Beiträge von kijkou im Thema „寝ている光 - Neteiru Hikari Sleeping Light“

    Oha, schon über einen Monat kein Teil mehr =O Das geht gar nicht! :panik:


    Kapitel 4.3


    Kōsuke stand nur im Vorraum von Hikaris Zimmer. Seine Beine fühlten sich schwer an und es kostete ihn einiges an Überwindung, sich auf das Krankenbett zuzubewegen. Mit gemischten Gefühlen stand er davor. Sorgen bezüglich ihres Gesundheitszustandes plagten ihn, aber er empfand auch Erleichterung und ein wenig Freude darüber, dass der gestrige Traum nichts als die Schuldgefühle waren, die ihn im Schlaf heimgesucht hatten.
    Neugierde brachte seine Hand schließlich dazu, nach dem Vorhang zu greifen und diesen beiseite zu ziehen.
    ›Hikari…‹
    Sie lag still da und schlummerte. Ihr Kopf war auf ein weiches Kissen gebettet und um diesen war nur noch eine einfache Bandage gewickelt, die den Wundverband seitlich an ihrem Hinterkopf fixierte. Sie trug eines dieser hellblauen Nachthemden, wie sie Patienten vor einer Operation erhielten, mit Ärmeln, die zu den Ellenbogen reichten. Bis ungefähr zur Mitte ihres Oberkörpers war sie zugedeckt und ihre Arme lagen auf der Bettdecke locker neben ihr. Mit ihrer linken Hand hing sie an einer Infusion.
    ›So… Und was nun?‹ Kōsuke sah sich verlegen im Raum um.
    Wie bei seinem letzten Besuch holte er sich einen Stuhl und setzte sich.
    ›Ich soll mit ihr sprechen … Was soll ich denn sagen?‹ Er musterte sie.
    Ihre rosigen Lippen waren geschlossen und sie atmete sanft und gleichmäßig durch die Nase.
    »Ähm… Guten Morgen, Frau Tsukimura…«, sagte er leise, worauf sie jedoch keinerlei Reaktion zeigte.
    Ihre Augen waren geschlossen. Sie hatte schöne, extrem lange schwarze Wimpern, die im Kontrast zu ihrer blassen Haut standen.
    ›Sie sieht aus, als würde sie ganz normal schlafen.‹ Kōsuke schluckte und beugte sich näher zu ihr nach vorne.
    »Frau Tsuki…« Er verstummte. ›Vielleicht ist das zu unpersönlich … vielleicht sollte ich sie mit ihrem Vornamen ansprechen …‹ Wieder blickte er sich um, als wolle er sichergehen, dass ihn niemand beobachtete.
    »Hikari…«, hauchte er ganz leise. ›Hat sie reagiert?‹ Er war sich nicht sicher, ob er ein Zucken ihrer Augen vernommen hatte. ›Ich muss einfach weiter mit ihr sprechen, vielleicht wacht sie ja irgendwann auf‹, dachte er und kratzte sich nachdenklich auf der Stirn.
    »Also ich – ähm… Mein Name ist Kōsuke und ich bin hier, weil …« Er seufzte. »Ich war mit dem Auto unterwegs und du – du warst plötzlich vor mir … Ich hab nicht aufgepasst. Ich – ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut …« Seine Stimme verstummte.
    ›Nein, so geht das nicht … Ich glaube, es ist nicht gut, wenn ich sie wieder an den Unfall erinnere … Ich muss ihr irgendetwas Positives erzählen – aber was soll ich denn mit ihr reden? Ich kenn’ sie doch überhaupt nicht.‹
    Mittlerweile war ihm warm geworden. Er zog seine Jacke aus und hängte sie vorsichtig und geräuschlos über die Lehne des Stuhls. Dann schüttelte er lächelnd den Kopf.
    »Warum geb’ ich mir so Mühe, keinen Lärm zu machen? Du sollst ja schließlich langsam aufwachen, Hikari. Dein Arzt scheint ein netter Kerl zu sein und das Personal ist bestimmt auch freundlich. Also diese Frau Nagayama ist zwar etwas – nennen wir es 'sonderbar' – aber einer der freundlichsten Menschen, die ich in letzter Zeit kennengelernt habe. Dein Arzt ist auch, soweit ich weiß, zuversichtlich, dass alles in Ordnung ist … Ja – und um Yuki brauchst du dir auch keine Sorgen machen. Gestern hab ich ihm genug Futter gegeben und heute werde ich auch noch nach ihm sehen.«

    Hikari lag regungslos da und Kōsuke hatte keine Ahnung, ob sie ihn überhaupt hörte.
    »Vielleicht sollte ich dir etwas über mich erzählen, schließlich bin ich ein Fremder für dich … Also, wie ich heiße, weißt du ja bereits. Ich bin jetzt vor kurzem achtundzwanzig Jahre alt geworden. Ich arbeite in einer großen Firma – einem Inkassounternehmen um genau zu sein. Ist eigentlich ein recht einfacher Job. Hauptsächlich bearbeitet meine Abteilung E-Mails, ist für den Briefverkehr zuständig und hin und wieder kommt es vor, dass der Außendienst überlastet ist – dann schicken sie Kollegen von uns zu den Schuldnern.
    Ich stell mir vor, dass das eine unangenehme Aufgabe ist, die Leute zu Hause aufzusuchen und Geld von ihnen zu fordern, dass sie wahrscheinlich gar nicht haben. Ich bin zum Glück noch nie `rausgeschickt worden, aber Takagi, mein Kollege, schon des Öfteren. Er hat mir manchmal davon erzählt – vor allem, dass er es hasst. Einmal hat er eine ältere Dame aufsuchen müssen, die auch auf die letzte Mahnung unsererseits nicht reagiert gehabt hat.
    Es hat sich herausgestellt, dass die Frau schon so schlecht gesehen hat, sodass sie kaum noch lesen hat können. Sie hat niemanden gehabt, der sich um sie gekümmert oder gesorgt hat. Den ganzen Tag ist sie nur vor dem Fernseher gesessen – das war die einzige Gesellschaft, die sie gehabt hat. Takagi hat ihr erklären müssen, dass seit dem Tod ihres Mannes die Rechnungen für einen von diesem angemieteten Container nicht mehr beglichen worden sind und dass ihm jetzt leider keine Wahl bleibt, als nach Gegenständen von Wert zu sehen und diese zu pfänden.
    Wie er das TV-Gerät beschlagnahmen wollen hat, hat die Dame fürchterlich zu weinen begonnen. Sie hat ja sonst nichts gehabt, bis auf die unterhaltsamen Stunden vor dem Fernseher. Er hat so sehr Mitleid mit ihr gehabt, dass er sie das Gerät behalten hat lassen. Auch die silberne Taschenuhr ihres verstorbenen Gatten hat er nicht mitgenommen, obwohl die bestimmt einiges wert gewesen wäre.
    In seinem Bericht hat er dann geschrieben, dass die alte Dame nichts von Wert besessen habe und später hat er sich dafür eingesetzt, dass sie eine freiwillige Hilfskraft zugewiesen bekommt. Leider ist sie ein Jahr später verstorben, aber sie war so dankbar, dass sie Takagi in ihrem Testament erwähnt hat. Sie hat ihm tatsächlich die Taschenuhr ihres Gatten vermacht, die er heute ständig mit sich `rumträgt. Angeblich bringt sie ihm Glück.
    Jedenfalls – ich wüsste nicht, wie ich in so einem Fall reagieren würde. Ich glaube nicht, dass ich es übers Herz gebracht hätte, der armen Frau etwas wegzunehmen…« Kōsuke seufzte. »Was hättest du getan, Hikari?«, fragte er sie, doch wie vermutet reagierte sie auch diesmal nicht. »Du hättest bestimmt auch versucht, ihr zu helfen, nicht wahr? So, wie du vorgestern meinen Schlüsselbund aufgehoben und mir gebracht hast. Du bist ein sehr hilfsbereiter Mensch – hab ich recht? Auch deine Nachbarin ist dieser Meinung …«

    Er lehnte sich zurück, streckte seine Beine aus und starrte an die Decke. »Wenn alles gut geht, werde ich vielleicht sogar bald befördert. Ich habe mit Hiro, einem Freund und Kollegen, ein Programm entwickelt, das die Arbeit der ganzen Abteilung für Sachbearbeitung vereinfachen wird. Gut, Hiro hat einen Großteil der praktischen Arbeit erledigt – er ist das Computergenie von uns. Ich hab das theoretische Grundgerüst des Programms entworfen und mich mit ihm zusammengesetzt. Wir sind ein recht gutes Team, denke ich …« Kōsuke sah wieder zu Hikari, die nach wie vor ruhig und gleichmäßig atmete, sich sonst aber nicht bewegte.
    »Das ist jetzt schon das zweite Projekt, das ich mit ihm aufgezogen hab. Das erste hat sich Kawaji unter den Nagel gerissen. Wir haben eine Idee gehabt, die interne Datenbank um einiges simpler zu gestalten. Als wir unseren jeweiligen Abteilungsleitern davon berichtet haben, hat man uns Kawaji zugeteilt. Er hat zu diesem Zeitpunkt einen sehr guten Ruf als Software-Techniker gehabt und sie haben sich dadurch eine schnelle Umsetzung erhofft …« Er presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
    »Unfassbar … Aber, ja – damit haben sie recht gehabt. Nachdem wir Kawaji instruiert haben, hat er die ganze Nacht durchgearbeitet und alles alleine fertiggestellt. Das Lob hat er auch für sich eingestrichen – wir sind lediglich als 'Support' erwähnt worden. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich dieser Mistkerl anwidert … Diesmal kann uns das aber nicht passieren – mein Vorgesetzter, Herr Uehara, weiß Bescheid, dass es allein unser Projekt ist …«
    Kōsuke streckte sich. Er war nicht mehr so angespannt wie zuvor. »Hmm, ja – so viel zu meinem Job. Was arbeitest du, Hikari?«, fragte er mit nachdenklicher Miene.
    »Vielleicht in einem Restaurant oder Café? Oder vielleicht in der Kosmetikbranche? In einem Büro kann ich mir dich irgendwie nicht vorstellen. Oder vielleicht …«

    Auf einmal öffnete sich die Zimmertür, worauf er erschrocken hochfuhr. Eine Kranken­schwester kam herein. Sie schob einen Behandlungswagen vor sich her. »Ah – guten Morgen! Sie müssen Frau Nagayamas Bruder sein«, meinte sie freundlich.
    »Eh, ja – guten Morgen«, entgegnete Kōsuke etwas überrascht. ›Diese Frau … Hat sie das etwa im ganzen Krankenhaus herumerzählt?‹
    »Mein Name ist Maeda – ich bin für das Wochenende in dieser Etage eingeteilt«, erklärte sie, während sie sich die Hände desinfizierte.
    »Soll ich hinaus gehen?«
    »Oh, nicht nötig, ich schließe nur eine neue Infusion an«, entgegnete sie. »Ich finde das sehr nett von Ihnen, dass Sie der Patientin Gesellschaft leisten.«
    »Geht das in Ordnung? Ich meine, normalerweise dürfen doch nur Angehörige zu den Patienten, oder?«, fragte Kōsuke verunsichert.
    »Ja, das ist schon richtig, aber da wir ihre Angehörigen nicht benachrichtigen können und sich bisher niemand nach ihr erkundigt hat …«
    »Aber kann das Krankenhaus dadurch nicht Ärger bekommen?«
    »Vermutlich schon – aber wenn Doktor Hayashi es genehmigt hat und medizinisch begründen kann, dass Gesellschaft zur Genesung der Patientin beitragen kann, dann geht das bestimmt in Ordnung.« Die Schwester lächelte und hängte den neuen Infusionsbeutel an.
    »Ich verstehe.« Kōsuke setzte sich wieder und beobachtete Schwester Maeda.
    »Hat sie denn schon auf irgendetwas reagiert?«, fragte diese interessiert.
    »Nein, leider«, sagte er enttäuscht. »Ich glaube nicht – vielleicht haben vorhin ihre Augen gezuckt, aber ich bin mir nicht sicher.«
    »Sollte sie aufwachen, rufen Sie mich bitte gleich.« Sie deutete auf den orangefarbenen Schwesternruf-Knopf an der Fernbedienung für das Krankenbett.
    »Ja, natürlich« Er stand auf und verneigte sich zum Abschied, als sie das Zimmer wieder verließ.
    Unruhig ging er ein paar Schritte auf und ab und sah sich um. »Willst du nicht aufwachen, Hikari?«, wandte er sich ihr wieder zu. »Du kannst doch nicht den ganzen Samstag verschlafen … Wobei ich das auch gerne wieder einmal machen würde – einfach faulenzen am Wochenende. Vor einigen Jahren bin ich Samstags regelmäßig Fußball spielen gegangen. Ich hab mich mit Freunden schon zeitig morgens am Arakawa-Flussufer getroffen und wir haben dann nach dem regulären Training noch bis am Nachmittag gespielt. Manchmal vermisse ich die Zeit irgendwie …« Er sah zum Fenster hinaus.
    »Es regnet immer noch. Kein Wunder, dass du lieber im Bett bleiben willst«, sagte er schmunzelnd. »Was hältst du davon, wenn ich mal nach Yuki sehe? Ich werde Frau Nagayama bitten, dass sie mich anruft, wenn du munter wirst, einverstanden?« Kōsuke nahm seine Jacke vom Stuhl und schlüpfte hinein. »Ich komm vielleicht später wieder – oder morgen«, meinte er unentschlossen.
    »Bis dann, Hikari«, verabschiedete er sich, zog den Vorhang wieder zu und verließ das Zimmer.
    Nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr ging er zur Treppe.
    »Halt!«
    Kōsuke blieb wie versteinert stehen und sah in die Richtung aus der die Stimme gekommen war. »Ah, Sie sind’s«, sagte er erleichtert, als er bemerkt hatte, dass es Frau Nagayama war. »Sagen Sie, müssen Sie mich so erschrecken?«, fragte er leidvoll.
    »Entschuldige, Bruderherz«, erwiderte sie grinsend.
    »Ich wollte Sie eh gerade suchen …«
    »Und wie geht es Chō-Chō?«, fiel sie ihm ins Wort.
    »Sie ist noch nicht aufgewacht«, entgegnete er mit besorgter Miene. »Ich wollte Sie bitten, dass Sie mir Bescheid geben, wenn sich irgendetwas ändert.«
    »Ja, solange ich noch Dienst habe, kann ich das machen. Bis siebzehn Uhr bin ich heute hier, für danach müssen Sie sich wohl eine andere Komplizin suchen«, meinte sie scherzend.
    Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie an. »Ich … danke Ihnen vielmals«, flüsterte er.
    »Sie müssen wirklich etwas lockerer werden«, lachte sie und begab sich zum Krankenschwestern­bereich. Sie drehte sich noch einmal um und winkte ihm energisch zum Abschied zu.
    Kōsuke fuhr sich abgekämpft durchs Haar. ›Sie ist wirklich sehr nett, aber kann einem den letzten Nerv rauben‹, dachte er und ging die Treppe hinunter.
    Am Eingang nahm er seinen Regenschirm, den er dort zurückgelassen hatte, und verließ das Krankenhaus.


    Unzählige Kirschblüten sanken auf den Boden nieder.
    Wie blassrosafarbener Regen umgab sie die herabfallende Blütenpracht.
    Ein gigantischer Windstoß erfasste sie, worauf sie ihre Augen schloss und im nächsten Moment
    überkam sie ein Gefühl, als würde sie hoch in die Luft gerissen werden.
    Sie spürte keinen festen Grund mehr unter ihren Füßen. Was geschah mit ihr?
    Sie hatte Angst, ihre Augen zu öffnen.
    Ein beruhigendes Rauschen und eine wohltuende Frische in der Luft ermutigten sie,
    doch einen Blick zu riskieren. Jetzt konnte sie auch den Sand zwischen ihren Zehen fühlen.
    Sie war am Meer, an einem weißen Sandstrand.
    Ohne darüber zu sinnieren, wie sie an diesen Ort gekommen war, schritt sie auf das Wasser zu.
    Wie die erste Welle sie erreichte, bemerkte sie, wie angenehm warm es war.
    Langsam spazierte sie den Strand entlang und wie die nächste Woge um ihre
    Knöchel strömte, schloss sie kurz ihre Augen und lächelte.
    Auf einmal nahm sie jemand an der Hand.
    Es war ein Junge – der kleine blasse Junge, den sie zuvor schon unter dem
    Kirschbaum getroffen hatte. Er hielt ihre Hand und sah zu ihr herauf.
    »Da bist du ja wieder«, sagte sie mit sanfter Stimme.
    Er nickte.
    Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln, woraufhin er ohne eine Miene zu
    verziehen auf etwas hinter ihr deutete. Sie drehte sich um und sah ein Stück weiter weg
    einen zweiten Jungen, der vor einer riesigen Sandburg stand.
    Leute, die sich ringsum versammelten, schienen das Kunstwerk aus Sand zu bewundern.
    Der blasse Junge zog an ihrem Arm.
    »Ist das ein Freund von dir?«, fragte sie ihn, worauf er energisch den Kopf schüttelte.
    »Willst du mit ihm mitspielen?«
    Wieder verneinte der Junge und rümpfte die Nase.
    »Gefällt dir seine Sandburg?«
    Wütend stampfte der Junge auf.
    »Was – was willst du mir denn sagen?«
    Trotzig blickte er wortlos zu Boden.
    »Willst du auch eine bauen?«, fragte sie verunsichert.
    Der Junge ließ ihre Hand los und raufte sich sein Haar.
    Er deutete auf die Sandburg und dann auf sich selbst.
    »Die Sandburg? … Du? Du hast sie gebaut?«, begriff sie langsam.
    Er nickte wortlos und sah wieder zu dem anderen Jungen hinüber,
    welcher stolz vor der Burg posierte. Zornig ballte er seine Hände zu Fäusten.
    »Sollen wir hingehen?«, fragte sie, woraufhin er erstaunt zu ihr aufblickte.
    »Wir sagen es allen, dass du es warst, der sie gebaut hat«, meinte sie lächelnd.
    Entschlossen schritt sie an ihm vorbei auf die große Sandburg zu.
    »Kommst du?«, forderte sie ihn auf und als sie sich zu ihm umdrehen wollte,
    war er verschwunden.

    Huhu ^^

    Liebe Grüße ^^

    So, hier gibts auch mal wieder etwas Neues :D


    Kapitel 4.2

    Als Kōsuke am nächsten Morgen aufwachte, war Honokas Bettwäsche und Futon schön ordentlich zusammengelegt. Die Vorhänge waren noch geschlossen, aber draußen war es bereits hell und man konnte das Rauschen von leichtem Regen vernehmen.
    ›Wie spät ist es?‹ Gähnend setzte er sich auf und griff nach seinem Handy. ›Acht Uhr?‹ Er blickte sich im Zimmer um. ›Honoka wird doch nicht schon zu ihren Eltern gefahren sein?‹ Er stand langsam auf und trottete zur Schlafzimmertüre.
    Wie er diese öffnete, stieg ihm der Geruch von frisch gebratenem Speck in die Nase. Sofort meldete sich sein Magen, den er in letzter Zeit zweifellos vernachlässigt hatte. Von seinem Hunger getrieben begab er sich ohne einen Gedanken zu verschwenden in die Küche, wo Honoka gerade am Herd stand.
    »Ah, gut, dass du wach bist«, meinte sie freundlich, als sie ihn bemerkte. Sie war bereits angezogen und hatte sich zurechtgemacht.
    »Guten Morgen«, sagte er und stand mit verschlafener Miene und komplett zerzaustem Haar vor ihr.
    »Ich werd’ gleich losfahren – hab dir nur noch Frühstück gemacht.« Aufgrund seiner Erscheinung musste sie sich ein Grinsen verkneifen.
    »Zu deinen Eltern?«, fragte er, während er sich an den Tisch setzte.
    »Ja, dann kannst du alles in Ruhe erledigen und ich bin dir nicht im Weg«, entgegnete sie gelassen.
    »Honoka…« Kōsuke seufzte. »Du bist mir nicht im Weg. Ich will einfach nur vor Montag…«
    »Fertig werden – ich weiß«, unterbrach sie ihn lächelnd und stellte ihm einen Teller mit Spiegelei, Speck und Salat hin.
    »Danke« Mit überspitzter Unschuldsmiene erwiderte er ihr Lächeln. »Du bist die Beste, weißt du das?«
    »Lügner«, entgegnete sie, brachte ihm ein Brötchen, das sie im Miniofen aufgebacken hatte, und küsste ihn auf die Wange. Dann holte sie ihren Hellblauen Mantel aus dem Vorzimmer und schlüpfte hinein. »Brauchst du noch irgendwas?«
    »Hmm…«, überlegte er kurz. »Nein, danke.«
    »Gut, dann sehen wir uns morgen wieder«, meinte sie zufrieden, verließ den Raum und zog sich die Schuhe an.
    »Honoka!«, rief er ihr nach, worauf sie ihren Kopf noch einmal ums Eck zur Küche hereinstreckte. »Was ist?«
    »Amüsier’ dich!«, sagte er schmunzelnd. »Und lass mir deine Eltern lieb grüßen!«
    Sie nickte und verließ die Wohnung. Sowie die Tür einschnappte, atmete Kōsuke auf.

    ›Gut – erst einmal essen und dann gleich ins Krankenhaus.‹ Er blickte auf seinen Teller. ›Wirklich nett von ihr, dass sie noch was gekocht hat…‹ Er griff zu den Essstäbchen, die vor ihm auf dem Tisch lagen und begann zu frühstücken.
    Nach weniger als zehn Minuten war er fertig und eilte ins Badezimmer. Ein wenig erschüttert vom Anblick seines ausgezehrten Spiegelbildes drehte er das Warmwasser auf und wusch sich gründlich das Gesicht, was eine echte Wohltat war. Dann begab er sich ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Ohne lange zu überlegen nahm er eine dunkelblaue Jeans und einen beigefarbenen Pullover heraus, zog sich an und öffnete die Vorhänge.
    ›Regen – na toll!‹ Er griff sich Hikaris Tagebuch, ihr Handy, den USB-Stick und seine Notebook-Tasche, die im Wohnzimmer stand, ging weiter ins Vorzimmer, zog seine dunkelbraune Jacke an, die hinter seinem Sakko gehangen hatte, nahm sich einen durchsichtigen Regenschirm und verließ die Wohnung.
    ›Tanken sollte ich ja auch noch‹, kam ihm bei seinem Wagen in den Sinn. Er stieg ein, platzierte alles auf dem Nebensitz, ließ den Motor an, aktivierte die Scheiben­wischer und fuhr los.
    An der nächsten Tankstelle mit Selbstbedienung hielt er an. ›Also billig sind die hier nicht gerade‹, dachte er und füllte nur den halben Tank. Er bezahlte mit Kreditkarte direkt an der Zapfsäule und machte sich schließlich auf den Weg ins St. Marianna Krankenhaus.
    Für einen Samstag Vormittag war ziemlich viel Verkehr auf den Straßen und so erreichte Kōsuke nach ungefähr fünfzehn Minuten sein Ziel.

    Von außen sah das Krankenhaus irgendwie leer und verlassen aus. Auf dem Parkplatz waren zwar Fahrzeuge abgestellt, sonst konnte er aber nirgendwo Leute ausmachen.
    ›Wenn ich da jetzt hinein gehe, falle ich bestimmt auf…‹, überlegte er. ›Keine Menschenseele zu sehen. Kommt denn heute niemand die Patienten besuchen?‹ Er begab sich zum Haupteingang und blieb verunsichert davor stehen. ›Geöffnet haben sie aber…‹
    In Gedanken versunken lauschte er dem Regen, der auf seinen Schirm niederprasselte, bis er den Bus realisierte, der gerade vor dem Gebäude angehalten hatte. Einige Leute stiegen aus und bewegten sich auf das Krankenhaus zu.
    ›Jetzt oder nie…‹, dachte Kōsuke, schloss sich ihnen unauffällig an und betrat die Eingangshalle. Die Gruppe löste sich jedoch rasch wieder auf. Vier Leute stellten sich am Empfang an, die anderen verließen den Bereich in unterschiedliche Richtungen.
    Kurz entschlossen begab sich Kōsuke zur Treppe und hastete in den zweiten Stock hinauf. Nachdem er sich mit einem kurzen Blick jeweils nach rechts und links vergewissert hatte, dass niemand zu sehen war, steuerte auf Hikaris Zimmer zu. Mit jedem Schritt wurde er angespannter und wie er vor der Türe stand, pochte sein Herz wie wild.
    ›Ich frage mich, ob sie wach ist…‹ Er warf einen Blick auf die Zimmernummer. ›312… und auf dem Schild ist immer noch kein Name angebracht…‹ Langsam drückte er die Türklinke nach unten. Sein Atem war flach und stockte, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte.
    »Entschuldigen Sie – kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen!?«, fragte eine tiefe Stimme mit eindringlichem Tonfall hinter ihm.

    Es ist immer wieder erstaunlich, wie oft wir uns dazu hinreißen lassen, Dinge zu tun,
    von denen wir wissen, dass sie falsch sind,
    sie aber dennoch tun, weil wir der festen Überzeugung sind,
    dass sie in diesem einen Moment richtig sind…

    Kōsuke Sasamoto 笹本幸輔

    Kōsuke drehte sich erschrocken um und sah den Mann mit geweiteten Augen an. Es handelte sich um einen Arzt, dessen ernster Miene zufolge er hier nichts verloren hatte.
    Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte ihn der Mediziner. »Darf ich fragen, was Sie hier machen?«, fragte er skeptisch. »Suchen Sie jemanden Bestimmten?«
    »I–Ich…«, stammelte Kōsuke. ›Was sag ich jetzt am besten?‹ Er schluckte.
    »Bitte entschuldigen Sie, Herr Doktor Hayashi!«, drang eine weibliche Stimme durch den Korridor. »Das ist meine Schuld…!« Frau Nagayama kam herbeigeeilt und blieb neben den beiden stehen. Sie schnappte nach Luft, stellte sich neben Kōsuke und verneigte sich vor dem Arzt.
    Dieser wandte sich ihr verwundert zu. »Wie darf ich denn das verstehen?«, fragte er mit erwartungsvollem Blick.
    »Es tut mir leid, Herr Doktor Hayashi – Es ist meine Schuld. Er ist nur hier, weil ich…«
    »Nein, es ist nicht die Schuld von Fr…«, warf Kōsuke ein, wurde aber sofort von ihr unterbrochen.
    »Wirst du wohl ruhig sein!!«, keifte die Krankenhausangestellte.
    Kōsuke sah sie perplex an.
    »Unterbrich mich gefälligst nicht!«, sagte sie streng und wandte sich wieder dem Arzt zu. »Er ist hier, weil ich ihm von der Patientin erzählt habe, Herr Doktor. Mein kleiner Bruder hat gemeint, dass ihm die Frau leidtut, wenn sie niemand besucht…«
    ›Kleiner Bruder!?‹ Kōsuke lächelte unbeholfen und kratzte sich verlegen am Kopf.
    »…Und er hat sich gedacht, dass es ihr vielleicht besser gehen würde, wenn sie Gesellschaft hätte und jemand mit ihr spricht«, erklärte Frau Nagayama. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass er gleich selbst nach oben gehen würde…« Sie schlug Kōsuke mit der flachen Hand kräftig auf den Hinterkopf.
    »Autsch…!«
    »Bitte entschuldigen Sie, Herr Doktor Hayashi – er ist eben ein herzensguter Mensch und muss immer und überall helfen«, meinte sie quirlig.
    Kōsuke warf ihr einen hilflosen Blick zu.
    »Na los – entschuldige dich gefälligst!«, forderte Frau Nagayama ihn auf und verschränkte ihre Arme.
    »Ähm… Ja – entschuldigen Sie bitte vielmals!« Demütig verneigte er sich vor dem Arzt.
    »So so…«, entgegnete dieser nachdenklich. »Vielleicht ist das aber gar keine so schlechte Idee«, murmelte er mit gerunzelter Stirn. »Aus medizinischer Sicht spricht eigentlich nichts dagegen«, meinte er dann.
    »Wie…?« Kōsuke sah Frau Nagayama irritiert an.
    »Herr Doktor?«, fragte diese nach.
    »Nun ja… Da Chō-Chō keinen Besuch hat, fehlt ihr vielleicht ein Grund – eine Art Anreiz, ihr Bewusstsein wiederzuerlangen. Vielleicht wäre es also unter Umständen gut für sie, etwas Gesellschaft zu haben«, erklärte Doktor Hayashi.
    »…Chō-Chō…?«, dachte Kōsuke laut.
    »Ja – da ihre Personalien nicht bekannt sind, nennen sie die Ärzte und Krankenschwestern so, weil sie ein kleines Schmetterlings-Tattoo auf ihrem…«
    »Frau Nagayama…«, unterbrach der Arzt sie kopfschüttelnd.
    »Oh, Entschuldigung.« Sie drehte sich um und boxte Kōsuke leicht in den Bauch, der ein wenig erschrocken zusammenzuckte. »Ich muss unbedingt aufhören, dir alles zu erzählen, Brüderchen«, rügte sie sich selbst.
    »Wie dem auch sei…« Doktor Hayashi sah auf die Uhr. »Ich muss weiter. Wenn Sie zu der Patientin hineingehen und sich ihr Zustand ändert oder sie ihr Bewusstsein wiedererlangt, rufen Sie bitte umgehend eine Schwester«, bat er Kōsuke und eilte davon.
    Dieser blickte ihm hinterher. Wieder schlug ihn Frau Nagayama auf den Hinterkopf.
    »Autsch! Was…!?«
    »Können Sie nicht noch auffälliger hier antanzen!? Sie haben ja Nerven!«, fuhr sie ihn an.
    »Ich…«
    »Sie können von Glück reden, dass ich dieses Wochenende arbeite, sonst hätten Sie jetzt ganz schön Ärger bekommen!«, meinte sie streng.
    »Es tut…«
    »Wenn ich Sie nicht schon unten umherschleichen gesehen hätte…«, ließ sie ihn nicht zu Wort kommen. »…Dann hätte Doktor Hayashi bestimmt den Sicherheitsdienst geholt! Sie können doch nicht einfach so ohne Plan hier auftauchen…«
    »Es – es tut mir leid«, entschuldigte er sich.
    »Das sollte es Ihnen auch! Sie können wirklich froh sein, dass mir die arme junge Frau da drinnen leidtut – so ganz alleine, sonst würd’ ich mich nicht so dafür einsetzten, dass Sie zu ihr können«, machte sie deutlich und verschränkte ihre Arme.
    »Haben Sie vielen Dank!« Er verneigte sich.
    Leicht amüsiert schüttelte sie den Kopf, seufzte und sah ihn wortlos an.
    »Dann ist sie also immer noch bewusstlos?«, fragte Kōsuke beunruhigt und fixierte Hikaris Zimmertüre.
    »Ja, leider. Aber das kann auch aufgrund des Schocks sein, den sie sicher durch den Unfall erlitten hat…«
    »'Auch'?«, unterbrach er sie. »Was könnte denn sonst noch ein Grund sein?«, fragte er vorsichtig.
    »'Auch' – das hab ich doch nur so gesagt«, entgegnete Frau Nagayama. »Also, es bestünde da noch die Möglichkeit, dass sie durch die Blutung und den dadurch entstandenen Druck einen Gehirn­schaden davongetragen hat, aber das hat Doktor Hayashi zu neunzig Prozent ausgeschlossen.«
    »Sie könnte einen Hirnschaden erlitten haben!?«, wiederholte er schockiert. ›Neunzig Prozent ausgeschlossen – bleiben noch zehn Prozent! Ist nicht sehr wahrscheinlich, aber dennoch…‹
    »Nun schauen Sie doch nicht gleich so! Ich habe Ihnen doch gesagt, der Doktor hat es ausgeschlossen«, wollte sie Kōsuke beruhigen.
    »Aber nicht hundertprozentig…«
    »Jetzt gehen Sie endlich da rein – dafür sind Sie ja schließlich hergekommen, oder!?« Die Krankenhausangestellte packte ihn am Oberarm und öffnete die Zimmertüre. »Reden Sie mit ihr, vielleicht wacht sie ja auf!«
    »Aber…«
    Ohne auf ihn einzugehen, schob sie ihn mit all der Kraft, die ihr zierlicher Körper aufbringen konnte, ins Zimmer hinein und schloss die Türe hinter ihm. Erschöpft stieß sie einen Seufzer aus und machte sich auf den Weg zurück zu ihrem Arbeitsplatz.

    Hi Lady :)
    und danke fürs Lesen ^^

    Liebe Grüße ^^

    Hi @Nanook :)

    Absolut kein Problem, läuft ja nicht weg :D
    Stress dich nicht - soll ja schließlich Spaß machen.

    Konzentriere dich mal in Ruge auf die Uni - Ausbildung ist wichtig ^^

    Liebe Grüße
    kij


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    Kapitel 4.1

    ›Nein… Nein, das ist nicht wahr!‹ Kōsukes Atem stockte. Mit weit aufgerissenen Augen sah er die Beamten wortlos an. Die schwere Wohnungstür glitt ihm aus der Hand und war im Begriff, zuzufallen, doch einer der Polizisten fing sie auf und stellte sein Bein davor.
    »Herr Sasamoto, haben Sie verstanden?«, fragte dessen Kollege nach.
    Kōsuke schüttelte den Kopf. »Nein…« Er blickte die Beamten abwechselnd an. »Das – das kann nicht sein!«, erwiderte er mit zittriger Stimme.
    »Uns wurde vor etwa zwanzig Minuten mitgeteilt, dass die junge Frau ihren Verletzungen erlegen ist«, erklärte der rechts stehende Polizist.
    »A–Aber…« Kōsuke konnte kaum sprechen. Ein immer stärker werdendes Gefühl der Enge in seiner Brust raubte ihm die Luft.
    »Sie war erst fünfundzwanzig Jahre alt!«, stellte der andere Beamte fest, als er in seinen Notizen nachlas. »Was für eine Schande – in der Blüte ihres Lebens«, meinte er.
    »Sie! Das haben Sie doch mit Absicht gemacht!«, rief der Polizist, der immer noch die Wohnungstüre aufhielt.
    »Was!?« Kōsuke schreckte auf.
    »Also doch vorsätzlicher Mord«, murmelte der andere mit dem Notizblock und schrieb mit.
    »Nein!« Er sank auf seine Knie. »Nein! Nein – ich hab sie nicht gesehen! Ich wollte das nicht!«
    Der Beamte rechts deutete seinem Kollegen, er solle die Tür stützen und beugte sich zu Kōsuke herunter. »Sie haben sie nicht gesehen, weil Sie unbedingt eine Nachricht schreiben mussten – und das während dem Lenken eines Personenkraftwagens. Sie wissen, dass das nicht gestattet ist!«, schrie er ihn an.
    »Ja, ich – ich weiß…« Tränen liefen über seine Wangen.
    »Sie wissen das und dennoch…« Der Gesetzeshüter packte ihn an seiner linken Schulter und näherte sich ihm bis auf wenige Zentimeter. »Sie haben sie umgebracht«, hauchte er ihm ins Ohr.
    »Nein…« Mit voller Wucht stieß er den Beamten von sich. »Nein!!« Der Mann stürzte und warf seinem Kollegen einen alarmierenden Blick zu.
    »Sind Sie verrückt geworden!?«, brüllte dieser und zog seine Dienstwaffe.
    »Es – es tut mir leid. Ich – ich wollte nicht…« Als Kōsuke den Polizisten ansah, der seine Waffe auf ihn gerichtet hielt, war dessen Gesicht komplett verschwommen. Er konnte keine Miene erkennen.
    »Sie sind ein Mörder!«, rief der andere mit tiefer Abneigung in seiner Stimme, stand langsam auf und holte Handschellen hervor, welche fein säuberlich poliert waren und im Licht aufblitzten. Kōsuke fixierte sie mit großen Augen und bei ihrem Anblick lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.
    »Nein… bitte! Es – es war keine Absicht!«
    »Herr Sasamoto!«
    »Nein!« Er schloss seine Augen ganz fest und schüttelte widerwillig den Kopf.
    »Kōsuke.«
    »Nein! Nein, nein – ich wollte das nicht!«, schluchzte er.
    »Kōsuke!«
    »Es tut mir so leid…«
    »Kōsuke! Hörst du nicht!?«
    Wie er seine Augen wieder öffnete, war Honoka auf seine Schultern gestützt über ihn gebeugt.
    »Hey«, sagte sie sanft, als er sie endlich ansah.
    Sein Puls raste und er atmete aufgeregt. »Honoka…«, flüsterte er.
    »Ist schon gut…« Sie strich zärtlich über seine Stirn. »Du bist ja völlig durchgeschwitzt.«
    »I-Ich…« Kōsuke setzte sich auf und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Desorientiert blickte er sich um.
    »Was hast du denn geträumt?«, fragte Honoka und machte das Licht an, woraufhin er geblendet die Augen zukniff.
    ›Ein Traum…?‹ Schlotternd griff er nach der warmen Daunendecke mit dem Karomuster und hüllte sich darin ein. »Kalt…«, hauchte er mit zittriger Stimme.
    »Warte einen Moment.« Honoka eilte zum Schrank und suchte nach einem frisches Sweatshirt. »Zieh dein nasses Oberteil aus, sonst verkühlst du dich.« Sie zog ihm die Decke weg, kniete sich vor ihm auf den Futon und half ihm aus seinem Shirt.
    ›Es war nur ein Traum… Hikari – sie lebt. Sie ist nicht gestorben.‹ Ohne, dass er es zunächst bemerkte, liefen ihm Tränen übers Gesicht.
    »Kōsuke… Weinst du?«
    Betreten wischte er sich über die Augen.
    »Was ist denn los?« Honoka reichte ihm das Sweatshirt, das sie geholt hatte, und er zog es über.
    »Da-Dank-ke…«, stammelte er immer noch zitternd.
    Sie stand auf, nahm die Daunendecke und wickelte sie um ihn. »Langsam mache ich mir Sorgen«, seufzte sie. »Das muss ja ein furchtbarer Albtraum gewesen sein…«
    Aufgelöst sah er sie an.
    »Rede doch mit mir«, bat sie ihn. »Was ist los? Was hast du denn so schlimmes geträumt?«
    »Ich – ich weiß es nicht«, entgegnete er leise.
    »Du weißt es nicht?«, wiederholte sie ungläubig und setzte sich zu ihm.
    »Ich hab's vergessen…«
    »Kōsuke, du hast gerade noch geweint! Wie kannst du da vergessen haben, was du geträumt hast?«, fragte sie mit zweifelnder Miene.
    Er schluckte schwer. »Ich…« Seufzend schüttelte er den Kopf.
    »Egal, was es war, du kannst es mir…«
    »Ich weiß es nicht mehr, okay!?«, fiel er Honoka ins Wort. »Ich weiß nur, es war furchtbar und ich bin mit diesem Gefühl aufgewacht! Ich – ich hatte Panik!«, erklärte er aufgebracht.
    »Tut mir leid…«, entschuldigte sie sich zurückhaltend. »Kann ich – brauchst du irgendetwas? Soll ich dir vielleicht was zu trinken holen?«
    »Nein, danke«, erwiderte er mit wieder etwas ruhigerer Stimme. »Ich…« Plötzlich fuhr er hoch. In die dicke Daunendecke gehüllt stand er da und sah sich nervös um. ›Das Buch… Wo ist Hikaris Tagebuch? Ich bin eingeschlafen!‹ Er entdeckte es neben dem Futon liegend und warf Honoka einen verunsicherten Blick zu. ›Hat sie es gesehen!? Hat sie es sich angeschaut!?‹
    »Kōsuke, was hast du?« Honoka stand ebenfalls auf. In seinen Augen konnte sie immer noch Angst erkennen, was ihr Sorgen bereitete. »Willst du … vielleicht ein bisschen Fernsehen?«, fragte sie ratlos.
    »Nein…« Er atmete tief durch. ›Ich glaube, sie hat es sich nicht angesehen… Sie hätte mich sicher darauf angesprochen…‹, dachte er und setzte sich wieder. »Ich bin einfach nur überarbeitet, glaub ich. Ich will jetzt nur weiterschlafen. Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab, Honoka«, meinte Kōsuke erschöpft und richtete sein Kopfkissen.
    »Zum Glück ist morgen Samstag«, entgegnete sie lächelnd. »Da kannst du ausschlafen.«
    »Mhm«, brummte er nur und legte sich ihr den Rücken zugewandt hin.
    »Dann hast du morgen hoffentlich bessere Laune«, murmelte sie leise vor sich hin.
    »Hm?«
    »Nichts. Ich mach das Licht aus, ja?«
    »Ist gut«, antwortete er leise und schloss seine Augen.
    Nachdem Honoka die Deckenlampe ausgemacht hatte, legte auch sie sich wieder nieder. Sie rückte nahe an Kōsuke heran und schlang ihren linken Arm um ihn, woraufhin er seine Augen öffnete, jedoch keine Regung zeigte.
    ›Ich kann nicht schlafen…‹ Er starrte auf die im Dunkeln als einzig erkennbaren Umrisse des gelben Sofasessels, der vor ihm in der Ecke des Raums stand. ›Aber wenn ich jetzt aufstehe, fragt Honoka wieder hundertmal nach, ob alles okay ist… Dieser Traum – ich muss meinen Kopf frei kriegen – und ich muss wissen, wie es Hikari geht. Wenn ich könnte, würde ich jetzt sofort hinfahren, aber…‹ Er schloss seine Augen. ›Ich frage mich, ob sie schon bei Bewusstsein ist. Ich muss morgen Vormittag gleich zu ihr – nur was sage ich Honoka? Alles was mir einfallen würde…‹ Vorsichtig drehte er sich auf den Rücken, wobei Honoka ihren Kopf auf seiner Brust platzierte.
    »Bist du noch wach?«, fragte er flüsternd.
    »Ja«, entgegnete sie leise. »Kannst du nicht schlafen?«
    »Doch – ich glaub schon. Mir ist nur eingefallen, dass ich morgen nochmal kurz ins Büro muss.«
    »Wirklich? Zu Hause noch ein wenig tun ist ja in Ordnung, aber ins Büro fahren? Wenigstens am Wochenende solltest du die Arbeit vergessen. Du überarbeitest dich noch«, beklagte sie sich bedrückt.
    »Ich möchte ja nur das Projekt endlich fertig bekommen, dann geh ich’s langsamer an, versprochen«, wollte er sie beschwichtigen.
    »Ja, und wenn dieses Projekt fertig ist, dann kommt das nächste...«
    »Du willst anscheinend nicht, dass ich befördert werde, oder?«, fragte Kōsuke leicht gereizt.
    »Wenn du dafür dauernd mies gelaunt und gestresst bist, weil du so viel arbeiten musst, ist es das nicht wert«, seufzte sie und streichelte seinen Bauch.
    »Ich verdiene dann aber mehr und wir können uns zum Beispiel einen richtigen Wellness-Urlaub leisten. Ist ja nicht so, als würde ich mich nur für mich selbst oder rein fürs Ego so bemühen…« Kōsuke schnaubte und drehte sich wieder auf die Seite.
    »Ich weiß – ich mach mir doch nur Sorgen…« Honoka wartete auf eine Reaktion seinerseits, doch er blieb schweigsam. »Bist du jetzt sauer?«, fragte sie verunsichert.
    »Nein, ich bin müde«, jammerte er entnervt, rollte sich zurück auf den Rücken, schob seinen Arm unter ihren Nacken und drückte sie an sich. »Lass uns jetzt bitte schlafen«, meinte er und küsste sie auf ihr angenehm nach Pfirsich duftendes Haar.

    Guten Morgen, @LadyK ^^

    Liebe Grüße^^

    Vielen Dank für eure Kommis ^^

    Danke euch beiden, @LadyK und @RenLi <3


    Kapitel 3.5



    ›Kannst du auf dem Heimweg bitte noch Reis mitnehmen? Ich hab gestern fast alles für die Mädels verbraucht und wollte heute nicht mit dem Auto raus.‹

    Er starrte auf das zerbrochene Glas und die Pfütze auf dem Boden. ›Diese Mail…‹ Sein Herzschlag wurde immer schneller. ›Reis… Alles nur wegen Reis…‹
    »Kōsuke. Hey, Kōsuke!«, rief Honoka ihn mehrmals, stand schließlich vom Tisch auf und kam auf ihn zu. »Was ist denn los mit dir?«
    Er blickte auf zu ihr. »Ich – ich bin einfach nur hundemüde«, meinte er leise. »Werd’ morgen Reis kaufen.« Er bückte sich und begann die Glasscherben einzusammeln.
    »Pass auf – schneid’ dich nicht.« Honoka reichte ihm einen Putzlappen. »Wir können ja auch Frühstücken gehen und danach einkaufen«, schlug sie vor.
    Er warf das kaputte Glas und die Scherben in den Müll und nahm ihr den Lappen ab. »Ja, mal sehen…«, entgegnete er unentschlossen und wischte das Wasser auf.
    »Hast du Bier mitgebracht?«, fragte sie und griff nach der Einkaufstüte aus dem Convenience Shop.
    Kōsuke Augen weiteten sich. »Nein!«, fuhr er Honoka an, die ihn perplex anstarrte. Er stand auf und nahm das Yakisoba-Pan heraus. »E–Entschuldige bitte. Ich bin total fertig von heute.« Er drückte ihr das Nudel-Brötchen in die Hand. »Das kannst du haben, wenn du willst… Das andere sind Arbeitssachen – Daten und Notizen von Hiro, die ich noch durchgehen sollte«, seufzte er.
    »Vielleicht solltest du dich erst mal setzen und etwas essen – du bist ganz blass«, entgegnete sie und rückte einen der Stühle für ihn zurecht.
    Kōsuke nickte, setzte sich, stützte die Ellenbogen auf dem Tisch ab und ließ das Gesicht in seine Handflächen sinken.
    »Das Zeug ist auch nicht gerade das Gesündeste«, rügte sie ihn, packte das Essen aus, das er sich gekauft hatte und stellte es ihm hin.
    »Ah – danke«, murmelte er und begann zu essen.
    Auch Honoka nahm wieder Platz und aß weiter.
    »So gesund ist Karaage aber auch nicht«, sagte er, als er zu ihr hinübersah.
    »Ja, da hast du recht«, gab sie zu, worauf beide schmunzeln mussten. »Dann bist du also nicht fertig geworden?«
    »Das Projekt meinst du?« Kōsuke schüttelte den Kopf. ›Ach, wegen Frau Tsukimuras Sachen…‹ »Also größtenteils schon – es fehlen halt noch Kleinigkeiten, die ich durchgehen muss«, erklärte er.
    »Und wie lange wirst du dafür brauchen?«, fragte sie mit vollem Mund.
    »Keine Ahnung. Bis Montag muss ich damit fertig sein, sonst reißt mir Uehara den Kopf ab.«
    »Soll ich meinen Eltern absagen?«
    »Ach was, fahr doch ohne mich. Sie vermissen dich sonst wieder so schrecklich«, entgegnete er mit einem leicht hämischen Grinsen.
    »Ja, wenn es nach ihnen ginge, würde ich noch bei ihnen wohnen«, seufzte Honoka.
    Kōsuke schob sich den letzten Bissen seines Burgers in den Mund und stand auf.
    »Du isst viel zu schnell«, meinte sie mit hoffnungsloser Miene.
    Mit einem Brummen warf Kōsuke den Müll weg und schluckte hinunter. »Ich muss mich jetzt darum kümmern…« Er nahm die Plastiktüte vom Tisch, begab sich ins Schlafzimmer und begann sich auszuziehen. Nur noch mit Shorts bekleidet ging er zurück ins Wohnzimmer, wo sich Honoka gerade vor den Fernseher setzte. »Ich werd’ dann drüben lesen, du kannst dir ruhig ansehen, worauf du Lust hast«, meinte er freundlich und deutete auf den Fernseher.
    »Wirst du die Nacht durcharbeiten?«, wollte sie wissen.
    »Ich glaube nicht, dass ich das schaffe. Ich werd’ einfach noch ein wenig lesen und vermutlich bald schlafen gehen«, entgegnete er und kratzte sich am Bauch.
    »Gut. Sagst du Bescheid, wenn du schlafen gehst? Dann kann ich mich zu dir kuscheln.« Sie lächelte verspielt, während sie eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger wickelte.
    »Mhm« Er nickte und verschwand dann ins Badezimmer.

    Nachdem er geduscht hatte, breitete er seinen Futon aus.
    Honoka hatte ihren gar nicht zusammengelegt. ›Sie hat vermutlich bis zum Nachmittag geschlafen‹, dachte er, holte das Tagebuch aus der Tüte, legte sich auf den Bauch und schlug es auf der Seite auf, wo er zu lesen aufgehört hatte. ›In den Sommerferien waren sie auf dem Land…‹

    2002/09/28
    Ich habe mich gerade furchtbar mit meiner Mutter gestritten. Das passiert sonst nie. Ich bin jetzt erst um 23.00 Uhr nach Hause gekommen – ich weiß, das ist spät, aber wir hatten so viel Spaß. Wir waren bei Shōta zu Hause – seine Eltern waren aus und wir haben die Zeit vergessen. Ich hätte zu Hause anrufen sollen, dann wäre Mama nicht so wütend gewesen.

    2002/10/08
    Heute hatten wir einen Überraschungstest in Mathe. Ich glaube, ich habe den komplett in den Sand gesetzt. Herr Fujita ist so gemein. Immer wieder überrascht er uns und wir können uns nicht vorbereiten. Lehrer sind echt doof.

    ›Ja, da stimme ich ihr zu. Ich habe diese unangemeldeten Prüfungen und Tests auch gehasst‹, dachte er.

    2002/11/26
    Heute war ein schrecklicher Tag. Kenta-Kun1 hat mir gesagt, dass er mich mag. Er wollte mich küssen, glaube ich – da bin ich davon gelaufen. Kenta-Kun ist zwar ganz cool, aber er interessiert sich für so viele Sportarten. Ich bin nicht wirklich gut im Sportunterricht. Er sollte sich lieber eine sportliche Freundin suchen, Miki-Chan oder Naomi-Chan – die beiden sind total gut im Volleyball.

    2002/12/14
    Heute war es richtig kalt. Ich habe zufällig Kenta-Kun im Einkaufszentrum getroffen. Er hat mich überredet, zusammen eine heiße Schokolade zu trinken. Wie wir das Einkaufszentrum verlassen wollten, hat es geschneit. Ich habe so gezittert, dass er mir seinen Pullover gegeben hat. Ich wollte ihn erst nicht anziehen, aber er hat nicht locker gelassen. Dann hat er mich zum Bus gebracht. Jetzt muss ich ihm morgen irgendwie seinen Pullover zurückgeben. Wenn er nur den einen hat, wird er frieren.

    2002/12/15
    Heute Vormittag bin ich vor Kenta-Kuns Haus gestanden und hab gewartet, ob er raus kommt. Fast eine Stunde habe ich gewartet, dann wollte ich gehen. Wie ich um die Ecke biege, kommt er mir entgegen. Er hat morgens schon Fußballtraining gehabt. Wie er mich gesehen hat, hat er mir zugelächelt und ich hab ihm seinen Pulli gegeben. Er hat ihn genommen und gemeint, dass er gut riechen würde – dass er nach mir riecht. So etwas hat mir noch nie jemand gesagt.

    2002/12/28
    Ich habe mich mit Kenta-Kun in der Spielhalle verabredet. Er mag dieses neue Musik-Spiel genauso gerne wie ich. Wir waren fast drei Stunden dort, dann hat er mich nach Hause begleitet.
    Hinein traut er sich nie, weil er Angst hat, dass Mama ihn nicht mag – dabei kennt sie ihn noch gar nicht.

    2003/01/23
    Ich glaube, dieses Jahr werde ich in Mathe keine gute Note bekommen. Ich hab die letzte Hausarbeit komplett vergessen. Herr Fujita war ziemlich sauer. Jetzt muss ich mich wirklich anstrengen.

    ›Wie spät ist es schon?‹, überlegte Kōsuke. Seine Augen wurden langsam schwer und das Lesen immer anstrengender.

    2003/01/30
    Heute hat es geschneit. Ein richtiges Verkehrschaos. Wenn es heute Nacht weiter schneit, fällt die Schule morgen vielleicht aus.

    Kaum hatte er den Satz zu Ende gelesen, schlief er vor Erschöpfung ein.
    Etwa zwei Stunden darauf warf Honoka einen Blick ins Zimmer.
    »Wolltest du nicht Bescheid geben, wenn du ins Bett gehst? Hab ich’s mir doch gedacht. Typisch Kōsuke – einfach eingeschlafen«, seufzte sie leise. Sie kniete sich zu ihm hinunter und musterte ihn. Seine Hand lag auf dem offenen Buch und sein Kopf direkt daneben. Er sah total erledigt aus. Vorsichtig nahm sie das Buch unter seiner Hand hervor, schlug es zu und legte es neben seinen Futon. Zärtlich strich sie ihm übers Haar, machte das Licht aus, kroch zu ihm unter die Decke und schmiegte sich an ihn. Mit einem Seufzer schlief auch sie ein.


    Auf einmal hallte ein Klingeln durch die Wohnung. Es hatte an der Tür geläutet. Kōsuke setzte sich auf. Ihm war kalt und er hatte Kopfschmerzen.
    »Wer kann das sein?«, fragte Honoka verwundert.
    »Ich hab keine Ahnung«, entgegnete er kraftlos.
    »Gehst du bitte? Bitte, bitte…«, bettelte sie, worauf er mit einem widerwilligen Stöhnen aufstand und sich im Dunklen stolpernd durch die Wohnung schleppte.
    Im Vorzimmer angekommen machte er das Licht an und öffnete die Tür.
    Draußen standen zwei Polizeibeamte.
    »Herr Sasamoto … Kōsuke … ?«, fragte der rechts stehende Beamte.
    »J–Ja?« Kōsuke blieb das Wort fast im Hals stecken. ›Was wollen die? Warum sind die hier?‹
    »Entschuldigen Sie bitte die späte Störung. Sie waren doch heute morgen in einen Unfall verwickelt, ist das richtig?«, bat ihn der Polizist um Bestätigung.
    Seine Atmung und sein Puls wurden mit einem Mal schneller und ein ungutes Gefühl beschlich ihn. »Ja. Da-das stimmt«, antwortete er leise.
    Der Beamte links notierte irgendetwas und warf seinem Kollegen einen auffordernden Blick zu.
    Dieser nickte und fuhr fort. »Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass die junge Frau, die mit Ihnen in den Unfall verwickelt war, vor ungefähr einer Stunde im St. Marianna Krankenhaus verstorben ist.«

    Danke dir Lady ^^
    LG


    Kapitel 3.4

    Erleichtert atmete Kōsuke einmal tief durch und machte das Licht an.
    »Yuki!« Er zog die Schuhe aus und ging in die Küche. ›Der Thunfisch scheint ihm geschmeckt zu haben‹, dachte er, wie er den leeren Futternapf sah. Nachdem er die Einkaufstüte auf dem Tisch abgestellt hatte, zog er sein Sakko aus und hängte es über einen der Stühle.
    »Yuki!«, rief er nach der Katze, hob den Fressnapf auf und begann ihn abzuspülen. Sowie er diesen gefüllt mit Hühnerfleisch auf den Boden stellte, kam der weiße Kater auch schon aus dem Wohnzimmer angelaufen und sah ihn skeptisch an.
    ›Da ist er ja.‹ Kōsuke trat einen Schritt zurück. »Ich bin dir wohl noch nicht ganz geheuer, oder?« Langsam näherte sich Yuki dem Futter und warf ihm erneut einen verunsicherten Blick zu. »Schon gut – ich geh ja schon«, meinte er und begab sich ins Wohnzimmer, worauf die Katze zu fressen begann.
    Sein Blick schweifte durch den Raum und auf eine Wanduhr über dem Fernseher. ›Kurz nach fünf. Ich sollte langsam nach Hause…‹ Er seufzte und setzte sich auf das violette Sofa. ›Ich will noch nicht nach Hause. Ich will nicht mit Honoka reden. Ich will nicht über all das hier reden müssen. Wenn sie mich fragt, wie mein Tag war…‹
    Plötzlich sprang Yuki zu ihm aufs Sofa und musterte ihn.
    »Hast du etwa schon aufgegessen?«, fragte Kōsuke überrascht.
    Der weiße Kater kletterte in das Fach unter der Couchtischplatte und schob ein blaues Buch heraus, das Kōsuke auf die Füße fiel. »Autsch. Hey, du kleiner Frechdachs. Pass doch auf«, mahnte er die Katze spielerisch, nahm das Buch und schlug es auf.
    ›Tagebuch von Hikari…‹ Er wollte weiterblättern, hielt aber inne. ›Nein, ich kann doch nicht auch noch ihr Tagebuch lesen!‹ Verschämt klappte er es wieder zu. Yuki blickte aus dem Fach zu ihm herauf und miaute. ›Aber vielleicht finde ich darin irgendwelche wichtigen Informationen. Etwas über ihre Familie – oder Freunde, die ich kontaktieren könnte… Oder etwas über diesen Mann, der sie zu bedrohen scheint…‹ Getrieben von seiner Neugierde schlug er die erste beschriebene Seite auf und begann zu lesen.

    2002/03/27
    Heute ist mein Geburtstag und ich habe tatsächlich ein Tagebuch bekommen.

    ›Ihr Geburtstag ist also im März – am 27. März… ‹

    Ich habe eigentlich nie wirklich eines haben wollen und weiß auch gar nicht, was man in so ein Tagebuch alles hineinschreiben soll. Mama hat gemeint, ich soll alles hineinschreiben, was mich beschäftigt oder Dinge, die ich nicht vergessen möchte – an die ich mich auch erinnern will, wenn ich Erwachsen bin.
    Dabei schreibe ich gar nicht gerne, also wird das Buch wahrscheinlich fast leer bleiben.
    Tut mir leid, Mama…

    Kōsuke blätterte kurz durch. ›Dafür ist es aber ziemlich vollgeschrieben…‹, dachte er amüsiert.

    2002/04/12
    Und wieder hat ein neues Schuljahr begonnen. Das letzte in der Grundschule. Ich frage mich, wie die Mittelschule sein wird.

    ›Das letzte Grundschuljahr – 2002 war sie also zwölf – das heißt…fünfundzwanzig müsste sie jetzt sein…‹, rechnete Kōsuke nach.

    Meine Freunde Shōta und Mayu sitzen wieder neben mir. Am Sonntag wollen wir nach Takasaki aufs Land fahren und Mayus Großmutter besuchen. Ich bin gerne dort – die alte Dame ist immer so freundlich. Letztes Jahr ist Shōta in den Bach gefallen und hat sich total erkältet. Ich hoffe, er passt diesmal besser auf.

    2002/04/14
    Ich bin zurück aus Takasaki. Es ist schon spät, aber ich kann nicht schlafen. Shōta hat Mayu geküsst. Ich hab sie beim kleinen Bach gesehen. Wieso hat er sie geküsst? Ich will nicht in die Schule morgen! Ich will den beiden nicht begegnen…

    ›Oh je…‹ Kōsuke schmunzelte.

    2002/04/18
    Die beiden verhalten sich mir gegenüber ganz komisch und gehen mir aus dem Weg, dabei hab ich sie nicht einmal darauf angesprochen. Ob ich mit ihnen reden soll? Nur was sage ich ihnen? Dass ich es in Ordnung finde? Dass es mir nichts ausmacht? Macht es mir denn nichts aus? Ich weiß ja selbst nicht, was ich davon halten soll. Ich glaube aber, dass ich nicht will, dass sie sich wieder küssen.

    2002/04/29
    Ich vermisse meine Freunde. Wir haben schon lange nichts mehr zusammen gemacht. Soll ich Mayu mal drauf ansprechen?

    2002/07/06
    Ich war heute den ganzen Tag mit Mayu unterwegs. Sie hatte sich mit Shōta gestritten. Ach ja, genau – die zwei sind jetzt ein Paar oder so ähnlich. Wir machen auch wieder mehr zusammen. Ich finde das zwar immer noch komisch, aber so ist es mir lieber, als wenn ich die beiden gar nicht sehen würde. Alle sagen, sie sind viel zu jung.
    Mayu ist ziemlich sauer auf ihn. Ich frage mich, warum sie gestritten haben. Mayu wollte es mir nicht erzählen. Soll ich ihn vielleicht fragen? Besser nicht, ich mische mich da lieber nicht ein. Irgendwie doof…

    2002/08/23
    War die letzten fünf Tage wieder draußen am Land mit Mayu und Shōta. Mayus Großmutter ist es nicht so gut gegangen, da haben wir ihr ein wenig mit der Gartenarbeit geholfen. Es ist dort zum Glück nicht so heiß, wie in der Stadt.
    Die Zeit vergeht so schnell. Die Sommerferien sind immer viel zu kurz.

    ›Ja, das stimmt…‹ Kōsuke legte das Tagebuch auf den Tisch. ›Zeit vergeht generell viel zu schnell. Ich sollte wohl besser langsam nach Hause fahren…‹ Er sah zum Balkon hinaus. Es war bereits dunkel geworden.
    ›Ich frage mich ob…‹ Mit einem besorgten Stirnrunzeln holte er sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, suchte den Kontakt von einem seiner Kollegen heraus und wählte.
    »Ja?«, meldete sich eine gestresste Stimme.
    »Hallo Kawaji, Sasamoto spricht. Ist es gerade ungünstig?«, fragte er vorsichtig.
    »Äh, Sasamoto – ja, was gibt’s?«, fragte Kawaji genervt.
    ›Als ob du nicht wüsstest, wieso ich anrufe…‹ Kōsuke räusperte sich. »Ich wollte mich erkundigen, ob du mit dem Testlauf durch bist.«
    »Klar bin ich das – ich sitz’ ja nicht nur auf meinem faulen Arsch `rum, wie andere!«, entgegnete sein Kollege schroff.
    »Was willst du denn damit schon wieder behaupten!?«, reagierte er gereizt.
    »Nichts – war nur eine Feststellung. Schließlich bist du…«
    »Wie auch immer«, fiel ihm Kōsuke ins Wort. »Hast du irgendwelche Fehler gefunden?«
    »Deswegen rufst du also an, Sasamoto – du hast Schiss, dass du und Ishikawa es verbockt habt, nicht wahr!?«, lachte sein Kollege.
    Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Ja, Kawaji, genau deswegen rufe ich an – damit DU uns den Arsch rettest«, entgegnete er mit einem sarkastischen Unterton.
    »Da muss ich dich aber leider enttäuschen. Ishikawa hat ganze Arbeit geleistet. Das ganze System läuft einwandfrei. Ich kann mir zwar absolut nicht vorstellen, was du Großartiges dazu beigetragen haben könntest, aber…«
    »Kawaji, also du…!«, unterbrach Kōsuke seinen Kollegen unwirsch. »Von mir stammt ja lediglich die Idee zu dem ganzen Projekt«, erklärte er mit überspitzter Empörung.
    »War’s das, oder willst du noch irgendwas von mir?«, fragte Kawaji unbeeindruckt.
    Kōsuke knirschte mit den Zähnen. »…Hast du Uehara Bescheid gegeben?«
    »Der ist mir in der Endphase nicht mehr von der Seite gewichen und hat mir das Programm nach Abschluss förmlich aus der Hand gerissen. Wir waren ja bis jetzt im Büro und wenn du mir nicht auf den Sack gehen würdest, wär’ ich schon längst unterwegs nach Hause – wenigstens hat mir Uehara Montag Vormittag freigegeben. Ist ja auch das Mindeste, wenn ich schon euren Scheiß erledigen muss, während du krank spielst, Sasamoto.«
    »Verstehe. Dann entschuldige bitte die Störung, Kawaji«, entgegnete er seinem Kollegen sehr bemüht sich zu beherrschen.
    »Von mir aus. Bis Montag!«, fauchte dieser ins Telefon und legte auf.
    ›So ein…‹ »Arschloch!!«, brach es aus Kōsuke heraus. Der weiße Kater spitzte seine Ohren und sah ihn verstört an. »Oh, tut mir leid, Yuki, aber dieser Kerl regt mich so auf…« Er stand auf und steckte sein Handy wieder ein, wobei sein Blick auf Hikaris Tagebuch fiel. ›Soll ich es mitnehmen? Was, wenn sie Frau Tsukimura entlassen und sie nach Hause kommt…? Nein, das geht bestimmt nicht so schnell. Ich sollte morgen wieder nach ihr sehen – Yuki muss ich ja auch füttern… Wie oft am Tag soll ich ihm überhaupt was geben? Das wird extrem stressig, wenn ich extra morgens herkommen muss…‹ Er setzte sich wieder, lehnte sich zurück und ließ den Kopf nach hinten fallen. An die Decke starrend versuchte er seine Gedanken zu ordnen.
    ›Wenn ich ihm genug von diesem Trockenfutter hinstelle, brauche ich nur einmal nach der Arbeit vorbeikommen. Das Trockenzeug wird ja nicht schlecht oder so… Ich hoffe nur, dass sich das Tier dann nicht überfrisst…‹ Er setzte sich auf und sah die Katze besorgt an. »Nicht alles auf einmal auffressen, hörst du?«, meinte er lächelnd, erhob sich, ging in die Küche und blickte sich um.
    ›Das müsste eigentlich genügen…‹ Er nahm einen großen gelben Teller aus dem Regal, öffnete die Trockenfutterpackung und füllte ihn voll. ›Das muss mindestens für zwei Mahlzeiten reichen… Frisches Wasser sollte ich ihm noch hinstellen.‹
    Yuki musterte den Teller mit dem Trockenfutter, den Kōsuke gerade auf den Boden gestellt hatte, probierte etwas davon und verzog sich danach wieder ins Wohnzimmer. »Du bist wohl noch satt.« Sowie er den kleinen Wasserspender aufgefüllt hatte, folgte er dem Kater und griff sich das Tagebuch. ›Ich nehm’ es mit. Ich muss einfach weiterlesen und mehr herausfinden – auch wenn es falsch ist…‹ Als er sich umdrehte, spürte er einen richtigen Stich in der Magengegend. »Autsch«, hauchte er entkräftet. ›Stimmt ja, ich habe heute kaum etwas gegessen – nur das Joghurt und – das Yakisoba-Pan hab ich noch im Auto liegen…‹ Er holte sein Sakko, begab sich ins Vorzimmer, schlüpfte in seine Schuhe und machte das Licht aus. »Ich komme morgen wieder vorbei, Yuki«, rief er noch in die Wohnung und verließ diese.

    Nach einem kurzen Zwischenstopp beim Drive-In eines Fastfood-Restaurants fuhr Kōsuke in die Einfahrt des Mietparkplatzes hinter dem Haus. Er parkte ein, machte die Scheinwerfer und den Motor aus und zog den Schlüssel ab. Einen Moment lang verharrte er regungslos im Dunklen.
    ›Zu Hause – endlich…‹ Er atmete tief durch und machte das Innenlicht an. Hikaris Tagebuch, ihr Handy und den USB-Stick packte er in die Einkaufstüte des Convenience Shops, in der sich das Yakisoba-Pan befand, nahm diese und das Essen aus dem Fastfood-Restaurant und stieg aus dem Wagen. Geschafft schleppte er sich die schmale Treppe hinauf, wobei ihn sein Magen fast jeden Schritt daran erinnerte, wie sehr dieser sich nach Nahrung verzehrte. Oben angekommen vernahm er aus der Nachbarwohnung Musik und Gelächter.
    ›Wieder eine von Frau Fukuis Partys? Stimmt ja – Freitag Abend…‹ Er sperrte auf und trat ins Vorzimmer.
    »Hey, du bist schon da!?«, drang es aus der Küche, sowie er das Licht angemacht hatte.
    ›Wie du siehst…‹ Er zog sich Schuhe und Sakko aus, nahm sein Essen und die Plastiktüte mit Hikaris Sachen und dem Yakisoba-Pan und torkelte in die Küche. »'Schon' ist gut – ich bin fix und fertig«, murrte er und stellte die Sachen auf dem Tisch ab.
    »Hättest du was gesagt, dann hätte ich dir Reis mitgekocht – hast du neuen mitgebracht?«, wollte sie gleich wissen.
    »Was?«, fragte er, während er sich Mineralwasser einschenkte.
    »Ich hab dir doch extra einen Mail geschrieben«, sagte sie tadelnd. »Heute Morgen.«
    Ihre Worte waren noch nicht verklungen, als das Glas mit dem Mineralwasser auf dem Boden zersprang. Es war Kōsuke aus der Hand gerutscht, wie er sich an Honokas Nachricht erinnerte.

    Ich klatsche immer noch @kijkou :thumbsup:

    Spoiler anzeigen

    Eigentlich habe ich heute nur darauf gewartet, etwas zum futzeln zu haben, da hast du mir voll einen Strich durchgezogen ;(
    Oje, na gut - dieses Mal darfst du bestimmt :D

    Ich hab nichts zu meckern. Aus meiner Sicht, bester Teil bisher :thumbsup:8o

    Weiter so!!!! 8o

    Danke dir :love:

    LG ^^


    Kapitel 3.3

    Auf einmal war es still.
    All die Leute um sie herum waren plötzlich verschwunden.
    Sie blickte sich um. Nein, sie täuschte sich nicht. Es war wirklich keine Menschenseele mehr hier.
    ›Was ist das?‹ Etwas kitzelte sie.
    Als sie langsam nach unten blickte, bemerkte sie, dass sie barfuß auf einer Wiese stand.
    ›Nanu? Eine Raupe?‹
    Das kleine hellgrüne Tierchen war gerade dabei, an ihrem Bein nach oben zu kriechen.
    Behutsam nahm sie es mit zwei Fingern hoch und setzte es auf ihre linke Handfläche.
    ›Lauter violette Pünktchen… Du bist aber ein schönes Wesen.‹ Sie musterte die Raupe genau.
    Diese richtete sich auf und es wirkte fast so, als ob sie auf ihrer Hand posieren würde.
    ›Ich lass dich lieber hinunter – da hast du schönes, saftiges Gras‹,
    meinte sie lächelnd und setzte das Tier zurück in die Wiese.
    Nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, erblickte sie in der Ferne einen Kirschblütenbaum.
    ›Aber…‹
    Abermals sah sie sich um. Der Himmel war immer noch farblos und leer.
    Die grüne Wiese erstreckte sich soweit das Auge reichte und bis auf den Baum war nichts zu sehen.
    Entschlossen machte sie sich auf den Weg.
    Der Kirschblütenbaum schien unerreichbar, dennoch schritt sie unbeirrt weiter auf ihn zu.
    Das Gras unter ihren Füßen fühlte sich weich und angenehm kühl an.
    Eine lauwarme Brise erfasste ihr weißes Kleid, dessen Stoff sich sanft an ihre Oberschenkel schmiegte.
    Auch ihr schwarzes Haar tänzelte im Wind und als sie einatmete, duftete es nach Rosen.
    Sie schloss ihre Augen und lauschte, doch es war nicht das kleinste Geräusch zu hören.
    Nicht einmal das Rauschen des Windes konnte sie vernehmen.
    ›Wo bin ich hier?‹
    Sie öffnete ihre Augen wieder und wollte weitergehen, aber der Kirschblütenbaum schien verschwunden.
    Verunsichert drehte sie sich um und stand plötzlich direkt vor dem Stamm des riesigen Baumes.
    Langsam ließ sie ihren Blick an diesem nach oben ins gigantische Astwerk wandern,
    wo sich ein prächtiges Blütenmeer befand. Abermals erfasste ein Windstoß ihr Haar
    und im nächsten Moment schneite es blassrosafarbene Blütenblätter.
    ›Wie wunderschön…‹
    Auf einmal vernahm sie ein leises Wimmern.
    Vorsichtig lehnte sie sich an den Baumstamm und neigte sich zur Seite, um nachsehen zu können. Auf der gegenüberliegenden Seite saß ein kleiner Junge an den Baum gelehnt. Er trug verwahrloste Kleidung und hatte keine Schuhe an. Sein schwarzes Haar war völlig zerzaust und seine Haut blass.
    Den Kopf eingezogen hielt er seine angewinkelten Beine umklammert.
    Sowie sie sich ihm nähern wollte, blickte er erschrocken auf.
    »Es – es tut mir leid!«, rief er, sprang auf und rannte um den Baum herum.
    Sie folgte ihm, doch er war verschwunden.

    »Guten Tag!«, grüßte der Angestellte am Empfang Kōsuke freundlich, nachdem dieser das Internetcafé betreten hatte. »Wir haben diese Woche ein Spezial-Angebot – wenn Sie bis zum Wochenende eine Jahres-Mitgliedschaft erwerben, erhalten Sie dreißig Prozent Rabatt.«
    »Guten Tag. Ähm, das ist sehr freundlich, aber eigentlich gehe ich so gut wie nie in Netcafés…«, entgegnete er unkonzentriert.
    »Ich verstehen. Was darf es denn sein?«, fragte der Angestellte.
    »Ich hätte gerne eine Kabine mit PC.«
    »Ja, natürlich.« Der junge Mann blickte kurz in seinen Computer. »Nummer 14 ist frei.« Er zeigte auf einen Plan, der an der Wand neben dem Empfang hing und schrieb Datum und Uhrzeit auf einen Zettel, den er Kōsuke in die Hand drückte. »Getränke können Sie sich von hier holen.« Er verwies auf einen als 'Drinkbar' gekennzeichneten Bereich auf dem Plan.
    »Vielen Dank.« Kōsuke begab sich zur Kabine mit der Nummer 14 und setzte sich vor den Rechner. Diesen startete er, löste die Schutzkappe des USB-Sticks, den er seitdem er seinen Wagen verlassen hatte fest in seiner linken Hand hielt, und steckte ihn an. Nachdem das System auf die Daten zugegriffen hatte, sah er vier Ordner. ›'Kontakte', 'Mails', 'Dateien' und – was? 'Zur Entspannung'…‹ Schmunzelnd schüttelte er den Kopf, als er den letzten Ordner erblickte und musste an den Eigenbrötler aus dem Computer-Laden denken. Entschlossen öffnete er den 'Kontakte'-Ordner und die sich darin befindende Textdatei. »Das – das gibt’s doch nicht…«, murmelte Kōsuke, sowie er die Liste der gespeicherten Kontakte sah. Es waren gerade einmal elf Einträge aufgeführt. ›Hat dieser Yū wirklich die kompletten Daten gespeichert? Das können doch unmöglich alle sein… Ōkubo-Klinik, Kanno-Chan, Ren Sasaki, Shi-Chan – von ihr stand etwas auf Frau Tsukimuras Kalender, ein Doktor Takanabe, Heita Tomoe, Herr oder Frau Nagata, Zahnarzt, Mana-Chan, Frau Miyamoto – ja, ihre Nachbarin und Yumi-Chan… Keine Kontaktdaten von ihren Eltern? Ob sie Geschwister hat… Kanno-Chan, Shi-Chan, Mana-Chan und Yumi-Chan sind vermutlich Freundinnen. Herr Tomoe und Nagata – vielleicht Arbeitskollegen? … Ich hab nicht die geringste Ahnung, wie mir das weiterhelfen soll.‹ Er seufzte und öffnete den 'Mails'-Ordner. In diesem befanden sich ebenfalls vier Textdateien, fortlaufend durchnummeriert. Kōsuke öffnete die erste und begann zu lesen.


    Von: MAILERDAEMON
    An: hi3094280@*****.ne.jp
    Betreff: mailerdaemon
    Gesendet: 2015/10/29, 19:07
    Ihre Nachricht an 368757662548@*****.ne.jp konnte nicht übermittelt werden.
    ---------------
    Gesendet: 2015/10/29, 19:06
    Betreff: Re: Re: Re:
    Was muss ich tun, damit du mich endlich in Ruhe lässt!?
    Ich liebe dich nicht mehr, akzeptiere das!
    ---------------

    ›Ihr privaten Mails – eigentlich sollte ich sie nicht lesen, aber… 29. Oktober – das war gestern Abend.‹ Er klickte auf die nächste.


    Von: 368757662548@*****.ne.jp
    An: hi3094280@*****.ne.jp
    Betreff: Re: Re:
    Gesendet: 2015/10/29, 19:01
    Hi-Chan, du solltest langsam wissen, dass ich keine Scherze mache. Ich hab noch ein paar Angelegenheiten, um die ich mich kümmern muss, danach komm ich dich besuchen.
    Ach, und ich hoffe, du bist klug genug und behältst es für dich.
    Ich vermisse dich auch sehr.
    ---------------
    Du lügst doch! Woher willst du das wissen?
    Lass mich endlich in Ruhe!!
    ---------------

    ›Ich frage mich, ob das der Mann ist, der auf ihre Mailbox gesprochen hat…‹


    Von: 368757662548@*****.ne.jp
    An: hi3094280@*****.ne.jp
    Betreff:
    Gesendet: 2015/10/29, 18:39
    Guten Abend, Hi-Chan!
    Respekt!! Du hast dich ja richtig gut versteckt. Hat ganz schön lange gedauert, dich ausfindig zu machen, meine Liebe.
    Du hast mir gefehlt, aber jetzt weiß ich ja endlich, wo ich dich finde...
    ---------------

    Kōsuke lehnte sich geschafft zurück. ›Versteckt? Sie hat sich versteckt? Was ist das für ein Kerl? Ein Ex-Freund vielleicht? Klingt jedenfalls so, als würde er sie bedrohen…‹
    Er öffnete die letzte Mail, die schon etwas älter war.


    Von: 50stars_kyankyan@*****.ne.jp
    An: hi3094280@*****.ne.jp
    Betreff: Danke
    Gesendet: 2015/10/17, 20:24
    Der Tag war super! Hat Spaß gemacht, Hikari-Chan! Lass uns das nächste Mal wieder mit der Achterbahn fahren!
    ---------------


    ›Hikari…Chan… Sie heißt also Hikari – Hikari Tsukimura.‹ Kōsuke blickte nachdenklich an die Decke. ›Aber diese Mails und die Nachricht auf dem A.B. – wollte sie etwa weglaufen? Hätte die Nachbarin vielleicht deshalb auf die Katze aufpassen sollen?‹ Verwirrt kratzte er sich am Kopf.
    ›Die Katze! Richtig – ich muss der Katze noch Futter besorgen.‹ Eilig schloss er alle Ordner, zog den USB-Stick heraus und stürmte aus der Kabine. Dabei rannte er beinahe einen Mann um. »Ah, Verzeihung!«, entschuldigter er sich.
    Der Mann blickte ihm kurz verärgert hinterher, schüttelte den Kopf und ging weiter.
    Kōsuke bezahlte und eilte zum Parkplatz. Vor dem Automaten suchte er nach Kleingeld, um die Parkgebühr zu entrichten. ›Vierhundert Yen für eine halbe Stunde sind eine Frechheit‹, dachte er, während er die Münzen einwarf.
    Nachdem er in den Wagen gestiegen war und den Motor angelassen hatte, blickte er auf die Tankanzeige. ›Auch das noch – fast leer… Na ja, bis morgen Früh sollte es noch reichen.‹ Er fuhr los. ›Katzenfutter – wo kriegt man denn Katzenfutter? Eh fast überall, oder?‹

    Bei einem größeren Supermarkt hielt er an. Als er diesen betreten hatte, blieb er zunächst einmal stehen und versuchte sich an der Beschilderung der einzelnen Abteilungen und Gänge zu orientieren. Er bemerkte gar nicht, dass er den Eingang blockierte und machte erst Platz, sowie ihn eine ältere Dame höflich bat, beiseite zu treten. Planlos lief er durch die Gänge, bis er schließlich im richtigen landete. Völlig überfordert sah er sich um. ›Trockenfutter, Frischfutter, für Jungtiere, Vitaminnahrung… Was davon soll ich denn nehmen?‹ Kōsuke kratzte sich ratlos am Hinterkopf.
    »Die Preise sind schon wieder gestiegen. Bald geben wir schon mehr für unsere Lieblinge aus, als für uns selbst«, vernahm er eine Stimme neben sich. Es war ein freundlich aussehender betagter Herr, der jede Menge Katzenfutter in seinen Einkaufswagen einzuladen begann.
    »Ähm, ja…«, entgegnete Kōsuke zurückhaltend. »E–Entschuldigen Sie – ich wollte…« Er seufzte und wandte sich dem Mann zu. »Ich muss die Katze einer Bekannten füttern und habe irgendwie nicht den blassesten Schimmer, was ich kaufen soll«, erklärte er. »Ich meine – ich will ja nicht, dass die Katze krank wird, oder so…«
    Der Mann lachte. »Nehmen Sie einfach zwei oder drei verschiedene Beutel an Frischfutter und das hier!« Er reichte ihm eine Packung Trockenfutter.
    »Und das reicht?«, fragte Kōsuke verunsichert.
    »Keine Sorge. Das haben bisher alle meine Kleinen gemocht«, versicherte ihm der nette Herr schmunzelnd und schob seinen Einkaufswagen weiter.
    »Danke für Ihre Hilfe!«, rief er ihm nach, nahm sich eine Packung mit Hühnerfleisch, eine mit Rind und eine weitere mit Fisch aus dem Regal und ging zur Kasse.

    Nach seinem Einkauf machte sich Kōsuke wieder auf den Weg zu Frau Tsukimuras Wohnung. Vor dem Wohnhaus hielt er an. Es dämmerte bereits und die Außenlichter des Gebäudes waren schon an. ›So, Yuki, gleich bekommst du dein Abendessen.‹ Er stieg aus dem Auto und blickte hinauf zu ihrer Wohnung. ›Der Schlüssel…‹ Er hatte ihn bei seiner Begegnung mit Frau Tsukimuras Nachbarn vor Schreck in seine Sakkotasche gesteckt.
    Möglichst leise und unauffällig begab er sich nach oben. Vor ihrer Türe angekommen wollte er gerade aufsperren, da öffnete sich die Nachbartüre, diesmal auf der rechten Seite.
    »Ah – guten Tag…?«, grüßte ihn eine Dame mittleren Alters etwas überrascht. Sie hielt eine Tüte mit Abfall in der Hand und wollte diesen vermutlich gerade entsorgen.
    ›Das muss Frau Miyamoto sein…‹ Kōsuke verneigte sich. »Gute Tag…«
    »Und Sie sind…?«, fragte die Frau skeptisch und musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.
    »Ich bin… Ah, Sie müssen Frau Miyamoto sein. Ich komme wegen Yuki – mein Name ist Sasamoto.«
    »Ach so, Sie holen ihn ab?«, fragte sie erleichtert.
    »Ähm, nein – ich bringe ihm Futter…« Kōsuke deutete auf die Einkaufstüte.
    »Ich dachte, Frau Tsukimura wollte Yuki für ein paar Tage aus der Wohnung haben, weil ja dieser Bekannte eine Katzenhaarallergie hat…«
    »Bekannte?«
    »Ja, der vielleicht ein paar Tage bei ihr übernachten wird – hat sie Ihnen das nicht gesagt?«, wunderte sich Frau Miyamoto.
    »Ach so, doch – doch, hat sie. Frau Tsukimura hat dann aber gemeint, sie werden eventuell doch in ein Hotel gehen…«, entgegnete er spontan. ›Was red’ ich da eigentlich?‹
    »In einem Hotel? Und Sie füttern Yuki einstweilen?«
    »Ja … genau«, bestätigte ihr Kōsuke zurückhaltend.
    »Gut…« Frau Miyamoto lächelte. »Bitte verzeihen Sie mein Verhalten von vorhin – ich habe erst gedacht, dass Sie dieser Bekannte sind und Frau Tsukimura hat gemeint, falls er mir über den Weg laufen sollte, solle ich so tun, als würde ich sie gar nicht kennen und ein Gespräch vermeiden, weil…« Sie hielt inne.
    »Weil?«, hakte Kōsuke impulsiv nach und wollte die Frage im gleichen Moment wieder zurückziehen.
    »So genau hat Frau Tsukimura mir das nicht erklärt. Er soll irgendwann in sie verliebt gewesen sein und seine Eifersucht nicht unter Kontrolle haben. Sie hat gemeint, ich soll erst gar nicht auf ein Gespräch eingehen, sonst würde er mich aushorchen und nicht mehr in Ruhe lassen«, entgegnete sie und seufzte.
    »Verstehe…«, murmelte er in Gedanken versunken. ›Dieser Kerl von den Mails…‹
    »Woher kennen Sie Frau Tsukimura eigentlich?«, fragte ihn die Dame unerwartet.
    »Äh?« Kōsuke schluckte. ›Ich hab sie umgefahren…‹
    »Aus der Arbeit?« Frau Miyamoto sah ihn erwartungsvoll an.
    »Nein, ich – ich wohne nicht weit von hier und…« Unbeholfen kratzte er sich am Kopf und seine Lippen formten sich zu einem milden Lächeln. »Wir haben uns eigentlich zufällig kennengelernt. Ich habe unbemerkt meine Autoschlüssel fallen gelassen und sie hat sie mir gebracht. Das war wirklich sehr freundlich.«
    »Ja, das ist ihre Art. Sie ist immer sehr hilfsbereit«, stimmte sie ihm zu. »Jetzt aber schnell.«
    »Eh?« Kōsuke sah sie verwirrt an.
    »Yuki hat bestimmt schon Hunger«, kicherte sie.
    »Ah, genau.« Er lächelte und sperrte die Tür auf.
    »Einen schönen Abend noch«, wünschte sie ihm, bevor sie den Müll hinunterbrachte.
    »Ihnen auch – danke«, entgegnete er, betrat die Wohnung und schloss die Türe hinter sich.

    Danke euch beiden fürs Lesen und eure Kommis ^^


    @LadyK
    @Nanook

    Also ich kenne die Formulierung "Ich bin mal auf Mittag" ^^ @LadyK @kijkou Es hört sich allerdings sehr nach privaten und nicht besonders seriösen Umgang an, da muss ich LadyK zustimmen. Aber wenn man sich da im Büro nun einmal so kollegial behandelt und so miteinander spricht, ist das doch okay.

    Dass die Katze aber Yuki ist, glaube ich irgendwie auch nicht. Und wie kommt die Katze in den Schrank, wenn die Tür zu war? Sitzt sie da schon den ganzen Tag drin? Warum meldet sie sich dann nicht, als sie jemanden in der Wohnung hört? Sie würde ja erstmal davon ausgehen, dass es ihr Frauchen ist

    Ja, also die zwei zumindest sind Kumpels, also zu nem normalen Kollegen, hätte er das vermutlich nicht gesagt ^^

    Und was die Katze anbelangt - der Schrank war vorher schon offen :)

    Auf einmal hörte er ein Poltern aus dem großen Wandschrank, der einen Spalt offen stand.

    Kleiner Hint zu Yuki


    "Yuki" 雪 bedeutet übersetzt "Schnee" :D

    Kapitel 3.2

    ›Wer seid ihr? Warum starrt ihr mich an? … Was wollt ihr? … Hört auf zu reden!
    Ich will es nicht mehr hören… Sprecht ihr über mich? … Was mache ich hier?
    Was ist das für ein Ort?‹
    Sie sah sich um, doch sie wusste nicht, wo sie war. Die Leute um sie herum kannte sie nicht.
    Sie schienen mit ihr zu sprechen, doch sie konnte sie kaum verstehen und ihnen nicht antworten.
    Wenn sie ihren Mund öffnete und ihre Lippen bewegte, kam kein Laut heraus.
    ›Wie bin ich hierher gekommen? Warum geht ihr nicht weg? Lasst mich in Ruhe!‹
    Sie drehte sich immer wieder um, doch überall um sie herum waren Leute,
    die unaufhörlich auf sie einredeten.
    Sie blickte hinauf in den Himmel, wo endlose Leere herrschte.
    Nicht eine einzige Wolke war zu sehen, von der Sonne fehlte jede Spur und der Himmel war nicht blau,
    sondern weiß. Es war ein seltsames Weiß, das ihr ein eigenartiges Gefühl vermittelte.
    Sie fühlte sich auf eine ihr unbegreifliche Art und Weise verloren.

    Erneut kamen sie über ihn. Die nagenden Schuldgefühle, die wie eine dunkle Wolke über ihm schwebten und ein warnendes Donnergrollen losließen, wie sich Kōsuke an der Marienstatue im Foyer des St. Marianna Krankenhauses vorbei schleppte. Eigentlich war er nicht religiös, doch das Antlitz dieser Statue hatte etwas Übersinnliches an sich, das er sich nicht erklären konnte. Sie schien ihn mit ihren Blicken zu verfolgen, als ob sie genau wüsste, was er getan hatte.
    ›Wo muss ich hin? In welchem Zimmer liegt sie? Verdammt, ich hab vergessen, was die Frau am Telefon gesagt hat. Im dritten Stock, glaub ich… Oder doch im zweiten?‹ Unauffällig bewegte er sich am Empfangsbereich vorbei und gelangte über die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Oben blickte er sich verstohlen um und schritt langsam den Korridor entlang, am Schwesternbereich vorbei und immer weiter, in der Hoffnung, er würde sich wieder erinnern, was die freundliche Angestellte genau gesagt hatte. ›Welche Zimmer­nummer? Ich kann ja schließlich nicht in jedes Zimmer hineinschauen…‹
    Hinter ihm öffnete sich eine Tür und ein Arzt kam mit einer Schwester aus dem Raum.
    »Solange Chō-Chō schläft, können wir ohnehin niemanden informieren. Piepen Sie mich umgehend an, sobald es Neuigkeiten gibt«, wies der Arzt, ein großer Mann und vermutlich Mitte vierzig, die Schwester an.
    »Ja, Herr Doktor«, entgegnete diese, folgte ihm noch ein Stück den Gang entlang und gesellte sich dann zu den anderen Schwestern.
    ›Chō-Chō…?‹, wunderte sich Kōsuke, nachdem er deren Gespräch mitbekommen hatte und blieb stehen. ›Hat dieser Arzt über einen Patienten gesprochen? Aber wieso Schmetterling?‹ Er drehte sich um. ›Zimmer 312 – liegt sie vielleicht hier? …Schmetterling – ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand 'Chō-Chō' heißt. Hmm, Frau Tsukimura hat ja keinen Ausweis bei sich gehabt! Kann es sein, dass sie vielleicht…‹ Ohne den Gedanken noch zu Ende geführt zu haben, steuerte er auf die Türe des Krankenzimmers zu, blickte sich um und öffnete sie einen Spalt, sodass er ins Innere spähen konnte. Mehr als das untere Ende eines Krankenbettes war jedoch von hieraus nicht zu erkennen.
    »Ve–Verzeihung…«, sagte er mit einer derartigen Unsicherheit, während er dem Raum betrat, dass er sich fast schon fragte, ob er es überhaupt laut ausgesprochen hatte. Behutsam schloss er die Türe hinter sich und stand nun in einer Art Vorraum, in dem sich rechts von ihm ein Bade­zimmer befand. Angespannt machte er zwei kleine Schritte vorwärts, um festzustellen, wer in dem Bett lag, doch dies war teilweise von einem Vorhang verdeckt und ließ nur Sicht auf die Bettdecke.
    Kōsuke schluckte. Wieder bekam er Herzklopfen, doch bevor er seiner Nervosität verfiel, schritt er auf das Bett zu und schob den Vorhang entschlossen zur Seite.


    Seine Taten werden einem so richtig ins Bewusstsein gerufen,
    wenn man deren Folgen mit eigenen Augen vor sich sieht. Man stellt fest, dass man erst jetzt
    alles zu realisieren beginnt, obwohl man zuvor schon Gewissheit gehabt hat.
    Ein lähmendes Gefühl der Endgültigkeit droht einem die Kehle zuzuschnüren…
    Kōsuke Sasamoto 笹本幸輔

    Hier lag sie. Ihre Miene frei von jeglichem Ausdruck von Schmerz, ihr zart geformter Mund leicht geöffnet, ihre Augen friedlich geschlossen und sie wirkte schwach und verletzlich. Ihr Atem war flach und unter dem Kopfverband kamen einige ihrer Haarsträhnen zum Vorschein, mittellang, tiefschwarz und ein deutlicher Kontrast zu ihrer blassen Haut. An ihrer Hand war ein Venenzugang gelegt worden, an den eine Infusion angeschlossen war. Diese hing über dem Bett, eine Flasche mit farbloser Flüssigkeit, von der sich alle drei Sekunden ein Tropfen löste.
    ›Frau Tsukimura…‹ Kōsuke machte einen Schritt auf sie zu. »Es tut mir so leid…«, hauchte er leise. ›Wann wacht sie wohl auf? Sie hat vermutlich auch eine Narkose verabreicht bekommen – aber wie lange dauert es, bis sie wieder aufwacht? Als Honoka der Blinddarm entfernt worden ist, war sie schon in weniger als einer halben Stunde wieder völlig munter – aber das kann man bestimmt nicht vergleichen…‹ Er stellte einen Stuhl vom Tisch aus der Ecke rechts vom Bett neben dieses, setzte sich und sah die Frau in Gedanken versunken an. ›Soll ich versuchen, sie aufzuwecken? Besser nicht – womöglich schadet ihr das noch. Wenn ihr Zustand es zulässt, wacht sie bestimmt von selbst auf, sonst hätte sie der Arzt doch sicher schon aufgeweckt. Vermutlich ist Ruhe momentan das beste für sie…‹ Er erhob sich, rückte den Stuhl zurück und wandte sich der Frau wieder zu. ›Aber wenn sie aufwacht und ganz alleine ist…‹ Voller Sorge runzelte er die Stirn. ›Ich muss ihre Familie irgendwie ausfindig machen und kontaktieren. Eigentlich müsste ich zur Polizei gehen – aber diese Nachricht auf dem Handy der Frau… Abgesehen davon bin ich ohne Erlaubnis in ihre Wohnung eingedrungen – was hab ich mir eigentlich dabei gedacht? Wenn ich den Beamten das Handy einfach gegeben hätte, nachdem ich es gefunden habe, dann hätte ich jetzt…‹ Gestresst fuhr er sich durchs Haar. ›Dann hätte ich jetzt keine Probleme? Keine Verantwortung… nein, ich trage die volle Verantwortung. Dank meiner Unachtsamkeit, hat jetzt diese Frau Probleme – und zwar richtige, ernsthafte Probleme. Worüber reg’ ich mich eigentlich auf!? Ich bin selbst schuld, also muss ich mich jetzt auch um den Rest kümmern und wenigstens ihre Familie irgendwie benachrichtigen.‹ Er seufzte. ›Die Daten – ich muss mir unbedingt die Daten von ihrem Handy ansehen. Da finde ich sicher die Kontakte ihrer Familienangehörigen…‹ Kōsuke warf einen Blick auf seine silberne Armbanduhr. Es war kurz vor drei. ›Wenn ich jetzt schon heim komme, wird mich Honoka sofort zur Rede stellen und ich hab jetzt nicht die Nerven, ihr davon zu erzählen… Ich könnte in ein Internetcafé gehen.‹ Er atmete tief durch. »Es tut mir unglaublich leid. Bitte erholen Sie sich schnell wieder, Frau Tsukimura«, flüsterte er über sie gebeugt und begab sich dann zur Türe. Nur ein kleines Stück öffnete er diese und lugte hinaus, um etwaige Begegnungen mit dem Personal zu vermeiden. Als niemand zu sehen war, huschte er durch den Gang und steuerte direkt auf das Treppenhaus zu.

    Wie er durch das Foyer das Krankenhaus verlassen wollte, hörte er jemanden seinen Namen rufen und drehte sich perplex um.
    »Waren Sie oben?«, fragte ihn eine Frau in einem gelben Kleid. Erst, als er ihre grünen Frosch­-Ohrringe sah, erkannte er sie, die Angestellte, die am Vormittag so entgegenkommend war.
    »Ich – ich dachte, Ihre Schicht war zu Ende«, meinte er verwundert.
    »Ja, ich habe mit meinem Freund hier in der Nähe zu Mittag gegessen und meine Sachen einstweilen hier gelassen – die hab ich jetzt abgeholt.« Sie deutete auf eine große rote Stofftasche, die sie über ihre linke Schulter trug. »Nun sagen Sie schon – waren Sie oben bei ihr?«, fragte sie ungeduldig, ohne ihre Neugierde zu verstecken.
    »Ja, ich war oben, aber … sie ist noch nicht wieder aufgewacht«, entgegnete er bedrückt.
    »Das dauert manchmal eine Zeit. Machen Sie sich deswegen jetzt nicht verrückt. Doktor Hayashi ist ein hervorragender Arzt. Sie wird bestimmt bald wieder völlig gesund«, entgegnete Frau Nagayama mit unerschütterlichem Optimismus.
    »Ich hoffe wirklich, Sie haben recht«, meinte Kōsuke zerknirscht.
    »Sind Sie mit dem Auto hier?«, wechselte die Krankenhausangestellte das Thema und begleitete ihn nach draußen.
    »Ja… Soll ich Sie wohin mitnehmen?«, fragte er höflich.
    »Oh, nichts für ungut. Ich nehme lieber den Bus«, antwortete sie zurückhaltend.
    »Ich verstehe…«, japste Kōsuke wie erschlagen.
    »Nein – also so hab ich das nicht gemeint! Ich treffe mich gleich mit meiner kleinen Schwester – sie steigt zwei Stationen später zu«, erklärte sie milde.
    Er blickte sie wortlos an und brachte nur mühsam ein unbeholfenes Lächeln zuwege.
    Frau Nagayama klopfte ihm kräftig auf die Schulter, wofür sie sich auf ihre Zehenspitzen stellen musste. »Versuchen Sie ein wenig lockerer zu werden«, sagte sie tadelnd, aber mit sanfter Miene, drehte sich um und lief zur Bushaltestelle.
    »Lockerer…«, wiederholte er leise, nahm seinen Autoschlüssel zur Hand und ging zu seinem Wagen. Nachdem er eingestiegen war, begann er in seinem Mobiltelefon nach einem Internetcafé in der Nähe zu suchen. ›Zehn Minuten von hier scheint eines zu sein…‹ Kōsuke startete entschlossen den Motor und fuhr los.



    Kapitel 3.1


    ›Ganz weiß – so weiß wie Schnee…‹
    Behutsam machte Kōsuke einen kleinen Schritt zurück. Bemüht, hastige Bewegungen zu vermeiden ging er langsam in die Hocke. Sein bisher angespannter Gesichtsausdruck wandelte sich zu sanfter Miene. »Du bist Yuki, nicht wahr?«, fragte er mit ruhiger gedämpfter Stimme.
    Auch seine Mundwinkel verzogen sich allmählich zu einem dezenten Lächeln. »Du brauchst keine Angst haben. Ich tu dir nichts.«
    Zwischen einem kleinen grauen Staubsauger und übereinander gestapelten Kartons saß eine Katze und beäugte den Eindringling misstrauisch mit ihren großen grünen Augen.
    ›Eine schneeweiße Katze. Das muss Yuki sein…‹ Kōsuke atmete erleichtert auf. ›Aber warum hätte Frau Miyamoto eine Katze abholen sollen?‹
    Da fiel Kōsuke der Kalender wieder ein. Er stand langsam auf und nahm diesen vom Tisch neben ihm.
    »Du kannst mir ja vermutlich nicht sagen, warum du abgeholt hättest werden sollen, oder?«, meinte er sich an die Katze gewandt, die ihn immer noch skeptisch musterte, und schüttelnde lächelnd den Kopf. Er setzte sich mit dem Kalender auf das Sofa und seufzte. ›Letzte Woche – keine Einträge… Und nächste?‹
    Besessen von dem Gedanken, mehr herausfinden zu wollen, blätterte er weiter, doch es waren keine zukünftigen Ereignisse eingetragen. ›Seltsam…‹ Er suchte nach dem Blatt von vorletzter Woche. ›Vor zwei Wochen war sie laut diesem Eintrag beim Arzt…
    Am Samstag – 'Yomiuri'. Vielleicht war sie im Vergnügungspark.‹ Kōsuke blätterte weiter zurück. ›Inventur am 9. – Café, Shi-Chan(1) am 7. Oktober – DVD am 2. – das ist doch alles Zeitverschwendung!‹ Niedergeschlagen legte er den Kalender beiseite.
    ›Ich muss endlich in die Arbeit. Uehara wird bestimmt…‹ Auf einmal spürte er etwas an seinem Bein und blickte hinunter. »Na, hast du dich aus deinem Versteck herausgewagt?« Die Katze schnupperte an seiner Hose und sah immer wieder zu ihm auf. »Hast du überhaupt noch etwas zu fressen?«, kam Kōsuke in den Sinn. Er stand auf, ging in die Küche und hielt nach Katzenfutter Ausschau. Als er sich bückte entdeckte er unter dem Küchentisch einen Fressnapf und einen Wasserspender. »Hmm, Wasser hast du noch genug. Wo bewahrt denn Frau Tsukimura dein Futter auf – weißt du das?«, fragte er die Katze, die ihm nachgelaufen war. Er suchte in den Küchenschränken nach Futter, fand aber nichts. Das hungrige Tier miaute und schmiegte sich an seine Beine. »Ich habe leider nichts für dich«, sagte Kōsuke mit Bedauern, runzelte die Stirn und überlegte kurz. ›Aber ich hab doch vorher…‹
    Er warf noch einmal einen Blick in den Hängeschrank über der Spüle. »Ja, das geht. Das schmeckt dir bestimmt. Da könnte keine Katze widerstehen.« Lächelnd nahm er eine Dose Thunfisch aus dem Schrank, stellte sie auf den Tisch und holte dann den leeren Fressnapf unter diesem hervor. Nachdem er die Dose geöffnet hatte, begann die weiße Katze unaufhörlich zu miauen, da sie genau wusste, dass sie gleich etwas zu fressen bekommen würde und ihr schon der Fischgeruch in die Nase gestiegen war.
    »Ist ja gut…« Kōsuke stellte den Napf gefüllt mit saftigen Thunfischstückchen auf den Boden und sofort stürzte sie sich darauf. »Lass es dir schmecken«, meinte er erleichtert darüber, dass das arme Tier vorerst versorgt war.
    ›So, jetzt aber schnell ins Büro – ich muss das Projekt fertig bekommen. Wenn Nishimura die Verträge heute geschickt hat, wird Uehara das Programm noch vor dem Wochenende fix und fertig geprüft auf seinem Schreibtisch haben wollen.‹ Er nahm sein Sakko vom Stuhl, ganz vorsichtig, um die Katze nicht zu erschrecken, schlüpfte hinein und eilte in den Vorraum. »Keine Sorge, Yuki. Ich werde dir später noch Futter vorbeibringen«, versicherte er der Katze, ohne sich noch konkrete Gedanken diesbezüglich gemacht zu haben. ›Wenn Frau Tsukimura noch im Krankenhaus bleiben muss, werde ich mich natürlich um die Katze kümmern … sofern sie das möchte und sonst niemanden hat…‹ Kōsuke zog seine Schuhe an, öffnete die Türe, trat hinaus und schloss ab. Nachdem er den Schlüssel abgezogen hatte, hielt er inne und betrachtete ihn. ›Soll ich ihn bei mir behalten oder…?‹
    Auf einmal öffnete sich die Eingangstüre der Nachbarwohnung, woraufhin er erschrocken den Schlüssel in seine Tasche gleiten ließ. Ein Mann mittleren Alters, der grüne Arbeitskleidung trug und ein Handtuch um den Kopf gebunden hatte, trat heraus und ihre Blicke trafen sich.
    »Äh… Guten Tag«, grüßte ihn der Mann, in dessen Stimme eine Spur von Beklommenheit lag, und schloss seine Tür, ohne sich von Kōsuke abzuwenden.
    »Guten Tag…«, entgegnete er ganz automatisch und war wie erstarrt.
    Die Augen des Mannes, in denen sich Verunsicherung deutlich abzeichnete, fixierten die seinen, sodass ihn mit einem Mal ein Gefühl von Unbehagen wie eine Welle überrollte. Er hätte nichts lieber getan, als sich abzuwenden, tat es aber nicht, um sich in keinster Weise auffällig zu verhalten. Immer noch starrten sie sich an, als plötzlich das Telefon des Mannes läutete und dieser, sowie auch Kōsuke zunächst aufschreckte, dann aber beide darüber erleichtert zu sein schienen.
    »E–Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Mann schließlich, deutete mit dem Kopf eine demütige Verneigung an und zog sich wieder in seine Wohnung zurück.
    Kōsuke atmete auf und seine Körperhaltung entspannte sich langsam wieder. ›Ihr Nachbar…? Wieso hat er mich so seltsam angestarrt?‹ Er schüttelte den Kopf, als wolle er alle weiteren Gedanken vertreiben.
    Eilig begab er sich zurück zu seinem Wagen. Es war höchste Zeit, dass er sich auf den Weg in die Arbeit machte.

    Als sich die Türe des Aufzugs öffnete, kam ihm Takagi entgegen und rannte ihn beinahe um.
    »Sasamoto!«, rief dieser verwundert. »Ich dachte, du kommst heute nicht.«
    »Ich habe… Es ist – eigentlich wollte ich… Das Projekt – es soll heute noch fertig werden«, versuchte Kōsuke zu erklären, brachte aber keinen vollständigen Satz zustande.
    »Ja, ich weiß. Uehara hat Kawaji gebeten, es sich anzusehen«, entgegnete Takagi.
    »Kawaji!?«, fuhr es aus ihm mit Entsetzen heraus.
    »Mir war auch nicht gerade wohl bei dem Gedanken. Fahr am besten gleich zu Uehara hinauf und klär das.« Sein Kollege drückte den Knopf für die zwölfte Etage und deutete ihm, er solle einsteigen. »Ich bin mal auf Mittag – bis dann!«, meinte Takagi und winkte ihm noch, während sich die Aufzugtüre schloss.
    Mit fest zusammengepressten Lippen drehte Kōsuke einmal um die eigene Achse und fuhr sich durch sein Haar. ›Kawaji – verdammt! Er hat Uehara bestimmt bekniet, dass er das Projekt übernehmen darf. Aber es war meine Idee und ich hab sie mit Hiros Hilfe umgesetzt. Wenn Kawaji glaubt, er kann ausnutzen, dass Hiro gerade im Ausland ist und ich…‹ Kraftlos lehnte er sich an die Innenwand des Aufzugs. Seine Gedanken verschwammen zu einem einzigen Chaos aus Wut, Angst, Ungewissheit, Sorge und Schuldgefühlen.

    Die Dame am Empfang im zwölften Stock lächelte Kōsuke freundlich an, sowie sie von ihm Notiz genommen hatte. »Herr Sasamoto, geht es Ihnen gut?«, fragte sie mit besorgtem Tonfall. »Herr Uehara hat erzählt, Sie hatten einen Unfall?«
    »Ja – nein… Es – es geht mir gut«, sprach er leise. »Ist Herr Uehara in seinem Büro?«
    »Er ist vor einer ganzen Weile etwas essen gegangen und müsste bald wieder zurück sein. Wollen Sie in seinem Büro auf ihn warten?«
    »Ja, bitte«, entgegnete er zurückhaltend.
    Die Dame kam hinter dem Empfangstresen hervor und geleitete ihn zu Ueharas Arbeitszimmer. »Wollen Sie vielleicht einen Kaffee – oder Tee?«, fragte sie fürsorglich.
    »Ähm… Ein Kaffee wäre toll, vielen Dank…« Er verneigte sich verhalten und setzte sich an den Glastisch auf das kleine Sofa. Die Sekretärin nickte und eilte hinaus. Kurz darauf vernahm Kōsuke Ueharas Stimme von draußen.
    »Er ist hier!?«, stieß dieser mit lautem Tonfall hervor, sodass es durch den ganzen Korridor hallte.
    Kōsuke fuhr hoch und im gleichen Augenblick stürmte sein Vorgesetzter zur Tür herein.
    »Sasamoto!«, rief dieser aufgelöst, kam auf ihn zu und überraschte ihn mit einer rauen Umarmung. »Sie haben mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!«
    ›Was ist denn jetzt los?‹ Mit weit aufgerissenen Augen und völlig starrer Haltung musste Kōsuke zunächst einmal schwer schlucken. Er brachte kein Wort hervor.
    Uehara ließ ab von ihm und musterte ihn von oben bis unten. »Nachdem ich nichts von Ihnen gehört und Sie auch nicht erreicht habe, habe ich schon befürchtet, die haben Sie dortbehalten«, meinte er bestürzt.
    »Die…?« Kōsuke warf ihm einen irritierten Blick zu.
    »Im Krankenhaus. Es kommt schließlich nicht selten vor, dass man im Schockzustand nach einem Unfall Verletzungen erst viel später bemerkt«, erklärte ihm sein Vorgesetzter.
    »Ich…«
    »Jedenfalls sehen Sie furchtbar aus«, unterbrach Uehara ihn und deutete ihm, Platz zu nehmen, als die Dame vom Empfang den Kaffee hereinbrachte. »Sie sollten nach Hause – sich hinlegen«, rügte er ihn kopfschüttelnd.
    Kōsuke bedankte sich leise für den Kaffee und blickte dann zu Uehara auf. »Das Projekt – ich wollte es noch vor dem Wochenende fertigstellen. Wenn Herr Nishimura…«
    »Lassen Sie Nishimura nur meine Sorge sein«, fiel dieser ihm ins Wort. »Inhaltlich haben Sie doch bereits alles überprüft und die Datenbank für den Testlauf ist auch soweit vollständig. Die Software muss also lediglich auf ihre technische Funktionalität überprüft werden, richtig? Und diese Aufgabe habe ich Kawaji übertragen. Er wird sich noch einmal die technischen Details ansehen und den Testdurchlauf machen. Solange Ishikawa nicht im Haus ist, kann ohnehin nur Kawaji diesen Part übernehmen. Sie sind, soweit ich weiß, keine Koryphäe im Bereich Software und Programm­entwicklung, richtig?«
    »Aber…«
    »Es ist Ihr Projekt, Sasamoto. Keine Sorge«, beruhigte ihn Uehara mit einem leicht amüsierten Lächeln auf dem Gesicht.
    Kōsuke seufzte und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
    »Gehen Sie nach Hause. Ich brauche Sie nächste Woche wieder frisch und erholt«, sprach sein Vorgesetzter sanft, aber fordernd.
    »Jawohl, Chef.« Einlenkend stand er auf und verneigte sich. »Bitte verzeihen Sie…«
    »Nun gehen Sie schon. Schlafen Sie sich aus. Leihen Sie sich ein paar nette Filme aus. Besuchen Sie ein Badehaus. Ich will Sie montagmorgens wieder mit mehr Farbe im Gesicht sehen, haben Sie gehört?« Uehara klopfte ihm auf die Schulter, öffnete die Tür und schob ihn regelrecht aus seinem Büro. Als er sich zu ihm umblickte deutete sein Vorgesetzter streng zum Aufzug, drehte sich um und verschwand wieder im Arbeitszimmer.
    Mit einem mehr als schlechten Gewissen begab sich Kōsuke ins Parkhaus. ›Uehara ist mir manchmal ein richtiges Rätsel. Ich hoffe, er ist nicht verärgert – nein, den Anschein hat es nicht gemacht. Ich glaube, er hat sich wirklich gesorgt. Er ist ein viel zu gutmütiger Mensch. Mir ist absolut nichts passiert – ich war es, der den Unfall verursacht hat – durch meine Unachtsamkeit und Dummheit. Ich verdiene seine Nachsicht nicht.‹ Er hielt mitten auf dem Fahrstreifen an und blickte auf den Boden. ›Wie es Frau Tsukimura wohl geht? Vielleicht sollte ich nach ihr sehen…‹ Ein Ausdruck von Besorgnis lag auf seinem Gesicht und sowie er den Gedanken gefasst hatte, steuerte er auch schon auf seinen Wagen zu.


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    1. Ein Suffix, das an Namen von Kindern oder Personen, die man sehr gut kennt (meist weiblich) angehängt wird


    Kapitel 2.3

    ›Bin ich froh, dass ich da raus bin‹, dachte Kōsuke und blickte sich noch einmal um. ›'Mad Monkey' – der Name passt definitiv. Total schräger Vogel, dieser Yū. Ich frage mich wirklich, woher Hiro ihn kennt…‹
    Der Duft von frisch gebackenem Brot stieg ihm in die Nase, als er an der Bäckerei vorbeikam. Sogleich erinnerte ihn sein Magen daran, dass er noch nichts gegessen hatte, doch er würde jetzt ohnehin keinen Bissen hinunterbekommen.
    Er ging zurück zum Parkplatz, bezahlte beim Automaten 200 Yen und stieg in seinen Wagen. Den USB-Stick legte er behutsam in einem kleinen Fach der Mittelkonsole ab, startete das Navi und gab die Adresse ein, die auf dem Blatt Papier stand. ›Vor Mittag werde ich wohl nicht dort ankommen. Soll ich Uehara anrufen? Nein, das kostet nur noch mehr Zeit, ich ruf im Büro an, sobald ich dort war.‹ Er startete den Motor und wollte gerade losfahren, da spürte er das Vibrieren seines Mobiltelefons. Auf dem Display war ein eingehender Anruf zu sehen.
    ›Honoka…‹ Sein Daumen wanderte über das grüne Symbol zum Entgegennehmen von Anrufen, stoppte jedoch abrupt ab. ›Nein, nicht jetzt… Ich kann jetzt nicht‹, dachte er mit gerunzelter Stirn und steckte das Telefon wieder ein. ›Yuki…‹ Er atmete tief durch und fuhr los.


    Nach etwas weniger als einer halben Stunde erreichte Kōsuke sein Ziel. Die Adresse führte ihn in eine Sackgasse, die an einen Park angrenzte. Vor einem Wohnhaus mit acht Wohneinheiten hielt er an und machte den Motor aus.
    ›Tsukimura…war ihr Name…‹ Er warf noch einmal einen Blick auf den Zettel mit der Adresse ›Nummer 203…‹ Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend stieg er aus und musterte das Gebäude. Es war grau und hatte jeweils vier Wohneinheiten im Erdgeschoss und im ersten Stock. ›203 muss oben sein.‹ Kōsuke blickte sich unauffällig um. ›Keiner zu sehen… Warum bin ich so nervös?‹ Seine Hände waren eiskalt und sein Herzschlag wurde deutlich schneller, als er sich dem Haus näherte.
    Möglichst geräuschlos ging er die Treppe nach oben in den ersten Stock und blickte verstohlen ums Eck in den Gang. Auf diesem befanden sich vier Türen. Entlang der Brüstung standen zahlreiche Blumentöpfe vor drei der Wohnungen, nur vor einer befand sich nichts.
    ›Was hat Frau Miyamoto am Telefon über den Schlüssel gesagt…?‹, überlegte er, während er langsam an den Türen 201 und 202 vorbeischritt. Bei der nächsten hielt er an. Auf dem Boden lag eine braune Fußmatte, auf der 'Welcome' in violetten Buchstaben geschrieben stand.
    Langsam richtete er seinen Blick nach oben auf das Namensschild neben der Türklingel.
    ›Tsukimura. Hier ist es also, hier wohnt sie.‹ Abermals vergewisserte er sich, dass ihn niemand beobachtete, da fielen ihm die Shiso-Blätter in einem länglichen Topf direkt vor der Brüstung auf. ›Hier! Hier drin hat sie den Schlüssel versteckt‹, erinnerte er sich. Er ging in die Hocke und fuhr mit seiner Hand leicht über die Blätter, was auf seiner Handfläche kitzelte. ›Bitte, sei da drinnen‹, dachte er, tastete nach dem Schlüssel und fand ihn tatsächlich.
    Sofort stand er auf, drehte sich um und steckte ihn in das Türschloss. Er hielt den Atem an, wie er den Schlüssel umdrehte, bis er das Klack-Geräusch des Schlosses vernahm, das sich entriegelte. ›Es ist offen… Ich muss sofort herausfinden, wer Yuki ist.‹ Angespannt zog er den Schlüssel wieder ab und atmete verkrampft aus, nachdem er bemerkt hatte, dass er immer noch unbewusst die Luft angehalten hatte. Zaghaft öffnete er die Tür und trat ein.

    Es war dunkel im Vorraum. »H–Hallo?«, stieß er plötzlich hervor. ›Was zum Teufel mach ich da eigentlich?‹ Er tastete nach dem Lichtschalter. ›Ganz ruhig…‹ Nachdem er ihn betätigt hatte und der Raum erhellt war, blickte er sich um.
    Im Eingangsbereich hing eine rosafarbene Strickjacke an der Garderobe. Zwei Paar Schuhe standen ordentlich auf die Türe gerichtet da – blaue Sneakers und ein zierliches Paar hübscher gelber Ballerinas mit violetter Schleife darauf.
    Als er wieder aufblickte, sah er sein Spiegelbild in dem schmalen Wandspiegel direkt vor ihm, dessen Rahmen mit kleinen Muscheln beklebt war. Er war sehr blass und seine Augen leicht gerötet.
    Schließlich zog er sich die Schuhe aus und blickte links um die Ecke. In dem kleinen Vorraum befanden sich zwischen zwei Türen ein hohes Regal und eine kleine Anrichte aus hellem Holz.
    Kōsuke öffnete die erste Tür, gleich links neben dem Wandspiegel. ›Die Küche… ziemlich klein‹, dachte er und trat ein. Abgesehen von einer übersichtlichen Einbauküche mit Gasherd befanden sich noch ein breites Regal, ein kleiner Kühlschrank und ein winziger Tisch mit zwei Stühlen in diesem Raum. Im Regal stand ein Reiskocher, eine Mikrowelle und zwei Aufbewahrungsboxen aus Kunststoff mit jeweils drei Schubladen. Auch in der Küche wirkte es ziemlich düster, also ging Kōsuke hinüber zum Tisch und öffnete die blau-weiß gestreiften Vorhänge, die vor die Fenster gezogen waren. Er holte nun das blaue Klapp­handy von Frau Tsukimura aus seiner linken Sakkotasche und legte es auf dem Tisch ab, nahm sein eigenes Telefon aus der anderen Tasche und platzierte es daneben. Mit einem schweren Atemzug zog er sein dunkelgraues Sakko aus und hängte es sorgfältig über einen der Stühle.
    Auf einmal vernahm er ein Geräusch aus dem Nebenraum.
    »Was…« Er fuhr herum. ›Was war das? Da war doch was!‹ Vorsichtig öffnete er die Schiebetür, die die Küche und das Wohnzimmer voneinander abtrennte, einen Spalt und sah hindurch.
    ›Da ist … nichts‹ Sein Blick schweifte durch den Raum.
    In der Mitte stand ein violettes Sofa auf einen Flachbildfernseher gerichtet und ein kleiner Couchtisch davor, auf dem Zeitschriften und ein dickes Buch lagen. An der Wand gegenüber der Küche befand sich ein Arbeitstisch mit einem Notebook, einer Lampe und einem Kalender darauf. Darüber hing ein großes Poster im Querformat von der Landschaft einer vermutlich afrikanischen Steppe mit Sonnenuntergang. Rechts vom Tisch war ein großer Wandschrank und hinter dem Sofa ging es hinaus zum Balkon. In der Ganzen Wohnung war nichts Auffälliges zu sehen. Nichts deutete darauf hin, wer hier lebte.
    Plötzlich ertönte ein lautes Surren hinter ihm. Kōsuke blieb beinahe das Herz stehen. Sein Handy vibrierte auf der Tischplatte. Wieder halbwegs gefasst nahm er es zur Hand und sah eine Nummer aufscheinen, die er nicht eingespeichert hatte. Mit gemischten Gefühlen nahm er den Anruf entgegen.
    »Ja?«, hauchte er beklommen.
    »Herr Sasamoto? Nagayama spricht«, meldete sich eine weibliche Stimme.
    »Äah… ja?«
    »Was!? Sie haben mich schon vergessen!?«, meinte die Dame entsetzt, kicherte jedoch verspielt.
    »Frau Nagayama – ich, ähm…« Kōsuke fuhr sich gestresst durchs Haar.
    »Ich nehme Sie doch nur auf den Arm. Ich dachte, dass Sie ein wenig Aufmunterung gut gebrauchen könnten. Jedenfalls rufe ich Sie an, um Ihnen mitzuteilen, dass sie die Patientin jetzt auf ein Zimmer verlegt haben.«
    ›Ach, die nette Dame an der Information im Krankenhaus…‹, wurde ihm nun klar.
    »Jedenfalls ist meine Schicht bald zu Ende und ich wollte Ihnen unbedingt noch Bescheid geben, bevor ich gehen«, sagte sie.
    »Ich danke Ihnen, Sie sind ein Schatz. Wie – wie geht es ihr jetzt?«, fragte er angespannt.
    »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich weiß nur, dass sie noch nicht aufgewacht ist, aber soweit ich das richtig verstanden habe, ist sie stabil«, entgegnete Frau Nagayama.
    »Ich verstehe… Wo – in welchem Zimmer liegt sie denn?«
    »Wenn ich Ihnen das sage – also das darf ich eigentlich nicht. Sie wollen sie doch nicht etwa besuchen?« Sie seufzte. »Ach, was soll’s – aber das wissen Sie nicht von mir«, überkam es sie.
    »Natürlich, ich werde nichts sagen«, versicherte er ihr.
    »Na gut. Sie liegt im zweiten Stock. Zimmer 312. Wenn Sie während der Besuchszeiten kommen, wird vermutlich niemand nachfragen…«
    »Vielen Dank! Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr Sie mir geholfen haben.«
    »Gut, das freut mich. Ich muss jetzt weiter. Viel Glück!«, wünschte sie ihm noch und beendete das Gespräch.
    Kōsuke atmete auf.
    Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer und sah sich um. Fotos hatte sie keine herumstehen.
    ›Hmm, vielleicht finde ich darauf irgendwelche Informationen.‹ Entschlossen steuerte er auf den Arbeitstisch zu, setzte sich auf den Plastikklappstuhl, klappte das Notebook auf und startete es. Ungeduldig klopfte er mit den Fingern auf dem Tisch herum, während er wartete, dass das System hochfuhr. Er nahm einstweilen den Standkalender zur Hand. ›Da ist ja noch die letzte Woche aufgeschlagen.‹ Kōsuke blätterte um und bemerkte, dass das Kalenderblatt von dieser Woche fehlte. Er wandte sich wieder dem Notebook zu.
    ›Verdammt! Wie ich es mir gedacht habe – passwortgeschützt.‹ Resigniert ließ er sich in den Stuhl sinken und starrte auf das Eingabefeld. ›Vielleicht ist es…‹ Er tippte 'Yuki' in allen möglichen Schreibvarianten ein, doch keine davon war das gesuchte Passwort. ›Was könnte es noch sein? Ich kenne die Frau überhaupt nicht, wie soll ich da auf ihr Passwort – Was!!?‹ Er schreckte hoch, da er aus dem Augenwinkel etwas wahrgenommen hatte. Die Türe, die vom Wohnzimmer in den Vorraum führte, öffnete sich langsam.
    »H–Hallo?«, fragte er irritiert. ›Ein Windzug? Es sind doch alle Fenster geschlossen…‹ Völlig überfordert fasste er sich an die Stirn. ›Ich muss mich jetzt wirklich bald im Büro melden – das Projekt muss heute noch fertig werden!‹ Kopfschüttelnd klappte er das Notebook wieder zu und erhob sich. Gleich nachdem er einen Schritt Richtung Küche gemacht hatte, spürte er, wie sich Druck in seinem Kopf aufstaute und ihm wurde langsam schwarz vor Augen. »Aah…«, hauchte er und stützte sich auf dem Sofa ab. Kōsuke brach kalter Schweiß aus und er sank in die Knie. Ihm wurde von einem Moment auf den anderen richtig übel und er fragte sich, was mit ihm los war. Allmählich kam sein Sehvermögen zurück. Der Druck in seinem Kopf ließ nach und rieselte wie eiskalter Regen regelrecht von ihm ab. Schwer atmend mit einem Arm über der Sofa­lehne blickte er sich um.
    ›Ich hab heut’ noch gar nichts gegessen – bestimmt macht nur der Kreislauf schlapp. Soll ich in der Küche nachsehen, ob etwas da ist?‹, fragte er sich und rappelte sich auf. Aschfahl trottete er zum kleinen Kühlschrank, der sich hinter der geöffneten Küchentür befand und blieb davor unentschlossen stehen. ›Was tu ich da eigentlich?‹, haderte er mit sich. Erst drang er unbefugt in die Wohnung der Frau ein und jetzt wollte er sich auch noch an den Lebensmitteln im Kühlschrank vergreifen. Er seufzte und öffnete ihn dennoch. Nachdenklich musterte er dessen Inhalt. Eier, grüner Salat, Udon1, diverse Saucen, Milch, Butter und Joghurt befanden sich darin.
    ›Ja, das könnte ich essen. Es wird ohnehin schlecht, wenn Frau Tsukimura noch im Krankenhaus bleiben muss‹, wollte er sein Gewissen beruhigen und griff nach dem Joghurt.
    Auf einmal hörte er ein Klappern aus dem Vorraum. ›Das gibt’s doch nicht…‹ Völlig entnervt streckte er den Kopf zur Küchentür hinaus und lugte ums Eck. Der Vorraum war leer und niemand zu sehen. ›Jetzt reiß dich zusammen!‹ Mit zittrigen Händen holte er schließlich den Joghurtbecher aus dem Kühlschrank und durchsuchte die Schubladen in der Einbauküche nach einem Löffel. Als er fündig wurde, setzte er sich an den Tisch, öffnete den Becher und tauchte den Löffel langsam ein. ›Naturjoghurt… Zwar kein Fünf-Sterne-Menü, aber ich brauche unbedingt etwas im Magen. Bitte verzeihen Sie, Frau Tsukimura.‹

    Nach den ersten paar Löffeln fühlte Kōsuke sich wieder kräftiger und auch die Farbe kehrte langsam in sein Gesicht zurück. Zügig aß er auf und wollte den leeren Becher schließlich entsorgen, da schaltete sich unerwartet der Fernseher ein. Er blickte ins Wohnzimmer hinüber und ihm war so, als hätte er einen Schatten vorbeihuschen gesehen. Skeptisch legte sich seine Stirn in Falten und er stellte den Joghurtbecher wieder auf dem Tisch ab. ›Lächerlich… Jetzt gehen langsam die Nerven mit mir durch…‹ Mit durch den Raum schweifendem Blick näherte er sich dem Sofa, wo die Fernbedienung lag und machte das TV-Gerät wieder aus. ›Vielleicht ist dieser ganze Tag einfach nur ein Traum – ein beschissener Albtraum‹, hoffte er trotz der dunklen Befürchtung, dass dies nicht so war. Auf einmal hörte er ein Poltern aus dem großen Wandschrank, der einen Spalt offen stand. Ein kleines Plüschtier lag direkt davor auf dem Boden. »Ist – ist da jemand?«, fragte er mit deutlich hörbarer Verunsicherung. ›Was war das?‹ Das Plüschtier, das schon ein wenig mitgenommen schien, erweckte seine Aufmerksamkeit und er ging ein paar Schritte auf den Schrank zu. ›Ein Teddy…?‹ Er schluckte. Auf seiner immer noch gerunzelten Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen und sein Herzschlag wurde zunehmend schneller. Seine Hand streckte sich gegen seinen Willen wie von selbst der Schiebetür des Schranks entgegen, obwohl sich sein Körper verkrampfte und sich fast jeder seiner Muskeln dagegen wehrte, die Tür zu öffnen. Mit zusammengebissenen Zähnen und stockendem Atem schob er die rechte Schiebetür mit Schwung zur Seite. Als er ins Innere des Schranks blickte, weiteten sich seine Augen.
    »Bist du… bist du etwa Yuki…?«

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    1. Dicke Nudeln

    @LadyK

    Danke dir :)
    LG, kij

    Kapitel 2.2

    Wenig überrascht erblickte er einige Monitore, die quasi die Hauptlichtquelle des sehr kleinen Raums waren. Dieser hatte keine Fenster und die Wände waren von oben bis unten völlig zugeklebt. Links und rechts standen Tische, auf denen sich nur die PC-Screens, Tastaturen und Mäuse befanden. An der Decke war eine Glühbirne angebracht, die ständig ihre Farbe wechselte, und den Raum abwechselnd in Blau-, Grün- oder Rottöne tauchte, aber nicht sonderlich viel Licht spendete.
    Yū hockte vor einem der Monitore und ließ eine selbst entwickelte Software auf das angeschlossene Handy zugreifen. »Alle Daten willst du haben?«, fragte er ohne sich Kōsuke zuzuwenden.
    Dieser war gerade etwas von einem Manga-Mädchen abgelenkt, dass aufreizend animiert nackt über einen der Screens hüpfte und den Anschein erweckte, es wolle mit ihm Kontakt aufnehmen.
    »Nett, oder? Das ist Maki«, erklärte Yū grinsend und wischte sich seinen Speichel weg, der ihm dabei unappetitlich austrat.
    »Was?« Kōsuke schreckte hoch.
    »Nicht so wichtig, Bruder. Also, ich werf’ dir die Daten auf einen USB-Stick, ist das okay?«, fragte Yū ihn amüsiert.
    »Ja… Danke«, entgegnete er und ging etwas auf Abstand, nachdem Maki ihm deutete, näher zu kommen und anfing, sich ihre üppigen Brüste zu massieren. ›Ich muss Hiro unbedingt fragen, woher er diesen Kerl kennt…‹, dachte er und runzelte die Stirn.
    »Ich schätze, in zwei Minuten hast du deine Daten, Bruder.« Yū streckte sich gähnend. »Kannst du mal Control 'G' drücken?«
    »Control 'G'?« Kōsuke sah ihn fragend an.
    Dieser deutet auf den Monitor, auf dem Maki gerade einen sehr exotischen Tanz aufführte. »Sie verwirrt dich ein wenig… Nicht wahr?« Er grinste verschlagen, zeigte auf die Tastatur und rieb seine Hände ineinander.
    »Control 'G'…«, murmelte Kōsuke und drückte beide Tasten, woraufhin Maki plötzlich ein niedliches Kätzchen-Kostüm trug, das ihre Reize vollständig verhüllte.
    »Besser?«, fragte Yū.
    Kōsuke antwortete mit einem gleichgültigen Achselzucken.
    »Hast du ein Problem mit nackten Mädels?« Der bleiche junge Mann fixierte Kōsuke mit durchdringendem Blick.
    »Was? Wieso? Nein, eigentlich nicht – ich meine…«
    »Ist eine völlig natürliche Sache, Bruder. Brauchst dich überhaupt nicht zu schämen«, unterbrach er ihn. »Manche mögen Wassermelonen und manche bevorzugen eben…« Er rollte mit den Augen und grinste. »B-a-n-a-n-e-n … du verstehst?«
    »Nein, ähm – also ich – ich liebe Melonen«, erwiderte Kōsuke zurückhaltend.
    »Ach, echt?« Yū klappte verblüfft den Mund auf und kratzte sich am Hinterkopf.
    »Ja, wieso? Dachtest du etwa… Bananen? …Weshalb?«
    »Hmm… Kann ich dir nicht sagen – ist wie die Sache mit dem Handy«, entgegnete er.
    »Was meinst du?«, fragte Kōsuke jetzt völlig verwirrt.
    »Na ja, hätte eben auch nicht angenommen, dass es dein’s ist, weil du auf mich wie ein Typ wirkst, der sich eher ein iPhone zulegen würde.« Er gähnte gelangweilt. »Mist! Dauert doch noch etwas länger – hab voll vergessen, dass ich die Dateien noch konvertieren muss!«, brach es auf einmal aus dem jungen Mann heraus. Zerknirscht suchte er sich abermals einen Kabelbinder an seinen Armen und zog ihn beachtlich enger. »Scheiße! Zu viel – zu viel!«, kreischte er. Nun wählte er einen weiteren auf seinem anderen Arm und stellte auch diesen um eine Stufe kleiner. Hektisch sah er sich um, öffnete eine Schublade des Tischs neben ihm und holte eine kleine Zange heraus, mit der er den zuvor verstellten Kabelbinder durchtrennte. »So ein Mist!«, fluchte er und warf Kōsuke einen verunsicherten Blick zu.
    »Sch–schon gut – ich hab’s nicht eilig«, meinte dieser vorsichtig und erinnert sich an Hiros Worte, er solle Yūs Arme nicht erwähnen. »Und … auf dem USB finde ich dann quasi alle Informationen? Adresse des Besitzers, Kontakte, Fotos und so weiter?«, kam er auf das ursprüngliche Thema zurück.
    Yū rollte mit den Augen, ließ sich nach hinten in den Stuhl sacken, presste seine schmalen Lippen zusammen und schnaubte. »Sofern der Benutzer Adresse und so weiter angegeben hat, ja. Was hast du denn eigentlich damit vor, Bruder?«
    »Ich – ähm…« Mit der Frage hatte er nun nicht gerechnet. »Sofern die Adresse abgespeichert ist, muss ich sofort dorthin«, entgegnete er impulsiv. »Kannst du eventuell gleich nachsehen?«, fragte er dann etwas angespannt.
    Mit erheiterter Miene ließ Yū seinen Kopf zur Seite kippen. »Von mir aus…«, seufzte er und setzte sich entschlossen auf. Er starrte in den Bildschirm, navigierte von Ordner zu Ordner und wirkte dabei wie ein Roboter. Während er konzentriert nach den Daten suchte, klopften die Fingerspitzen seiner linken Hand rhythmisch auf den Tisch.
    »Kannst du auch gleich nachsehen, ob du irgendwelche Informationen über 'Yuki' findest? Egal was!«, bat Kōsuke ihn energisch, worauf dieser nur kurz nickte und sich wieder in die Daten vertiefte. ›Ob er etwas findet?‹ Er beobachtete Yū eine Weile gespannt, wie dieser auf die Tastatur einhämmerte. ›Er scheint wie in Trance zu sein – soll ich ihn fragen? …Wohl besser nicht.‹
    »Jep, Adresse ist drauf« Yū drehte den Kopf zu ihm um und ließ ihn schräg nach hinten kippen. Seine geröteten Augen fixierten ihn erwartungsvoll. »Aus-d-r-u-c-k-e-n?«
    »Äh – ja«, antwortete Kōsuke wortkarg mit leiser Stimme und faltete bittend seine Hände.
    »Maki! Druckbefehl!«, rief Yū und wandte sich dem Manga-Mädchen zu.
    »Ja, Liebling! Maki erwartet deinen Befehl«, entgegnete sie mit einer niedlichen, hohen Stimme und hüpfte auf und ab.
    »Die Datei 'Entry40031X12.txt' einmal drucken.«
    »Verstanden! Maki sendet gerade den Druckbefehl der Datei 'Entry40031X12.txt'. Druckvorgang startet in Kürze«, quiekte sie vergnügt.
    »Danke, Maki.«
    »Das – das ist…«
    »Nicht schlecht, was?«, fiel Yū Kōsuke ins Wort. »Ich kann sie mittels Sprachsteuerung fast alles machen lassen«, erklärte er stolz. »Na ja, fast alles«, meinte er dann etwas enttäuscht gefolgt von einem leicht verschlagenen Grinsen.
    »Ich verstehe…«, murmelte Kōsuke, obwohl er keine Ahnung hatte, was dieser Eigenbrötler von sich gab.
    »Von einem – oder einer Yuki hab ich nichts gefunden. Kein Telefoneintrag oder ähnliches.«
    ›Verdammt!‹ Kōsuke seufzte enttäuscht.
    »Der Drucker steht draußen«, sagte Yū auffordernd, deutete ihm zurückzutreten, stand mit einem angestrengten Stöhnen auf und ging an ihm vorbei, hinaus in den Verkaufsraum. Eilig hastete Kōsuke ihm nach, doch konnte ihn nirgendwo ausmachen.
    »Hier«, vernahm er Yūs Stimme hinter sich, drehte sich um und sah, dass dieser ihm ein gefaltetes Blatt Papier entgegenstreckte.
    »Ah, danke«, sagte er leise und nahm es an sich.
    »Willst du’s dir nicht ansehen, Bruder?«, fragte ihn der Sonderling ungeduldig mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
    »D–Doch…« Er starrte den Zettel an. ›Ich muss dort hin – ich muss wissen, wer Yuki ist und … und gegebenenfalls anstelle dieser Frau Miyamoto abholen…‹ Bei dem Gedanken wurde er ganz blass. Langsam öffnete er das zusammengefaltete Blatt Papier und sah sich die Adresse an.
    »Alles klar, Bruder? Du wirkst etwas blutleer«, erkundigte sich Yū.
    »Ja, ich bin in Ordnung«, entgegnete er und bemerkte, dass sein Puls wieder schneller wurde. ›Das ist gar nicht weit von unserer Wohnung. Masugata – in der Näher der Senshū-Universität.‹
    »Und da willst du jetzt hinfahren?«
    Kōsuke nickte.
    »Verstehe.« Yū grinste verschlagen und kratzte sich am Kinn. »Viel Glück … bei was auch immer du vor hast«, meinte er dann mit einem leicht geheimnisvollen Unterton.
    »Danke. Vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast.« Kōsuke verneigte sich und wollte den Laden verlassen.
    »Hey!«, kreischte der junge Mann und hielt ihn zurück. »Hast du nicht etwas vergessen?« Er kippte den Kopf zur Seite und rümpfte die Nase. Dann streckte er ihm einen USB-Stick und das blaue Klapphandy entgegen. »Du bist echt nicht ganz auf der Höhe, nicht wahr, Bruder?«
    Kōsuke lächelte unbeholfen und nahm den Stick und das Telefon entgegen. »Ich stehe zur Zeit wohl einfach sehr unter Stress«, entgegnete er angeschlagen.
    »Das ist nicht gut, Bruder.« Yū schüttelte seufzend den Kopf. »Stress bringt dich um. An deiner Stelle würd’ ich in der Verfassung bloß nicht Auto fahren – so baust du noch einen Unfall.«
    Kōsukes Lippen formten stimmlos ein 'Aber', den Rest schluckte er hinunter.
    »Entspann dich, Bruder. Ich hab dir auf den Stick eine kleine Überraschung mit drauf gepackt.« Yū grinste abermals, schlang die Arme um seinen Oberkörper und umarmte sich selbst, als ob ihm kalt wäre. »Für den Fall, dass du Zeit für Entspannung hast und ungestört bist.« Er zwinkerte Kōsuke zu.
    Dessen Mundwinkeln zuckten leicht und er nickte. »Danke für alles«, hauchte er und verneigte sich noch einmal.
    »Gerne. Schau mal wieder rein!«, rief Yū ihm zu, während er durch den engen Gang auf den Ausgang zusteuerte und den Laden verließ.


    Was hab ich mir nur dabei gedacht?
    Ich hätte mich aus dieser Angelegenheit eigentlich von Anfang an heraushalten sollen.
    Warum hab ich auf eigene Faust gehandelt – was hat mich dazu getrieben?
    Vielleicht, weil ich mich verantwortlich gefühlt habe? Weil ich irgendetwas gutmachen wollte?
    Mich hat der Gedanken nicht mehr losgelassen, was ich
    möglicherweise angerichtet haben könnte…
    Kōsuke Sasamoto 笹本幸輔

    Kapitel 2.1


    ›Yuki…‹ Kōsuke schluckte.
    »Wenn Sie die Nachrichten speichern wollen, drücken Sie…«
    ›Yuki? Wer ist Yuki!?‹
    »Eine abgefragte Nachricht – gestern, um 23:34 Uhr.«
    »Rat mal, wer dran ist! Ich möchte dich nur noch einmal daran erinnern, dass ich deine Mutter jeder Zeit besuchen kann. Wenn du dich auch nur in die Nähe der Polizei wagst, siehst du sie nie wieder. Du weißt, wozu ich fähig bin«, hörte er eine männliche Stimme.
    ›Was zum…!?‹
    »Keine weiteren Nachrichten.«
    Langsam nahm Kōsuke das Mobiltelefon vom Ohr. ›Polizei? War das gerade etwa eine Drohung?‹ Er klappte es mit Zeige- und Mittelfinger zu und ließ es aus seiner Hand gleiten. ›Wer ist Yuki? Diese Frau kann Yuki nicht abholen…?‹ Wie erschlagen saß er da und starrte benommen das Handy an, das nun unten auf der Fußmatte vor ihm lag.
    ›Wer ist Yuki…?‹ Er blickte zum Eingang des Krankenhauses hinüber.
    ›Das sollte ich melden. Ihr Handy – ich dürfte es eigentlich gar nicht haben. Warum hab ich nicht gleich daran gedacht, es dem Inspektor zu übergeben? Aber dieser Kerl auf dem Anrufbeantworter. Ist die Frau in Schwierigkeiten? Sie darf nicht zur Polizei…‹
    Verwirrt blickte er sich um, als würde er nach Antworten suchen.
    ›Yuki… Womöglich ist die Frau eine junge Mutter und Yuki ist… Hatte sie einen Ehering? Wäre mir nicht aufgefallen… Wenn ich das Handy dem Inspektor gebe und dieser Mann bekommt das mit… Ich muss irgendwie mehr herausfinden, sonst dreh ich noch durch… Hiro – ich könnte Hiro fragen!‹ Kōsuke nahm sein Telefon zur Hand und sah seine Kontaktliste durch. Bei Ishikawa stoppte er und tippte auf die grüne Schaltfläche, um eine Verbindung herzustellen. Er lauschte und es begann zu läuten.
    »Hallo? Kōsuke!?«, meldete sich eine Stimme überrascht.
    »Ja, ich bin’s, Hiro… Ich bräuchte deine Hilfe. Hast du eine Minute?«, fragte Kōsuke.
    »Geht’s um die Software? Ich fliege morgen wieder zurück, also wenn’s nicht dringend ist…«
    »Nein, ich hab ein anderes Problem«, unterbrach er seinen Freund und Kollegen. »Sag, du kennst dich doch auch mit Handys aus, oder?«, fragte er angespannt.
    »Handys? Wieso? Was brauchst du?«
    »Ich hab hier ein altes Klapphandy, von dem das Display völlig hinüber ist. Komm’ ich da irgendwie an die Daten ran?«
    »Welche Daten brauchst du denn?«, wollte Ishikawa wissen.
    »Gute Frage – gespeicherte Kontakte, Nummern von Anrufen und – ja, besonders die Benutzerinformationen wären wichtig«, erklärte Kōsuke ihm.
    »Hmm, ist kompliziert… Dein Anbieter kann die Daten ganz unkompliziert auf ein neues, beziehungsweise anderes Telefon übertragen – frag doch einfach nach«, schlug dieser vor.
    »Also es – es ist nicht mein Handy…«, erwiderte er zögerlich.
    »Wessen ist es dann?« Ishikawa klang überrascht.
    »Es gehört einer jungen Frau – aber das ist jetzt nebensächlich. Komm ich da irgendwie an die Daten? Es ist wirklich wichtig!«
    »Einer jungen Frau? Sasamoto, du Schwerenöter! Hast du dich etwa in eine andere verschossen?«, fragte Hiro amüsiert.
    »Nein! Nein, heute ist – ach, das erzähl’ ich dir, wenn du wieder da bist. Jetzt sag schon!«, bat er ihn abermals. »Du kannst dir nicht vorstellen, was zur Zeit bei mir los ist…«
    »Schon gut, schon gut. Ich kenn’ da jemanden. Er kauft und verkauft gebrauchte Handys, Tablets und Notebooks – ich mail’ dir seine Adresse. Sag ihm, ich hab dich geschickt.«
    »Danke, Hiro. Du hast was gut bei mir.«
    »Gut, ich nehm’ dich beim Wort, Kōsuke. Aber falls du Probleme mit Honoka hast, halt’ mich da bloß raus, hörst du!? Ich weiß noch nicht, wie geschafft ich nach dem Flug sein werde, aber komm vorbei, sobald ich wieder da bin. Ist zwar schade, dass ich London jetzt schon wieder verlassen muss, aber irgendwie bin ich auch froh, wenn ich nicht mehr gezwungen bin, Englisch zu sprechen.«
    »Wir – wir haben keine Probleme, Honoka und ich… Jedenfalls – danke für deine Hilfe. Ich komm gern vorbei. Meld’ dich dann bei mir, wenn du daheim bist und sofern der Jetlag dich nicht zu sehr schafft.«
    »Alles klar! Bis dann!«, verabschiedete sich sein Freund und legte auf.
    Kōsuke nahm das Telefon vom Ohr und ließ seinen Arm kraftlos nach unten sinken.
    ›Ich hoffe, ich bekomme so ihre Adresse heraus. Wenn ich ihre Kontaktdaten habe, könnte ich auch diese Frau anrufen – wie war ihr Name…? Miyamoto, glaube ich – und Tsukimura heißt die Frau, die ich … umgefahren habe. Verdammt!‹ Er hob das Klapphandy vom Boden auf und legte es auf den Beifahrersitz.
    Einen kurzen Augenblick später erhielt er die versprochene Mail von Ishikawa mit der Adresse von dessen Bekannten und noch ein paar Zeilen.

    Hey Kōsuke!
    Er ist zwar etwas eigen, aber ich bin mir sicher, er kann dir weiterhelfen.
    Sein Name ist Yū und er hat einen kleinen Shop (hab ihn im Plan unten eingezeichnet), etwa 20 Minuten von der Firma entfernt. Fahr einfach hin, er sollte von 08:30 bis 20:00 Uhr dort sein.
    Sag ihm am besten, Hiro 'the Bug' schickt dich (frag nicht!).
    Ach ja, und sprich ihn nicht auf seine Arme an!
    Bis dann!
    Hiro


    Kōsuke öffnete die angehängte Bilddatei, die einen Straßenkarten-Ausschnitt zeigte und musterte sie eingehend.
    ›Dort. Okay, da finde ich hin… Ich sollte vorher vielleicht Uehara anrufen, dass ich noch etwas erledigen muss, aber… Nein, lieber nicht – sonst fragt er mich wieder aus. Ich muss jetzt erst herausfinden, wer Yuki ist. Davor kann ich mich sowieso nicht aufs Arbeiten konzentrieren.‹
    Er ließ den Motor an und legte sein Telefon neben dem der jungen Frau ab. Mit einem flauen Gefühl im Magen setzte er den Wagen in Bewegung und parkte vorsichtig aus.
    Als er in die Ausfahrt bog, rannte ihm plötzlich ein Fußgänger vors Auto, worauf er mit einem Schrecken auf die Bremse trat. Der Mann nahm davon kaum Notiz und lief unbeeindruckt weiter.
    Kōsuke blickte ihm mit weit aufgerissenen Augen nach. Beide Hände klammerten sich ans Lenkrad und sein Bein übte immer noch krampfhaft Druck auf seinen Fuß aus, der das Bremspedal bis zum Anschlag durchgetreten hatte. Er verweilte in dieser Haltung, bis ihn schließlich das Hupen des Wagens hinter ihm aus seiner Benommenheit riss.
    ›Verdammt, was ist nur los mit mir?‹ Er nahm seinen Fuß von der Bremse, blinkte rechts und fuhr zügig los.
    ›Bis um elf Uhr sollte ich es schaffen. Ich hoffe, dieser Yū kann mir weiterhelfen. Irgendwas muss ich doch tun, schließlich hab ich die arme Frau Tsukimura in diese Situation gebracht…
    Fuck! Hoffentlich erholt sie sich wieder. Und wer ist Yuki? Wirklich ihr Kind? Diese Frau Miyamoto wollte Yuki abholen. Wen sonst, außer ihrem Kind könnte sie abholen lassen… Das arme Kind weiß nicht einmal, dass seine Mutter im Krankenhaus liegt…
    Ich weiß momentan nicht, wo mir der Kopf steht – ich muss einfach mehr herausfinden. Ich muss irgendwie nach Yuki sehen…
    Nicht die Polizei, hat dieser Mann am Anrufbeantworter gesagt. Ich hab keine Ahnung, in was für Angelegenheiten ich da hineingeraten bin, aber ich darf die Frau nicht unnötig gefährden. Lieber keine Polizei – also muss ich mich um Yuki kümmern … vorerst. Ich bin ja auch für den Zustand der Frau verantwortlich…‹

    Da sich der Verkehr auf den Straßen in Grenzen hielt, dauerte es keine halbe Stunde, bis Kōsuke an der Adresse angekommen war, die ihm sein Freund Hiro zuvor übermittelt hatte. Der kleine Laden befand sich im Erdgeschoss eines alten dreistöckigen Gebäudes, das in einer Querstraße stand. Daneben befanden sich eine Bäckerei und ein Blumenladen, der aber geschlossen hatte. Nicht weit entfernt machte er einen kostenpflichtigen Parkplatz aus, wo er den Wagen abstellte.
    Er näherte er sich langsam dem Shop, dessen Eingang großen Katakana-Schriftzeichen zierten.
    ›Hier muss es sein!‹ Er betrachtete den Schriftzug mit einem etwas skeptischen Gesichtsausdruck.
    »'Mad Monkey’s Recycling Store'…«, murmelte er und trat ein.
    Auf die Tür und den Eingangsbereich waren gleich drei Kameras gerichtet und ein Bewegungsmelder registrierte ihn sofort. Dessen Sensor übertrug ein Signal an eine Art Roboter, der zwei Meter vor ihm auf einem Tisch stand.
    Der kleine Kerl schien aus alten Computerteilen zusammengeschraubt worden zu sein und stammelte die metallisch klingenden Worte 'Herzlich Willkommen' mittels eingebautem Lautsprecher.
    Durch den ganzen Raum drangen elektronische Klänge und Kōsuke wusste zunächst nicht, wo er nach dem Ladenbesitzer Ausschau halten sollte.
    »Hier entlang« Der Roboter deutete mit seinem Arm, der aussah, als wäre er aus einem alten Scheibenwischer konstruiert worden, in einen engen Gang, an dessen Ende sich eine Türe befand.
    ›Unglaublich – dieser Yū muss ein totaler Freak sein…‹, dachte Kōsuke. Er blickte sich um, kratzte sich am Kopf und tastete sich langsam bis ans Ende des Ganges vor.
    An der Tür angelangt hielt er an. Diese war komplett mit Aufklebern aller Art übersät. Sticker von Manga-Charakteren, diverse Warnhinweise, Sammelmarken, Preisetiketten und viele andere merkwürdige Dinge hafteten darauf. Nur die Klinke war die einzig freie Fläche, die man erst nach genauerem Hinsehen entdecken konnte.
    Kōsuke zögerte. ›Soll ich anklopfen? Was ist das für ein Raum? Soll ich einfach rein…?‹
    Auf einmal öffnete sich die Tür, worauf er zurückschreckte. Ein kleiner Mann, vielleicht Mitte zwanzig, mit fahlem Gesicht stand nun vor ihm und starrte ihn mit seinen hervortretenden Augen an, welche durch sein schmales, blasses Antlitz riesig und unheimlich wirkten.
    »Hm?«, raunte er kaum hörbar und kippte dabei seinen Kopf schief zur Seite.
    »Ähm, entschuldigen Sie bitte – ich, eh…« Kōsuke musterte den Mann wie benommen. Dieser hatte langes Haar, das er hinten wirr zusammengeknotet hatte und trug ein schwarzes weites T‑Shirt, das mit unzähligen weißen Nullen und gelben Einsen bedruckt war.
    »Kann ich dir irgendwie weiterhelfen, Bruder?«, fragte er mit ruhiger Stimme und legte Kōsuke dabei seine Hand auf die Schulter.
    ›Was ist das…?‹ Dieser bemerkte nun, dass der Mann lauter Kabelbinder um seinen dünnen Arm trug, die beinahe bis zu seinem Ellenbogen hinauf reichten. Auch der zweite Arm war voll davon und Kōsuke versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, dass ihn das etwas aus der Fassung brachte. »Ähm, ich wollte Sie fragen, ob – Hiro – Hiro hat gemeint, Sie – Sie können mir vielleicht weiterhelfen…«, stammelte er. »Sind Sie Yū?«
    Der Mann nickte und kratzte sich am Kopf. »Hiro… Hiro…? Hiro, hmm…«, murmelte er, verdrehte die Augen schräg nach oben und begann zu summen, während er nachzudenken schien.
    ›Hiro hat doch etwas in der Mail erwähnt…‹, überlegte Kōsuke. »Ääh, Hiro the Bug…?«
    »Ach, Hiro! Ja, ich weiß schon wieder…« Yū grinste zunächst verschlagen, jedoch verfinsterte sich seine Miene im nächsten Moment. »Hiro – ich kenn’ nur einen Hiro! Verflixt, es passiert schon wieder – ich Idiot!«, sprach er mit sich selbst und zog einen der vielen Kabelbinder an seinem linken Arm fester zusammen, was Kōsuke ein wenig beunruhigte.
    »A–Also es geht um dieses Handy hier.« Er hielt es Yū vors Gesicht, der seinen Kopf extrem zur Seite neigte und es mit einem fast schielenden Blick analysierte. »Hiro hat gemeint, Sie kennen sich damit aus. Es ist leider…«
    »Du!«, fuhr er Kōsuke ins Wort, der sofort irritiert verstummte. »Duzen, Bruder. Das macht mich ganz irre, wenn du 'Sie' sagst – ich bin ja kein Jedi-Meister oder so«, meinte er ruhig, nahm ihm das Telefon aus der Hand und klappte es auf. Dann grinste er und schüttelte den Kopf. »Das Display is’ ja voll im Arsch.«
    »Ja, deswegen bin ich hier – ich muss unbedingt irgendwie an die Daten kommen, die da drauf sind«, erklärte Kōsuke.
    »Ist das alles? Welche Daten genau?«, wollte der seltsame Mann wissen und deutete ihm, beiseite zu treten.
    »Am besten alle Daten – Telefonbuch, Benutzerinformationen, Fotos, Mails – alles, was sich darauf befindet«, entgegnete er und machte Platz, sodass Yū an ihm vorbei konnte.
    »Das ist nicht dein’s, Bruder, oder?«
    Kōsuke schüttelte den Kopf.
    »Dacht’ ich mir.«
    »Ja? Warum?«, fragte er, während er Yū durch die schmalen Gänge des Ladens folgte.
    »Weiß auch nicht… Du wirkst auf mich mehr wie der iPhone-Typ«, entgegnete dieser unkonzentriert und bog um die Ecke. Vor einem großen Regal voller Datenträger blieb er stehen und schien etwas zu suchen. »2010, 2011, 2012 – Mai, Juni, August – August!« Er griff sich eine DVD-Hülle und warf einen Blick auf die Rückseite. »Nein! August, 2011!« Yū schien aufgebracht zu sein und suchte sich abermals einen der Kabelbinder auf seinen Armen aus und zog diesen enger. Danach nahm der die DVD, die er eigentlich gesucht hatte, heraus und nickte zufrieden. »Hier ist die richtige Software drauf.« Wortlos streckte er Kōsuke seine Hand entgegen, doch dieser blickte ihn etwas überrumpelt an. »Das H-a-n-d-y, Bruder. Her damit«, forderte er und kratzte sich mit der Ecke der DVD‑Hülle, die er in der anderen Hand hielt, an seiner Wange.
    »Ach so – natürlich.« Kōsuke reichte es Yū. Dieser nahm es kurz in Augenschein, drängte sich an ihm vorbei und eilte den Gang zurück, der zu der mit Stickern beklebten Tür führte. Verdutzt blickte er ihm hinterher. ›Was ist…? Wo ist der komische Kauz denn jetzt hin?‹, dachte er, folgte ihm und hielt vor der Türe inne. ›Soll ich ihm nach…?‹
    »Worauf wartest du, Bruder?! Komm rein!«, vernahm er Yūs Stimme aus dem Raum.
    Zaghaft drückte Kōsuke die Türklinke nach unten und öffnete mit einem leicht mulmigen Gefühl, was sich wohl in dem Zimmer hinter der exzentrisch gestalteten Türe befinden würde.

    Hallo @kijkou :)

    Zu der Nachricht nochmal...

    Spoiler anzeigen

    Ich habe gedacht, dadurch dass du geschrieben hast "anscheinend ist das die Nummer, die sie zuletzt angewählt hat..." (sinngemäß), dass die Frau die Nachricht gesprochen hat. Aber das ist ja gar nicht möglich! Vielleicht schreibst du einfach, dass er ihre Mailbox anhört und gleichzeitig entdeckt, dass es auch die letzte gewählte Nummer war... Vielleicht wird das dann etwas besser. Ich steh da ein bisschen aufm Schlauch um ehrlich zu sein :whistling:

    Ach so :D
    Na ja, weil das Display hinüber ist, sieht er ja darauf nichts mehr und kann quasi nur durchs 2x auf die Anruftaste drückend, die letzte angewählte Rufnummer erneut anwählen (wobei es sich eben um die Mailbox-Nummer handelt) XD

    LG

    Huhu :)

    Danke für eure Kommentare ^^

    Aber jetzt keine Panikattacke bekommen, ich hab gar nichts schlimmes zu sagen

    Phew, da bin ich aber beruhigt! *Schnapsflasche wieder wegstell* :rofl:


    Mh... Jetzt bin ich ein bisschen verwirrt. Ich hab gedacht Kosuke müsste immer um 8 Uhr schon im Büro sein, dan wäre das ganze ja eher passiert und die Frau hätte die Mailbox gar nicht anrufen können, um die Nachricht schon abzuhören Aber die Frage lässt sich ja bestimmt schnell klären.

    Kosuke muss gegen 9 im Büro sein, aber das tut jetzt nichts zur Sache ^^ Die Mailbox wurde vor dieser Nachricht von der Frau angewählt, daher sagt ja die Computerstimme auch "eine neue Nachricht" ;)


    Ansosten bin ich gespannt, wer jetzt dieser Yuki ist und was weiter passiert. Ob der arme Kerl wohl noch ins Büro kommt an dem Tag? Er sollte ja eigentlich zur Polizei und das Handy abgeben.

    Juhu! Ich liebe es, wenn ich es schaffe, dass sich der Leser solche Fragen stellt ^^


    Liebe Grüße, kij

    @kijkou

    Spoiler anzeigen

    Leider hab ich da keinen Plan. Es ist so wie es jetzt da steht, völlig in Ordnung. Da es ja aus seiner Sicht ist und er nicht alles mitbekommt. Es verwirrt nur ein bisschen, dass die Polizei im selben Moment kommt, wie die Dame den Hörer auflegt :P vielleicht bin ich auch zu kleinkariert diesmal :mimimi:
    okay, dann lass ich es mal so ^^


    Kapitel 1.6


    In dem Raum, der sich hinter dem Empfangsbereich befand, stand ein Tisch mit sechs Stühlen und die Wände waren mit Aktenschränken verstellt. Fenster gab es keine und das künstliche, grelle weiße Licht des Raums flackerte in unregelmäßigen Abständen.
    »Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Sasamoto«, sagte der jüngere Polizist und stellte drei Pappbecher mit Wasser in die Mitte des Tisches.
    Kōsuke setzte sich und die beiden Beamten nahmen gegenüber Platz. Er verschränkte seine Finger ineinander und sah die beiden abwechselnd an. ›Was werden sie mich fragen? Werden sie mich verhaften? Sie werden mich bestimmt gleich mitnehmen.‹ Nervös überkreuzte er seine Beine und versuchte das immer stärker werdende Angstgefühl in seinem Bauch zu ignorieren. ›Ich bin so blöd! Hätte ich auf die Mail von Honoka doch einfach nicht reagiert, dann hätt’ ich die Frau sicher gesehen und all das wär’ nie passiert…‹
    »Herr Sasamoto…«, begann der ältere Polizeibeamte, während sich sein junger Kollege Stift und Notizbuch zurechtlegte. »Bitte erzählen Sie uns, wie sich der Unfall ereignet hat.«
    Kōsuke nickte einwilligend und schluckte. »Also… Ich habe die junge Frau nicht gesehen – und dann ist sie auch schon auf der Straße gelegen…«, begann er fahrig zu erzählen.
    »Ich weiß, dass Sie das mitgenommen hat, Herr Sasamoto, aber versuchen Sie bitte alles der Reihe nach und so genau wie möglich zu schildern«, meinte der Inspektor verständnisvoll.
    ›Ich hab während der Fahrt gerade eine Mail beantworten wollen und einen Moment nicht auf die Straße geschaut – wenn ich ihnen das sage, nehmen sie mich gleich fest…‹ Er runzelte die Stirn und lehnte sich nach vorne. ›Was passiert ist, ist passiert. Ob ich es für mich behalte oder nicht – es ändert nichts an der jetzigen Situation…‹ Beide Männer warfen ihm erwartungsvolle Blicke zu. »Ich, ähm… Es war auf einer kleinen Nebenstraße – nach einer Kreuzung.«
    »Können Sie uns die genaue Unfallstelle auf einer Straßenkarte zeigen?«, fragte der junge Beamte und legte einen Stadtplan auf den Tisch.
    »Ja, natürlich.« Kōsuke nahm den Plan zur Hand.
    »Kreisen sie die Stelle hiermit ein«, wies der Inspektor ihn an und reichte ihm einen roten Stift.
    Er nahm diesen etwas zurückhaltend entgegen und versuchte sich auf der Karte zu orientieren. »Es müsste … hier gewesen sein«, murmelte er und markierte die Stelle.
    »Vielen Dank.« Der junge Polizist notierte etwas und steckte den Stadtplan wieder ein.
    »Sie sind also über eine Kreuzung…«, wiederholte der Inspektor und brummte streng.
    »Ja, genau… Und dann hab ich die junge Fahrradfahrerin gerammt, sodass sie gestürzt ist.« Kōsuke stützte seine Ellenbogen auf dem Tisch ab und ließ mit einem Seufzer das Gesicht in seine Hände sinken.
    »Von wo ist die Radfahrerin gekommen?«, fragte der Beamte ihn.
    Zermürbt blickte er auf. ›Ich weiß es nicht – ich hab mich aufs Handy konzentriert und hab das für wichtiger gehalten, als auf die Straße zu achten. Verdammt, was sag ich nur?‹ Er schüttelte schwach den Kopf. »Ich – ich weiß es nicht. Es ging alles so schnell. Auf einmal war sie vor mir und ich bin auf die Bremse gestiegen, aber…« Er hielt inne.
    »Ich verstehe…« Der Inspektor sah zu seinem jungen Kollegen hinüber, der alles mitschrieb. »Wie schnell sind Sie gefahren, als es passiert ist, Herr Sasamoto?«, wollte er weiter wissen.
    »So zwanzig, vielleicht dreißig km/h – nicht schnell, weil ich…« Kōsuke verstummte und schluckte. ›Ich bin extra langsam gefahren, um Honoka zu antworten – verdammt…‹ Er räusperte sich und runzelte die Stirn. »Weil ich zuvor erst abgebogen bin … denke ich – bitte entschuldigen Sie.«
    »Schon in Ordnung…« Der Inspektor sah ihm in die Augen. »Haben Sie heute schon Alkohol getrunken?«, fragte er.
    »Nein! Morgens doch nicht!«, entgegnete Kōsuke vehement.
    »Habe ich auch nicht angenommen. Aber Sie werden verstehen – ich muss Sie das fragen… Was haben Sie gemacht, nachdem Sie den Wagen zum Stehen gebracht haben?«
    »Ich bin ausgestiegen und habe nach der Frau gesehen. Sie war bewusstlos und verletzt, also habe ich einen Krankenwagen gerufen…« Kōsuke überlegte. »Dann habe ich ihr Fahrrad in den Kofferraum geladen und bin hierher gefahren. Ja, genau – ihr Fahrrad! Was – was soll ich denn damit machen?«, fragte er überfordert.
    »Befindet es sich noch in Ihrem Wagen?«
    »Ja, im Kofferraum.«
    »Das würden wir uns nachher gerne noch ansehen«, meinte der Inspektor.
    »War am Unfallort sonst noch jemand anwesend? Irgendwelche Zeugen?«, fragte der jüngere Polizist und drückte die Miene seines Kugelschreibers wiederholt hinaus und ließ sie wieder hieninschnellen.
    »Nein… Also zum Zeitpunkt des Unfalls nicht. Später hat ein älterer Herr angehalten und ebenfalls gewartet, bis der Krankenwagen eingetroffen ist – seinen Namen kenne ich nicht«, entgegnete Kōsuke. »Bevor ich den Notruf gewählt habe, habe ich nach Hilfe gerufen, doch in den Wohnungen ringsum schien keiner zu Hause gewesen zu sein… Jedenfalls hat niemand reagiert«, fügte er noch hinzu, griff nach einem der Becher Wasser auf dem Tisch und nahm ein paar Schluck.
    »Und der Name der jungen Frau ist Ihnen auch nicht bekannt…« Der Inspektor brummte und warf einen Blick ins Protokoll. »Hmm, gut, dann müssen wir uns wohl gedulden, bis die Frau ansprechbar ist.«
    »Tut mir leid«, murmelte Kōsuke niedergeschlagen. ›Verdammt, ich hoffe wirklich, es ist nicht allzu schlimm. Mit einer Anzeige werde ich rechnen müssen – das würd’ ich der armen Frau nicht einmal übel nehmen…‹
    »Gut… Wir benötigen noch Ihre genauen Personalien. Haben Sie einen Ausweis bei sich?«, fragte der Polizeiinspektor sachlich.
    »J–ja. Sasamoto, Kōsuke. Geboren in Hamamatsu am 13. Oktober im 62. Shōwa(1)-Jahr«, entgegnete er, während er in seiner Brieftasche nach seinem Führerschein suchte. Diesen reichte er dem jungen Beamten, der die Daten notierte und ihn wieder zurückgab.
    »Wie können wir Sie erreichen?«, fragte er weiter, woraufhin Kōsuke erneut seine Brieftasche zückte und ihm eine Visitenkarte überreichte.
    »Nun gut, Herr Sasamoto.« Die beiden erhoben sich vom Tisch.
    »Zeigen Sie uns bitte noch das Fahrrad der Frau«, bat ihn der junge Polizeibeamte.
    »Ja, natürlich.« Er stand ebenfalls auf und sie verließen den Raum.

    Sie begaben sich hinaus auf den Parkplatz und Kōsuke führte die beiden zu seinem Wagen. Er öffnete den Kofferraum und die Beamten hoben das dunkelblaue Fahrrad vorsichtig heraus.
    »Damit kommt man vermutlich nicht mehr weit«, stellte der junge Polizist fest, wie er den verbogenen Rahmen begutachtete.
    »Ōshiro, seien Sie so gut und versuchen Sie anhand der Registriernummer den Namen der Besitzerin herauszufinden«, wies der Inspektor seinen Kollegen an, welcher sich sogleich zum Einsatzfahrzeug begab. »Das Fahrrad stellen Sie bitte dort drüben ab«, wandte er sich dann an Kōsuke und deutete auf einen Parkbereich, der für Motorräder und ähnliches vorgesehen war.
    »Ja, ist gut«, entgegnete er und versuchte die Lenkstange gerade zu stellen. »Was – was passiert denn nun weiter?«, fragte er mit leiser, zurückhaltender Stimme.
    »Wir warten erst einmal ab, bis die junge Frau zu sich gekommen ist. Das Krankenhaus wird uns dann sofort kontaktieren«, erklärte der Beamte. »Wenn wir weitere Fragen oder Neuigkeiten für Sie haben, melden wir uns bei Ihnen.« Er verneigte sich zum Abschied und folgte seinem Kollegen zum Polizeiwagen.
    Kōsuke atmete tief durch. ›Hoffentlich ist sie bald ansprechbar…‹ Er blickte dem abfahrenden Einsatz­fahrzeug hinterher.
    Als er sein Auto wieder abschließen wollte und in seiner Sakkotasche nach den Schlüsseln griff, bemerkte er, dass er noch etwas anderes eingesteckt hatte. Es war das blaue Mobiltelefon der jungen Frau. ›Das hab ich ja komplett vergessen!‹ Ohne lange zu überlegen klappte er es auf. Das Display hatte einen Sprung und man konnte nichts erkennen. Er blickte sich um und steckte er es wieder ein. ›Das hätte ich dem Inspektor geben sollen… Dann muss ich es ihm nachher so schnell wie möglich zukommen lassen.‹ Eilig brachte er das Fahrrad auf den Motorradparkplatz, betrat erneut das Krankenhaus und begab sich zu der Dame an der Information.
    »Entschuldigen Sie bitte.«
    »Ah, Sie sind es!« Die Angestellte musterte ihn. »Haben Sie mit der Polizei gesprochen?«, fragte sie neugierig.
    »Ja, habe ich…« Kōsuke beugte sich über den Tresen. »Ich habe gehört, dass die junge Frau auf der Intensivstation liegt…« Er blickte die Dame mit gerunzelter Stirn und großen Augen bittend an.
    Diese stand auf, kam hinter dem Schalter hervor, griff sich Kōsukes Arm und führte ihn in den Raum, in dem er zuvor mit den Beamten gesessen hatte. Sie schloss die Türe hinter sich und wandte sich ihm zu. »Hören Sie, ich darf Ihnen keine Informationen geben. Sie sind mit der Patientin nicht verwandt – Sie kennen sie nicht einmal.«
    »Ich – ich verstehe…« Er ließ den Kopf hängen.
    »Aber da wir momentan nicht wissen, wer sie ist… Na ja, Sie sind schließlich der Einzige, der sich nach der Patientin erkundigt«, meinte sie seufzend.
    Kōsuke blickte auf. »Ich – ich hab ihr das schließlich angetan.«
    »Nachdem die junge Frau eingeliefert worden ist, hat man abgesehen von der Platzwunde am Kopf ein Epiduralhämatom festgestellt.«
    »Und was bedeutet das?«, fragte er verunsichert.
    »Das ist eine Blutung unter dem Schädelknochen…«
    »Was!? Ist das – wie schlimm ist das!?«, fuhr er der Frau schockiert ins Wort.
    »Das kommt immer auf das Ausmaß an, aber in diesem Fall hat es sich um ein relativ kleines Hämatom gehandelt – es wurde bereits entfernt und die Patientin liegt jetzt, wie gesagt, auf der Intensivstation«, erklärte sie.
    Kōsuke schluckte. »Und … wird sie wieder gesund?«, wollte er mit zittriger Stimme wissen. Nachdem er die Frage gestellt hatte, war es, als würde sich der Boden unter seinen Füßen nach und nach auflösen. Er hatte Angst – nein, richtige Panik vor der Antwort, was sich in seinen Augen deutlich widerspiegelte.
    »Der verantwortliche Arzt hat sehr optimistisch geklungen, aber Genaueres kann ich Ihnen leider nichts sagen – nur dass die Patientin momentan stabil ist.« Die Angestellte warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »So, ich muss nun wirklich wieder zurück an meinen Arbeitsplatz – eigentlich dürfte ich nicht einmal mit Ihnen reden.« Sie wollte gerade gehen, da packte Kōsuke ihre Hand und hielt sie zurück.
    »Bitte…« Er war sich nicht sicher, was er eigentlich sagen wollte. ›Ich will wissen, wie es ihr geht! Ich kann doch jetzt nicht einfach gehen. Aber die Frau weiß auch nichts – sie hat mir eh schon mehr gesagt, als sie dürfte…‹ Befangen ließ er sie wieder los. »Es – es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht…« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und seufzte. »Ich weiß, Sie dürfen mir keine Auskunft geben, aber – aber ich kann hier nicht weg. Ich muss einfach wissen, wenn sie wieder zu sich kommt und ob sie sich wieder erholen wird. Wenn sie nicht mehr völlig gesund wird, dann… Das könnte ich doch nie wieder gutmachen«, versuchte er sich verzweifelt zu erklären.
    »Ihre Nummer…« Die Dame sah ihn geduldig an.
    »Wie bitte?«
    »Geben Sie mir Ihre Telefonnummer – ich ruf’ Sie an, sobald es Neuigkeiten gibt.« Sie zückte einen Kugelschreiber aus der Brusttasche ihrer Bluse.
    »Wirklich?«, fragte er wortkarg. »Das – das ist sehr freundlich.« Er verneigte sich dankbar und überreichte ihr anschließend eine seiner Visitenkarten.
    »Gut. Wie gesagt, ich melde mich, wenn sich der Zustand der Patientin ändern sollte.« Die nette Frau lächelte verständnisvoll, öffnete die Tür und ließ Kōsuke den Vortritt.
    Dieser bedankte sich noch einmal und machte sich auf den Weg hinaus auf den Parkplatz. Wie sich die Türen des Krankenhauses öffneten, kam ihm ein kalter Windstoß entgegen, was sich erfrischend und wohltuend anfühlte. Draußen blieb er kurz stehen, atmete einmal tief durch und steuerte auf seinen Wagen zu.
    Als er die Schlüsseln aus seiner Tasche holen wollte, kam ihm wieder das Mobiltelefon der jungen Frau in den Sinn. Er sperrte auf, setzte sich ins Auto und nahm das beschädigte Gerät zur Hand. Etwas geistesabwesend musterte er es. Am Display war aufgrund des Sprungs zwar nichts zu erkennen, doch das Telefon schien ansonsten noch zu funktionieren. Kōsuke runzelte die Stirne. ›Niemand sonst erkundigt sich nach der armen Frau – sie wissen nicht einmal, wer sie ist. Was, wenn ich einfach…‹
    Er drückte die Anruftaste einmal, um ins Protokoll zu gelangen und ein zweites Mal, um die zuletzt gewählte Nummer anzurufen. Angespannt hielt er das Handy an sein Ohr und lauschte.
    »Sie haben eine neue Nachricht – heute, um 08:34 Uhr«, vernahm Kōsuke die computergenerierte Stimme der Mailbox der jungen Frau, die sie anscheinend zuletzt angewählt hatte.
    »Guten Morgen, Frau Tsukimura! Miyamoto spricht…«, meldete sich eine Frauenstimme.
    ›Tsukimura – so heißt sie also…‹, dachte er feststellend.
    »Meine Schwester hat sich leider eine starke Erkältung eingefangen und ich bin gestern Abend noch zu ihr nach Saitama gefahren. Ich weiß, ich hätte Ihnen früher Bescheid sagen sollen, aber gestern war es schon so spät. Leider weiß ich nicht, wann ich wieder zurückkomme – vielleicht bleibe ich ein paar Tage. Den Schlüssel habe ich Ihnen für alle Fälle wieder zwischen die Shiso(2)-Blätter gelegt. Jedenfalls bin ich untröstlich, aber ich kann Yuki heute nicht abholen…«

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    1. Epoche während Kaiser Hirohitos Regentschaft (Japanische Zeitrechnung)
    2. auch Perilla genannt, mit leichtem minzigen Geschmack

    Danke dir! Bis dann!
    LG