Neulich haben wir im Chat mal über erste Sätze geschrieben und ein paar Sachen wollte ich hier nochmal posten.
Erste Erkenntnis: Der erste Satz ist nicht unbedingt kriegsentscheidend, ein schlechter erster Satz ist aber eine vergeudete Chance. Man sollte es nicht totdenken, aber etwas Sorgfalt ist hier definitiv angebracht.
Eine allgemeine Formel für einen guten ersten Satz ist beispielsweise diese hier:
Zitat von kalkwiese
[Person] tat gerade [Tätigkeit], als [Ereignis] passierte.
Diese Struktur habe ich schon oft gesehen und sie funktioniert einfach gut. Auf eine Person wird Fokus gelegt, die mit einer Tätigkeit, oft im Alltag, bereits näher charakterisiert wird bzw. eine Ahnung von der Umgebung wird geschaffen und es passiert etwas. Alles in einem Satz. Damit ist manchmal das erste Bild schon fertig gemalt!
Gerade weil es eine gängige Art des Einstiegs ist, fühlt es sich für mich auch nicht besonders interessant an. Die Art des Einstiegs wohlgemerkt. Der Inhalt des Satzes kann natürlich trotzdem Fragen aufwerfen und mein Interesse wecken.
Ich liste mal einige erste Sätze aus ein paar meiner Lieblingsbücher auf.
Der Frühling war spät dran, genau wie ich an diesem verregneten Morgen.
David Mitchell - Chaos, Kapitel 2 "Tokyo"
Das Buch besteht aus 9 Novellen, die zusammenhängen. Kapitel 1 hab ich auf der vorigen Threadseite schon genannt.
Hier bekomme ich gleich ein Gefühl von Stress. In meiner subjektiven Empfindung renne ich durch eine kalte, verregnete Stadt und versuche den Zug zu erwischen.
Der Mond, der Mond am Nach...
Kapitel 3 "Hongkong"
Hier wird schön eine ruhige Nacht angetäuscht, bis dann mitten im Wort der Wecker klingelt.
Hinauf, hinauf, immer höher und manchmal hinab.
Kapitel 4 "Der Heilige Berg"
Es spielt an einem Berg. Und der ist heilig. Darum hat er auch einen eigenen Einführungssatz ganz am Anfang verdient.
Die Steppe zog in sanften Hügeln vorbei, endlosen, endlosen Hügeln.
Kapitel 5 "Mongolei"
Da wird ein Ausblick aus dem Fenster des Transsibirien-Express gezeichnet.
Dieses Hundewetter bringt mich noch um.
Kapitel 6 "St. Petersburg"
Man bekommt gleich die Stimmung der Hauptfigur vermittelt. Da das hier alles in der Ich-Perspektive steht, fallen kaum Namen und das ist auch gar nicht nötig. Stattdessen gibt es eher einen Fokus auf die Umgebung des erzählenden Ichs.
Das Buch hat noch mehr erste Sätze, aber gehen wir mal zum nächsten. Es gibt nämlich eine gewisse Art von ersten Sätzen, die ich besonders gerne mag.
Am Anfang gab es einen Mörder, ein Maultier und einen Jungen, aber noch sind wir nicht am Anfang, noch sind wir vor dem Anfang, und vor dem Anfang, da gibt es mich, Matthew, und ich sitze in der Küche, mitten in der Nacht - in diesem uralten Flussdelta des Lichts -, und ich tippe und hämmere unermüdlich.
Markus Zusak - Nichts weniger als ein Wunder
Der erste Satz kann ein Statement sein. Eine Herausforderung. Einstiege wie diesen finde ich überaus mutig und ich bekomme da Lust auf mehr. Zugegeben, dieses spezielle Beispiel wirkt auf mich noch ein kleines bisschen zu gewollt. Das Bild mit dem Flussdelta sticht besonders hervor. Im Verlauf des Buchs wird die Küche aber öfter mal so genannt, also muss man das auch ein bisschen als einen Rahmen sehen. Das weiß der Leser, der es sich zum ersten Mal anguckt natürlich nicht. So ein Anfang kann Leser abschrecken, die Sätze mit mehr als 14 Worten nicht gerne mögen, aber ich finde es auch fair, wenn man diesen Leuten gleich zum Anfang zeigt, was auf sie zu kommt.
Noch ein Beispiel.
Ich reiße den Vorhang auf, und da ist der durstige Himmel und der breite Fluss voll mit Booten und Schiffen, aber ich denke schon wieder an Vinnys schokoladige Augen, Shampooschaum auf Vinnys Rücken, Schweißperlen auf Vinnys Schultern, an Vinnys schelmisches Lachen, und mein Herz tickt aus, o Gott, wäre ich doch jetzt bei Vinny in der Peacock Street und nicht in meinem dämlichen Zimmer.
David Mitchell - Die Knochenuhren
Lang, aber lang mit Sinn. All die Informationen rauschen auf einen ein wie die Worte eines jungen, total verschossenen Mädchens, das von ihrem Geliebten schwärmt, die sie eben auch sind. Sie liebt Vinny und das auf eine sehr verklärte und naiv-jugendliche Weise. Vinny ist nicht bei ihr, das erfahren wir auch. Wie sie sich Vinny da vorstellt, gibt einen Eindruck von dem, was er und sie zusammen tun: Duschen, miteinander schlafen, Lachen usw. "In meinem dämlichen Zimmer" fängt mMn auch ihr junges Alter gut ein, das dann auf den nächsten Seiten auch deutlich wird.
Mal ein anderer Typ:
NEHMEN WIR MAL DIE SCHILDKRÖTE UND DEN ADLER.
Terry Pratchett - Einfach Göttlich
Jawohl, alles groß. Fragt mich nicht warum!
Auktorialer Erzähler. Statt von sich zu erzählen, wird der Leser direkt angesprochen, als würde man sich schon einige Minuten in einem Gespräch finden. Unvermittelte Anfänge mag ich auch gerne, die geben einem bereits einen Sinn von Bewegung, auch wenn dieser hier eher eine philosophisch-metaphorische Betrachtung von zwei Tieren einleitet.
Stellt euch den krankesten Ort von ganz Zamonien vor!
Walter Moers - Der Schrecksenmeister
O Gott, ein Ausrufezeichen! Hilfe! Wieder ein auktorialer Erzähler. Wenn man den verwendet, ist ein Einstieg mit einem Bruch der vierten Wand anscheinend nicht allzu abwegig, im Gegenteil, es bietet sich sogar an.
Gute erste Sätze sollten, finde ich, auch ein bisschen was wagen. Die oben erwähnte Formel tut das meistens nicht, wobei das durchaus darauf ankommt, womit man die Lücken ersetzt. Für einen Kapitelanfang, der einfach nur seinen Job erledigen soll und es nicht nötig hat besonders extravagant zu sein, bietet sie sich aber geradezu an. Warum also nicht?
EDIT: Entsprechend gibt es auch Bücher, die den extravaganten Einstieg gar nicht nötig haben und bei denen was Schlichtes eben am besten passt. Ihr kapiert schon, was ich meine!