Die letzte Sekunde
von Tika444
Bartholomeus trat aus dem Hauseingang hinaus auf die belebte Straße. Sofort blendete ihn die Sonne, die bereits beinahe die Silhouette der Hochhäuser erreicht hatte, die ihm die Sicht auf den Horizont nahmen. Dabei hatte sie jedoch offensichtlich nichts an Kraft eingebüßt. Dutzende drängten sich vor ihm auf dem Bürgersteig, der viel zu schmal erschien für die Menschenmassen, sodass es ein Wunder war, dass niemand vor eines der vorbeirasenden Autos stolperte. Alles wurde übertönt von dem Straßenlärm und dem Rattern einer nahen Baustelle. Beim Blick auf seine Begleiterin runzelte Bartholomeus die Stirn. Mit ihrer weißen Robe und den Armreifen, die ihre Handgelenke zierten, würde sie gewiss auffallen wie eine Eiche zwischen Nadelbäumen. Aber es war zu spät um daran etwas zu ändern. Sie hatten ohnehin nur einen kurzen Weg vor sich. Einen Moment dachte er daran ein Taxi anzuhalten, doch er hatte kein Geld und sah auch nach nichts anderem aus. Stattdessen packte er sie am Arm und zog sie hinter sich hinein in das Gedränge. Einige der Passanten, an denen sie vorbeihasteten, warf ihnen einen verwunderten Blick hinterher, doch keiner sprach sie an oder machte gar Anstalten sie aufzuhalten.
Sie kamen einige Blocks weit, bis Bartholomeus einen Mann in graublauen Anzug und mit nervösem Blick entdeckte, der ihm bekannt vorkam. Alarmiert reihte er sich in eine Gruppe ein, die auf die Fußgängerampel wartete, um auf die andere Straßenseite zu gelangen, und prägte sich die Gesichter eines jeden ein, der sich nach ihm zu der Gruppe gesellte. Als die Ampel jedoch grün wurde, drehte er sich um und blieb auf dem Bordstein, statt den anderen über die Straße zu folgen. Die fragenden Blicke seiner Begleiterin ignorierend, sah er sich aufmerksam um. Da. Eine Frau gekleidet in ein weißes Businesskostüm, die lebhaft in ihr Handy sprach. Sie hatte eben noch neben ihm an der Ampel gestanden. Sie wurden verfolgt und das nicht nur von einer Person. Als sie seinen bohrenden Blick bemerkte, verstummte sie abrupt, ließ ihr Handy sinken und schenkte ihm ein kaltes Lächeln. Sofort wandte Bartholomeus sich ab und bugsierte seine Begleiterin in eine Gasse zwischen zwei hochstöckigen Häusern. Er würde sich jedem, den man ihm schickte, stellen, doch es war besser, wenn er es abseits von Menschenmassen tat. Er spürte die hungrigen Blicke in seinem Rücken noch ehe er sich umsah und sie erwiderte. Aus seinen mutmaßlichen zwei Verfolgern waren vier geworden. Neben der Frau in weiß und dem Mann in grau waren noch zwei Schwarzträger hinzugekommen. Schnell verschaffte er sich einen Überblick. Die Gasse mündete hinter ihnen in einen kleinen Innenhof, der wie erhofft verlassen war. Bis auf ein paar Wäscheleinen, die zwischen den schmutzigen Wänden gespannt waren und einem platten Fußball, der achtlos in einer Ecke zurückgelassen worden war, gab es nichts außer Beton und das Eisen einer Feuertreppe.
Bartholomeus schob seine Begleiterin hinter sich und wandte sich den Verfolgern ganz zu. Sie hatten sich vor ihm aufgestellt und starrten ihn alle unverwandt an.
„Wisst ihr worauf ihr euch hier einlasst Meister“, sprach der graue ihn an. Den Titel betonte er wie eine Beleidigung. Das Gesicht abfällig verzogen. Bartholomeus spürte wie sich in ihm Zorn regte. Zu lange hatte er dafür gearbeitet sich diese Anrede zu verdienen, als dass er nun eine solche Geringschätzung ertragen wollte. Doch er behielt seine Wut für sich und ließ sich nur zu einem tadelnden Blick herab.
„Seid ihr euch sicher, dass ihr das wirklich wollt“, fragte er einfach und ließ eine blau brennende Flamme auf seiner nach oben gewandten Handinnenseite erscheinen. Die letzte Hoffnung, dass er es trotz ihrer ungewöhnlichen Aufmachung mit gewöhnlichen Dieben zu tun hatte, verblasste, als keiner der vier zusammenzuckte.
„Ihr wisst gar nicht auf was ihr euch eingelassen habt“, behauptete die Frau und ließ ein wahres Inferno auf ihn los. Bartholomeus hielt die Hände vor sich, als wolle er sich schützen, und zerteilte die Flammenbrunst in zwei Hälften, die an ihm und seiner Begleiterin vorbeirasten. Hinter ihnen fingen die Kleidungsstücke an der Wäscheleine Feuer und der Fußball wäre bestimmt geplatzt, wäre noch überschüssige Luft in ihm. So zog sich das Kunststoffgewebe lediglich zusammen und verschrumpelte wie eine Rosine. Lediglich die Hitze trieben ihnen die Schweißperlen auf die Stirn. Schließlich verebbte die Feuerquelle und die vier Verfolger tauchten wieder vor ihnen auf. Falls sie beeindruckt waren, dass ihre Gegenspieler unversehrt vor ihnen standen, zeigten sie es nicht. Stattdessen ließen sie in schneller Folge zuckende Blitze, glühende Flammenbälle und Windstöße, die den Stein der Mauern um sie herum splittern ließen, auf sie herabregnen. Bartholomeus löschte die Flammen, leitete die Blitze ab und lenkte den Wind in den Himmel, wo er einen unachtsamen Vogel erfasste und zur Seite schleuderte. Doch an einen Gegenstoß war nicht zu denken. Die schlanken Finger seiner Begleiterin berührten ihn an seiner Schulter.
„Wir sollten hier weg“, sagte sie sanft. Es war das erste Mal, dass er sie sprechen hörte und zeitgleich kam ihm die Gewissheit, dass sie recht hatte. Er konnte hier allein und ohne Unterstützung kaum bestehen, doch er musste sie an ihr Ziel bringen. Dieser Auftrag war wichtiger als sein Ego, wichtiger als sein Leben, sogar wichtiger als der Schutz Unbeteiligter. Mit einer schnellen Handbewegung zerriss er die Grundmauern des Gebäudes links vor ihm. Mit einem unnachgiebigen Mahlen neigte es sich zur Seite und donnerte auf das Gebäude daneben. Die Gasse wurde von Stein und Schutt begraben und Staub stob auf. Das würde ihre Angreifer zwar nicht umbringen aber aufhalten. Bartholomeus hoffte - vermutlich vergebens -, dass das Gebäude verlassen gewesen war, riss sich jedoch von dem Anblick los und rannte, seine Begleiterin dicht auf den Fersen über den Hof und in eine weitere Gasse, die wieder auf eine belebte Straße führte. Am Ende der Gasse bog ein schwarzer SUV auf den Bürgersteig und kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Ein paar Fußgänger mussten fluchend zur Seite springen, doch noch war keiner zu Schaden gekommen. Die Türen öffneten sich und zwei Männer und Frauen sprangen auf die Pflastersteine. Bartholomeus quetschte einen mit einem Luftstoß in der Tür ein und verpassten dem anderem auf ihrer Seite, dem Beifahrer, einen guten alten Fausthieb, der ihn zu Boden schickte. Ohne abzubremsen sprang er auf die Motorhaube, auf der anderen Seite wieder herab und versicherte sich kurz, dass seine Begleiterin ihm gefolgt war. Dann preschte er wieder los. Ein Schaufenster auf der anderen Straßenseite zerbarst in tausend Stücke und vor ihm wurde eine rote Limousine von einem Feuerball getroffen. Sie raste mit einem fürchterlichen Scheppern in einen Laternenmast, der sich zur Seite bog. Die Schreie waren allgegenwärtig. Irgendwo weinte ein Kind. Bartholomeus wich einem Auto aus und schleuderte ein weiteres in die Luft, da es sonst seine Begleiterin erfasst hätte. Irgendetwas hinter ihm explodierte und weitere Autos knallten gegen Hauswände und Laternenmasten. Bartholomeus erlaubte sich einen winzigen Moment der Orientierung und hetzte dann auf eine Baustelle, die ein kostbares Stück übrig gebliebene Natur in ein weiteres Hochhaus in tristem Grau verwandeln sollte. Ein Mann mit einem gelben Schutzhelm rief ihnen zu, als sie auf das frisch gegossene Fundament sprangen. In dem feuchten Beton blieben ihre Fußabdrücke zurück, doch das war nun die geringste Sorge, der Bauarbeiter, denn in diesem Moment wurde das Gerüst eines Krans von einem weiteren Feuerball getroffen. Der Stahl bog sich mit einem Kreischen, dass bis ins Mark fuhr und aus über dreißig Metern Höhe ertönte ein verzweifelter Schrei, als sich das Fahrerhaus dem Boden zu neigte. Bartholomeus hastete an dem fallenden Ungetüm vorbei und sprang auf einen weiteren Bordstein, auf dem erstarrte Menschen standen, die angstvoll auf den Tumult starrten, der ihnen nun immer näherkam. Die ersten Sirenen halten in der Ferne auf. Ohne sich umzudrehen, überquerten sie unter Hupen, quietschenden Reifen und zornigen Rufen eine weitere Straße und standen dann vor dem Haus, dass ihnen endlich Schutz versprach. Mit zitternden Händen schob Bartholomeus den Schlüssel in das Schloss und öffnete die schwere Holztür. Sie stolperten in das Treppenhaus und rannten dann, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, herunter in den Keller. Ein Knall ertönte und das Fundament unter ihnen erzitterte, doch sie waren ihrer Zuflucht so nahe. Von einer plötzlichen Ruhe erfasst griff Bartholomeus in seine Tasche und zog einen glänzenden Stein heraus, mit der er Linien in die Luft zeichnete, die silbrig grau glühten. Ein Tor, eine Pforte in eine andere Welt zeichnete sich vor ihnen ab. Mit einem Ruck öffnete sie sich und gab den Blick auf einen nächtlichen Hain frei. Sie verschwendeten keine weitere Zeit und begleitet von einer weiteren Erschütterung des Gebäudes gingen sie hindurch und traten in raschelndes Laub. Erleichtert wandte sich Bartholomeus zu seiner Begleiterin um. Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln, das ganz im Kontrast mit dem kalten Stahl stand, der sich plötzlich zwischen seine Rippen bohrte. Bartholomeus ächzte und taumelte zurück den fassungslosen Blick zwischen der Frau vor ihm und dem Griff des Dolches, der im Mondschein glänzend aus seiner Brust ragte. Er öffnete den Mund und wollte fragen, wieso sie das tat, doch heraus kam nur ein Gurgeln, als Blut seine Kehle füllte.
„Du warst nützlich“, antwortete die Frau ihm trotzdem. Freundlich, jedoch ohne jeden Hauch von Reue oder Mitgefühl. „Wie eine scharfe Axt, die mit jedem Baum, den sie schlägt, scharten bekommt. In deiner Welt warst du eine Hilfe, doch hier bist du nur ein Risiko.“ Sie drehte sich um und ging ohne ihn auch nur noch einen Blick zu schenken. Er versuchte ihr zu folgen, stolperte und fiel auf die Knie. Stattdessen starrte er auf ihren Rücken, der langsam zwischen den Bäumen verschwand. Der Mond schien hell in dieser Nacht und die Sterne taten ihr übriges. In seinem letzten Augenblick, in der letzten Sekunde, konnte er alles sehen. Die hoch aufragenden Bäume, die sich sanft wiegenden Gräser, die im Wind wippenden Äste voller Blätter. Dann fiel er nach vorn, wobei der Boden den Dolch noch ein wenig tiefer in seinen Körper trieb. Dieses letzte Aufflackern des Schmerzes ließ ihn in der Ohnmacht versinken, die ihre schützenden Arme aufhielt wie eine tröstende Mutter.