Oha, schon über einen Monat kein Teil mehr Das geht gar nicht!
Kapitel 4.3
Kōsuke stand nur im Vorraum von Hikaris Zimmer. Seine Beine fühlten sich schwer an und es kostete ihn einiges an Überwindung, sich auf das Krankenbett zuzubewegen. Mit gemischten Gefühlen stand er davor. Sorgen bezüglich ihres Gesundheitszustandes plagten ihn, aber er empfand auch Erleichterung und ein wenig Freude darüber, dass der gestrige Traum nichts als die Schuldgefühle waren, die ihn im Schlaf heimgesucht hatten.
Neugierde brachte seine Hand schließlich dazu, nach dem Vorhang zu greifen und diesen beiseite zu ziehen.
›Hikari…‹
Sie lag still da und schlummerte. Ihr Kopf war auf ein weiches Kissen gebettet und um diesen war nur noch eine einfache Bandage gewickelt, die den Wundverband seitlich an ihrem Hinterkopf fixierte. Sie trug eines dieser hellblauen Nachthemden, wie sie Patienten vor einer Operation erhielten, mit Ärmeln, die zu den Ellenbogen reichten. Bis ungefähr zur Mitte ihres Oberkörpers war sie zugedeckt und ihre Arme lagen auf der Bettdecke locker neben ihr. Mit ihrer linken Hand hing sie an einer Infusion.
›So… Und was nun?‹ Kōsuke sah sich verlegen im Raum um.
Wie bei seinem letzten Besuch holte er sich einen Stuhl und setzte sich.
›Ich soll mit ihr sprechen … Was soll ich denn sagen?‹ Er musterte sie.
Ihre rosigen Lippen waren geschlossen und sie atmete sanft und gleichmäßig durch die Nase.
»Ähm… Guten Morgen, Frau Tsukimura…«, sagte er leise, worauf sie jedoch keinerlei Reaktion zeigte.
Ihre Augen waren geschlossen. Sie hatte schöne, extrem lange schwarze Wimpern, die im Kontrast zu ihrer blassen Haut standen.
›Sie sieht aus, als würde sie ganz normal schlafen.‹ Kōsuke schluckte und beugte sich näher zu ihr nach vorne.
»Frau Tsuki…« Er verstummte. ›Vielleicht ist das zu unpersönlich … vielleicht sollte ich sie mit ihrem Vornamen ansprechen …‹ Wieder blickte er sich um, als wolle er sichergehen, dass ihn niemand beobachtete.
»Hikari…«, hauchte er ganz leise. ›Hat sie reagiert?‹ Er war sich nicht sicher, ob er ein Zucken ihrer Augen vernommen hatte. ›Ich muss einfach weiter mit ihr sprechen, vielleicht wacht sie ja irgendwann auf‹, dachte er und kratzte sich nachdenklich auf der Stirn.
»Also ich – ähm… Mein Name ist Kōsuke und ich bin hier, weil …« Er seufzte. »Ich war mit dem Auto unterwegs und du – du warst plötzlich vor mir … Ich hab nicht aufgepasst. Ich – ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut …« Seine Stimme verstummte.
›Nein, so geht das nicht … Ich glaube, es ist nicht gut, wenn ich sie wieder an den Unfall erinnere … Ich muss ihr irgendetwas Positives erzählen – aber was soll ich denn mit ihr reden? Ich kenn’ sie doch überhaupt nicht.‹
Mittlerweile war ihm warm geworden. Er zog seine Jacke aus und hängte sie vorsichtig und geräuschlos über die Lehne des Stuhls. Dann schüttelte er lächelnd den Kopf.
»Warum geb’ ich mir so Mühe, keinen Lärm zu machen? Du sollst ja schließlich langsam aufwachen, Hikari. Dein Arzt scheint ein netter Kerl zu sein und das Personal ist bestimmt auch freundlich. Also diese Frau Nagayama ist zwar etwas – nennen wir es 'sonderbar' – aber einer der freundlichsten Menschen, die ich in letzter Zeit kennengelernt habe. Dein Arzt ist auch, soweit ich weiß, zuversichtlich, dass alles in Ordnung ist … Ja – und um Yuki brauchst du dir auch keine Sorgen machen. Gestern hab ich ihm genug Futter gegeben und heute werde ich auch noch nach ihm sehen.«
Hikari lag regungslos da und Kōsuke hatte keine Ahnung, ob sie ihn überhaupt hörte.
»Vielleicht sollte ich dir etwas über mich erzählen, schließlich bin ich ein Fremder für dich … Also, wie ich heiße, weißt du ja bereits. Ich bin jetzt vor kurzem achtundzwanzig Jahre alt geworden. Ich arbeite in einer großen Firma – einem Inkassounternehmen um genau zu sein. Ist eigentlich ein recht einfacher Job. Hauptsächlich bearbeitet meine Abteilung E-Mails, ist für den Briefverkehr zuständig und hin und wieder kommt es vor, dass der Außendienst überlastet ist – dann schicken sie Kollegen von uns zu den Schuldnern.
Ich stell mir vor, dass das eine unangenehme Aufgabe ist, die Leute zu Hause aufzusuchen und Geld von ihnen zu fordern, dass sie wahrscheinlich gar nicht haben. Ich bin zum Glück noch nie `rausgeschickt worden, aber Takagi, mein Kollege, schon des Öfteren. Er hat mir manchmal davon erzählt – vor allem, dass er es hasst. Einmal hat er eine ältere Dame aufsuchen müssen, die auch auf die letzte Mahnung unsererseits nicht reagiert gehabt hat.
Es hat sich herausgestellt, dass die Frau schon so schlecht gesehen hat, sodass sie kaum noch lesen hat können. Sie hat niemanden gehabt, der sich um sie gekümmert oder gesorgt hat. Den ganzen Tag ist sie nur vor dem Fernseher gesessen – das war die einzige Gesellschaft, die sie gehabt hat. Takagi hat ihr erklären müssen, dass seit dem Tod ihres Mannes die Rechnungen für einen von diesem angemieteten Container nicht mehr beglichen worden sind und dass ihm jetzt leider keine Wahl bleibt, als nach Gegenständen von Wert zu sehen und diese zu pfänden.
Wie er das TV-Gerät beschlagnahmen wollen hat, hat die Dame fürchterlich zu weinen begonnen. Sie hat ja sonst nichts gehabt, bis auf die unterhaltsamen Stunden vor dem Fernseher. Er hat so sehr Mitleid mit ihr gehabt, dass er sie das Gerät behalten hat lassen. Auch die silberne Taschenuhr ihres verstorbenen Gatten hat er nicht mitgenommen, obwohl die bestimmt einiges wert gewesen wäre.
In seinem Bericht hat er dann geschrieben, dass die alte Dame nichts von Wert besessen habe und später hat er sich dafür eingesetzt, dass sie eine freiwillige Hilfskraft zugewiesen bekommt. Leider ist sie ein Jahr später verstorben, aber sie war so dankbar, dass sie Takagi in ihrem Testament erwähnt hat. Sie hat ihm tatsächlich die Taschenuhr ihres Gatten vermacht, die er heute ständig mit sich `rumträgt. Angeblich bringt sie ihm Glück.
Jedenfalls – ich wüsste nicht, wie ich in so einem Fall reagieren würde. Ich glaube nicht, dass ich es übers Herz gebracht hätte, der armen Frau etwas wegzunehmen…« Kōsuke seufzte. »Was hättest du getan, Hikari?«, fragte er sie, doch wie vermutet reagierte sie auch diesmal nicht. »Du hättest bestimmt auch versucht, ihr zu helfen, nicht wahr? So, wie du vorgestern meinen Schlüsselbund aufgehoben und mir gebracht hast. Du bist ein sehr hilfsbereiter Mensch – hab ich recht? Auch deine Nachbarin ist dieser Meinung …«
Er lehnte sich zurück, streckte seine Beine aus und starrte an die Decke. »Wenn alles gut geht, werde ich vielleicht sogar bald befördert. Ich habe mit Hiro, einem Freund und Kollegen, ein Programm entwickelt, das die Arbeit der ganzen Abteilung für Sachbearbeitung vereinfachen wird. Gut, Hiro hat einen Großteil der praktischen Arbeit erledigt – er ist das Computergenie von uns. Ich hab das theoretische Grundgerüst des Programms entworfen und mich mit ihm zusammengesetzt. Wir sind ein recht gutes Team, denke ich …« Kōsuke sah wieder zu Hikari, die nach wie vor ruhig und gleichmäßig atmete, sich sonst aber nicht bewegte.
»Das ist jetzt schon das zweite Projekt, das ich mit ihm aufgezogen hab. Das erste hat sich Kawaji unter den Nagel gerissen. Wir haben eine Idee gehabt, die interne Datenbank um einiges simpler zu gestalten. Als wir unseren jeweiligen Abteilungsleitern davon berichtet haben, hat man uns Kawaji zugeteilt. Er hat zu diesem Zeitpunkt einen sehr guten Ruf als Software-Techniker gehabt und sie haben sich dadurch eine schnelle Umsetzung erhofft …« Er presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Unfassbar … Aber, ja – damit haben sie recht gehabt. Nachdem wir Kawaji instruiert haben, hat er die ganze Nacht durchgearbeitet und alles alleine fertiggestellt. Das Lob hat er auch für sich eingestrichen – wir sind lediglich als 'Support' erwähnt worden. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich dieser Mistkerl anwidert … Diesmal kann uns das aber nicht passieren – mein Vorgesetzter, Herr Uehara, weiß Bescheid, dass es allein unser Projekt ist …«
Kōsuke streckte sich. Er war nicht mehr so angespannt wie zuvor. »Hmm, ja – so viel zu meinem Job. Was arbeitest du, Hikari?«, fragte er mit nachdenklicher Miene.
»Vielleicht in einem Restaurant oder Café? Oder vielleicht in der Kosmetikbranche? In einem Büro kann ich mir dich irgendwie nicht vorstellen. Oder vielleicht …«
Auf einmal öffnete sich die Zimmertür, worauf er erschrocken hochfuhr. Eine Krankenschwester kam herein. Sie schob einen Behandlungswagen vor sich her. »Ah – guten Morgen! Sie müssen Frau Nagayamas Bruder sein«, meinte sie freundlich.
»Eh, ja – guten Morgen«, entgegnete Kōsuke etwas überrascht. ›Diese Frau … Hat sie das etwa im ganzen Krankenhaus herumerzählt?‹
»Mein Name ist Maeda – ich bin für das Wochenende in dieser Etage eingeteilt«, erklärte sie, während sie sich die Hände desinfizierte.
»Soll ich hinaus gehen?«
»Oh, nicht nötig, ich schließe nur eine neue Infusion an«, entgegnete sie. »Ich finde das sehr nett von Ihnen, dass Sie der Patientin Gesellschaft leisten.«
»Geht das in Ordnung? Ich meine, normalerweise dürfen doch nur Angehörige zu den Patienten, oder?«, fragte Kōsuke verunsichert.
»Ja, das ist schon richtig, aber da wir ihre Angehörigen nicht benachrichtigen können und sich bisher niemand nach ihr erkundigt hat …«
»Aber kann das Krankenhaus dadurch nicht Ärger bekommen?«
»Vermutlich schon – aber wenn Doktor Hayashi es genehmigt hat und medizinisch begründen kann, dass Gesellschaft zur Genesung der Patientin beitragen kann, dann geht das bestimmt in Ordnung.« Die Schwester lächelte und hängte den neuen Infusionsbeutel an.
»Ich verstehe.« Kōsuke setzte sich wieder und beobachtete Schwester Maeda.
»Hat sie denn schon auf irgendetwas reagiert?«, fragte diese interessiert.
»Nein, leider«, sagte er enttäuscht. »Ich glaube nicht – vielleicht haben vorhin ihre Augen gezuckt, aber ich bin mir nicht sicher.«
»Sollte sie aufwachen, rufen Sie mich bitte gleich.« Sie deutete auf den orangefarbenen Schwesternruf-Knopf an der Fernbedienung für das Krankenbett.
»Ja, natürlich« Er stand auf und verneigte sich zum Abschied, als sie das Zimmer wieder verließ.
Unruhig ging er ein paar Schritte auf und ab und sah sich um. »Willst du nicht aufwachen, Hikari?«, wandte er sich ihr wieder zu. »Du kannst doch nicht den ganzen Samstag verschlafen … Wobei ich das auch gerne wieder einmal machen würde – einfach faulenzen am Wochenende. Vor einigen Jahren bin ich Samstags regelmäßig Fußball spielen gegangen. Ich hab mich mit Freunden schon zeitig morgens am Arakawa-Flussufer getroffen und wir haben dann nach dem regulären Training noch bis am Nachmittag gespielt. Manchmal vermisse ich die Zeit irgendwie …« Er sah zum Fenster hinaus.
»Es regnet immer noch. Kein Wunder, dass du lieber im Bett bleiben willst«, sagte er schmunzelnd. »Was hältst du davon, wenn ich mal nach Yuki sehe? Ich werde Frau Nagayama bitten, dass sie mich anruft, wenn du munter wirst, einverstanden?« Kōsuke nahm seine Jacke vom Stuhl und schlüpfte hinein. »Ich komm vielleicht später wieder – oder morgen«, meinte er unentschlossen.
»Bis dann, Hikari«, verabschiedete er sich, zog den Vorhang wieder zu und verließ das Zimmer.
Nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr ging er zur Treppe.
»Halt!«
Kōsuke blieb wie versteinert stehen und sah in die Richtung aus der die Stimme gekommen war. »Ah, Sie sind’s«, sagte er erleichtert, als er bemerkt hatte, dass es Frau Nagayama war. »Sagen Sie, müssen Sie mich so erschrecken?«, fragte er leidvoll.
»Entschuldige, Bruderherz«, erwiderte sie grinsend.
»Ich wollte Sie eh gerade suchen …«
»Und wie geht es Chō-Chō?«, fiel sie ihm ins Wort.
»Sie ist noch nicht aufgewacht«, entgegnete er mit besorgter Miene. »Ich wollte Sie bitten, dass Sie mir Bescheid geben, wenn sich irgendetwas ändert.«
»Ja, solange ich noch Dienst habe, kann ich das machen. Bis siebzehn Uhr bin ich heute hier, für danach müssen Sie sich wohl eine andere Komplizin suchen«, meinte sie scherzend.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie an. »Ich … danke Ihnen vielmals«, flüsterte er.
»Sie müssen wirklich etwas lockerer werden«, lachte sie und begab sich zum Krankenschwesternbereich. Sie drehte sich noch einmal um und winkte ihm energisch zum Abschied zu.
Kōsuke fuhr sich abgekämpft durchs Haar. ›Sie ist wirklich sehr nett, aber kann einem den letzten Nerv rauben‹, dachte er und ging die Treppe hinunter.
Am Eingang nahm er seinen Regenschirm, den er dort zurückgelassen hatte, und verließ das Krankenhaus.
Unzählige Kirschblüten sanken auf den Boden nieder.
Wie blassrosafarbener Regen umgab sie die herabfallende Blütenpracht.
Ein gigantischer Windstoß erfasste sie, worauf sie ihre Augen schloss und im nächsten Moment
überkam sie ein Gefühl, als würde sie hoch in die Luft gerissen werden.
Sie spürte keinen festen Grund mehr unter ihren Füßen. Was geschah mit ihr?
Sie hatte Angst, ihre Augen zu öffnen.
Ein beruhigendes Rauschen und eine wohltuende Frische in der Luft ermutigten sie,
doch einen Blick zu riskieren. Jetzt konnte sie auch den Sand zwischen ihren Zehen fühlen.
Sie war am Meer, an einem weißen Sandstrand.
Ohne darüber zu sinnieren, wie sie an diesen Ort gekommen war, schritt sie auf das Wasser zu.
Wie die erste Welle sie erreichte, bemerkte sie, wie angenehm warm es war.
Langsam spazierte sie den Strand entlang und wie die nächste Woge um ihre
Knöchel strömte, schloss sie kurz ihre Augen und lächelte.
Auf einmal nahm sie jemand an der Hand.
Es war ein Junge – der kleine blasse Junge, den sie zuvor schon unter dem
Kirschbaum getroffen hatte. Er hielt ihre Hand und sah zu ihr herauf.
»Da bist du ja wieder«, sagte sie mit sanfter Stimme.
Er nickte.
Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln, woraufhin er ohne eine Miene zu
verziehen auf etwas hinter ihr deutete. Sie drehte sich um und sah ein Stück weiter weg
einen zweiten Jungen, der vor einer riesigen Sandburg stand.
Leute, die sich ringsum versammelten, schienen das Kunstwerk aus Sand zu bewundern.
Der blasse Junge zog an ihrem Arm.
»Ist das ein Freund von dir?«, fragte sie ihn, worauf er energisch den Kopf schüttelte.
»Willst du mit ihm mitspielen?«
Wieder verneinte der Junge und rümpfte die Nase.
»Gefällt dir seine Sandburg?«
Wütend stampfte der Junge auf.
»Was – was willst du mir denn sagen?«
Trotzig blickte er wortlos zu Boden.
»Willst du auch eine bauen?«, fragte sie verunsichert.
Der Junge ließ ihre Hand los und raufte sich sein Haar.
Er deutete auf die Sandburg und dann auf sich selbst.
»Die Sandburg? … Du? Du hast sie gebaut?«, begriff sie langsam.
Er nickte wortlos und sah wieder zu dem anderen Jungen hinüber,
welcher stolz vor der Burg posierte. Zornig ballte er seine Hände zu Fäusten.
»Sollen wir hingehen?«, fragte sie, woraufhin er erstaunt zu ihr aufblickte.
»Wir sagen es allen, dass du es warst, der sie gebaut hat«, meinte sie lächelnd.
Entschlossen schritt sie an ihm vorbei auf die große Sandburg zu.
»Kommst du?«, forderte sie ihn auf und als sie sich zu ihm umdrehen wollte,
war er verschwunden.