Cromwells Blick wechselte mehrmals zwischen Sylvana und Lotus. Die eine sah verwirrt aus, der andere war hochkonzentriert.
„Stimmt was nich, ihr beiden?“
„Es ist hier draußen viel friedlicher, als ich es mir vorgestellt habe“, bemängelte Sylvana.
„Friedlicher?“, wunderte sich Cromwell und betrachtete die mit Unkraut überwucherte Steppe, welche bis zum Horizont reichte.
„Wo sind die tiefen, dunklen Wälder, mit knochigen Bäumen und hämischen Fratzen in den Schatten, wo hinter jedem Busch und Strauch das Böse auf einem wartet?“
„Um Skossa herum abgeholzt“, antwortete Cromwell.
„Oder der allgegenwärtige, dichte Nebel der die Landschaft in schauriger Stimmung einhüllt?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Die Sonne ist nicht mal von einer undurchdringlichen Wolkendecke verdunkelt und es fehlt das fröstelnde Gefühl von Unsicherheit, von dem immer alle berichten.“
„Es is ein ganz normaler Frühlingstag.“
„Huh...“, gab sie enttäuscht von sich.
„Und was stimmt bei dir nich, Lotus?“
Cromwell folgte seinem Blick auf die drei Karawanen, welche sich jeweils auf den Straßen nach Nordosten, Osten und Südosten stellten und stellte fest: „Jup, sieht übel aus, mein Bester. Nur eine will direkt nach Osten und genau die ham Kinder dabei.“
Die Karawane umfasste zehn Händler mit sechs Handkarren, fünf größere Eselskarren und vier reisende Familien, die zusammen sechs Kinder hatten. Beschützt wurden sie von sechs Wächtern in Lederrüstung, fünf vorn, einer hinten.
„Dann ist das eben so. Wir halten uns an den Plan“, meinte Lotus.
Doch Cromwell konnte in dessen Gesicht viel mehr Anspannung ablesen, als Lotus zugab.
„Sicher?“
„Frag nich so schwachköpfig, sondern gib mir lieber ein wenig Geld“, würgte Lotus das Thema ab.
Cromwell griff in den Ausschnitt seines Hemdes und holte ein kleines Säcklein hervor.
„Wünsch mir Glück, dass ich sie von uns überzeugen kann.“
Festen Schrittes näherte er sich dem Mann, den er für den Anführer der Wächter hielt. Nach einem kurzen Wortwechsel mit diesem gesellten sich drei Männer dazu und diskutierten lauthals mit.
„Was meint er damit?“, wollte Sylvana von Cromwell wissen.
„Normalerweise isses üblich, dass man sich in der Stadt zu einer Karawane zusammenschließt. Mit Papieren und allen. Das was wir grad versuchen is verdächtig. Kann sein dass die uns für Diebe oder so halten werden und Lotus abwimmeln.“
Letztlich überreichte Lotus das Säcklein und brachte mit dem Inhalt die Augen des Anführers zum leuchten. Mit wilder Gestik schickte dieser die anderen Männer fort und winkte mit einem breiten Lächeln Sylvana und Cromwell heran. Doch bevor sie aufschließen konnten, tauchten plötzlich aus dem Hintergrund drei Frauen in bürgerlichen, grauen Gewändern auf, die von Mitte Zwanzig bis Ende Dreißig reichten.
„Du hübsches Ding kommst also mit uns mit? Lass dich ansehen“, begannen sie und griffen links und rechts Sylvanas Hände und zogen sie einige Schritte beiseite.
Sie wusste gar nicht wie um sie geschah, denn binnen eines Momentes war sie von den drei Frauen umzingelt und es fühlte sich für sie an, als würden hunderte Hände gleichzeitig sie bedrängen.
„Schaut euch das seidige Haar an! So völlig anders als meine verfilzte Mähne. Du kämmst sie täglich mehrmals, nicht wahr?“
„Das machten meine-“
„Schon schulterlang ist eine Mühe sie zu hegen und zu pflegen, aber du hast sie bis zum Rücken wachsen lassen?“
„Ja, ich mag-“
Eine andere Frau griff nach oben und berührte Sylvanas Wange.
„Vergiss die Haare, ihre Haut ist so weich und glatt. Welche Salbe verwendest du? Die muss teuer sein.“
„Das war-“
Die Dritte griff fest an Sylvanas Arme.
„Wahnsinn, noch nie hab ich eine so große Frau gesehen und dazu die Muskeln eines Mannes. Du musst eine Nordfrau sein, nicht wahr?“
„Meine Mutter-“
Gemeinsam wanderten die Hände über Sylvanas Lederrüstung.
„Warum trägst du die? Du würdest in einem Kleid so schön aussehen.“
„Weil-“
Alle Drei warfen einen Blick auf Lotus und Cromwell.
„Und wer von den beiden ist der Glückliche?“
„Was?“
Von der Karawane aus kam eine vierte. Viel ältere Frau hervor. Das Gesicht der rüstigen Dame wies kleine Falten vor und ihre zusammengebunden Haare hatten einen leichten Grauton.
„Berthold!“, rief ihre erboste Stimme dem Anführer der Karawane entgegen.
„Heiliger Lotus, beschütze mich vor dieser Furie!“, fluchte Berthold schon bei ihrem bloßen erscheinen genervt.
Sie baute sich vor ihm auf.
„Du wirst doch wohl nicht einfach Fremde mitnehmen, ohne es vorher mit mir abzusprechen!“, meckerte sie und stach mit dem Finger immer wieder auf die Brust von ihm ein.
Ein älterer Mann eilte ihr nach und zog sie am Handgelenk zurück: „Eheweib, sei still! Es war schon schwierig genug überhaupt jemanden zu finden, der uns zu Azetakens Grenze bringen will! Vergräme ihn nicht.“
„Was wäre ich für ein schlechter Wächter, wenn ich diesen armen Seelen nicht helfen würde?“, brachte Berthold hervor.
Die Frau wischte diese Aussage mit ihrer Hand davon, entzog sich dem Griff ihres Gatten und verschränkte die Arme.
„Ahja. Du handelst natürlich völlig uneigennützig, wie?“
Er drückte das Säcklein fester an sich: „Na-Natürlich! Die Drei sind absolut vertrauenswürdig, glaub mir!“
„Achja? Dann lass mich mal schauen, wen du uns da anhaften willst.“
Sie musterte zuerst Lotus: „Ein riesiger, bärtiger Zyklop mit griesgrämiger Miene, der den Kindern angst machen wird.“
Cromwell schnaubte laut und unterdrückte sich ein Lachen: „Das trifft es auf den Punkt! Fällt euch noch mehr zu ihm ein?“
„Diese protzige Plattenrüstung... die übertrieben vornehme Haltung... und der hochnäsige Blick. Ihr seid vom arroganten Adel!“
„AHAHAHAHA!“, wieherte Cromwell und stieß sein Ellenbogen mehrmals gegen Lotus Hüfte, „Man is die gut, nich wahr, Lotus? Als ob sie dich schon ewig kennen würde!“
Sie wandte sich Cromwell zu: „Ein schadenfrohes Milchgesicht. Kaum größer als ein Zwerg, noch ganz grün hinter den Ohren und ein leichter Dialekt. Er stammt wohl aus dem minderbemittelten Süden.“
„Öy! Ich könnte nem Zwerg locker aufm Kopf spucken!“, bemängelte Cromwell, dem das Lachen schlagartig wieder vergangen war.
„Als wenn sie dich schon ewig kennen würde, Cromwell“, sagte Lotus trocken.
Sie wandte sich Sylvana zu. Diese verzog leicht die Miene und rechnete mit dem Schlimmsten.
Doch bevor sie ihr Urteil über Sylvana fällte, richtete sie ihre Worte an die anderen Frauen. Dabei lief sie mit dem Finger mahnend wedelnd vor ihnen auf und ab: „Und ihr! Ihr schwärmt ihr was von ihren tollen Haaren, ihrer hervorragenden Figur und der schönen Haut was vor. Für so oberflächlich habe ich euch Drei nicht gehalten!“
Die Frauen blickten schuldbewusst zu Boden und fanden keine Widerworte.
„Es gibt wichtigere Dinge im Leben, als das bloße Aussehen.“
Plötzlich hatte sie ein Funkeln in den Augen und griff beherzt zu. Ihre Hände gruben sich in Sylvanas Hüfte und im Anschluss klatschte sie ihr laut auf den Hintern: „Aha. Ein gebärfreudiges Becken, strammer Hintern und ein mehr als üppiger Busen.“
„Uhm... danke?“, brachte sie verwirrt hervor.
Die rüstige Dame richtete ihre Worte wieder an die anderen Frauen: „Und natürlich ist der riesige Zyklop der Glückliche. Was sollte eine so große Frau schon mit dem Zwerg anfangen?“
„Schon wieder gegen mich? Sylvana, sag ihr, dass auch ich in Frage käme!“, warf Cromwell ein.
„Für was denn?“, fragte sie völlig überrumpelt.
Der rüstigen Dame klappte der Kiefer runter und die anderen Frauen schlugen sich die Hände an ihre Wangen: „So ein hübsches Ding und noch immer unberührt? Was muss der Mann für eine Erziehung genossen haben, dass er sich derart zurückhalten kann?“
Sie alle blickten zu Lotus, dessen Bild sich schlagartig änderte.
„Er muss extrem stark sein und einen hohen Stand haben, wenn er die anderen Männer von ihrem Feld abhalten kann“, tuschelten sie miteinander.
Herzen begannen schneller zu schlagen und die Knie wurden weich, je länger sie Lotus anblickten.
„Moment mal. Eine große Frau, ein Riese in Plattenrüstung und ein Mann in Grün?“, fragte die rüstige Dame und schaute die Gruppe noch einmal abwechselnd voller Misstrauen an.
„Gab es für genau diese Drei nicht vorhin am Stadttor jeweils einen Ausruf?“
Sylvana biss sich auf die Unterlippe. Lotus wendete den Blick ab und Cromwell zog seine Unschuldsmiene.
Plötzlich kamen zwischen und unter den Karren die Kinder hervor gerannt, drängelten die Frauen beiseite und warfen sich an Sylvanas Beine.
„Die große Frau soll auf uns aufpassen!“
„Ja, bitte bitte!“, riefen sie im Chor.
Die Brauen der Dame verknoteten sich zu einem ungläubigen Gesichtsausdruck.
Sylvanas Augen weiteten sich vor Schreck: „Was?“
„Ohja!“, begannen die anderen Frauen dem zu zustimmen.
„Was für eine tolle Idee! Aus ihr wird sowieso mal eine großartige Mutter. Sie hat den Körper, die Ausstrahlung und garantiert auch den Charakter. Warum nicht schon jetzt mit dem Üben beginnen?“, versuchten sie Sylvana zu überreden.
„Eine Mutter? Ich bin aber eine Kämpferin! Und selbst wenn ich einmal Kinder haben sollte..., doch keine sechs!“
„So ein Unsinn“, warf nun auch die rüstige Dame ein, „Soll mich doch der Blitz erschlagen, wenn der gutaussehende Riese nicht mit seinem sehr wahrscheinlich übergroßen Prügel dein Feld so umpflügt, dass es sich anfühlen wird, als hätte eine ganze Horde Wildschweine dich umgegraben. Da können doch nur mindestens zehn Kinderchen bei rauskommen“, lachte sie zusammen mit den anderen.
„Prügel? Feld? Was für Wildschweine?“, mit kleinen Wirbeln in den Augen begann Sylvanas Welt zu kreisen.
Die jüngste von den Vier bis Siebenjährigen griff auf Zehenspitzen stehend nach Sylvanas Hand: „Duuu?“
„Huh?“
„Bitte sag du passt auf uns auf! Wir sind auch ganz brav“, beteuerte sie mit großen Kulleraugen, die Sylvanas Herz zum schmelzen brachten.
„Aber... ich bin... eine Kriegerin.“
In den Augen der Kleinen sammelte sich tränenreicher Glanz und sie schniefte leise.
„Nicht – nicht weinen! Ich – ich tu es ja... Heh.“
Gerade noch den Tränen nahe jubelte die Kleine mit den anderen zusammen laut auf und zogen Sylvana zu dem Eselskarren, auf dem sie reisen werden.
Die Karawane setzte sich bald darauf in Bewegung.
Sylvana verbrachte den Rest des Tages damit die Kinder so gut wie möglich zu bespaßen. Ihre Mütter widmeten sich anderen Aufgaben, weit weg von dem Karren und ließen sie mit ihnen allein. Ihr wurde auch schnell bewusst, warum man ihr so bereitwillig die Kinder anvertraute.
Die einen schrien und kreischten den ganzen Tag ohrenbetäubend, die anderen waren sehr trotzig und machten ihre eigenen Regeln. Manche wurden schnell müde und bekamen deswegen immer wieder kleine Wutanfälle, während die anderen energiegeladen sich austobten und alle wach hielten. Widmete Sylvana sich einem von ihnen, machten die Fünf anderen hinter ihrem Rücken den nächsten Schabernack. Und die Kleinste, mit den Kulleraugen, war die Schlimmste von allen.
Sie war wie eine kleine Anführerin und dachte sich für die anderen immer neue, spaßige Dinge aus, die voller Gefahren waren. Angefangen davon wer am Rande des Karrens am längsten balancieren konnte, bis hin wer sich wagte vorn auf den Esel zu springen und ihn zu reiten. Doch egal welches neue Ärgernis bei den Kindern auftrat, Sylvana versuchte ruhig und besonnen wie Lotus zu wirken und lächelte daher immer stets und verständnisvoll alle Probleme weg.
Aus Angst nicht von ihnen akzeptiert zu werden gab sie stets nach, was dazu führte, dass die Kinder immer weiter ausprobierten, wie weit sie mit ihr gehen konnten. Und je mehr sie sich mit den Kleinen beschäftigte, desto bewusster wurde ihr, wie schlecht sie mit ihnen zurecht kam.
Lotus blieb mit dem Anführer Berthold hinter der Karawane und behielt schweigend die Umgebung im Auge. Als Veteran wusste er, dass das schlimmste Übel immer von der Rückseite kam und man sich auf jede Regung konzentrieren musste, wollte man nicht überrascht werden. Warum die Wächter sich in einer solch unsinnigen Formation bewegten und dazu mit so wenig Männern, konnte er sich nur dadurch erklären, dass sie sehr unerfahren sein mussten. Und die Händler hatten wohl niemand anderen gefunden, der sie nach Osten in Richtung Azetaken eskortierte.
Cromwell schloss sich den fünf Wächtern vorn an und kam schnell mit ihnen und den Händlern ins Gespräch.
„Warum reist der Adlige eigentlich nur mit zwei Begleitern durch die Gegend?“, eröffnete man das neue Thema.
„Mehr brauchte es halt nich“, antwortete Cromwell.
„Ein Geizhals also“, befanden die Männer.
„Was? Lotus is doch nich geizig“, widersprach Cromwell.
„Er trägt eine sehr teure Plattenrüstung und ihr nur grünen Stoff“, erwiderte jemand.
„Na Hauptsache er is sicher“, scherzte Cromwell.
Daraus schloss man, dass sich Lotus nicht um Cromwell scherte.
„Werdet ihr denn gut bezahlt, oder geizt er auch da?“, fragte einer der Wächter, die anderen hellhörig, ob sich Lotus als neuer Arbeitgeber irgendwie eigenen würde.
„Wäre schön, wenn ich überhaupt bezahlt werden würde“, witzelte Cromwell.
Aus diesen Scherz zog man den Schluss, dass Cromwell wohl ein moderner Sklave sei. Die Sklaverei an sich wurde in Mittelland abgeschafft, dennoch gab es Mittel und Wege für den Adel Menschen von sich abhängig zu machen.
„Mein Beileid, mein Freund“, sprach jemand sein Mitgefühl für ihn aus.
„Behandelt er euch denn wenigstens menschengerecht?“, wollt ein anderer wissen.
„Wie meinen?“, fragte Cromwell verwundert und wusste nicht in welche Richtung das gehen sollte.
„Gibt er euch zum Beispiel zu Essen?“, fragte einer.
„Nä, ich jage und koche für ihn. Wäre ja noch schöner, wenn der Adel das selber machen müsste, nich wahr?“, witzelte Cromwell.
Lotus konnte nicht, falls nötig, auf die Jagd gehen und dabei auf Sylvana aufpassen. Oder das Essen zubereiten und die gesamte Umgebung im Auge behalten.
Der Schluss daraus war jedoch, dass Lotus sich vollständig von Cromwell bedienen ließ.
„Und wie teilt ihr die Nachtwache ein?“, fragte ein anderer Wächter.
„Na ich passe die ganze Nacht auf und er dafür am Tage.“
„Und wann schlaft ihr dann?“, fragte man ungläubig.
„Pfff. Ich brauch keinen Schlaf. Ich kann schlafen wenn ich tot bin“, gab Cromwell von sich zum Besten.
Man vermutete, dass Cromwell diesen Spruch von Lotus schon des öfteren zu hören bekam.
„Man hört ja des öfteren, dass der Adel wieder vermehrt zur Gewalt neigt und Untergebene schlägt.“
„Die Glücklichen! Lotus versucht mich immer gleich zu ERschlagen, wenn ich mal ne Kleinigkeit falsch mache oder was sage, was ihm nich passt“, war sein neuer Scherz.
Er merkte gar nicht wie tief die Abneigung sich gegen Lotus bereits entwickelt hatte.
„Wenigstens hat er eine eigene hübsche Frau dabei. Da brauch man sich keine Sorgen machen, dass er sich an eine von unseren vergreifen könnte“, sagte einer der Väter.
„Näää, selbst ohne Sylvana würde da nix passieren. Da würde ich euch eher raten auf die Frauen zu schauen und nich auf Lotus.“
„Was wollt ihr damit sagen?“, die beiden anderen Väter wurden auch aufmerksam.
„Seht ihr nich ihre lüsternen Blicke? Weiche Knie. Errötete Gesichter. Und Herzklopfen. Die sind schon hin und weg von ihm“, erzählte Cromwell mit einem Grinsen im Gesicht. Er war sich absolut sicher, die Drei würden gleich laut lachen, doch stattdessen stürzten ihre Brauen in die Tiefe. Sie pressten ihre Lippen fest zusammen und schwiegen.
Am Abend wurden die Schlafstellen mit Fellen hergerichtet. Lotus, für ihn völlig unerklärlich, wurde aus dem Lager von den Männern verband. Sylvana schloss sich auf der Flucht vor den Kindern ihm an und Cromwell wurde herzlich zum Essen eingeladen, was er dankend ablehnte und damit begründete, dass er sich aus Mitleid zu Lotus gesellen würde.
„Heh“, seufzte Sylvana bei seiner Ankunft, „Warum müssen diese Kinder kleine Monster sein?“
„Heh“, schloss sich Lotus ihr an, „Ich habe mit keinem der anderen Männer auch nur ein Wort gewechselt und dennoch hassen sie mich alle.“
Nur Cromwell saß neben ihnen fröhlich summend mit ihnen auf der Straße: „Eine tolle Reise, nicht wahr?“
„Heh“, begann Sylvana von neuen, „Eine Kämpferin, die nicht mal mit ein paar Kindern fertig wird? Lächerlich.“
„Lächerlich ist eher, dass ich nach fünfunddreißig Jahren immer noch nur Cromwell als Freund habe.“
Cromwell zuckte mit den Schultern: „Ihr beiden Miesepeter macht euch zu viele Gedanken wegen nichts. Sylvana, fang.“
Aus seinem Hemd kramt er einen kleinen Beutel hervor.
Sie warf einen Blick hinein: „Süßigkeiten?“
„Stopf das in die Bälger rein und sie werden dich lieben.
Lotus, ich kann dich jederzeit wieder zum Sir machen. Die Frauen werden sich dir an den Hals werfen und die Männer vor dir in den Dreck. Wär das nich was?“
Beide gaben ihm einen verdutzten Blick.
„Du bist ein Schwachkopf, Cromwell“, befand Lotus und nahm Sylvana den Beutel wieder ab.
„Du bist keine schlechte Kämpferin, nur weil du einen Sack Flöhe nicht hüten kannst.
Kinder spiegeln unseren Charakter wider. Reflektiere dein eigenes Verhalten und passe es an. Und vor allen: Hör den Kindern zu. Da lernt man den Umgang am besten.“
„Huh. Wenn ich dir auch was sagen darf... seit wann interessiert es dich, was andere von dir denken? Es war dir egal als Adliger bei der Stadtwache zu arbeiten. Es war dir auch egal, wie man von dir dachte, als du mich im Schloss das Kämpfen gelehrt hast. Und jetzt machst du dir wegen einer handvoll Männer Gedanken, die wir nur wenige Tage begleiten werden?“
Lotus legte den Kopf in die Schräge und griff an seinen Stoppelbart.
Nach einem Moment kam er zu dem Schluss: „Wie töricht von mir.“
„Von mir auch“, stimmte Sylvana mit ein.
„Also ich bin toll“, sagte Cromwell mit einem Grinsen im Gesicht.
Mitten in der Nacht, als der Halbmond am höchsten stand, schlug Lotus sein Auge auf und richtete sich kurzerhand auf.
Die Karawane war ruhig, nur eine einzelner Wächter hielt wache.
Sylvana schlief drei Schritten entfernt neben ihm. Cromwells Platz hingegen, viel weiter weg von den beiden, weil er als bürgerlicher einen größeren Abstand halten musste, wirkte unbenutzt.
Kaum hatte er sich endgültig aufgerichtet, begann seine Suche nach ihm.
Cromwell lag auf einem der beladenen Karren. Er schaute in den klaren Himmel.
„Kannst wohl nich schlafen?“, fragte Cromwell, als Lotus sich ihm näherte.
„Ein Sir schläft nicht, er schließt seine Augen zur Konzentration“, erinnerte Lotus ihn.
„Ich würd dir ja nen Platz anbieten, aber ich glaub dann bricht der Karren zusammen.“
Lotus stellte sich neben ihm und blickte wie er in den Sternenhimmel hinauf.
„Es war ein langer Tag“, begann Lotus.
„Jup.“
Beide dachten die gleichen Worte: Das wird ein schwieriges Gespräch... Er wird sich garantiert fragen wo er anfangen soll.
Ich muss wissen, was er über die Vorfälle in der Stadt weiß, so Lotus.
Ich muss wissen, was er über das Attentat weiß,so Cromwell.
Ich kann nur im Namen unserer Freundschaft darauf vertrauen, dass Cromwell die Wahrheit sagen wird.
Egal was Lotus mich fragen wird, ich werd ihm sowas von ins Gesicht lügen!
Wenn ich Cromwell in die Ecke dränge, stellt er sich auf stur und ich weiß, dass er etwas zu verbergen hat.
„Warum hast du uns in Skossa was angehängt?“
Dräng mich doch gleich in die Ecke! Am besten ich stell auf stur... wobei, damit wird er rechnen. Wenn ich mich jetz also auf stur stelle, weiß er, dass ich was zu verbergen habe und egal welche Frage danach kommt, wird er daraus schließen, dass ich ebenfalls damit zu tun gehabt hätte.
„Ach weißt du... Schonmal davon gehört, dass man so unauffällig sein kann, dass es auffällig wirkt?“
Er wird niemals damit rechnen, dass ich ihm jetz einfach nur Stuss erzähle.
„Nein.“
Natürlich versucht er es mit Stuss. Als wenn ich damit nicht rechnen würde, mein Lieber.
„Hab das Gegenteil probiert. So auffällig sein, dass wir schon wieder unauffällig wirken.“
Das is so genial, er muss mir einfach glauben. Auch wenn ichs damit zugebe, aber ich kann ihm ja schlecht sagen, dass ich mit seiner Ersatzplattenrüstung mich als Sir Lotus verkleidet hab, um in der Kathedrale ein Reliquie zu stehlen. Und warum sie Sylvana gejagt haben? Weiß der Geier. Ich wars nich. Aber das wird er mir eh nich glauben.
„Und das hat funktioniert?“
Glaubt Cromwell allen ernstes ich würde ihm das abnehmen? Wahrscheinlich konnte er nicht widerstehen mit der Ersatzplattenrüstung irgendeinen Schabernack anzustellen. Und wer weiß was er Sylvana angehängt hat. Doch sollte er mir jetzt ein Ja ins Gesicht sagen, weiß ich wie ich meine Fragen stellen muss, um zumindest seine Mittäterschaft bei allen anderen Fällen herauszufinden.
„Nope.“
Lotus hat den Braten gerochen, verdammt. Ich muss versuchen ihn auf ein anderes Thema zu lenken, um auszuweichen.
„Wir werden immer noch verfolgt. Zwei Gruppen mit je zehn Mann. Die einen haben nen Magier mit Illusionsmagie dabei und wollen Sylvana beschützen und die anderen versuchen sie scheinbar abzumurksen. Zumindest haben sie das mit Sylvanas Ebenbildern in Skossa getan.“
Cromwell. Da du bereits zugegeben hast, dass du uns tatsächlich was angehängt hast, werde ich es dabei belassen. Doch wo du mir schon diese Information zuwirfst, werde ich sie auch zu nutzen wissen.
„Warum bist du dir so sicher, dass die Gruppe mit dem Magier auf unserer Seite steht?“, wollte Lotus wissen.
Wenn mich nicht alles täuscht, dann weiß Cromwell mehr über diesen Magier, als er den Anschein erwecken will. Denkt er vielleicht, ich könne mit der Wahrheit nicht umgehen?
Ich kann Lotus schlecht sagen, dass Sylvana nur wegen dem Magier überhaupt noch lebt. Er würde eine miese Frage stellen... nämlich was der Magier als Gegenleistung für ihr Leben von mir bekommt... Nein. Das darf er unter keinen Umständen auch nur erahnen, dass wir eine Absprache haben. Mit der Wahrheit könne er nicht umgehen, es wäre das Ende mit unserer Freundschaft.
„Ist es ein Segen, lass es geschehen. Man muss nich immer alles hinterfragen, oder?“, so Cromwell.
„Wie du meinst.“
Cromwell stellt auf stur. Er weiß also definitiv mehr als er zugibt, wird es mir aber nicht sagen. Wobei er nicht unrecht mit seinem Spruch hat. Zumal der Magier nicht das wichtigste in diesem Gespräch sein soll... wichtiger ist der Attentäter.
Hoffentlich reicht Lotus das. Der Magier ist im Moment nich weiter wichtig... viel wichtiger.... is der Attentäter.
Beide dachten: Wie sag ich ihm jetzt, dass ich weiß, wer es war?
Cromwell hat viel dafür getan, um den Namen seiner Familie reinzuwaschen. Und wie haben sie es ihm gedankt?
Ich hab mir ziemlich den Arsch für meine Familie aufgerissen. Und was macht dieses undankbare Pack?,überlegte Cromwell.
Ich kann Cromwell jetzt schlecht in sein Gesicht sagen: Ach wusstest du übrigens, dass irgendjemand deinen Bruder als Attentäter angeheuert hat?
Ich kann Lotus schlecht ins Gesicht sagen: Ach übrigens, schon gewusst, dass der Attentäter mein Bruder war?
Beide dachten gleichzeitig: Ich sollte es besser für mich behalten, er würde sich nur unnötig Sorgen machen... Wir schweigen uns schon ziemlich lange an. Vielleicht sollte ich ihn noch irgendwas belangloses fragen, bevor wir das Gespräch beenden.
Lotus und Cromwell: „Wie findest du den Plan bisher?“
Beide blickten sich verdutzt an.
„Das war jetzt irgendwie unheimlich“, merkte Lotus an.
Cromwell zuckte mit den Schultern und fragte: „Wieso is der Plan von Heerführer Baldurs so bescheuert?“
„Heh. Du hast ihn nicht gelesen.“
„Ähm... hab ihn überflogen?“
„Denk zur Abwechslung doch mal nach. Mit mir in Sylvanas Nähe wäre sie im Schloss schon sicher genug, eine Reise wäre daher voller unnötiger Risiken“, erklärte Lotus.
„JJJoahr. Und was machen wir dann hier draußen mit ihr?“, wunderte sich Cromwell.
„Es war von Anfang an klar, dass es mehr als nur einen Attentäter geben wird. Daher locken wir alle mit Sylvana in die Untergrundfestung von Micalanthia und stellen ihnen dort einen Hinterhalt.“
„Moooment mal. Ich hab alles richtig gemacht!“
„Wie bitte?“
„Dass wir auffällig die Stadt verlassen haben... und dass dich keiner mehr als Sir erkennt... kommt dem Plan von Baldurs zu Gute!“
„Ist das so?“
„Hätte nich gedacht, dass Baldurs und ich so stark miteinander harmonisieren. Wir sollten öfter mal nach seinen genialen Plänen handeln, findest du nich?“
„Hol die verdammte Rolle raus und lies sie dir durch. Und dann wiederhole deine Worte.“
Cromwell kramte in seinem Hemd: „ Och, was bist du jetz wieder so stinkig? Bist du neidisch auf Heerführer Baldurs, weil er nen tollen Plan ausgearbeitet hat?“
„Lies. Den. Plan.“
Er zog die Rolle heraus und entrollte das Pergament.
Nach einem kurzen Moment drehte er es auf die andere Seite.
„Die is leer. Is die verzaubert?“, fragte Cromwell.
„Natürlich ist sie verzaubert. Du musst sie in das Mondlicht halten und laut rufen, dass du ein Schwachkopf wärest, erst dann kannst du sie lesen.“
Kurzerhand hielt er die Schriftrolle hoch und rief laut: „Ich bin ein Schwachkopf!“
Er sah auf die Rolle: „Da tut sich nix!“
„Mein Fehler, man musste die Worte natürlich singen.“
„IIICH bin ein SCHWAAACHKOPF! EIN SCHWACHKOPF, SCHWACHKOPF, SCHWACHKOOOPF!“, sang er munter.
Ein erneuter Blick auf die Rolle strapazierte seine Nerven: „Was hab ich jetz schon wieder falsch gemacht?!“
„Wie dumm von mir. Du musst dabei auch auf einem Fuß hüpfen.“
Er stellte sich also auf ein Bein, doch plötzlich traf es ihn wie ein Schlag ins Gesicht.
„Lotus. Du bist ein Arsch, weißt du das?“
Dieser gab ihm nur ein freundliches Lächeln mit geschlossenen Auge als Antwort.
„Also... is die Schriftrolle tatsächlich leer und du saugst dir alles aus den Fingern?“, fragte Cromwell nach.
„Nach deiner Gesangseinlage beeindruckt mich dein Scharfsinn.“