Beiträge von Unor im Thema „Der Grünschnabel“

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    Es war lange her, dass Mutter mich gehalten hatte und irgendwie fühlte es sich seltsam an. Als wäre ich zu klein für ihre Umarmung. Immer wieder krallte sie ihre Hände in meinen Rücken, holte mich näher heran, nur um dann wieder loszulassen. Sie wollte ihre Wange auf meinen Kopf legen, drückte mir aber stattdessen nur das Kinn gegen die Stirn.
    Schließlich ließ sie dann von mir ab. Sofort rannte ich die Treppe hinauf in mein Zimmer. Dort angekommen, konnte ich durchs offene Fenster das Brodeln des Brühkessels in der Scheune hören. Schnell schloss ich die Läden, holte mein Vogelbuch unterm Kissen hervor und meinen Kohlestift aus dem Nachttisch.
    Ich verlies das Haus durch die Vordertür, um Mutter in der Küche nicht zu begegnen. Auf dem Gehsteig war noch immer eine große Blutlache zu sehen, Grunzl und das Fahrrad waren jedoch verschwunden. Dafür hatten sich jetzt drei Katzen eingefunden, die sich an der verschütteten Milch gütlich taten. Im Hof stand Monika. Mit einem Besen versuchte sie die rote Spur zu beseitigen, die Grunzl bei der Flucht hinterlassen hatte. Ihr Blick war auf den Boden gerichtet und so bemerkte sie mich nicht. Hinter ihr stand das Scheunentor halb offen und ich erhaschte einen kurzen Blick auf Onkel Alois, der Grunzls Überreste im großen dampfenden Kupferkessel hin und her rührte.
    Schnell drehte ich mich in die andere Richtung und rauschte zügigen Schrittes davon. Ein paar Meter die Straße runter stand ein dunkelgrüner Kastenwagen, den der Nachbarsjunge Herrmann mit großen Augen bestaunte. Das musste der Wagen sein, mit dem Onkel Alois gekommen war. Ich hatte noch nie ein Automobil aus dieser Nähe gesehen, betrachtete es jedoch nicht sehr ausgiebig, da ich schleunigst Land gewinnen wollte.
    Die Sonne war eben erst aufgegangen und die Straße war – bis auf den kleinen Herrmann – noch sehr leer. Ich folgte ihr bis zu der Ecke, an der das Wirtshaus stand, vor dem Jakob geraucht hatte. Von dort ging ich nach links, wo die Schule stand. Ein alter, schlecht verputzter Bau der nur aus drei Räumen bestand. In einem Fenster im oberen Stock brannte Licht. Das musste Herr Arens sein, einer unserer zwei Dorflehrer. Obwohl es Sonntag war, war er schon auf. Vermutlich malte er im Klassenzimmer, wie er es meistens tat.
    Eigentlich hatte ich über den Schulhof abkürzen wollen, aber mit Arens im Fenster war mir das zu riskant. Onkel Alois hatte im Großen Krieg sein Bein verloren, Herr Arens den Verstand. Er war verschüttet worden bei einem Bombardement der Franzosen und fast taub, weil einmal eine Granate neben ihm explodiert war. Einer der Splitter hatte ihm das Auge rausgerissen. Jetzt hatte er eines aus Glas, dass er manchmal während des Unterrichts rausnahm und putzte.
    Er erzählte unzählige grausige Geschichten aus dem Krieg, dabei brüllte er, wie ein Offizier, wahrscheinlich, weil er so schlecht hören konnte. Immer wenn sein Unterricht langweilig wurde, meldete sich einer der größeren Schüler – meistens Helga, die Mathematik hasste – und fragte: ››Herr Lehrer, haben Sie denn im Krieg auch rechnen müssen?‹‹ oder sowas in der Art und dann war der alte Arens nicht zu bremsen.
    Er schwang sein Lineal wie ein Bajonett und kroch unter die Tische, um zu demonstrieren, wie sie damals vor den Bomben in Deckung gegangen waren. Manchmal ließ er ein paar von den Buben im Klassenzimmer auf und ab marschieren, und drillte sie dabei, wie ein General, was die Mädchen natürlich immer zum Kichern brachte.
    Ich fand es gar nicht witzig. Ich hätte lieber tausend Aufgaben gerechnet, als vom Krieg zu hören.
    Wenn er nicht gerade sein Glasauge polierte oder vom Krieg erzählte, malte Herr Arens. Und Wehe dem, der ihn dabei störte. Im letzten Winter hatten meine Freunde und ich nach Schulschluss eine Schneeballschlacht auf dem Hof veranstaltet, da hatten wir plötzlich seine Generalstimme brüllen gehört.
    ››Sofort raufkommen! Strafarbeit!‹‹
    Daher umging ich also das Schulhaus und kam nach kleinem Umweg zur Kirche. In der geöffneten Holzpforte stand Pfarrer Hettich und unterhielt sich mit der Mesmerin. Erneut beschleunigte ich meine Schritte, um nicht bemerkt zu werden. Pfarrer Hettich hatte eine Angewohnheit, Jungen, die ››nichts zu tun hatten‹‹ mit in die Kirche zu schleppen, wo sie dann den Boden schrubben durften oder etwas Ähnliches.
    Hinter der Kirche lagen Wiesen und hinter den Wiesen lag das Wäldchen, eine kleine Insel von Bäumen und Sträuchern inmitten der Felder und Weiden. Dort wimmelte es nur so von allerlei Vögeln, sogar im kalten Oktober. Hier kam ich immer her, mit meinem Büchlein und meinem Stift, auf der Suche nach Exemplaren, die Vater noch nicht eingetragen hatte. Meine Zeichnungen waren nicht halb so gut, wie seine, aber ich wollte das Buch auf keinen Fall unvollendet lassen.
    Kurz vorm Rand des Wäldchens wurde ich von einer Stimme aufgehalten.
    ››Hansi.‹‹ Es war Reinhard Wacker, der ein paar Jahre älter war als ich. Er musste mir gefolgt sein.
    ››Was ist los?‹‹
    ››Ist das euer Kastenwagen, bei uns in der Straße?‹‹ Reinhard war der große Bruder vom kleinen Herrmann. Ich nickte.
    ››Mensch, wem gehört der denn?‹‹, fragte Reinhard.
    ››Meinem Onkel Alois‹‹, antwortete ich und drehte mich ungeduldig zum Wald um.
    ››Das ist doch der Bruder von deinem Vater, richtig?‹‹
    Ich nickte.
    ››Kommt der nicht aus Almweiher?‹‹
    Ich blickte ihn verwirrt an. ››Da- da bin ich mir nicht sicher …‹‹
    ››Doch, mein Opa meint, der ist aus Almweiher. Wieso ist der denn bei euch?‹‹
    Seine Fragerei fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Was interessierte es denn den, wozu mein Onkel im Ort war?
    ››Er will mich und meine Schwester mitnehmen‹‹, sagte ich knapp. ››Du, ich muss dann- ‹‹
    ››Hat er noch Platz?‹‹
    ››Platz?‹‹
    ››Im Auto, mein ich‹‹, sagte er und warf einen Blick über die Schulter, zur Kirche. Dort auf der Wiese rannte der kleine Herrmann umher und rupfte Grasbüschel aus.
    Meine Hände kneteten meine Oberschenkel und ich kaute meine Unterlippe, während ich nach einer Antwort suchte. Wieso dachte der denn, ich könnte entscheiden, wer bei uns mitfährt und wer nicht? Der Wagen gehörte doch schließlich Onkel Alois und nicht mir. Und ich hatte im Moment wenig Lust, ihn um irgendetwas zu bitten.
    ››Was wollt ihr denn in Almweiher?‹‹, fragte ich schließlich.
    ››Gar nichts. Opa will uns nur von der Front weghaben. Ich find es ja selber blöd. Von mir aus können die Franzosen gern kommen, aber wegen dem Herrmann macht Opa sich Sorgen. Mein Opa sagt, die Franzosen haben Neger, die für sie kämpfen. Franzosen, meint er, haben Anstand, aber die Neger machen vor den kleinen Buben nicht halt. Kannst du deinen Onkel nicht mal fragen, Hansi? Er müsst uns nur bis Weitzheim mitnehmen, da wohnt eine Tante von uns. Ist ganz in der Nähe. Wegen mir müssten wir ja nicht gehen, aber der Herrmann … ‹‹
    ››Ich frag mal‹‹, unterbrach ich ihn und bereute es sofort. Leider brachte auch das ihn nicht zum Schweigen und er redete weiter darüber, wie entschlossen er doch wäre, im Dorf zu warten, bis die Neger kämen, um sie zu bekämpfen, aber der Herrmann, der Herrmann … So ging das weiter, bis die schrille Hexenstimme der Mesnerin zu uns rüberhallte: ››He, habt ihr Burschen am frühen Morgen nichts zu treiben? Gehört der zu euch?‹‹ Sie hielt den kleinen Herrmann am Kragen gepackt. Auf ihrem Sonntagskleid prangten zwei kleine braune Handabdrücke.
    Das sah nach Orgelputzen aus.

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    Meine Matratze war schweißnass. Für einen schrecklichen Augenblick fürchtete ich, noch immer im Glibber der zertretenen Eier zu liegen, aber dieser Irrsinn verflog schnell. Was nicht verflog, war mein Herzklopfen, denn nur Sekunden nachdem ich mich im Bett aufgerichtet hatte, ertönte der schreckliche Schrei erneut. Mutter, war mein erster Gedanke. Monika, mein Zweiter.
    Nein, dies waren keine Geräusche, die ein Mensch von sich geben konnte. Sie klangen eher nach dem Kreischen eines schlecht geölten Tores - außerdem schienen sie von draußen zu kommen. Ich riss die Decke weg und sprang auf. Das Fenster über Jakobs Bett blickte auf den Hof hinunter, daher kraxelte ich auf die Matratze und schwang die Läden auf.
    Draußen lag die Welt noch im Halbdunkel. Aus unserer Scheune drangen gelbes Licht und eine tiefe Stimme, die ich sofort Onkel Alois zuordnete. Er stieß üble Flüche aus, die aber fast von panischem Kreischen und Quieken übertönt wurden.
    Quieken.
    Mein Magen schrumpfte zu einer kleinen Metallkugel zusammen, als die schreckliche Vorahnung mich befiel. In Windeseile schoss ich aus meinem Zimmer, die Treppe hinunter zur Küche, von wo aus man zum Hof kam.
    Im Flur stieß ich mit Mutter zusammen, die verwirrt aus dem Schlafzimmer getorkelt kam.
    ››Hansi, was ist hier los?‹‹ Sie versuchte, mich am Hemd zu packen.
    ››Grunzl!‹‹, keuchte ich zur Antwort.
    Eben griff ich nach der Hintertür, da schwang diese mit solcher Wucht auf, dass sie mich um ein Haar erschlagen hätte. Ein rosaroter Blitz schoss herein und riss mich, ehe ich irgendwie reagieren konnte, von den Füßen.
    ››Halt sie fest!‹‹, tönte es von draußen. Plötzlich war die Küche erfüllt von heißerem Quieken und Fipsen, gepaart mit Mutters panischen Schreien. Gerade rappelte ich mich auf, da kam Onkel Alois hereingehumpelt, ein blutiges Beil in den Händen. Seine fleischige Pranke packte meine Schulter und stieß mich gegen den Kachelofen.
    Ich sah, wie er seine Axt erhob und schwang, dann aber das Gleichgewicht verlor und stürzte. Grunzl hatte sich unter den Küchentisch geflüchtet. In den Augen der Sau stand blankes Entsetzen. Aus einer klaffenden Wunde in ihrer Schulter strömte Blut, verteile sich über die Küchenfliesen. Onkel Alois war darin ausgerutscht und als ich vorsprang, um Grunzl zu schnappen, zog es auch mir die Füße weg. Sie sah ihre Chance und preschte vorwärts. Mit einem Satz sprang sie über mich, wurde jedoch grob zurückgerissen, ehe sie die Türschwelle erreichte. Ein abgerissener Strick baumelte von ihrem Hals, dessen Ende Alois gerade noch erwischte. Aber Grunzl gab nicht auf und schleppte seinen massigen Körper hinter sich her, bis ihm das Seil wieder entglitt.
    Auf allen vieren kroch er ihr hinterher. Er war zur Hälfte die Tür hinaus, als ich mit Anlauf über ihn hinwegsprang.
    ››Schnapp sie dir, Hansi‹‹, hörte ich ihn hinter mir keuchen, als ich über den Hof preschte. Kurz vor der Scheune machte Grunzl eine scharfe Rechtswende in Richtung Straße. Noch immer strömte das Blut aus ihrer Schulter. Ich beschleunigte meinen Lauf, während sie immer langsamer wurde und schließlich nur noch torkelte.
    Ich war dem armen Tier schon ganz nah, bereit, mich auf den Bauch zu werfen, um seine Hinterbeine zu packen, da trotte es auf den Gehweg und wurde prompt von einem Rad erfasst. Es war die alte Frau Schott, die da über ihren Lenker in den Schlamm der Straße flog – ich erkannte es an ihrem hysterischen Schrei. Eine große Flasche Milch wurde aus dem Fahrradkorb katapultiert und zerbarst auf dem Pflaster.
    Grunzl lag auf der Seite, halb vom Rad bedeckt. Mit jedem Heben und Senken ihres rosa Bäuchleins sprudelte das Blut auf die Straße. Ich fiel neben ihr auf die Knie. Die klaren, unschuldigen Augen waren nun fahl und leblos. Das Blut pulste noch zwei, dreimal hervor, ehe es zu einem zähen kleinen Rinnsal wurde.
    Jemand packte mich so fest am Ohr, dass ich dachte, es würde abreißen.
    ››Willst du mich umbringen, Bursche?‹‹ Es war die Alte Schott. Für eine längere Schimpftirade war jedoch keine Zeit, denn schon dröhnte es von hinten: ››Hast du sie erwischt, Hans?‹‹
    Frau Schott ließ mich los und wandte sich zu Onkel Alois, der schwer atmend aus dem Hof gehinkt kam.
    ››Mich hat er erwischt! Und das nicht zu knapp.‹‹ Sie zeigte auf eine Platzwunde an ihrer Stirn. Onkel schenkte ihr kaum Beachtung. Sein Blick ruhte auf Grunzl.
    ››Haben’se mir die Sau überfahren?‹‹, grummelte er und ging neben dem Kadaver auf die Knie. Frau Schotts Mund öffnete sich langsam zu einem schockierten O.
    ››Jetzt hören Sie mal!‹‹, keifte sie. ››Ihr Junge hätte mich fast ums Leben gebracht!‹‹
    ››Wer nicht richtig sieht, sollte vielleicht nicht Radfahren‹‹, murmelte Onkel in seinen buschigen Schnurrbart.
    Den Rest bekam ich nicht mit. Zunächst langsam, dann immer schnelleren Schrittes entfernte ich mich vom blutigen Gehsteig, bis ich wieder in der Küche war, wo Mutter am Boden kniete und das rote Zeug von den Fließen schrubbte.
    Ich machte einen kleinen Bogen um sie und ließ mich auf die Eckbank fallen. Mein Atem ging rasend schnell.
    ››Dieser Grobian‹‹, zischte Mutter, während sie ihre Bürste vor und zurück bewegte. ››Was ist denn passiert?‹‹
    ››Jakob hat gesagt, sie ist zu jung!‹‹ Der gedrückte, kraftlose Klang meiner Stimme erschrak mich.
    ››Was?‹‹
    ››Er hat gesagt, Grunzl ist zu jung zum Schlachten!‹‹ Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Augen. Mutter sollte nicht sehen, dass ich weinte.
    „Um Himmels willen!‹‹ Das war Monika. Sie stand in der Tür, die Augen hinter ihren runden Brillengläsern weit aufgerissen.
    ››Dein Onkel …‹‹, seufzte Mutter, noch immer wischend. Das Blut wollte sich einfach nicht lösen. Monika umging die rote Pfütze großzügig und setzte sich neben mich auf die Bank. Schnell richtete ich mich auf und nahm einen tiefen Atemzug.
    ››Nicht weinen, Hansi‹‹, sagte sie tröstlich und legte ihren Arm um meine Schultern. Ich wand mich unangenehm in ihrem Griff, doch sie wollte nicht loslassen.
    ››Jakob hat gesagt … sie ist zu jung‹‹, stammelte ich noch einmal. Es kam mir alles sehr ungerecht vor.
    Irgendwann trat Onkel Alois herein. In seiner Hand baumelte noch immer das Beil.
    ››Was ist denn hier los?‹‹, fragte er mit gerunzelter Stirn. ››Du heulst doch nicht wegen der Sau?‹‹
    ››Tut er nicht‹‹, warf Monika ein, ehe ich etwas erwidern konnte. ››Er hat sich nur gestoßen, als er ihr hinterhergerannt ist.‹‹
    Ein verächtliches Grunzen war die Antwort. ››Dann soll er sich gefälligst zusammenreißen.‹‹
    Ich konnte ihm nicht in die Augen schauen. Stattdessen sank ich immer tiefer in Monikas Umarmung. Da packte plötzlich seine Riesenhand meinen Oberarm.
    ››Reiß dich zusammen, hab ich gesagt! Hilf mir, das Viech zu verladen!‹‹ Sofort riss ich mich los. Auf keinen Fall könnte ich Grunzls toten Körper anfassen. Ehe Onkel Alois ein weiteres Mal zupacken konnte, schoss Monika in die Höhe. Sie stand nun zwischen uns.
    ››Ich helfe dir‹‹, sagte sie.
    ››Pah‹‹, schnaubte Onkel zur Antwort. ››Der Bursche muss es lernen, früher oder später.‹‹
    ››Wenn er nicht will, will er nicht‹‹, schaltete Mutter sich ein. Sie redete mit Alois wie mit einem bockigen Kind.
    ››Halt dich da raus, Traudl!‹‹, blaffte er, den Blick auf mich gerichtet. ››Na schön, wenn du gern dein Schwesterlein die harte Arbeit für dich machen lässt …‹‹ Mit einer Kopfbewegung deutete er Monika, nach draußen zu gehen. ››Aus dir mach ich noch einen Mann, das kannst du mir glauben.‹‹ Damit verschwand auch er kopfschüttelnd durch die Tür.
    Nun fing ich wirklich an zu weinen. So heftig, dass Mutter sich besorgt neben mich setzte und meinen Kopf an ihre Brust drückte.
    Ich konnte es nicht erwarten, zu meinen Großeltern zu kommen.

    Danke nochmal euch allen^^ Leider hat die Deutsche Bahn mir heute meinen Schreibplan zerhauen, daher kann das nächste Kapitel einen Ticken länger dauern.

    @Chaos Rising Mach lieber Notizen! In drei Wochen ist Prüfung und da will ich volle Charakterisierungen aller Figuren und ne Szeneninterpretation!

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    Onkel Alois erschien so plötzlich in meinem Zimmer, wie er am Morgen an unserer Haustür erschienen war. Sein Glatzkopf war puterrot und glänzte von Schweiß. Er atmete schwer. Mein Zimmer war im ersten Stock, am Ende einer schmalen Treppe, die für sein Holzbein eine Herausforderung gewesen sein musste. Sein echtes Bein hatte er im Großen Krieg verloren.
    ››Pack deine Sachen, heut noch!‹‹, befahl er, den wurstigen Zeigefinger auf mich gerichtet. ››Ich will morgen nach dem Essen los, verstanden? Kein Trödeln, keine Widersprüche, sonst setzt’s was!‹‹
    Noch bevor ich auch nur nicken konnte, knallte er die Tür wieder zu. Sekunden später wurden dieselben Anweisungen im Nebenzimmer für meine Schwester wiederholt.
    Ich fing sofort an zu packen. Im Gegensatz zu Monika, die immer noch leise weinte, freute ich mich auf den Besuch bei meinen Großeltern, auch wenn ich nicht wirklich sagen konnte, wieso. Sie waren die Eltern meines Vaters und da er tot war, kamen sie nur selten zu Besuch. Eigentlich kannte ich sie kaum.
    Während ich in meiner Kleidertruhe nach passenden Anziehsachen wühlte, versuchte ich, mir ein Bild ihres Hauses ins Gedächtnis zu rufen. Mit vier Jahren war ich das letzte Mal dort gewesen, es musste dasselbe Jahr gewesen sein, in dem Vater gestorben war. Ich wusste noch, dass ich während der Hinfahrt neben ihm auf dem Kutschbock gesessen hatte, an das Haus hingegen erinnerte ich mich nicht.
    Onkel Alois hatte mit keinem Wort erwähnt, wie lange wir mit ihm gehen würden, also holte ich den großen Koffer unterm Bett hervor und stopfte einfach so viel hinein, wie ich konnte. Es war ein sehr kalter Oktober, daher wollte ich hauptsächlich Pullover und Wollhosen mitnehmen. Mutter hatte in den vergangenen Wochen viel gestrickt, aber die Sachen waren mir alle zu groß. Vermutlich waren sie für Jakob gedacht, damit er es bei seiner Heimkehr warm haben würde. Ich hütete mich, sie anzurühren. Am Boden der Kiste lagen noch einige meiner alten Pullover und dickeren Hemden begraben, die so zerknittert waren, dass ich mir gar nicht die Mühe machte, sie zu falten, bevor ich sie in den Koffer pfefferte.
    Zuletzt legte ich mein zweites Paar Holzschuhe oben auf den Kleiderhaufen und drückte den Koffer zu. Er ließ sich gerade so schließen.
    ››Hast du an warme Schuhe gedacht?‹‹
    Mein Herz machte einen kleinen Satz. Für einen kurzen Moment dachte ich tatsächlich, eine Fremde habe sich in mein Zimmer geschlichen, aber als ich herumfuhr, stand da nur Mutter. Es war lange her, dass ich ihre Stimme gehört hatte.
    Ich nickte.
    Sie glitt ins Zimmer, wie ein Gespenst –in ihrem weißen Nachthemd sah sie auch wie eines aus - ging an mir vorbei zur Kleidertruhe und warf einen Blick hinein.
    ››Willst du nicht die warmen Lederschuhe mitnehmen, Hansi?‹‹
    ››Sie gehören Jakob‹‹, antwortete ich. Mutter griff dennoch hinein und holte die Schuhe hervor.
    ››Eigentlich gehören sie deinem Vater‹‹, sagte sie und setzte sich aufs Bett. ››Er hatte so große Füße, Hansi. Das kannst du dir nicht vorstellen.‹‹ Ihrem Rachen entfleuchte ein seltsames Geräusch, das Lachen wie Schluchzen hätte sein können.
    ››Jakob würde … wird nichts dagegen haben, dass du sie ausleihst. Er sorgt sich immer um dich. Bestimmt will er nicht, dass deine Füße abfrieren.‹‹
    Die Schuhe wirkten in ihren kleinen Händen lächerlich übergroß und so würden sie vermutlich auch an meinen winzigen Füßen aussehen.
    ››Ich will sie nicht.‹‹
    Sie gab keine Antwort. Tränen kullerten ihre Wangen hinunter. Ich stand wie angewurzelt in der Mitte des Raumes. Schamesröte färbte mein Gesicht und in meiner Brust spannte sich etwas. Es gibt nichts schrecklicheres, als die eigene Mutter weinen zu sehen und meine Mutter weinte ständig. Meistens wusste man gar nicht, wo es herkam.
    ››Ich muss jetzt ins Bett‹‹, murmelte ich schließlich, als ich es nicht mehr aushielt, sie anzustarren. ››Onkel Alois meint, er will morgen …‹‹
    ››Ich vermisse ihn so sehr‹‹, unterbrach sie mich. ››An Abenden wie diesem, vermisse ich ihn am meisten.‹‹
    Gerade wollte ich fragen, von wem sie sprach – Vater oder Jakob – da schaute sie mich an. ››Vermisst du ihn denn gar nicht, Hansi?‹‹
    ››Doch‹‹, log ich.
    Langsam erhob sie sich und ging zur Tür. Sie warf einen letzten Blick auf Jakobs Bett und flüsterte: ››Gute Nacht.‹‹
    ››Schlaf gut‹‹, antwortete ich, aber da war sie schon durch die Tür verschwunden. Die Schuhe hatte sie mitgenommen.
    Wenig später hörte ich sie nebenan mit Monika flüstern. Meine Schwester schien sich nicht beruhigen zu wollen. Ich verstand ihr Benehmen nicht. Sicher, Onkel Alois war ein schroffer Kerl, aber sie musste sich doch wenigstens ein bisschen freuen, mal aus dem Haus zu kommen. Sie wimmerte noch, a
    ls ich mein Vogelbuch unters Kopfkissen schob und mich zum Schlafen hinlegte.

    Ich träumte von einem Garten voller Vögel. In meinen Händen hielt ich einen Eimer Getreide, der rege umschwirrt wurde. Ich versuchte, aus der Federwolke zu entkommen, aber mein Gang war wackelig und unsicher. Als ich hinunter zu meinen Füßen blickte, sah ich, dass ich Jakobs riesige Lederschuhe trug. Während ich mit den Armen ruderte, um die gierigen Vögel vom Futter fernzuhalten, wollte ich die Schuhe von den Füßen treten, aber es half nichts. Sie waren fest verschnürt und so taumelte ich nur umher, wie ein Betrunkener.
    Nun begann der Schwarm, in meine Finger und mein Gesicht zu picken, also schmiss ich den Eimer fort, doch selbst dann wollten die Vögel nicht von mir ablassen. Und als ich nach hinten taumelte und auf dem Hosenboden landete, begriff ich auch, wieso. Das Gras war durchtränkt von einer seltsamen warmen Masse und unter meinen Händen knirschte es, als ich versuchte, mich abzustützen.
    Ich hatte all ihre Eier mit meinen Riesenschuhen zertreten. Schalenstücke lagen überall verstreut, dazwischen die zerquetschen Überreste der unschuldigen Jungen. Ich war gerade dabei, ihre toten Körper aufzusammeln, als ich von einem markerschütternden Schrei aus dem Schlaf gerissen wurde.

    @Xarrot Vielen Dank für die netten Worte^^ Freut mich wirklich, dass es dir gefällt.

    @Kyelia Auch die vielen Dank und freut mich, dass es dir gefällt. Ja, du hast recht, es ist die Geschichte, von der ich schon einmal erzählt habe und dass dir mein Schreibstil gefällt, macht mich froh. Ich war nämlich unsicher, ob dieses ausschweifende Backstory-Erzählen gleich zu beginnn der Geschichte nicht vielleicht etwas abschreckend wirkt.

    Kleine Anmerkung noch für euch beide: Ich hab geschrieben, dass die Mutter nach dem Tod von Jakob für drei Personen deckt, was bei zwei Kindern ja eigentlich sehr gesundes Verhalten ist xD Ich meinte natürlich vier. Nur das es keine Missverständnisse gibt

    LG, Unor :)

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    1940 war er eingezogen worden. Mutter beschwor ihn, regelmäßig zu schreiben und das tat er. Wir bekamen dutzende Briefe und sie las jeden einzelnen wieder und wieder, bis der nächste kam. Sie muss sie alle auswendig gekonnt haben. Aber kein Schreiben las sie öfter, als jenes, in dem er ankündigte, er würde im Juli 1943 für eine Weile nachhause kommen. Ich erinnere mich genau am den Tag seiner Rückkehr.
    Mutter schlachtete einen Hasen und es duftete im ganzen Haus köstlich nach Braten. Als der Kirchturm zwölf Uhr mittags schlug, schickte sie meine Schwester und mich zur alten Holzbrücke am anderen Ende des Dorfes, um ihn zu empfangen. Wir gingen händchenhaltend die Hauptstraße entlang und da war er plötzlich. Er stand mit dem alten Wirt vorm Gasthaus am Ortseingang und rauchte. Ich hatte ihn vorher nie rauchen gesehen und auch sonst wirkte er sehr verändert. Seine lockigen blonden Haare waren zu einem kurzen Igelschnitt geschoren, seine sanften Züge waren hart geworden, ein Bartschatten lag auf seinem Gesicht. Monika erkannte ihn dennoch sofort.
    Sie zerrte mich hinter sich her, sprang ihm in die Arme und bestand darauf, ihn augenblicklich mit heim zu nehmen. So packten wir beide je einen Ärmel und zogen ihn mit uns. Monika bombardierte ihn mit Fragen, ich hingegen schwieg den ganzen Weg.
    Er bekam seinen alten Platz am Kopfende des Esstisches, wo vor ihm Vater gesessen hatte. Er bekam den besten Teil des Hasen – den Kopf - und ein Glas von dem Wein, den Mutter vor Monaten schon für eben diesen Anlass aufgetrieben hatte. Es war das erste Festessen seit Jahren und ich schlug kräftig zu, ohne den Gesprächen am Tisch Aufmerksamkeit zu schenken. Mutter und Monika redeten die meiste Zeit. Jakobs Blick ruhte auf seinem Teller. Gelegentlich nickte er oder murmelte eine Antwort, während er mit dem Messer das Fleisch vom Hasenkopf löste.
    Die Tage seines Aufenthalts verbrachte er in Vaters Werkstatt, die Nächte in der Kneipe. Er schlachtete für den Winter, erneuerte die Scharniere des Kuhstalls, brachte unseren Volksempfänger wieder zum Laufen, flickte den Wasserhahn in der Küche und so weiter. Ich bekam ihn kaum zu Gesicht. Wenn Unterricht stattfinden konnte, ging ich in die Volksschule, wenn nicht, verbrachte ich die Tage im Wald beim Vögel beobachten. Wenn ich heimkam, war Jakob meist schon ausgegangen oder werkelte noch immer irgendwo am Haus.
    Unser Zimmer musste ich auch nicht mit ihm teilen. Mutter ließ ihn im großen Ehebett schlafen, während sie bei meiner Schwester Quartier fand. Sein Bett, dass seit drei Jahren leer neben dem meinigen stand, blieb also leer. Bis auf die letzte Nacht, die er bei uns verbrachte.
    Ein lautes Poltern holte mich damals aus seichtem Schlaf und ich zog mir instinktiv schützend die Decke vors Gesicht. Jakob stand in der Tür. Seine Haare, die etwas nachgewachsen waren, klebten an seiner Stirn, seine Augen waren ausdruckslos und glasig. Er torkelte zu seinem Bett und sackte plump in die quiekende Matratze. So saß er eine ganze Weile, die Arme auf den Schenkeln, den Kopf zwischen den Knien. Durch die Wand hindurch hörte ich das leise Schluchzen von Mutter und Monika. Es musste etwas geschehen sein, aber ich wagte nicht, zu fragen.
    ››Ich kenne dich nicht‹‹, murmelte Jakob plötzlich, den Blick noch immer zu Boden gerichtet. Darauf wollte mir keine Antwort einfallen – es war ja gar keine Frage gewesen – so schaute ich stattdessen zur halboffenen Tür, in der Hoffnung, Mutter käme herein und würde ihn mitnehmen. Aber sie schluchzte noch immer nebenan.
    ››Du bist mein Bruder, aber ich kenne dich nicht.‹‹ Nun sah er auf. Ein wilder Glanz hatte seine Augen erfasst. Sie waren direkt auf mich gerichtet. ››Und du kennst mich nicht.‹‹
    Ich hätte sagen sollen: Natürlich kenne ich dich! Aber das wäre eine Lüge gewesen. Mit sieben Jahren hatte ich ihn zuletzt gesehen und selbst damals war er mir praktisch ein Unbekannter gewesen.
    ››Ich habe mir immer Mühe gegeben‹‹ Sein Gesicht wurde zur Grimasse. Tränen krochen seine stoppeligen Wangen hinab. ››Ich hab’s versucht.‹‹
    Sein Kopf verschwand wieder zwischen den Knien und sein Körper erbebte unter lautem Schluchzen. Furchtbar lallend stammelte er immer wieder: ››Es tut mir so leid.‹‹
    Langsam kroch ich unter der Decke hervor und stand auf. Von oben auf ihn herabzublicken, während er jammerte, hielt ich nicht aus, daher setzte ich mich rasch neben ihn.
    ››Dir muss nichts leidtun‹‹, versicherte ich, ohne zu wissen, wovon er sprach und legte meine Hand auf seine Schulter. Sein Hemd war schweißnass.
    ››Du kennst mich nicht, oh Gott‹‹, quäkte er und holte keuchend Luft. Nur langsam erstarb sein Heulen zu einem kläglichen Wimmern.
    ››Natürlich kenn ich dich‹‹, stammelte ich, nun selber den Tränen nahe. Ich war in Panik, wusste nicht, was zu tun. ››Du bist Jakob Jungmann … zweiundzwanzig Jahre alt …‹‹
    Darauf folgte eine ganze Weile nichts. Vollkommene Stille. Auch im anderen Raum war das Schluchzen verklungen. Stunde um Stunde verstrich. Wir saßen auf dem Bett, meine Hand noch immer auf seiner Schulter. Ich spürte das leichte Zittern seines Körpers.
    ››Sie schicken mich auf die Krim, Hansi‹‹, sagte Jakob schließlich tonlos.
    ››Wo ist das?‹‹
    ››Sie schicken mich nach Russland, Hansi.‹‹ Er hob den Kopf und starrte mich mit seinen geschwollenen roten Augen an. In ihnen erkannte ich absolute Sicherheit. Was immer er mir sagen wollte, er meinte es ernst.
    ››Hansi, wenn sie mich zur Krim schicken, komme ich nicht zurück.‹‹
    Ich hätte sagen sollen: Das kannst du nicht wissen, aber ich wusste, dass er es wusste. Ich sah es in seinem Gesicht. Seinem Gesicht, auf das plötzliche Sonnenstrahlen gespenstische Schatten warfen. Es war Morgen. Jakob sah zum Fenster.
    ››Ich muss gehen.‹‹ Nun sah er wieder mich an. ››Hansi, ich hab’s versucht, aber jetzt ist es zu spät. Sei ein guter Mann. Kümmere dich um Mutter. Und um Monika. Sei ein guter Mann.‹‹
    Mit diesen Worten erhob er sich und verschwand aus der Tür.

    Der einzige Brief, den wir diesmal erhielten, war eine Benachrichtigung, dass der Panzerkreuzer, auf dem er gedient hatte, im Schwarzen Meer versenkt worden war und die Italiener keine Überlebenden hatten finden können. Ich war nicht überrascht. Ich hatte die ganze Zeit gewusst, dass er tot war, so wie er es gewusst hatte, bevor er überhaupt abgereist war. Er war gestorben, als er unser Zimmer zum letzten Mal verlassen hatte. Mutter jedoch wollte es nicht so einfach hinnehmen.
    Die Tage vergingen, und sie begann, jeden Abend den Tisch für vier zu decken. Sie bezog sein Bett regelmäßig. Sie stand mittags am Fenster und schaute zur Straße hinaus, als käme er gleich um die Ecke geschlendert, das fröhliche Grinsen eines Heimkehrenden auf den Lippen und einen Schlafsack über die Schulter geschwungen. Ich sagte nichts. Mutter wollte die Wahrheit nicht hören, also würde sie sie nicht hören.
    Wochen vergingen und meine Hoffnungen, Mutter würde sich mit der Zeit mit Jakobs Tod abfinden, vergingen ebenso. Das Bett blieb frisch gemacht. Seins war das Gute unter dem Fenster, ich hatte das Schlechte unter der Dachschräge. Als er noch gelebt hatte, hatten wir manchmal getauscht und nach seinem Tod machte ich einmal den Fehler, wieder in seinem Bett zu schlafen. Es war ein furchtbar heißer Tag gewesen und unter dem Fenster zu liegen, wo die kühle Nachtluft über die Haut streichelte, war ein großartiges Gefühl.
    In jener Nacht schlief ich selig, wurde dann aber urplötzlich aus dem Schlaf gerissen. Im allerersten Moment begriff ich nicht, was mich geweckt hatte, dann spürte ich das Brennen in meiner linken Wange und sah meine Mutter über mir. Sie schlug erneut zu, diesmal auf die Rechte, so fest, dass es mir in den Augen funkelte. Ihr Gesicht war zu einer so schrecklichen Grimasse verzerrt, dass ich kurz dachte, ich hätte einen Albtraum. Aber der Schmerz ihrer Schläge war echt und ihre Fäuste trommelten immer schneller und wilder auf mich ein. Die Arme vor dem Gesicht verschränkt, die Beine angezogen um meinen Bauch zu schützen, kauerte ich im Bett und rief immer wieder: ››Mama, hör auf, ich bin‘s, hör auf!‹‹
    Es kam mir vor, als würde sie etwas zurückrufen wollen, heraus kam aber nur ein keuchendes Gurgeln. Schließlich packte sie mein Nachthemd und zerrte mich aus dem Bett. Ich schlug mir die Lippe auf, kassierte noch einen Tritt in die Rippen. Dann war Stille. Aber ich wagte nicht, aufzustehen. Stattdessen lag ich auf dem Bauch, die Hände schützend über dem Kopf gefaltet, weinend.
    Sie muss mich mit Jakob verwechselt haben. Es ist die einzige Erklärung, die mir einfallen will. Mutter erwähnte den Vorfall nie, aber ich glaube, sie war ins Zimmer gekommen und hatte gesehen, dass jemand in Jakobs Bett lag. Sie musste gedacht haben, ihr Sohn sei aus dem Schwarzen Meer geschwommen, heimgelaufen und sogleich ins Bett gegangen, ohne ein Sterbenswörtchen zu sagen. Ihre Freude muss enorm gewesen sein, ebenso enorm ihre Enttäuschung und Wut, als sie feststellen musste, dass nur ich es war, der es wagte, in seinem Bett zu schlafen.


    1


    Onkel Alois meinte, es sei das Beste, Mutter war außer sich und mich fragte keiner. Ich saß auf meinem Bett und blätterte in meinem Buch über Singvögel, während unter mir das hitzige Wortgefecht ausgetragen wurde.

    ››Erst holen sie Jakob und jetzt willst du mir die anderen wegnehmen?‹‹ Mutters Stimme war ein heißeres Schluchzen.
    ››Ich nehme sie dir doch nicht weg, Traudl‹‹, erwiderte mein Onkel. Er bemühte sich, leise zu sprechen, aber sein tiefes Bariton drang dennoch zu mir durch. ››Und schrei um Himmels Willen nicht so laut. Du machst den Kindern noch Angst.‹‹
    ››Ich mach ihnen Angst?‹‹, war die empörte Antwort. ››Ich bin nicht der fremde Mann, der sie von ihrer Mutter wegholen will.‹‹
    ››Ich bin ihr Onkel, Traudl, kein Fremder!‹‹
    ››Sie kennen dich nicht. Hansi ist elf, Monika vierzehn. Wann hast du dich das letzte Mal hier blicken lassen? Vor zwanzig Jahren?‹‹
    ››Mach dich doch nicht lächerlich!‹‹ Nun schien Onkel Alois seine Bemühungen, leise zu sprechen, aufgegeben zu haben. ››Andreas ist vor sieben Jahren gestorben. Drei Tage war ich damals hier. Monika ist alt genug, sie erinnert sich! Aber das spielt ja auch keine Rolle. Sie kennen ihre Großeltern und bei denen sollen sie ja leben. Nicht bei mir.‹‹
    Es folgte ein langes Schweigen. Schließlich schluchzte Mutter: ››Lass mir wenigstens Monika da. Nimm mir nicht das Mädchen weg.‹‹
    Onkel Alois war unnachgiebig.
    ››Gerade das Mädchen muss weg. Oder willst du, dass irgendein schleimiger Franzmann sich an ihr vergeht? Oder soll vielleicht eine Bombe ein Loch ins Kinderzimmer reißen?‹‹
    Monika fing im Nebenzimmer an zu weinen und kurz darauf stimmte meine Mutter unten im Wohnzimmer mit ein. Ich saß noch immer auf dem Bett, blätterte durch die bunten Zeichnungen von Singvögeln, die mein Vater selbst angefertigt hatte und versuchte, jeden einzelnen zu benennen.
    Der Gedanke, etwas Zeit bei meinen Großeltern zu verbringen, gefiel mir eigentlich. Als mein Vater noch gelebt hatte, hatten wir sie oft besucht. Ich war damals sehr jung gewesen und erinnerte mich nicht an vieles, nur ein Bild sah ich ganz klar vor mir: Mein Vater und ich, wie wir vor dem Kachelofen sitzen und er mir all die verschiedenen Vögel zeigt, die er als Junge in sein kleines Lederbuch gezeichnet hatte.
    Auch ein wenig Abstand von meiner Mutter – dem Haus allgemein – würde mir nicht schaden. Selbstverständlich liebte ich sie, aber mit ihr zu leben war schwierig geworden, seit mein Bruder Jakob im Krieg gefallen war.