Beiträge von Thráin im Thema „Die Stadt der schweigenden Seelen“

    Danke, ihr Lieben für euer schönes Feedback.
    Hier habe ich noch den nächsten Teil für euch! Ich hoffe, er gefällt euch :)


    Schnell brachte sie sich in eine stabile, aufrechte Position und sah dann zum Ufer, an der Stimme hatte sie schon erkannt, wer das sein musste.
    Und sie hatte Recht: Auf der Wiese stand ihr Bruder, nur mit einer Hose bekleidet da, winkte zu ihr herüber und lächelte breit über beide Wangen. Ein Lächeln, dass sie so sehr liebte; wenn Jarnef lachte, grinste oder eben lächelte hatte man das Gefühl, der ganze Raum würde strahlen.
    „Ich wusste einfach, dass du mal wieder hier bist, als ich gesehen habe, dass du nicht mehr schläfst“, rief er ihr zu. Der 18jährige hatte eine für sein Alter ungewöhnlich tiefe und ruhige Stimme. Sie passte zu ihm, von den beiden war er immer der Ruhigere gewesen, das stille Wasser, derjenige der Marnie beruhigte, wenn sie mal wieder aufgebracht war.
    „Komm her!“, rief sie grinsend zurück, „das Wasser tut so gut!“
    „Du bist ja auch eine Wasserratte“, lachte Jarnef und zog sich die Hose aus. Während Marnie auf der mit den Beinen strampelte, um sich aufrecht im Wasser zu halten, beobachtete sie ihren Bruder dabei, wie er vorsichtig einen Schritt in den See wagte.
    „Oh Scheiße, ist das kalt!“, rief er und musste lachen. Seine Schwester lachte auch, ihr Bruder war schon immer etwas empfindlicher gewesen als sie, besonders was Temperaturen anbelangt. Wenn sich die junge Frau an das frühere gemeinsame Waschen erinnerte, musste sie schmunzeln: Wenn die Wassertemperatur für sie genau perfekt war, beklagte sich ihr Bruder darüber, dass es noch zu kühl sei. Eine schöne Erinnerung.
    „Komm schon, du Weichei“, neckte sie ihren Bruder, im Wissen, wie sehr er es hasste, so genannt zu werden.
    „Weichei? Weichei! Na warte, dir zeig ich‘s“, knurrte Jarnef, er wusste, dass sie es nicht ernst meinte, aber ihm war ins Gesicht geschrieben, dass es ihm trotzdem missfiel.
    Langsam schwamm sie auf ihn zu und beobachtete weiter, wie er zitternd und die Arme um den Oberkörper geschlungen, einen Fuß nach dem anderen ganz langsam und vorsichtig weiter ins kristallklare Wasser wagte. Er war einfach ein sehr liebenswürdiger junger Mann. Marnie konnte nicht verstehen, dass die Jungs im Dorf, die in seinem Alter waren, sich ständig über ihn lustig machten; sie hatte einmal mitbekommen, wie sie ihren Bruder „Schlappschwanz“ oder „Nichtsnutz“ nannten. Sie konnte sich das nur damit erklären, dass diese Idioten ihn nicht gut genug kannten.
    Denn er war ein lieber Junge, der keiner Fliege etwas antun konnte. Und das, obwohl Vater die Beiden ein wenig im Bogenschießen und Schwertkampf unterrichtete. Letzteres allerdings bloß mit Stöcken, denn sie waren weit davon entfernt, sich so etwas wertvolles wie Schwerter leisten zu können.
    Marnie erinnerte sich daran wie sie diejenige war, die es im Kindesalter als erstes über sich brachte, ein Huhn zu schlachten. Jarnef hatte es nur unter Tränen hinter sich bringen können, und auch nur, weil Vater ihm den Hintern versohlt hatte.
    Jarnef ist viel zu nett und unschuldig für diese grausame Welt, hatte Mutter einst gesagt, noch bevor Marnie verstehen konnte, was sie meinte. Inzwischen konnte sie ihr nur zustimmen.
    „Kommst du jetzt, oder traust du dich nicht?“, zog sie ihren Bruder weiter auf.
    „Du bist furchtbar“, er verdrehte die Augen. Dann atmete er
    einmal tief ein und ließ sich schweren Herzens nach vorne fallen.
    „Drachentöter Jarnef Waldhaus!“, rief Marnie scherzhaft aus, „Bezwinger morgendlicher Kälte und des eiskalten Wassers!“
    Sie lachte. Er lachte.
    Mehrere stille Minuten trieben sie einfach im Wasser und genossen die Ruhe. Der Bruder gewöhnte sich merklich an die Wassertemperatur und fing an die für ihn typischen Scherze zu machen: Er kitzelte seine Schwester, drückte für eine Sekunde ihren Kopf unter Wasser. Obwohl er nicht der größte war, hatte er durch die anstrengende, körperliche Arbeit auf dem Hof, einen gut gebauten, drahtigen Körper. Man unterschätzte seine physischen Fähigkeiten schnell, wenn man ihn nicht so gut kannte wie Marnie.
    Sie krabbelte ihn zurück, schnippte ihm Wasser ins Gesicht und genoss die ausgelassene Stimmung zwischen den beiden.
    In einem Moment drückte sie sich ein wenig von ihm weg, richtete das Gesicht Richtung Himmel, und sog die frische Luft ein. Dann machte sie die Augen wieder auf und guckte dorthin, wo gerade noch ihr Bruder schwamm.
    Er war weg.
    Sie drehte sich im Kreis. Er war nirgends zu sehen, weder in einer anderen Ecke des Sees, noch am Ufer oder zwischen den Bäumen. Wie vom Erdboden verschluckt.
    „Jarnef? Bruder?“
    Mit einem lauten „Arrr!“ tauchte er wie aus dem Nichts hinter ihr auf, schlang seine Arme um sie und warf sie ein wenig hin und her.
    Marnies Herz überschlug sich einmal. Sie hatte sich sehr erschrocken.
    Sie rüttelte sich frei und gab ihm einen leichten Schlag auf die Brust. „Du Arsch“, sagte sie, musste aber lachen, weil er sie schief angrinste und sich offensichtlich darüber freute, sie so geschickt zu haben.
    Erschöpft von den Kabbeleien brachten sich beide in eine entspannte Rückenlage um die letzten Minuten Ruhe zu genießen.
    Aus dem Augenwinkel sah Marnie nur noch, wie Jarnef in Sekundenschnelle mit einem erstickten Aufschrei wie von etwas gepackt unter die Wasseroberfläche gezogen wurde. Das war kein Scherz.


    LG
    Thráin

    Hey, Leute :)
    Ich hatte mal wieder Lust, mich in eine eigene Fantasywelt zu stürzen.
    Was für mich neu daran ist, dass ich als Typ zum (ich glaube) ersten Mal aus der Sicht einer weiblichen Figur schreibe. Ich hoffe, es gefällt euch! :D


    Kapitel I: Der Morgen

    Marnie lag in ihrem Schlafplatz, der nur aus etwas Stroh unter einem rauen Laken und einer kratzigen, dünnen Stoffdecke bestand. Er befand sich in einer kleinen Nische im zugigen, alten Bauernhaus ihrer Eltern und wurde bloß durch dünne, löchrige Holzwände von der Schlafstätte ihrer Eltern, die in einem kleinen Bett schliefen, auf der einen und dem Schlafplatz ihres Bruders, der ihrem glich, auf der anderen Seite abgetrennt. Türen gab es im ganzen Haus nicht, lediglich der Schlafplatz ihrer Eltern konnte durch eine alte Stoffdecke im Durchgang verborgen werden.
    Von links hörte die 16jährige ihren Vater laut schnarchen, und von rechts ihren Bruder, Jarnef. Er war gerade mal zwei Jahre älter als sie. Die beiden hatten schon immer sehr viel gemeinsam gemacht; ihre Eltern hatten sie auch gleich erzogen, sie mussten beide auf dem Hof helfen, dort die gleiche Arbeit verrichten, zum Wassersparen mussten sie sich schon immer gleichzeitig im großen Badezuber waschen. Da sie das nicht anders kannten,
    störte es sie nicht.
    Auch wenn sie früher die Zeit bekommen hatten, spielen zu gehen, hatten sie das immer zu zweit gemacht. Wenn einer von beiden einmal zur Strafe in den Schuppen oder in den Stall zu dem Vieh gesperrt wurde, brachte ihm der andere heimlich etwas vom Abendbrot.
    Ihr Geheimzeichen war seit ihrer frühen Kindheit der Käuzchenruf, den Jarnef lange vor Marnie beherrschte. Natürlich hatte er sie damit immer aufgezogen, sodass sie ihn auch unbedingt lernen wollte.
    Auch trug Marnie seit dem 13. Lebensjahr ihr hellblondes Haar kurzgeschoren, weil ihr großer Bruder das auch tat.
    Ihr Bruder war die Person, der sie mit Abstand am meisten vertraute. Dies beruhte auf Gegenseitigkeit. So hatte sich ihr Bruder, der, obwohl er der Junge und älter war, nur genauso groß wie sie war, ihr vor einem Jahr anvertraut und ihr, als sie abends nach langer Feldarbeit beide mit angezogenen Knien im Zuber saßen, erzählt, dass er sich überhaupt nicht für Frauen interessierte und ihm Männer viel mehr gefielen. Er traute sich nicht, es ihren Eltern zu erzählen und wusste, dass er seiner Schwester vertrauen kann.
    Irgendwie hatte Marnie sich das schon immer gedacht, aber es war nie eine große Sache für sie. Vater hätte ihn vermutlich verprügelt und zu den Schweinen gesperrt. Für Marnie war es selbstverständlich, dieses Geheimnis zu wahren.
    Durch die Holzschlitze in der Hauswand sah sie, wie sich bereits die ersten müden Sonnenstrahlen an diesem Frühsommertag über die Baumwipfel und die nebelverhangenen
    Felder quälten. Sie hatte eine Gänsehaut auf Armen und Beinen, denn es war frisch, der Ofen im Großraum des Hauses brannte auch nicht mehr und die dünne, raue Decke war das einzige, was ihre Haut von der kühlen Luft trennte.
    Bald würde Vater aufwachen und sie zum Eierholen zu den Hühnern in den Stall schicken oder zu den Rindern zum Melken. Aber eine halbe Stunde dürfte sie noch haben und fasste eine Entscheidung, die ihr ein Lächeln ins Gesicht schrieb.
    Sie schob die Decke bei Seite, ein Lufthauch durch die Wand ließ erneut ihre Haare aufstellen. Schnell warf sie sich die Decke um, nahm ihre Stoffhose, ihr Leinenhemd und ihr Paar Schuhe unter den Arm und stahl sich aus dem Haus.
    Zwischen dem Wohnhaus und dem Rinderstall sprang sie über den niedrigen Holzzaun, der nichts und niemanden aufhalten konnte und auch bloß markierte, wo der Hof an sich aufhörte.
    Sie lief über die Wiese, spürte das noch vom Raureif feuchte Gras an ihren Fußsohlen kitzeln. Sie liebte dieses Gefühl.
    Gerade einmal zwei Minuten zu Fuß vom Hof entfernt lag er: Der kleine See, in dem sie und Jarnef schwimmen gelernt hatten. Ihre Mutter hatte ihnen als Kindern einmal erzählt, es habe früher Drachen auf der Welt gegeben, doch als die Menschen kamen hatten sie Angst bekommen und wären unter die Wasseroberfläche geflohen. Am nächsten Tag tauchten die beiden den ganzen Nachmittag im See auf der Suche nach einem Drachen, denn wenn in irgendeinem Gewässer ein Drache lebte, dann doch in dem See hinter dem Haus. Natürlich hatten sie keinen gefunden.
    Marnie liebte diesen See. Früher hatte sie sich häufiger morgens
    hierher gestohlen, um in Ruhe das kalte Wasser am nackten Körper, den leichten Nebel auf dem Wasser und die frühen Vögel in den Baumwipfeln genießen zu können. Ein paar wenige Momente Ruhe, vor dem Stress des Tages im Dorf oder auf dem Hof, der ein wenig außerhalb, umgeben von einem Mischwald, lag. Momente, nur für sich. So sehr sie ihren Bruder liebte, so gern sie meistens ihren Teil der Arbeit aufnahm, es gab Tage, da wollte sie nur für sich alleine sein.
    Nach zwei Minuten stand Marnie vor eben diesem See, den sie und Jarnef seit damals nur noch Drachensee nannten. Ruhig lag er da, auf der Wasseroberfläche spiegelte sich die noch schwache Sonne, die allerdings schönes Wetter im Laufe des Tages versprach. Seerosen trieben auf dem Wasser, immer mal wieder tauchte ein Fischlein an die Oberfläche, als wollten sie wissen, ob es etwas Neues in der anderen, trockeneren Welt gab.
    Der See hatte keinen sandigen Strand, das Ufer ging nahtlos in die Wiese über; dort wo das Wasser nur wenige Zentimeter hoch war, sah man unzählige Kiesel unterschiedlichster Größe, Formen und Farben glitzern.
    Marnie ließ ihre Kleidung auf die Wiese fallen, warf die Decke dazu und fühlte mit dem Fuß erst vor. Das Wasser war eiskalt, sie zuckte zurück. Ganz oder gar nicht, du bist doch kein Weichei!, sagte sie zu sich selbst.
    Einmal atmete sie tief ein und machte einen großen Schritt ins Wasser. Es umspülte ihre Knöchel, sie fröstelte. Trotzdem musste sie lächeln. Wie hatte sie dieses Gefühl vermisst!
    Sie machte ein paar weitere Schritte ins kristallklare Wasser, immer mit der gewissen Vorsicht, nicht in etwas scharfes oder
    spitzes zu treten. Dann ließ sie sich mit geschlossenen Augen nach vorne fallen. Das Wasser umspülte ihren ganzen Körper, für eine Sekunde fühlte sie sich wie in einer anderen Welt, dann tauchte sie wieder auf.
    Sie musste lächeln. Sie fühlte sich frei.
    Sie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, blinzelte das Wasser von den Lidern. Sie blieb auf einer Stelle und genoss die Ruhe, das Alleinesein, der Natur und vor allem dem Wasser so nah wie möglich zu sein.
    Nach mehreren langen, ruhigen Atemzügen, schwamm sie mit kräftigen Zügen weiter in die Mitte des Sees. Angst vor dem Wasser kannte sie nicht – nein, im Gegenteil: Sie liebte das Wasser, besonders diese klare, unberührte hier im Drachensee. Kein Bauer führte sein Vieh hierher, niemand hatte das Gewässer zur eigenen Versorgung angezapft. Hier kam nie jemand her. Im Dorf kannten die meisten den See sicherlich gar nicht.
    In der Mitte angekommen, tauchte Marnie unter, drehte sich, genoss das Wasser und die Kälte, an die sie sich inzwischen gewöhnt hatte.
    Nachdem sie wieder aufgetaucht war, ließ sie sich auf dem Rücken treiben, konzentrierte sich auf ihren eigenen Atem, auf die Bewegungen des Wassers, auf den Gesang der Vögel im Wald.
    „Ich wusste, dass du hier bist!“, wurde ihr plötzlich vom Rand des Sees zugerufen. Marnie schrak zusammen.


    Ich hoffe, es hat euch bis hierher gefallen.
    LG
    Thráin