Es ist ein Unterschied, ob ich es mit dem Versuch einer "historisch-exakten" Schilderung eines römischen Historikers zu tun habe, oder einer mythologischen Schilderung.
Ich verstehe was du sagen willst und kann das inhaltlich auch ein sehr großes Stück weit nachvollziehen, aber die beiden Perspektiven könnten durchaus zusammenfließen. Ich kenne jetzt das Gilgamesch-Epos nicht, aber man kann ja nicht ausschließen, dass - ich sag mal vorsichtig - mancher Aberglaube durchaus für "historisch" korrekt oder wahr gehalten wurde.
Vielleicht muss man das Selbstverständnis der (Nieder-)Schreiber mit berücksichtigen: Goethe wird sich niemals selbst als Fantasy-Autor angesehen haben, ebensowenig wie diejenigen, die das Gilgamesch-Epos in Tontafeln (?) geritzt haben. Warum? Weil der Begriff "Fantasy" als literarisches Genre wesentlich jünger ist.
Wikipedia schreibt dazu ne schöne Erklärung für Romantik(er) und Klassik(er):
Generell müssen „Klassik“ und „Romantik“ auch als nachträgliche Zuordnungen verstanden werden; die Vertreter der Klassik haben sich nicht als „Klassiker“ gesehen, fühlten sich aber klassischen Idealen bzw. Idealisierungen verpflichtet, genauso sahen die „Romantiker“ in der „romantischen Poesie“ ein Ziel, sich selbst aber nicht unbedingt als dessen Verwirklicher.
Meine Deklarierung von klassischen Werken als Fantasy ist auch eine Gegenreaktion zu den "Literaten" ala "Literarisches Quartett", die verallgemeinernd sagen, dass Fantasy nur Schundliteratur ist und nicht literarisch anspruchsvoll sein kann. Denen sage ich dann gerne: Halt Stop! Der Goethe ist streng genommen auch ein Fantasyautor.
Die Verallgemeinerung ala "Fantasy ist per Definition Schund" finde ich auch doof. Trotzdem gibt es Fantasy-Romane, die insofern als "Schund" bzw. Genre-Literatur bezeichnet werden können, als dass sie nur genre-typische Klischees in ein und derselben Reihenfolge aneinanderreihen und einfach nicht mehr sind. Das heißt nicht, dass sie stilistisch oder weltenbautechnisch nicht trotzdem gut sein können, aber sie legen z.B. mehr Wert darauf, dass der unscheinbare Waisenjunge zum magisch begabten Helden heranwächst und den Bösen besiegt, dabei natürlich die Welt rettet und nebenbei seinem männlichen Zaubererkonkurrenten die begehrte Herzensdame ausspannt. Diese Art der Fantasy darf meiner Meinung nach schon auch mal kritisiert werden.
Für mich gibt es eigentlich zwei Blickrichtungen:
Einerseits kann ich literaturwissenschaftlich versuchen, bereits existierende Werke zu beschreiben, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und Oberbegriffe dazu zu finden. Da wäre der Blick aus der Perspektive desjenigen, der die Einteilung in Fantasy und Science Fiction trifft eher in die Vergangenheit gerichtet. Aus der Perspektive könnte man Goethes Faust als Fantasy bezeichnen, weil die Existenz des gestaltwandlerischen Mephistos (er tritt zunächst als Pudel auf) als reine Fiktion interpretiert werden darf.
Das Ziel hier ist natürlich ein ganz anderes: es geht darum, Entwicklungen geschichtlich herauszuarbeiten und zu verstehen, z.B. welche Einflüsse das Entstehen der Romantik (als literarische Epoche) begleitet haben oder ab wann der Begriff Fantasy im Sinne des folgenden Verständnisses aufgekommen ist.
Andererseits kann ich als Autor oder Buchverkäufer (vor allem letzteres) mir überlegen, wie ich ein Produkt, das neu erscheinen soll, am besten vermarkte. Hierbei greift man dann natürlich auf etablierte Verkaufskategorien zurück. Tatsächliche, objektive Kriterien, wann was in welche Kategorie gehört, interessieren hier überhaupt nicht. Wichtig ist ja nur, dass das Buch gekauft wird.
Vermutlich wurde das alles auch schon mal gesagt...