miriam zu. Sie mochte es lieber wenn die Halle voll war, so wie jetzt, und dutzende Menschen sie von dem unheimlichen Bild ablenkten.
    „Ich glaube, er wollte nach Hause gehen“, sagte Euen.
    Jinna biss sich auf die Lippen. Ihr blieb keine Zeit mehr, um nach Hause zu laufen. Sie musste sich so schon beeilen, um rechtzeitig zu ihrem Kurs zu kommen. Aber wenigstens wusste sie nun ganz sicher, dass Karim heil heimgekehrt war.
    „Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast“, rief sie, während ihre Füße sich schon wieder in Bewegung setzten. Eilig trabte sie Stufen hoch und Korridore entlang. Erst als sie schon im ersten Stock war, kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht ein bisschen mehr Würde bewahren sollte. Sie wollte nicht, dass man sie für kindisch oder unbeherrscht hielt. Sie bremste ihre Schritte und ging zügig, aber ohne zu rennen, weiter.

    Madam Takada erwartete sie in einem abgetrennten Bereich der Küche, in dem es mehrere Kochstellen gab, dazu Messer, Schüsseln, Brettchen und alles, was sie benötigen würden. Sie teilte ihre Schülerinnen und Schüler in Dreiergruppen ein und gab ihnen die Rezepte: Vorspeise, Hauptgericht, Nachspeise, ein leichtes Gewürzbrot, dazu marinierter Ziegenkäse und als Krönung Wisskrautbowle, die in der Gegend nördlich des Dschungels bei fast jedem Ereignis ausgeschenkt wurde, gleich in welchem Haushalt, ob arm oder reich. Während ihre jungen Schützlinge sich an die Arbeit machten, ging Madam Takada herum und gab Tipps.
    Nach etwa einer Stunde musste von jeder Gruppe ein Mitglied mit ihr kommen, um ein Stockwerk höher den Tisch zu decken. Hier war ein Speisesaal, der normalerweise für offizielle Anlässe genutzt wurde. Nicht nur mussten sie den Tisch mit Tellern, Gläsern und Besteck decken, sondern auch die Lampen entzünden und die passende Dekoration auswählen. Für den heutigen Tag würde sie eher schlicht sein, ein paar grüne Servietten, ein paar Kräuterzweige in quadratischen Steingefäßen und ein Kerzenhalter in Form eines gewundenen Astes, der mitten in die Mitte des Tisches gelegt wurde. Dann schickte Madam Takada die Gruppe zurück in die Küche, wo es so langsam Zeit wurde, die Lammspieße auf das Feuer zu legen.
    Schließlich waren die Gruppen fertig und trugen ihre Werke in den Speisesaal. Es sah aus, als hätten sie für Fürsten oder Edelfrauen gekocht, doch sie selbst würden dieses herrliche Mahl verspeisen dürfen. Jinna warf Astrid ein breites Grinsen zu, denn diese hatte am Vortag noch verkündet, allein für die Speisen lohne sich der Kurs.
    Madam Takada schnalzte mit der Zunge. „Auf geht’s: umziehen.“
    Sie huschten in den Nebenraum, in dem für jeden von ihnen ein Kleidungsstück aus der örtlichen Mode nördlich des Dschungels bereitlag. Schnell die Hände in der Waschschüssel gesäubert und rein in die Gewänder. Zum Glück waren sie heute nicht allzu kompliziert zu schnüren. Jinna und Astrid halfen sich gegenseitig. Madam Takada hätte es gerne gesehen, wenn sie auch ihr Haar passend frisiert hätten, doch dazu war keine Zeit, wenn nicht das Essen kalt werden sollte. Jinna machte sich eine Notiz im Kopf, sich beim nächsten Mal im Vorfeld darum zu kümmern. Eilig stellten sich alle Mädchen und Jungen an der Tür zum Speisesaal auf. Madam Takada ließ einen Gong ertönen.
    „Die Show beginnt“, murmelte Astrid, denn für die nächsten zwei Stunden würden sie sich fühlen, wie in einem anderen Leben. Das Leben von sehr reichen und gut speisenden Menschen. Nur die Dienerschaft fehlte, um die Illusion perfekt zu machen. Die Tür ging auf und obwohl Jinna die letzte Stunde nichts anderes gerochen hatte, schien der Duft des frischen Brotes und der Lammspieße nun überwältigend.

    Familientreffen

    Es war früher Nachmittag. Die grauweißen Wolken am Himmel färbten die Dächer Miriams in demselben blassen Ton, sodass die Häuser der Stadt seltsam farblos wirkten. Unten in den Gassen dagegen herrschte ein buntes Treiben. Den Tauben auf den Dächern bot sich das Bild von bunten Tupfen aus rot, grün, orange und anderen Farben, die zwischen ebenso farbenfrohen Rechtecken hin und her hasteten. Es war Markttag und Jinna war einer dieser Tupfen, die von Stand zu Stand hechteten.
    »Gibt es hier Chadir?«, rief sie den Händlern zu und ließ die Augen über die Auslagen schweifen. Die Antwort war 'nein', wieder und wieder 'nein'.
    Manche der Gemüsestände waren schon fast ausverkauft und die Händler räumten die leeren Kisten in ihre Karren. Die lokalen Obst- und Gemüsesorten gab es noch, doch alles was von weit her kam, war in letzter Zeit selten geworden. Die Händler hatten Lieferschwierigkeiten.
    Ein würziger Geruch umhüllte Jinna und weckte neue Hoffnung in ihr. Sie folgte dem Duft zu einem Gewürzstand, dessen Auslagen noch sehr voll waren. Ein Blick auf die Preise verriet ihr auch den Grund dafür.
    »Habt Ihr Chadir?«, fragte sie die hagere Frau, die die Hände der Menschen aus dem Schatten der Auslage scharf im Auge behielt. Ihre Augen wanderten suchend umher und fokussierten sich schließlich auf Jinna.
    »Chadir?« Sie schüttelte den Kopf. »Du kannst es mit Tapfenblättern versuchen, die meisten schmecken den Unterschied gar nicht.«
    Jinna überlegte kurz, ob sie den Rat annehmen sollte, verwarf den Gedanken aber schnell. Madam Takada würde es merken.
    »Ich brauche echtes Chadir und zwar heute noch. Habt Ihr eine Idee, wo ich es kaufen könnte?«
    Die alte zuckte die Schultern. »Interessiert mich nicht, solange du es nicht bei mir kaufst.«
    Jinna seufzte. »Sagt Ihr es mir, wenn ich etwas von den Tapfenblättern kaufe?«, fragte sie. Dann hatte sie zur Not wenigstens einen Ersatz. Aber die Blätter würde sie von ihrem eigenen Geld kaufen müssen, da sie nicht auf der Liste standen.
    Die Frau nickte und begann ein paar Blätter abzuwiegen und mit einem Faden zusammenzubinden, während Jinna in ihren Taschen nach Münzen suchte, die ihr selbst gehörten. Zum Glück hatte sie immer ein paar Notgroschen in der Tasche. Sie legte sie auf die Theke, riss der Frau das Bündel aus der Hand und sah sie schließlich erwartungsvoll an.
    »In der Tambachstraße ist ein Feinkostladen. Dort haben sie vermutlich Chadir, aber eine Garantie kann ich dir nicht geben. Dafür ist die Lage im Moment zu unsicher.«
    Jinna bedankte sich nicht. Stattdessen rannte sie los. Sie hatte eine ungefähre Vorstellung, wo die Tambachstraße lag – und zwar am anderen Ende der Stadt. Sie hatte schon jetzt viel zu viel Zeit mit dem Einkauf verbracht und ihre Aufgaben an diesem Morgen vernachlässigt. Eigentlich hätte sie die Korridore im dritten Stock fegen sollen und ein wenig Zeit war ihr zugerechnet worden, um ihre eigenen Libellengewänder in die Wäscherei zu bringen und ihren Schrank auf Vordermann zu bringen. Das würde sie nun alles nicht schaffen und sie konnte nur beten, dass niemand den Korridor kontrollierte, denn um zwei Uhr erwartete Madam Takada sie in einer der Küchen. Es war Mittwoch – der Tag, an dem ihr Kurs jede Woche gemeinsam zu Abend aß. Als Jinna das erste Mal davon gehört hatte, war ihr nicht klar gewesen, dass sie das Essen gemeinsam vorbereiten würden und auch den Einkauf selbst erledigen mussten. Heute sollte es Lammspieße geben nach Art, wie man sie in den Suraki-Ebenen, nördlich des Dschungels von Jorthas aß. Chadir waren kleine scharfe Beeren, die dem Gericht seinen typischen Geschmack gaben.
    Jinna bog um eine weitere Ecke und bremste abrupt ab. Dies war die Tambachstraße und direkt vor ihr verkündete ein buntes Schild, dass es in dem Geschäft darunter Speisen vom Feinsten gab. Schon die Schaufenster und die Eingangstür sahen edel aus, der Griff glänzte golden. Jinna strich ihr Libellengewand glatt. Damit stand ihr zum Glück jede Tür in Miriam offen. In dem geflickten Rock, den sie noch am Vorabend getragen hatte, hätte man sie wohl nicht hineingelassen. Als sie eintrat, läutete eine Glocke über der Tür und sofort erschien ein schmalgesichtiger Mann mit einem Schopf weißen Haares und einem Schnurrbart.
    „Guten Morgen“, grüßte Jinna, „ich möchte bitte Chadir kaufen.“
    Der Mann hob die Augenbrauen. „Du hast Glück“, sagte er dann und Jinna entfuhr ein erleichterter Seufzer. „Es war seit Monaten ausverkauft, aber heute Morgen ist ein Handelstrek aus Thalln eingetroffen und hat mir die seltenen Beeren geliefert.
    „Aus Thalln?“, fragte Jinna. „Das waren nicht zufällig die Händler, die von den Libellen begleitet wurden?“
    „Ebendie“, nickte der Verkäufer.
    Jinna wurde ganz aufgeregt. Wenn stimmte, was der Mann sagte, dann musste Karim ins Hauptquartier zurückgekehrt sein. Fast zwei Monate hatte sie ihren Bruder nicht mehr gesehen, viel länger als erwartet. Sie hätte sich Sorgen gemacht, wenn die Begleiter des Handelszuges nicht regelmäßig Brieftauben geschickt hätten, die dem Hauptquartier verkündeten, dass alles, mal abgesehen von den Straßenverhältnissen, in Ordnung war. Hastig wurde Jinna sich mit dem Verkäufer einig, packte die Beeren ein und verließ überstürzt den Laden. Draußen begann sie zu rennen. Das Gewand der Libellen flatterte hinter ihr her. Wenn sie Karim schnell fand, reichte die Zeit vielleicht noch für eine Umarmung und einen kurzen Wortwechsel, bevor sie zu Madam Takada musste.

    Arrgh, was ist denn hier los? Jetzt muss ich ja weiterschreiben, wenn meine Lieblingsleser auf dem neuesten Stand sind. Damit habe ich dieses Wochenende nicht gerechnet und es tut sehr gut, da ich irgendwie ein leicht mieses Wochenende habe.

    Also vielen, vielen Dank

    Was ist mit Feodor? Der wäre sicherlich hilfreicher als Niber gewesen :D

    Feodor genießt noch Welpenschutz ;)

    Nein, er ist gerade auf Weltreise und läuft irgendwo nahe der Hauptstadt herum. Sie könnten ihn zwar kontaktieren, aber so schnell käme er dort nicht weg, denn er beherrscht die Verschiebung ja nicht. Vielleicht könnte er eines von Tamors Häusern nutzen, als Zauberer könnte er das, aber nach Miriam kommt er damit auch nicht. Ich muss mir mal überlegen, wo Tamors Häuser genau stehen.

    Die Piraten können Maja auch einfach töten uns ihr Habe dann immer noch verkaufen.

    Ja, stimmt, könnten sie. Dann wäre die Geschichte aber schnell zu Ende, oder? :pirate: Und niemand würde herausfinden, was mit Käse passiert ist.

    Hallo Kyelia,

    vielen Dank für deinen Kommentar und dass du alles gelesen hast :love:

    Der Zufall will es, dass ich heute tatsächlich ein wenig Zeit zum Schreiben eingeplant habe, da ich einen langen, leeren Nachmittag vor mir habe. Mal schauen, ob ich da sogar was schaffe.

    Ich glaube Kandrajimo hat nur Humor, wenn er mit Tabea oder Meister Wolf zusammen ist :) Die beiden sind jedenfalls seine engsten Freunde.

    Ich mag es richtig, die Charaktere aus der Welt ohne Namen in unserer herumstreifen zu lassen. Die Szenen sind ja recht kurz und es bleibt nicht viel Zeit für Details. Irgendwann werde ich das Thema noch gründlicher aufgreifen :D

    Mir fiel gerade auf, dass ich nicht mal das Kapitel zu Ende gepostet hatte und es ist schon wieder ein paar Monate her. Aber na gut, hier kommt jedenfalls der Rest:


    Sie gingen in einem weiten Bogen um das Lager von Dreizehns Leuten herum und kamen gut voran, bis Maja plötzlich ein zugegebenermaßen ziemlich verrückter Gedanke kam. Sie wusste nicht, wie sie jetzt darauf kam, er entsprang einfach völlig unerwartet ihren Gedanken: Wenn Dreizehns Leute sie hier erwischten, würden sie Maja nach Andraya bringen. Genau dorthin, wo sie hin wollte. Hin musste. Doch es war keine gute Idee, dass sie den Gedanken sofort aussprach.
    Ben hielt sein Pferd so abrupt an, dass Khjavef in es hinein lief und Ben's Grauer erschrocken nach hinten austrat. Ben beruhigte ihn und drehte sich schließlich im Sattel um, um Maja schockiert anzusehen.
    „Bist du völlig verrückt?“, fragte er.
    „Vielleicht“, antwortete Maja. Okay. Das war keine gute Antwort.
    Ben stieg ab und machte dabei ein Gesicht wie auf einer Beerdigung. „Du bist verrückt“, stellte er fest. „Wie kommst du darauf, dass sie das tun werden?“
    „Weil sie es tun. Ist das nicht das, was sie immer machen? Leute nach Andraya verschleppen? Du hast selbst gesagt, dass sie das tun.“
    „Was weiß ich, was sie tun. Sie könnten dich auch nicht dorthin bringen. Sie könnten dich verletzen oder töten. Was willst du machen? Zu ihnen gehen und sagen, du willst nach Andraya? Sie werden dich auslachen und dich genau dort nicht hinbringen.“
    „Ich werde ihnen einfach sagen, wer ich bin.“
    Ben hob die Augenbrauen. „Und wer bist du?“
    „Maja Sonnfeld.“
    „Soll mir das irgendetwas sagen?“ Er klang sarkastisch.
    „Ich bin eine Kamiraen“, fügte sie hinzu, doch Ben schaute immer noch ratlos und spöttisch drein. „Ihnen wird es etwas sagen.“ Maja sah zu dem Lager hinüber. Sie hatte sich längst entschieden. Verzweifelte Situationen erforderten verzweifelte Maßnahmen. Sie schnalzte und trieb Khjavef an, doch als er los ging, packte Ben sie am Arm und hielt sie fest. „Lass das“, sagte Maja und versuchte, ihn abzuschütteln, aber er ließ sie nicht los. Von Khjavef in die eine und von Ben in die andere Richtung gezogen fiel sie vom Pferd. Da das Gras so weich war, tat sie sich kaum weh, aber sie wurde ziemlich wütend.
    „Spinnst du?“, fauchte sie. Khjavef blieb stehen und glotzte sie verwundert an. Maja rappelte sich auf.
    „Du hast das jetzt nicht wirklich vor?“, fragte Ben.
    „Allerdings.“
    „Und dann? Wie sieht der Rest des Plans aus? Was machst du, wenn du in Andraya bist? Ausbrechen? Wie? Und wie willst du deinen Bruder retten, wenn du selbst gefangen bist?“
    „Ich werde es irgendwie schaffen“, sagte Maja.
    „Ich glaube, da überschätzt du dich gewaltig.“
    „Ich habe es immer irgendwie geschafft.“
    „Immer?“ Ben betrachtete sie von Kopf bis Fuß. „Ich weiß nicht, wofür du dich hältst, aber vielleicht solltest du dein Selbstbild noch einmal überdenken.“
    „Was geht es dich an?“, blaffte Maja ihn an. „Du weißt nichts über mich und meinen Bruder. Nichts. Du weißt nicht, was ich durchgemacht habe, du weißt nicht, was ich schaffen kann. Also misch dich nicht ein.“
    „Stimmt“, sagte Ben ruhig. „Ich weiß nichts über dich und du nichts über mich. Aber ich habe dir das Leben gerettet und ...“
    „Halt die Klappe“, fauchte Maja. „Glaub nicht, bloß weil du mein Leben gerettet hast, hättest du das Recht, darüber zu bestimmen. Das hat schon mal jemand geglaubt und ich habe keine Lust mehr darauf. Ich tue, was ich für richtig halte und wenn ich dabei drauf gehe, dann ist es meine Sache.“
    Ben holte aus und verpasste ihr eine Ohrfeige, dann packte er sie und riss sie zu Boden. Er drückte ihre Hände in den Schlamm, sein Knie presste gegen ihre Brust. „Ich lass nicht zu, dass du das tust. Du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt. Du kannst doch nicht mehr klar denken.“
    Maja riss sich mit einem gewaltigen Ruck los und verpasste ihm ihrerseits eine Ohrfeige. In einem Wirbel aus grünen Haaren fiel er zur Seite und wälzte sich im Schlamm.
    „Mach das nie wieder“, sagte Maja.
    Er drehte den Kopf zu ihr. „Wenn du deinen Bruder retten willst, musst du frei sein. Als Gefangene kannst du ihm nicht helfen und wenn du tot bist auch nicht.“
    „Dein Plan mit den Piraten ist nicht besser als meiner. Du hast selbst gesagt, dass sie mich vielleicht umbringen.“
    „Nur wenn du dich blöd anstellst.“
    Maja starrte ihn eine Weile an und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. „Nicht überzeugt“, sagte sie schließlich.
    „Du kannst wirklich nicht mehr klar denken“, sagte Ben. „Wenn du es noch könntest, würdest du merken, dass du längst aufgegeben hast.“
    „Ich habe nicht aufgegeben.“
    „Doch, das hast du. Aber du kannst einfach nicht aufhören, weiterzugehen. Nur … in Wahrheit ist es dir völlig egal, ob du lebst oder stirbst. Vielleicht willst du sogar sterben. Weil du mit deinem Leben nichts mehr anzufangen weißt.“
    „Ich will nicht ...“ Maja verstummte, weil sie die Wahrheit in seinen Worten erkannte. Es war nur ein kleines Körnchen Wahrheit, aber es war nicht zu leugnen.
    „Du musst lernen zu akzeptieren, dass dein Bruder fort ist. Du musst versuchen, ohne ihn weiter zu leben.“
    „Das kann ich nicht. Das werde ich nicht. Du verstehst das nicht. Ich habe es geschafft, ich habe schon mal jemanden aus Andraya gerettet. Jemanden, den ich nicht einmal kannte. Es war verrückt und leichtsinnig und ich hatte mehr Glück als Verstand, aber wenn ich diese Person damals gerettet habe, wie kann ich meinen eigenen Bruder im Stich lassen? Auch wenn ich nicht glaube, dass es noch einmal klappt, ich muss es versuchen.“
    Ben seufzte. „Du meinst es wirklich ernst oder? Du warst wirklich schon mal in Andraya?“
    Maja nickte.
    Verwirrt schüttelte der Junge den Kopf. „Wer bist du?“
    Maja musste erst darüber nachdenken. „Ich weiß es nicht“, gestand sie.
    „Dann rette ihn“, sagte Ben schließlich. „Versuch es. Geh nach Andraya, aber nicht als Gefangene, das ist nicht der richtige Weg. Geh auf deine Weise. Als freier Mensch. Lass sie nicht wissen, dass du kommst.“
    „Du glaubst doch selbst nicht, dass ich es schaffe“, sagte Maja.
    „Tu ich auch nicht. Aber was ich glaube, spielt keine Rolle. Allein was du glaubst, zählt.“
    Was sie glaubte. Sie glaubte, sie würde dabei draufgehen. Sie hatte schon zu viel Glück gehabt und das hier war einfach nicht schaffbar. Sie und Ben lagen sich gegenüber und starrten sich an. Khjavef und Ben's graue Stute legten die Köpfe übereinander. Ein Regentropfen traf Maja am Auge. Als er über ihren Nasenrücken lief, merkte sie, wie er sich mit Tränen vermischte. Und dann fing sie an zu weinen. Ben stand auf und strich ihr über den Rücken. Es tat gut, nicht allein zu sein.
    Als sie aufgehört hatte zu weinen, war Maja bereit weiter zu gehen. Nach Kabaran. Ben hatte sie nicht überzeugt, aber sie vertraute ihrem eigenen Urteil nicht mehr. Also würde sie tun was er sagte. Sie würde ein Schiff suchen, das sie nach Andraya brachte. Und dann? Ben würde ihr dann nicht mehr sagen können, was sie tun sollte. „Komm mit“, sagte sie. Er hatte Recht, sie wussten nichts voneinander. Sie hatten nicht über persönliches gesprochen. Die beiden Tage, die sie miteinander geritten waren, hatten sie nur über Belangloses geredet. Trotzdem konnte sie den Gedanken nicht ertragen, ohne ihn zu sein. Denn obwohl sie sich nicht kannten, waren sie einander nicht gleichgültig.
    „Nein“, sagte Ben. „Wenn du gehen willst, musst du das alleine tun. Ich kann dich nicht einmal in die Stadt begleiten, denn die Piraten können mein Volk nicht ausstehen. Hey“, sagte er, als sie den Kopf hängen ließ. Du kommst auch alleine zurecht.“
    „Nein, komme ich nicht. Genau das ist ja das Problem“, sagte Maja.
    „Du darfst dich nur nicht aufgeben“, sagte Ben. „Versprich mir, dass du dich nicht aufgibst.“
    Maja seufzte. „Ich verspreche es.“
    „So und jetzt noch einmal mit mehr Überzeugung. Sag es nicht mir, sag es deinem kleinen Bruder.“
    Es war, als würde sie Käse vor sich sehen. Den klugen, mutigen, mitfühlenden Käse. „Ich verspreche es“, sagte sie und dieses Mal steckte sie alle Überzeugung in ihre Stimme, die sie aufbrachte. Und stellte fest, dass sie noch mehr davon hatte, als sie erwartet hatte.

    Der richtige Weg

    Die untergehende Sonne verwandelte das überschwemmte Gebiet vor ihnen in ein Meer aus flüssigem Gold. Der Sonnenuntergang wurde von keinem Wölkchen getrübt und Maja konnte sich nicht daran sattsehen.
    „Siehst du den letzten goldenen Streifen, bevor der Himmel anfängt?“, fragte Ben. „Das ist das Meer. Und der Schatten davor ist Kabaran.“
    Er hatte sich bereiterklärt, sie bis zur Stadt zu begleiten, etwas, wofür ihm Maja mehr als dankbar war. Mit ihm hatte sich ihre Reise komplett verändert. Sie ging nicht mehr stur geradeaus und stopfte sich zwischendurch etwas zu essen rein, um sich dann auf dem trockensten Stückchen Land zum Schlafen zusammenzurollen. Mit Ben-Thala-Mi hatte sie einen geregelten Tagesplan, der ihnen und ihren Pferden Pausen gönnte, sie hatten immer genug zu essen und ein trockenes Zelt, um darin zu schlafen. Ben ließ sie hinein, auch wenn es zu zweit sehr eng wurde. Er brachte ihr auch das Fischen mit einem Speer bei und zeigte ihr, was man aus den Pflanzen der Gegend Essbares herstellen konnte. Er hatte nicht untertrieben: in den Silberwiesen konnte man prinzipiell alles essen. Und schon nach ein paar Tagen fand Maja den Gedanken lächerlich, wie sie je hatte fast verhungern können. Sie öffnete die letzten beiden Dosen Erbsensuppe wider besseres Wissen, denn sie wollte Ben zeigen, wie sie schmeckten. Sie kochten die Suppe über dem Feuer und Ben meinte, sie rieche merkwürdig. Er nannte sie später gewöhnungsbedürftig und viel zu salzig. Aber es schmeckte ihm, seinen gebratenen Fisch darin einzutauchen. Maja fand eher, dass die Silbergrasknollen gewöhnungsbedürftig schmeckten. Und viel zu süß. Da Ben sie in jedes Essen steckte, schmeckte im Grunde genommen alles wie Nachtisch.
    Mit vollerem Magen erlangte Maja ihre Zielstrebigkeit zurück, blöderweise gaben die längeren Pausen ihr auch mehr Zeit und Kraft, um über ihren Bruder nachzudenken. Sie hatte das Gefühl, schon viel zu lange unterwegs zu sein. Wieder zweifelte sie ihren Plan an. Wenn man Käse gar nicht nach Andraya brachte, war alles umsonst. Vielleicht hatte man ihn nicht einmal in diese Welt gebracht. Und weiter die Frage, was Dreizehn überhaupt von ihrem kleinen Bruder wollte. Hatte er vor, ihn auf irgendeine Weise gegen sie zu benutzen? Aber das machte keinen Sinn, denn so leicht wie er Käse hatte entführen lassen, hätte er sie auch einfach töten lassen können. Oder nicht?
    Maja versuchte, ihre eigenen Kräfte abzuschätzen. Sie sah sich immer noch als schwaches, hilfloses Mädchen. Aber sie hatte jetzt schon einiges überlebt. War sie ihm nicht schon ein ganzes Jahr lang erfolgreich entkommen? Tabea hatte ihr das Kämpfen beigebracht, aber das war es nicht, was sie gerettet hatte. Im Ernstfall konnte sie erstaunliche, geradezu unerklärliche Kräfte entwickeln. Die Kräfte der Kamiraen. Maja konnte sie weder kontrollieren noch im Entferntesten abschätzen und besonders zuverlässig waren sie auch nicht, aber es war nicht zu verleugnen, dass sie sie beschützt hatten.
    Andererseits konnte Maja sich nicht vorstellen, dass die dreizehnte Garde in jener Nacht, in der sie Käse entführt hatte, gescheitert wäre, wenn sie stattdessen versucht hätte, Maja zu töten. Oder doch? Maja wusste in dieser Richtung weder ein noch aus und so stopfte sie diese Gedanken in die hinterste Schublade ihres Bewusstseins und versuchte, sie zu vergessen. Zwangsweise kehrten ihre Gedanken daraufhin wieder zu Käse zurück und drehten sich endlos um dieselben Fragen.
    Auch jetzt, während sie über die glühende Ebene schaute, drängten sie sich wieder in ihr Bewusstsein. Um sie fernzuhalten versuchte sie, sich auf Einzelheiten in dem goldgefleckten Wirrwarr zu konzentrieren.
    „Was ist das?“, fragte sie, auf ein dunkles Gebilde zeigend. „Dort drüben. Sieht aus wie ein Gebäude.“
    Ben schüttelte nur den Kopf. „Ich kann nichts sehen.“
    Maja friemelte ihre Satteltaschen auf, zog das Fernglas heraus und hielt es sich vor die Augen. Es dauerte einen Moment, bis sie das Objekt wiedergefunden hatte. „Oh Mann“, sagte sie. Es war eine kleine Festung aus Holz, so etwas wie die befestigen Lager der Römer einst. Und über dem Tor hing die grün-weiße Flagge des dreizehnten Königreichs mit dem schwarzen Halbdrachen darauf. Sie reichte Ben das Fernglas. Aus irgendeinem Grund benutzte er nur eine der Röhren zum Durchschauen, aber es dauerte nicht lange, bis auch er das Lager erblickt hatte.
    „Das ist kein Problem, wir können es weiträumig umgehen“, sagte er. „Aber vielleicht sollten wir heute Nacht kein Feuer machen.“
    Maja sah ihn erstaunt an. „Findest du es nicht schrecklich, dass sie überhaupt da sind?“
    „Wo kommst du denn her, dass du dich darüber so sehr wunderst?“ Und er erklärte ihr, warum ihn die Anwesenheit von Dreizehns Leuten so wenig verwunderte: Sie waren einfach überall. Wie Konfetti auf einer Tischdecke waren ihre Lager über die Silberwiesen verteilt.
    „Warum?“, fragte Maja.
    „Sie leben hier. Sie bilden ihre Soldaten aus und jagen und werfen drohende Blicke in Richtung der Piratenstädte.“
    „Aber warum hier? Warum macht Dreizehn das nicht in seinem eigenen Land?“
    Ben warf ihr einen mitleidigen Blick zu. „Das hier ist sein Land.“
    „Wir sind in Andraya?“
    „Quatsch. Andraya ist nur das Herzstück seines Reiches. Aber er herrscht über viel mehr: Die Silberwiesen, Brieknak, das verlorene Meer, die roten Berge, das Land des ewigen Regens und noch mehr.“
    „Das heißt, eigentlich gehörst du zu Dreizehn?“
    „Nein. Seine Leute und wir leben eher aneinander vorbei. Wir verstecken uns vor ihnen, sie nehmen sich vor uns in Acht ... manchmal endet es blutig ...“ Er pustete sich lässig eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich schlage vor, wir gehen erst mal von dieser Anhöhe runter und umkreisen sie rechts.“
    „Gehören die Piraten auch zu Dreizehn?“, fragte Maja.
    „Nein, die gehören nur sich selbst. Manchmal legen sie in Andraya an und treiben Handel mit Dreizehns Leuten, aber da es meistens darauf hinaus läuft, dass die Piraten ihnen ihre eigenen gestohlene Güter andrehen wollen, sind sie nicht gut aufeinander zu sprechen. Also was ist jetzt? Oder traust du dich nicht weiter?“
    „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mich von denen aufhalten lasse“, sagte Maja, packte Khjavef am Zügel und ging voran.
    Sie kamen nicht weit, bevor es dunkel wurde, also schlugen sie ihr Lager auf und setzten den Weg am nächsten Tag fort.

    Auch wenn ich liebend gerne bei Kandrajimo, Tabea und Niber schreibe, habe ich Maja nicht vergessen und jetzt geht es bei ihr weiter.

    Probleme machen mir im Moment nur Karim und Jinna. Irgendwie kann ich mich in die beiden nicht richtig reinfühlen.


    Ben-Thala-Mi

    Maja ging langsam aber sicher das Essen aus. Zwei Dosen Erbsensuppe hatte sie noch, ansonsten nichts mehr. Und diese zwei Dosen schleppte sie nun schon seit über einem Tag mit sich herum, ohne sie anzurühren. Solche Angst hatte sie vor dem Moment, in dem sie gar nichts mehr zu essen haben würde. Sie war erschöpft und ausgelaugt und jetzt kam auch noch Hunger dazu. Sie musste immer längere Pausen machen und danach war es jedes Mal eine größere Überwindung, aufzustehen und weiter zu gehen. Aber wenigstens regnete es nicht mehr ganz so viel, sodass sie zumindest zeitweise trocken war und ein paar Stunden schlafen konnte.
    Eines Abends erreichte sie einen breiten Bachlauf. Am Grund konnte man Fische vorbei schwimmen sehen. Maja dachte einen Moment nach, dann nahm sie das Schwert aus Taroq und zog es vorsichtig aus der Scheide. Sie watete in die Mitte des Baches und begann nach den Fischen zu schlagen. Sie erwischte keinen einzigen. Wohin sie auch hieb, die Fische schienen immer um Zentimeter an der Klinge vorbeizuflutschen. Das Einzige, das sie aufspießte, war ein Stück Holz. Schließlich warf sie sich frustriert ans Ufer. Erst als der Himmel sich schon rot färbte, stand sie wieder auf und stellte sich in die Mitte des Flusses. Wenn sie nicht bald etwas zu Essen besorgte, würde sie verhungern und die Fische waren die einzige Nahrungsquelle hier. Sie würde es noch einmal probieren – diesmal mit Geduld. Mit erhobenem Schwert stand sie im hüfthohen Wasser und folgte den Fischen mit den Augen. Der Bach war hier sehr klar, aber er spiegelte auch die rote Sonne wieder. Maja konnte nur die Fische sehen, die in ihrem eigenen Schatten schwammen. Dann verschwand der Feuerball hinter dem Horizont und der Himmel wandelte sich zu einem gedämpften Violett. Der Wind blies Maja das Haar aus dem Gesicht und kräuselte das Meer aus Gras um sie herum. Das Rascheln der Halme erfüllte die Luft. Ein besonders großer Fisch kam auf sie zu und sie spannte sich an. Als der Fisch sie fast erreicht hatte, schnellte sie nach vorne und stach zu. Die Spitze des Schwertes bohrte sich durch den Fisch und in den Boden darunter. Maja sah das Blut den Bach entlang fließen. Als sie sicher war, dass der Fisch nicht mehr lebte, packte sie ihn und schleppte sich damit an Land. Dann starrte sie das tote Tier an und fragte sich, wie hungrig sie wohl sein musste, um es roh zu essen, denn hier gab es nichts, womit sie ein Feuer hätte machen können. Sie hob den Fisch an ihr Gesicht und roch daran. Er roch mehr als unappetitlich. Trotzdem nahm sie ihr Messer und begann, ihn zu filetieren. Sie hatte Gendo, Mirno, Karim und Jinna bereits dabei zugesehen, aber die Praxis war dann doch etwas anderes. Am Ende hatte sie nur ein paar kümmerliche Fetzen in denen immer noch Gräten steckten. Der Fisch kam ihr nun noch unappetitlicher vor als zuvor. Mit langen Zähnen biss sie ein winziges Stück ab – und spuckte es sofort wieder aus. Seufzend steckte sie den Fisch in ihre Satteltasche und begann, ihr Lager für die Nacht herzurichten.

    Sie erwachte durch etwas Spitzes, das ihr gegen die Hüfte drückte. Als würde jemand sie mit dem Fuß anstupsen. Als sie die Augen aufmachte sah sie den wolkenverhangenen Himmel und davor eine schlanke Gestalt, die auf sie herab sah. Es war ein Junge. Das Erste, was Maja durch den Kopf schoss war, ob er sich die Haare gefärbt hatte. Sie waren lindgrün, lang und glatt. Er hatte sie im Nacken lose zusammengebunden.
    Im nächsten Moment bekam Maja Panik. Sie wollte nach ihrem Schwert greifen, doch es lag außerhalb ihrer Reichweite. Der grünhaarige Junge war bewaffnet, er trug einen Bogen über der Schulter und ein Messer am Gürtel. Doch seine Hände waren leer und offen und er lächelte.
    „Hallo!“, sagte er auf Paratak.
    Die Sprache brachte Maja einen Moment durcheinander und sie sah ihn verwirrt an, dann sagte sie ebenfalls „Hallo“.
    Der Junge folgte ihrem Blick zu dem Schwert aus Taroq, ging hin und hob es vorsichtig auf. Maja stützte sich auf die Ellbogen und beobachtete ihn argwöhnisch, rührte sich aber nicht von der Stelle.
    „Ich habe dich gestern beim Fischen beobachtet“, sagte der Junge und kniete neben ihren Satteltaschen nieder. „Du warst nicht schlecht. Aber es hat ja ewig gedauert.“
    „Was machst du da?“, fragte Maja. Wollte er sie ausrauben?
    Er zog den Fisch heraus, hielt ihn in die Höhe und roch daran. „Du hast Hunger, oder?“ Er warf ihr den Fisch zu. Maja versuchte, ihn zu fangen, aber er rutschte ihr durch die Finger.
    „Das Gute an des Silberwiesen“, sagte der Junge, „ist, dass darin niemand hungern muss. Man kann hier alles essen, man muss es nur wissen.“ Und mit diesen Worten zog er an einem Büschel Grashalme und riss es aus der Erde. An den langen, silbernen Halmen hing eine Handvoll rot-brauner Knollen, wie winzige Kartoffeln. „Du kommst von weit her, oder?“ Er warf ihr auch die Knollen zu. „Sammel so viele davon, wie du brauchst und wasche sie. Ich mache ein Feuer.
    Der Junge durchsuchte Majas Sachen und nahm auch ihr Messer an sich. Das Schwert hängte er sich über die Schulter. Maja protestierte nicht. Sie war damit beschäftigt, büschelweise Gras aus dem Boden zu reißen und die Knollen von den Wurzeln zu lösen. Konnte man sie wirklich essen? Dann wäre sie beinahe vor der gedeckten Tafel verhungert. Der Junge entfernte sich ein paar Meter und kam mit einem grauen Pferd zurück. Es trug ebenfalls einen Sattel mit Taschen und er nahm verschiedene Dinge heraus: Einen Kessel, Teller aus Holz, eine dünne Schale aus Metall, ein paar rote Brocken, Feuersteine und trockenes Holz. Dann begann er, auf der Schale ein Feuer zu entfachen und ein Gestell für den Kessel zusammenzubauen.
    „Man kann die Knollen auch roh essen, aber gekocht schmecken sie besser“, sagte er, als Maja mit den gewaschenen Knollen zu ihm kam. Er hielt ihr einen Teller hin und sie legte sie darauf. „Such noch mehr“, sagte er. „Und hol Wasser.“
    Zehn Minuten später hockte Maja sich neben ihn und beobachtete, wie er das Feuer schürte. Die Flammen spiegelten sich in seinen hellgrünen Augen. Er hatte ein mädchenhaftes Gesicht und sehr helle Haut mit einem silbrigen Schimmer darauf. Sein Haar reichte ihm bis zu den Hüften. Er trug eine weite, graue Hose, helle Schuhe, die mit Schnüren an seine Knöchel gebunden waren und ein weites, grünes Oberteil. Seine Arme waren bis zu den Schultern mit Armbändern behangen. Er sah Maja nicht an, doch sie sah ihm an, dass er auf's Äußerste gespannt war und auf jede Bewegung von ihr achtete. So wie er dort am Feuer saß, wirkte er schön und geheimnisvoll. Als wäre er kein Mensch, sondern irgendein magisches Wesen.
    „Wer bist du?“, fragte Maja.
    Er sah sie an. „Wie wäre es, wenn du dich erst mal vorstellst. Du bist eindeutig nicht von hier. Kommst du aus Kabaran?“
    „Ich heiße Maja“, sagte sie. „Ich komme von weit weg.“
    „Du siehst jedenfalls nicht aus, als würdest du zu Dreizehn gehören. Seine Leute wissen sich etwas zu essen zu besorgen.“
    Maja senkte den Kopf.
    „Was ist?“, fragte er.
    „Nichts... Es ist mir unangenehm. All die Nahrung und ich weiß nichts davon. Aber ich gehöre wirklich nicht zu Dreizehn.“
    „Und was ist mit den Piraten?“
    „Welche Piraten?“, fragte sie verwirrt.
    Er schaute sie an, als wollte er herausfinden, was in ihrem Kopf vorging. „Nun ja, das war überzeugend“, sagte er. „Woher kommst du?“
    „Von so weit weg, dass ich nicht einmal weiß, wo ich hier bin“, sagte Maja. „Du hast eben etwas von den Silberwiesen gesagt.“ Bei dem Wort klingelte etwas in Majas Hinterkopf. Sie hatte schon mehrmals davon gehört, aber sie hätte auf einer Karte nicht einmal grob darauf zeigen können. Sie wusste nicht einmal, in welchem Teil der Welt sie sich befanden. „Kannst du mir sagen, in welchem Teil der Welt wir sind?“, fragte sie.
    „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“
    „Sind wir vor oder hinter dem Gebirge?“
    „Welches Gebirge?“
    „Sind wir im bewohnten oder unbewohnten Teil dieser Welt?“
    Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich habe schon wieder keine Ahnung, wovon du sprichst. Ich wohne hier und ich kenne eine Menge Leute, die dasselbe tun.“
    „Also im bewohnten“, sagte Maja.
    „Keine Ahnung“, meinte der Junge.
    Maja verlor jetzt die Nerven. „OK, angenommen, du müsstest nach Andraya zeigen, welche Richtung wäre das?“
    Bei diesen Worten war der Junge schneller auf den Beinen als sie zusammenzucken konnte und hielt ihr ihr eigenes Schwert an die Kehle. „Du gehörst also doch zu Dreizehn.“
    Maja starrte ihn an. „Nein“, krächzte sie wütend. „Natürlich nicht.“
    „Was willst du dann in Andraya?“
    „Ich will meinen Bruder retten! Er wurde von Fürst Dreizehn entführt.“
    Der Junge lachte, dann erschlafften seine Mundwinkel plötzlich und er wurde ernst. Er ließ das Schwert sinken. „Du meinst es ernst, oder?“
    Maja nickte.
    „Ich kenne solche wie dich“, sagte er nachdenklich. „Sucher. Verlorene Seelen.“ Er sah ihr in die Augen und in den seinen konnte Maja Mitleid erkennen. „Ja, du siehst aus, wie einer von ihnen. Man kann es an den Augen erkennen. Dieselbe Trauer, dieselbe Hoffnungslosigkeit.“
    „Ich bin nicht hoffnungslos“, sagte Maja. „Ich werde es schaffen, ich werde ihn zurückholen.“
    „Aus welcher Richtung kommst du?“, fragte der Junge. Maja zeigte nach Osten. Daraufhin zeigte der Junge in dieselbe Richtung. Das ist die Richtung, in der Andraya liegt. Aber vorher kommt das Meer.“ Er zeigte nach Norden. „Das ist die Richtung, in die du gehen müsstest, um das Meer zu umgehen. Wie willst du deinen Bruder retten, wenn du nicht einmal die richtige Richtung kennst?“
    Maja wich seinem Blick aus, stattdessen starrte sie in die Flammen, während er den Topf über dem Feuer befestigte und die kleinen Knollen zusammen mit den Fischstückchen hineinwarf. Sagte er die Wahrheit? War sie tatsächlich tagelang in die falsche Richtung gelaufen? Wenn ja, dann hatte er Recht, wie sollte sie ihren Bruder je erreichen? Sie fühlte sich nicht einmal stark genug, den Weg zurück zu schaffen. Aber nur der Gedanke daran, wie Käse in Andraya war, vielleicht in einer der Gefängniszellen saß oder von Dreizehn gequält wurde, war unerträglich. Sie wusste, dass sie auf keinen Fall aufgeben durfte. Eine verlorene Seele – das war sie tatsächlich. Sie versuchte, den Jungen nicht zu beachten, aber trotzdem sah sie aus den Augenwinkeln, wie er ihr immer wieder verwirrte und misstrauische Blicke zuwarf.
    „Ben-Thala-Mi“, sagte er plötzlich.
    „Was?“, fragte Maja durcheinander.
    „Das ist mein Name.“
    „Ben-Wiewarmie?“
    „Ben-Thala-Mi. Aber Ben ist auch in Ordnung.“ Er zögerte einen Moment, dann begann er wieder zu reden: „Wen Dreizehn in seinen Klauen hat, der kommt nicht zurück. Und wenn doch jemand zurück kommt, dann ist er nicht mehr derselbe. Andraya verändert die Leute, bis sie ihren besten Freund nicht wieder erkennen.“
    „Hör zu, ich brauche keine Vorträge von dir“, sagte Maja aufbrausend. „Das ist das einzige, was ich tun kann, außer verrückt zu werden. Und ich lasse mich nicht aufhalten. Ich habe es einmal geschafft und ich werde es wieder schaffen.“
    „Was soll das heißen, du hast es einmal geschafft?“
    „Ich war in Andraya, ich habe dort jemanden befreit.“
    „Das glaube ich nicht“, sagte der Junge.
    „Ich habe dich nicht gebeten, mir zu glauben“, fauchte Maja.
    Daraufhin verfielen sie eine Weile in frostige Stille. Irgendwann verteilte Ben das Essen auf zwei Teller und gab ihr einen davon. Maja ahnte im Hinterkopf, das dieses Essen ihr normalerweise nicht geschmeckt hätte, mit all dem Fisch darin und dem süßlichen Nachgeschmack, aber sie war ziemlich hungrig und nach den Tagen voller kalter Dosensuppe schmeckte die erste warme Mahlzeit in dieser Welt himmlisch.
    „Woher kommst du?“, fragte Ben, als sie aufgegessen hatten.
    „Ist kompliziert“, antwortete Maja pappsatt und ließ sich nach hinten fallen. „Du würdest es nicht verstehen. Warum hast du grüne Haare?“
    „Warum hast du braunes Haar?“
    „Willst du mir erzählen, dass du mit grünen Haaren geboren wurdest?“ Maja dachte an Feodor und Tabea mit ihren schneeweißen Schöpfen und es kam ihr nicht mehr ganz so lächerlich vor.
    „Nein, wurde ich nicht“, sagte Ben. „Aber es gefällt mir so. Warum sagst du, ich würde nicht verstehen, wo du herkommst?“
    „Das ist halt so. Aber warum erzählst du nicht mal von dir? Woher kommst du?“
    „Das ist kompliziert.“
    Maja verdrehte die Augen. „Wohin gehst du? Ich hab dir gesagt, wohin ich gehe, also: Was ist dein Ziel?“
    „Ich habe kein Ziel. Ich gehe, wohin mich der Wind weht. Ich lebe einfach so in den Tag hinein, ich bin ein Wanderer, ein Nomade.“
    „Und der Wind weht dich nicht zufällig in die grobe Richtung von Andraya?“ Sie überlegte, dass er vielleicht keine schlechte Reisebegleitung war. Er wusste auf jeden Fall wie man hier überlebte.
    Ben lachte. „Auf gar keinen Fall.“ Dann wurde er nachdenklich. „Auf dem Landweg schaffst du es niemals bis dort. Aber ich weiß vielleicht eine Möglichkeit. Doch ich muss dich warnen, es ist gefährlich. Wirklich gefährlich.“
    „Was ist es?“
    „Du musst Andraya über den Seeweg erreichen. Hier in der Nähe gibt es eine Stadt namens Kabaran. Eine Piratenstadt. Ich an deiner Stelle würde fragen, ob mich irgendein Schiff Richtung Andraya mitnehmen kann. Wenn dich die Piraten nicht umbringen, helfen sie dir vielleicht. Vorausgesetzt, du kannst ihnen einen vernünftigen Tausch anbieten. Und dieses Schwert von dir könnte dafür gerade genügen. Vielleicht legst du dein Pferd gleich mit drauf, das kannst du auf einem Schiff so oder so nicht mitnehmen.“
    „Richtige Piraten?“, fragte Maja.
    „Jap. Piraten, Seeräuber, mit allem was dazu gehört: Morden, plündern, Dreck und Alkohol. Mein Volk hält sich fern von den Städten an der Küste, aber wir wissen, was dort abläuft. Es ist eigentlich kein Ort, an den sich ein junges Mädchen wagen sollte, aber ich glaube, wenn du wirklich jemals in Andraya ankommen willst, gibt es keine andere Möglichkeit.“
    Maja kannte Piraten nur aus Filmen und Büchern. Selbst das reichte um sich zu denken, besser nicht in ihre Nähe zu kommen. Sie musste aber auch an Jillian denken, die von der Vorstellung einer Piratenstadt vermutlich ganz aus dem Häuschen gewesen wäre. Und außerdem: Was sollte sie sonst tun? Sie war verzweifelt und selbst wenn sie die Reise über Land schaffen konnte, mit dem Schiff zu reisen wäre schneller. Viel schneller.
    „Klingt gefährlich. Aber gut“, sagte sie mit einem zuversichtlichen Lächeln.