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Es war lange her, dass Mutter mich gehalten hatte und irgendwie fühlte es sich seltsam an. Als wäre ich zu klein für ihre Umarmung. Immer wieder krallte sie ihre Hände in meinen Rücken, holte mich näher heran, nur um dann wieder loszulassen. Sie wollte ihre Wange auf meinen Kopf legen, drückte mir aber stattdessen nur das Kinn gegen die Stirn.
Schließlich ließ sie dann von mir ab. Sofort rannte ich die Treppe hinauf in mein Zimmer. Dort angekommen, konnte ich durchs offene Fenster das Brodeln des Brühkessels in der Scheune hören. Schnell schloss ich die Läden, holte mein Vogelbuch unterm Kissen hervor und meinen Kohlestift aus dem Nachttisch.
Ich verlies das Haus durch die Vordertür, um Mutter in der Küche nicht zu begegnen. Auf dem Gehsteig war noch immer eine große Blutlache zu sehen, Grunzl und das Fahrrad waren jedoch verschwunden. Dafür hatten sich jetzt drei Katzen eingefunden, die sich an der verschütteten Milch gütlich taten. Im Hof stand Monika. Mit einem Besen versuchte sie die rote Spur zu beseitigen, die Grunzl bei der Flucht hinterlassen hatte. Ihr Blick war auf den Boden gerichtet und so bemerkte sie mich nicht. Hinter ihr stand das Scheunentor halb offen und ich erhaschte einen kurzen Blick auf Onkel Alois, der Grunzls Überreste im großen dampfenden Kupferkessel hin und her rührte.
Schnell drehte ich mich in die andere Richtung und rauschte zügigen Schrittes davon. Ein paar Meter die Straße runter stand ein dunkelgrüner Kastenwagen, den der Nachbarsjunge Herrmann mit großen Augen bestaunte. Das musste der Wagen sein, mit dem Onkel Alois gekommen war. Ich hatte noch nie ein Automobil aus dieser Nähe gesehen, betrachtete es jedoch nicht sehr ausgiebig, da ich schleunigst Land gewinnen wollte.
Die Sonne war eben erst aufgegangen und die Straße war – bis auf den kleinen Herrmann – noch sehr leer. Ich folgte ihr bis zu der Ecke, an der das Wirtshaus stand, vor dem Jakob geraucht hatte. Von dort ging ich nach links, wo die Schule stand. Ein alter, schlecht verputzter Bau der nur aus drei Räumen bestand. In einem Fenster im oberen Stock brannte Licht. Das musste Herr Arens sein, einer unserer zwei Dorflehrer. Obwohl es Sonntag war, war er schon auf. Vermutlich malte er im Klassenzimmer, wie er es meistens tat.
Eigentlich hatte ich über den Schulhof abkürzen wollen, aber mit Arens im Fenster war mir das zu riskant. Onkel Alois hatte im Großen Krieg sein Bein verloren, Herr Arens den Verstand. Er war verschüttet worden bei einem Bombardement der Franzosen und fast taub, weil einmal eine Granate neben ihm explodiert war. Einer der Splitter hatte ihm das Auge rausgerissen. Jetzt hatte er eines aus Glas, dass er manchmal während des Unterrichts rausnahm und putzte.
Er erzählte unzählige grausige Geschichten aus dem Krieg, dabei brüllte er, wie ein Offizier, wahrscheinlich, weil er so schlecht hören konnte. Immer wenn sein Unterricht langweilig wurde, meldete sich einer der größeren Schüler – meistens Helga, die Mathematik hasste – und fragte: ››Herr Lehrer, haben Sie denn im Krieg auch rechnen müssen?‹‹ oder sowas in der Art und dann war der alte Arens nicht zu bremsen.
Er schwang sein Lineal wie ein Bajonett und kroch unter die Tische, um zu demonstrieren, wie sie damals vor den Bomben in Deckung gegangen waren. Manchmal ließ er ein paar von den Buben im Klassenzimmer auf und ab marschieren, und drillte sie dabei, wie ein General, was die Mädchen natürlich immer zum Kichern brachte.
Ich fand es gar nicht witzig. Ich hätte lieber tausend Aufgaben gerechnet, als vom Krieg zu hören.
Wenn er nicht gerade sein Glasauge polierte oder vom Krieg erzählte, malte Herr Arens. Und Wehe dem, der ihn dabei störte. Im letzten Winter hatten meine Freunde und ich nach Schulschluss eine Schneeballschlacht auf dem Hof veranstaltet, da hatten wir plötzlich seine Generalstimme brüllen gehört.
››Sofort raufkommen! Strafarbeit!‹‹
Daher umging ich also das Schulhaus und kam nach kleinem Umweg zur Kirche. In der geöffneten Holzpforte stand Pfarrer Hettich und unterhielt sich mit der Mesmerin. Erneut beschleunigte ich meine Schritte, um nicht bemerkt zu werden. Pfarrer Hettich hatte eine Angewohnheit, Jungen, die ››nichts zu tun hatten‹‹ mit in die Kirche zu schleppen, wo sie dann den Boden schrubben durften oder etwas Ähnliches.
Hinter der Kirche lagen Wiesen und hinter den Wiesen lag das Wäldchen, eine kleine Insel von Bäumen und Sträuchern inmitten der Felder und Weiden. Dort wimmelte es nur so von allerlei Vögeln, sogar im kalten Oktober. Hier kam ich immer her, mit meinem Büchlein und meinem Stift, auf der Suche nach Exemplaren, die Vater noch nicht eingetragen hatte. Meine Zeichnungen waren nicht halb so gut, wie seine, aber ich wollte das Buch auf keinen Fall unvollendet lassen.
Kurz vorm Rand des Wäldchens wurde ich von einer Stimme aufgehalten.
››Hansi.‹‹ Es war Reinhard Wacker, der ein paar Jahre älter war als ich. Er musste mir gefolgt sein.
››Was ist los?‹‹
››Ist das euer Kastenwagen, bei uns in der Straße?‹‹ Reinhard war der große Bruder vom kleinen Herrmann. Ich nickte.
››Mensch, wem gehört der denn?‹‹, fragte Reinhard.
››Meinem Onkel Alois‹‹, antwortete ich und drehte mich ungeduldig zum Wald um.
››Das ist doch der Bruder von deinem Vater, richtig?‹‹
Ich nickte.
››Kommt der nicht aus Almweiher?‹‹
Ich blickte ihn verwirrt an. ››Da- da bin ich mir nicht sicher …‹‹
››Doch, mein Opa meint, der ist aus Almweiher. Wieso ist der denn bei euch?‹‹
Seine Fragerei fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Was interessierte es denn den, wozu mein Onkel im Ort war?
››Er will mich und meine Schwester mitnehmen‹‹, sagte ich knapp. ››Du, ich muss dann- ‹‹
››Hat er noch Platz?‹‹
››Platz?‹‹
››Im Auto, mein ich‹‹, sagte er und warf einen Blick über die Schulter, zur Kirche. Dort auf der Wiese rannte der kleine Herrmann umher und rupfte Grasbüschel aus.
Meine Hände kneteten meine Oberschenkel und ich kaute meine Unterlippe, während ich nach einer Antwort suchte. Wieso dachte der denn, ich könnte entscheiden, wer bei uns mitfährt und wer nicht? Der Wagen gehörte doch schließlich Onkel Alois und nicht mir. Und ich hatte im Moment wenig Lust, ihn um irgendetwas zu bitten.
››Was wollt ihr denn in Almweiher?‹‹, fragte ich schließlich.
››Gar nichts. Opa will uns nur von der Front weghaben. Ich find es ja selber blöd. Von mir aus können die Franzosen gern kommen, aber wegen dem Herrmann macht Opa sich Sorgen. Mein Opa sagt, die Franzosen haben Neger, die für sie kämpfen. Franzosen, meint er, haben Anstand, aber die Neger machen vor den kleinen Buben nicht halt. Kannst du deinen Onkel nicht mal fragen, Hansi? Er müsst uns nur bis Weitzheim mitnehmen, da wohnt eine Tante von uns. Ist ganz in der Nähe. Wegen mir müssten wir ja nicht gehen, aber der Herrmann … ‹‹
››Ich frag mal‹‹, unterbrach ich ihn und bereute es sofort. Leider brachte auch das ihn nicht zum Schweigen und er redete weiter darüber, wie entschlossen er doch wäre, im Dorf zu warten, bis die Neger kämen, um sie zu bekämpfen, aber der Herrmann, der Herrmann … So ging das weiter, bis die schrille Hexenstimme der Mesnerin zu uns rüberhallte: ››He, habt ihr Burschen am frühen Morgen nichts zu treiben? Gehört der zu euch?‹‹ Sie hielt den kleinen Herrmann am Kragen gepackt. Auf ihrem Sonntagskleid prangten zwei kleine braune Handabdrücke.
Das sah nach Orgelputzen aus.