Ich mag auch mal was beisteuern. Weil ich nämlich dachte - hey, deine Lieblingsbücher fangen doch alle mit tollen Sätzen an. Naja, manchmal hab ich da weit gefehlt.
Vielleicht errät der Eine oder Andere ein paar Bücher - ich pack sie in die Spoiler.
Zweihundert Schemel wurden gerückt.
-klar, einfach, schlicht - und trotzdem interessant: Was für Schemel? Rücken die alle gleichzeitig? Wo findet das statt?
- ein schlicht konstruierter Satz lädt manchmal mehr zum Weiterlesen ein als eine ellenlange Verschachtelung unnötiger Wörter.
Spoiler anzeigen
Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer (Kapitel 1)
Es geht dann weiter mit:
Zweihundert Gymnasiasten standen lärmend auf und drängten zum Portal des Speisesaals. Das Mittagessen im Kirchberger Internat war zu Ende.
Das Erste, woran sich der Junge Garion erinnerte, war die Küche auf Faldors Farm.
-eines meiner Lieblingsbücher, von dem ich ehrlich dachte, dass es toller anfängt...
-ist aber nicht unbedingt ein schlechter Anfang (Ich habe mal den Prolog ignoriert), denn es verursacht doch Fragen: warum erinnert Garion sich zuerst an die Küche? Was ist an der so besonders? Und weil die Angabe "das Erste" eine Finte ist, fragt man sich, woran er sich denn noch erinnert...
Spoiler anzeigen
David Eddings: Belgariad-Saga 1: Kind der Prophezeiung oder moderner: Die Gefährten (Kapitel 1)
In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit.
- einfach, klar, ein bisschen lustig ("In einem Loch im Boden"...) und die komplett literarisch Weggetretenen mögen sich fragen, was ein Hobbit ist. Na gut, Kinder und Uneingeweihte auch. Und dann will man wissen, wie der Hobbit lebt, was er so macht etc.
Spoiler anzeigen
Spoiler ist überflüssig, wer das nicht weiß, ist in diesem Forum falsch...
Paulette Lestafier war nicht so verrückt, wie die Leute behaupteten.
- Auch wieder ein herrlich schlichter Satz, fast ein bisschen herausfordernd-provokant. Denn wer kennt es nicht? "Ich singe nicht so schlecht, wie die Leute behaupten!" - "Ich bin besser in Mathe, als mein Lehrer denkt!" Und nun will man natürlich wissen, inwiefern die gute Paulette denn vielleicht verrückt ist. Das Verrücktsein anderer Leute - das ist doch spannend.
Spoiler anzeigen
Anna Gavalda: Zusammen ist man weniger allein
Es geht dann weiter mit:
Natürlich wusste sie, wann welcher Tag war, sie hatte ja sonst nichts zu tun, als die Tage zu zählen, auf sie zu warten und wieder zu vergessen.
(auch das ist sehr schön geschrieben...)
Joost hatte zwei Probleme: den Mond und seinen Schnauzer.
- ein denkbar schlichter Einstieg mit einer komischen Pointe, die Fragen aufwirft
- Denn: welche Probleme hat man schon mit dem Mond? Und mit seinem Bart? Warum sind diese Probleme so wichtig, dass sie an den Anfang eines gesamten Buchs gestellt werden? (Ironie dahinter: Diese Probleme tauchen tatsächlich nie wieder auf.)
Spoiler anzeigen
Leigh Bardugo: Das Lied der Krähen
Es war Herbst in der Stadt des Mondes, als Victor zum ersten Mal von Prosper und Bo hörte.
- poetischer Einstieg "in der Stadt des Mondes", und man wird gleich ins kalte Wasser geworfen. Wer sind Victor, Prosper und Bo? Was hört er über sie? Warum im Herbst? Um diese Namen "Prosper und Bo" wird sofort ein Geheimnis aufgemacht.
Spoiler anzeigen
Cornelia Funke: Herr der Diebe
Es geht dann weiter mit:
Die Sonne spiegelte sich in den Kanälen und überzog die alten Mauern mit Gold, aber der Wind blies eisig vom Meer herüber, als wollte er die Menschen daran erinnern, dass der Winter kam.
Ihr wisst noch nichts von mir, wenn ihr nicht ein Buch gelesen habt, das sich "Tom Sawyers Abenteuer" nennt, aber das macht nichts.
-Also gut, das Buch ist Weltliteratur aus dem Grund, weil es so herrlich unverblümt direkt aus dem entsprechenden Milieu heraus geschrieben wurde, und deswegen springt dieser Stil einen einfach an. Er ist ehrlich, direkt, originell. Und es macht gerade deswegen, weil der Erzähler einräumt, dass es nicht schlimm ist, wenn man ihn noch nicht kennt, neugierig. Die direkte Leseransprache hilft hier auch ungemein.
Spoiler anzeigen
Mark Twain: Huckleberry Finns Abenteuer
Es geht dann weiter mit:
Das Buch hat Mr. Mark Twain geschrieben, und im großen und ganzen hat er dadrin die Wahrheit gesagt. Es gibt zwar Dinge, wo er ´n bisschen geflunkert hat, aber er hat im großen und ganzen die Wahrheit gesagt. Das ist nicht schlimm.
Jenseits des indischen Weilers, an einem einsamen Gestade, stieß ich auf eine Spur frischer Fußabdrücke.
- Hier werden wieder Fragen heraufbeschworen. Wo bitte ist der Protagonist? Noch wichtiger: Wo führen die Fußabdrücke hin?
Spoiler anzeigen
David Mitchell: Der Wolkenatlas
Es geht dann weiter mit:
Über fauligen Riementang, Reerescocosnüsse u. Bambus führten sie mich zu ihrem Verursacher, einem Weißen mit flott gestutztem Barte u. übergroßem Biberhut, welcher, Hosenbeine u. Ärmel seiner Seemannsjacke aufgekrempelt, mit einem Teelöffel so andächtig den groben Sand durchschaufelte u. siebte, dass er mich erst bemerkte, als ich ihn aus etwa zehn Schritt Entfernung anrief. Auf diese Weise machte ich Bekanntschaft mit Dr. Henry Goose, Chirurg der Londoner feinen Gesellschaft.
Der Dämon explodierte in einem Regen aus blutigem Sekret und Eingeweiden.
- sehr, ähm, unkonventioneller Einstieg, sehr anschaulich und dadurch irgendwie lustig. Oder eklig, je nachdem. Fragen werden auch gestellt: Was für ein Dämon? Warum explodiert er, was ist die Ursache dahinter? In welcher Szene sind wir überhaupt?
Spoiler anzeigen
Cassandra Clare: Clockwork Angel (Prolog)
Mrs Rachel Lyndes Haus stand dort, wo die von Erlen und Fuchsien gesäumte Hauptstraße von Avonlea durch eine kleine Senke führte.
- eines meiner Lieblingsbücher als Kind, dessen Einstieg ich auch aufregender in Erinnerung hatte. Denn so gibt der erste Satz nun nicht wirklich viel her, außer dass gleich blumig-malerisch eine Szene entsteht, eine naturgelegene Straße. Und man fragt sich, wer Mrs Rachel Lynde ist, aber das war's auch schon.
Spoiler anzeigen
Lucy Maud Montgomery: Anne aus Green Gables
Als Herr Bilbo Beutling von Beutelsend ankündigte, dass er demnächst zur Feier seines einundelfzigsten Geburtstages ein besonders prächtiges Fest geben wolle, war des Geredes und der Aufregung in Hobbingen kein Ende.
-Hier will man selbstverständlich sofort wissen, warum es denn Gerede und Aufregung gibt. Und was bitte schön die Zahl "einundelfzig" soll - man versteht, es ist Humor, es ist ein gewisser Stil, und das lädt doch auch zum Lesen ein. Genau wie die schöne Alliteration zuvor.
Spoiler anzeigen
Okay okay. Ich erwähne den Meister. J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Die Gefährten.
Der Zirkus kommt überraschend.
-Wieder wird man ins kalte Wasser geworfen. Ein kurzer, knackiger Satz, der weniger klärt, als dass er Fragen aufwirft. Von noch mehr Bedeutung sind aber die darauf folgenden Sätze, die ich in den Spoiler gepackt habe... weil sie nämlich richtig schön eine geheimnisvolle Atmosphäre schaffen, die zum Lesen motiviert.
Spoiler anzeigen
Erin Morgenstern: Der Nachtzirkus
Es geht dann weiter mit:
Es gibt keine Ankündigung, keine Reklametafeln oder Plakate an Litfaßsäulen, keine Artikel und Zeitungsanzeigen. Plötzlich ist er da, wie aus dem Nichts.
In Little Hangleton nannten sie es immer noch das "Riddle-Haus", obwohl die Familie Riddle schon seit vielen Jahren nicht mehr dort wohnte.
-Ah, das Pronomenspiel. Kommt in den besten Büchern vor und bewirkt hier Fragestellerei: Wer nennt das Haus so? Und warum? Das Haus wird sofort mit etwas Besonderem, Bedeutungsvollen, Verwahrlosten assoziiert, und natürlich will man wissen, wer war diese Familie, warum wohnt sie nicht mehr dort. Hilfreich ist dabei, dass der Satz noch nicht zu viel hergibt und nicht zu lang ist.
Spoiler anzeigen
Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Feuerkelch
Am Abend traf sich Jorel mit dem Mädchen.
- Kurz und wenig ergiebig - gerade deswegen fragt man sich: Wer ist Jorel? Warum trifft er sich mit "dem" Mädchen? Was ist das für ein Treffen?
Spoiler anzeigen
Jenny Mai Nuyen: Nocturna. Die Nacht der gestohlenen Schatten.
Er sah Bücher.
-Ich liebe diesen (zweiten) Einstieg. Einfach, weil der Satz nichts erklärt und trotzdem sieht man sofort Bilder vor dem inneren Auge.
Spoiler anzeigen
Auch Nocturna, zweiter Prolog
Apolonia Magdalena Spiegelgold hatte eine exzellente Handschrift, wenn sie wollte.
-Dieser (dritte) Einstieg macht eigentlich nur mit den folgenden Sätzen richtig viel Sinn, denn dann entfaltet der Anfang eine Art versteckte Komik, entwickelt sofort ein Charakterbild. Davon abgesehen ist der erste Satz auch ein richtiges Kleinod, denn man fragt sich: Schreibt die Person etwa gerade? Was schreibt sie?
Spoiler anzeigen
Auch Nocturna - endlich Kapitel eins, das dann weitergeht mit:
Die Feder führte sie so elegant wie ein Fechter seinen Degen. Was Apolonia trotz der schönen Schrift jedoch gänzlich fehlte, war Geduld, und nach kaum fünf Zeilen verwandelten sich ihre fein geschwungenen Lettern in ein hastiges Gekrakel.
Ich halte also fest:
- Erste Sätze sollten Fragen stellen und möglichst nicht beantworten
- Erste Sätze sollten, um die Lesemotivation zu steigern, nicht zu verschachtelt sein. Ich persönlich liebe knappe, aussagekräftige Sätze.
- Erste Sätze sollten eine Atmosphäre formen, den Leser ins kalte Wasser werfen, neugierig machen.
Natürlich alles nur aus meiner Sichtweise.