Hyde lag auf einer Liege, um sie herum ein Trugbild einer Tropenlandschaft samt azurblauem Meer. Die passenden Geräusche zur Optik kamen aus unsichtbaren Lautsprechern und selbst der Wind wurde naturnah simuliert.
Sie hatte Urlaub und genoss ihn, wobei sich allmählich die Langeweile in ihr breitmachte. Kein Cocktail - oder der darin enthaltene Alkohol - konnte die Leere füllen, die sie verspürte. Irgendwann waren alle Feste gefeiert, alle besteigbaren Typen bestiegen und ... Nach über sechs Wochen der Ruhe wurde Hyde stinklangweilig. Seufzend lag sie in der Liege und zählte bereits die Sekunden, da meldete sich ihr Kommunikator und sie leitete die Nachricht auf den Stecker in ihrem Ohr weiter.
"Emilia Hyde wird umgehend im Besprechungsraum A3 verlangt. Wir bitten um Diskretion, danke für Ihr Verständnis."
"Alpha und Omega sei dank", stöhnte Emilia und richtete sich auf. "Ich dachte schon, ich müsste mir ein Hobby suchen."
Die junge Frau warf sich einen Bademantel über, schlüpfte in ihre Samtschuhe und stapfte so aus dem Erholungsbereich des Raumschiffes. Da sie ihr Glas noch nicht geleert hatte, beschloss sie, es einfach mitzunehmen.
Binnen kürzester Zeit stand sie im Raum A3, umgeben von ihren Vorgesetzten, die sie verwirrt musterten, während Hyde den letzten Rest ihres Cocktails durch den geschlängelten Strohhalm sog. Das Geräusch hallte durch den Raum und sorgte dafür, dass die Blicke der Herren nur noch skurriler wurden.
"Was?", hakte Hyde nach. "Es hieß 'umgehend'!"
Captain Lorres, ein Mann Ende vierzig, räusperte sich und zog die Krawatte seiner Uniform gerade.
"Naja, die Zeit, sich etwas anzuziehen, hätten wir Ihnen geben."
"Ich habe doch etwas an!", entgegnete Hyde, zog den Gürtel ihres Bademantel etwas enger und suchte sich einen freien Platz.
"Die VEN bittet uns, ihnen bei einem entflohenen Alien behilflich zu sein", fing Lorres umgehend an und fuhr sich durch sein dunkelbraunes Haar. "Dazu haben sie uns einen Kontaktmann geschickt, der uns alles erklärt."
Kaum hatte Lorres dies fertig erzählt, stand bereits ein recht jung wirkender General auf und legte die passende Projektion in die Mitte des Tisches.
"Guten Tag meine Damen und Herren. Mein Name ist Devin Cromwell und ich bin ihr Kontaktmann bei dieser Mission."
"Was der wohl für eine Haarspülung benutzt ...", schweifte Hyde unterdessen gedanklich ab, während der blonde Herr dem Rest alles erklärte. "Sein Haar glänzt wie Seide. Der Wahnsinn ... Wie der wohl so jung General geworden ist? Lorres schuftet seit Jahrzehnten für die VEN und dümpelt auf diesem Idiotenfrachter herum. Dieser Cromwell hat sicherlich Beziehungen." Ein leises Kichern drang über ihre Lippen und wieder waren die Blicke auf Emilia gerichtet. Diesmal räusperte sie sich und bat per Handzeichen Cromwell, fortzufahren. "Sicherlich tiefgehende Beziehungen, dieses Ferkel ..."
"Haben sie alles soweit verstanden?", wollte der General wissen.
Emilia nickte, auch wenn sie keinen Meter zugehört hatte - wie üblich.
"Beim Scheitern der Mission wird die VEN jede Art von Beteiligung von sich weisen", fügte der Blondschopf mit seinen undurchdringlichen braunen Augen hinzu und sah jeden der Einsatzkräfte der Truppe an, die Lorres trotz Urlaubszeit entbehrte. "Also sorgen sie bitte dafür, dass sie nicht scheitern."
"Machen Sie sich mal keine Sorgen. Ein einzelnes Alien einfangen ... Wie schwer kann das schon werden?", sprach Hyde. "Sie werden ja nicht ohne Grund zu uns gekommen sein, wenn Sie der Meinung wären, diese Leute hier wären zu nichts zu gebrauchen."
"Das stimmt wohl", bestätigte Cromwell, allerdings erst nach einem nachdenklichen Zögern. "Aber es liegt auch daran, dass wir vom inneren Bereich zur Zeit niemanden entbehren ... können!"
"Wann soll es losgehen?", wollte Emilia wissen und wurde bereits zum dritten Mal seltsam angesehen.
"Wie ich bereits sagte", wiederholte sich der General beinahe schon genervt, "in einer Stunde. Die Zeit drängt und wir dürfen nicht riskieren, dass sich das gesuchte Objekt fortbewegt."
Da dieser Teil der Information anscheinend zu dem gehörte, was bereits vorgetragen worden war, aber Emilia verpennt hatte, war die Reaktion vermutlich verständlich.
"Eine Stunde ...", meinte Hyde und sog Luft durch ihre zusammengebissenen Zähne, "das wird knapp."
"Knapp?", fragte Cromwell und betrachtete sie strengen Blickes, während Lorres tief in seinem Sessel versank.
"Also, zuerst einmal muss ich mich duschen, dann etwas Körperpflege betreiben. Ich will ja nicht stinken wie die Jungs, wenn man uns in ein winziges Raumschiff zwängt, um uns über dem Zielort abzuwerfen. Zudem ist mein Kampfanzug noch in der Rei-"
"Sie werden über einem verdammten Ödland abgeworfen!", schrie der General los und unterbrach damit Hydes Ansprache.
Allerdings zuckte diese nicht einmal zusammen. Diese Gegenargumente war sie bereits gewohnt.
"Es ist der Mannschaft scheiß egal, nach was Sie riechen!", fuhr er fort. "Sie haben in einer Stunde im Hangar zu sein!"
"Da hat wohl jemand seine besondere Woche", nuschelte Emilia ihren Kameraden zu, von denen einige versuchten, ihr Grinsen hinter einem Stück Papier zu verbergen.
"Abtreten!", schrie Cromwell und zeigte strikt mit seinem manikürten Zeigefinger in Richtung Tür.
"Wer glauben die, wer ich bin? Einer ihrer Soldaten?", begann Emilia Selbstgespräche, nachdem sie sich in ihren hautengen Kampfanzug gezwängt hatte. "Jackel, echt einmal, noch ein Eis abends mehr und wir erleben eine unschöne Überraschung, wenn ich mich bücke."
Auch wenn Hyde wusste, dass ihre andere Hälfte sie nicht hören konnte, wollte Hyde diese Tatsache nicht unausgesprochen lassen. Ihr sensibleres Ich hatte anscheinend im Urlaub nichts Besseres zu tun, als sich Unmengen an Filme anzusehen und dabei Süßkram zu futtern, den sie dann wieder abtrainieren durfte. Eine verhältnismäßig geringe Strafe dafür, dass Hyde ganz andere Dinge tat, die Jackel ausbaden durfte.
"In einer Stunde ...", äffte die junge Frau noch einmal den unsympathischen General nach, dessen Auftrag ihr zwar die Langeweile nahm, aber trotzdem nervte. Konzentriert kontrollierte Emilia ihren Gürtel und versicherte sich, alles dabei zu haben. Vor allem die Ampullen, von denen sie eine zur Hand nahm, auf dem der Buchstabe "H" stand. Das sollte sicherstellen, dass Jackel die Mission nicht behinderte und weiter in ihrem Inneren schlummerte. Rasch spritze sie sich das Mittel in den Hals und warf die leere Kartusche in den Müll. Einmal ließ sie ihren Nacken kreisen, um das unangenehme Gefühl zu vertreiben, dass die Injektion jedes Mal auslöste. Es war ein Kribbeln, als würde eine Horde Ameisen an ihrem Hals und im Nacken hinaufmarschieren.
Dann musste sie los und würde mit den obligatorischen zehn Minuten Verspätung eintreffen. Aber da die Mechaniker noch am Raumschiff zu Gange waren, fiel es beinahe nicht auf.
Cromwell verteilte unterdessen neue Kommunikationsgeräte und sammelte die anderen ein. Das kam Emilia irgendwie seltsam vor, aber hinterfragte dieses Vorgehen nicht weiter, als der General meinte, dass dies an der Sicherheitsstufe lag, die sie bearbeiteten. Er war nun ihr Kontakt, nicht Lorres. Wie sonst auch drückte sie sich den Stöpsel ins Ohr und bestieg dann das Raumschiff.
Wie Hyde während des Flugs mitbekam, wurden sie über einem Flugzeugwrack abgeworfen. Landen wollte der Pilot nicht. Gut nur, dass Hyde nicht unter Höhenangst im Gegensatz zu Jackel litt, die sich schon auf einer Leiter in den Overall schiss. Dabei befand sie sich all die Zeit im All ... im luftleeren Raum, aber bei einer Leiter zog die Ärztin ihre Grenze.
Hin und wieder dachte Hyde auch darüber nach, was für eine Art Alien der VEN wohl entflohen war. Die einfachen Besatzungen bekamen kaum etwas mit, was die Obrigkeiten beschlossen. Es sei denn, es handelte sich um direkte Befehle. Kämpfen, nicht kämpfen, retten, nicht retten. Sie waren Schachfiguren. Gut bezahlte Schachfiguren und zudem mussten sie nicht mit den Aussteigern in der Ödnis um das Überleben kämpfen. Also worüber sollte sie sich beschweren? Höchstens darüber, dass das Haar des Generals mehr glänzte als ihres.
Die Warnleuchten blinkten und der überaus nicht nervtötende Ton erklang, der alle aufforderte, aus der Luke auszusteigen, die sich am hinteren Teil des Raumschiffes öffnete.
Die übereifrigen Herren in ihren schwarzen Ganzkörperanzügen, sechs an der Zahl, stiegen vor Emilia aus. Sie hatten zuvor schon Wetten abgeschlossen, wer das Alien einfängt und bei der Rückkehr einen Abend lang nichts zu zahlen hatte. Hyde interessierte das nicht. Sie wollte ins Geschehen und heil wieder raus. Und da sie auf Schusswaffen immer verzichtete, war sie ohnehin nicht die Person, die voranging, sondern sie beobachtete zunächst alles aus sicherer Entfernung, um ihren Gegner zuerst einschätzen und dann ausschalten zu können. Hinzu kam, dass VEN das Alien lebend haben wollte - wenn es ging. Daher sollte es lediglich betäubt und nur in der Not erschossen werden.
Emila stieg als letzte Turnbeutelvergesserin aus und sah schon nach kurzer Zeit dem Wrack des Flugzeugs. Weit und breit war nur Sand, Geröll und ein paar zerstörte Gebäude. Durch den Wind, der ungehalten über die Landschaft fegen konnte, sah es aus, als sei alles von einem rötlichen Nebel umhüllt. Insgesamt wirkte die Gegend überaus trostlos. In diesem Radius, den sie erblicken konnte, sollte sich das Alien aufhalten, das VEN zurück benötigte. Das sollte nicht allzu schwer werden, denn rundum gab es nicht viel, wo es sich verstecken konnte.
Emilia sprang und öffnete zur gegebenen Zeit ihren Fallschirm, der sie sicher zum Boden gleiten ließ. Unten angekommen, löste sie den Schirm und sah dabei zu, wie Derek bereits die Landezone für das Shuttle kennzeichnete, wenn ihre Mission erfolgreich gewesen sein sollte. Hyde zog sich ihren Helm vom Kopf und musterte die Gegend. Es war ruhig. Nur der versprochene Wind pfiff über den ebenmäßigen Boden und das Klicken der Schusswaffen der Männer erklang, welche die Betäubungspfeile einlegten.
"Wir sollten uns zuerst das Wrack ansehen!", gab Derek, der rund einsneunzig große Soldat von sich und zog auch seinen Helm ab, der sein von Narben durchzogenes Gesicht offenbarte.
Wortlos nickte Emilia und folgte dem Rest zum ausgebrannten Gerippe, das förmlich im Sand zu stecken schien. Die Geräuschkulisse veränderte sich, als die schweren Stiefel das Metallgehäuse betraten und von Heranschleichen konnte nicht mehr die Rede sein.
"Keine Überlebenden!", meldete ein anderer Soldat.
"Wundert mich gar nicht", nuschelte Hyde und betrachtete die Fetzen, die überall um die Absturzstelle herumlagen.
"Ist sich Cromwell sicher, dass sein Alien überhaupt noch lebt, wenn es in dem Frachter gewesen war?", stellte wieder ein anderer infrage.
Es riecht nach Tod ...
Hyde zuckte mit ihren Schultern und alle gingen in den Bereich, der einmal der Frachtraum gewesen war. Dort änderte sich das Bild und der Geruch rapide. Waren zuvor Cockpit und Sitzbereich lediglich vom Absturz zerrissen gewesen, so sah der Frachtraum aus, als hätte dort zusätzlich noch ein Kampf stattgefunden. Überall hing vertrocknetes Blut an den verbogenen Wänden und Brocken undefinierbarer Körperteile lagen herum. Einer der Soldaten musste eilig seinen Helm abnehmen und vergeudete das gute Mittagessen an den Boden außerhalb des Wracks.
"Das kann auch durch den Absturz verursacht worden sein", gab Derek zu bedenken und sah sich um. "Wenn die Menschen durch die Gegend geschleudert wurden ..."
"Das stimmt", gab ihm Emilia zunächst recht. "Aber wo sind dann die Leichen. Der Absturz hat sie sicherlich nicht atomisiert."
"Aussteiger?", fragte ein anderer. "Vielleicht haben die alle beerdigt, bevor wir kamen."
Derek schüttelte seinen Kopf. "Nein, die zerfleddern bloß die leblosen Körper und laufen weiter."
"Scheint so, als habe unser gesuchter Freund den Absturz überlebt und er die Leichen weggeschafft", mutmaßte Hyde und verließ das Wrack. "Wir sollten uns in den Gebäuden umsehen. Allem voran ...", ihr Blick fiel auf die nahegelegene Kirche, "dort!"
"Glaubst du etwa, unser Alienfreund ist gläubig geworden?", erklang es von Seiten desjenigen, der sich nochmal sein Essen hatte durch den Kopf gehen lassen.
"Nein!", antwortete Emilia sachlich. "Aber dort drin ist es kalt und dunkel, während hier draußen bereits knapp vierzig Grad sind. Nicht einmal wir halten es lange ohne Wasser in diesen Anzügen aus. Zudem gibt es in den meisten Kirchen Brunnen zum Weihen von ... Zeugs. Das verspricht zumindest Wasser ..."
Nach dem Anblick des Wracks, sah Hyde im Augenwinkel, wie einige der jüngeren Soldaten ihre Waffe mit scharfer Munition ausstatteten. Dies war zwar nicht das, was ihnen nahegelegt worden war, aber es beruhigte auch Emilia etwas, dass sie nicht nur mit Heija-Bubu-Kapseln schossen. Wer wusste schon, wie das Ding darauf reagieren würde.
Vorsichtig brachten alle die Distanz vom Wrack zur Kirche hinter sich und Emilias Nackenhaare stellten sich auf.
Wir werden bereits beobachtet!
Die Soldaten erhoben ihre Waffen, entsicherten sie und passierten voran die Mauern der ehemaligen Glaubensstätte. Hyde hielt etwas Abstand. Sie wollte sich nicht noch einmal eine Kugel einfangen, nur weil jemand einen nervösen Finger besaß.
Die Gruppe teilte sich auf.
Derek lotste drei - mit ihm einbegriffen - links um die Kirche herum, der Rest sollte rechts herumgehen und zunächst den Außenbereich absichern. Danach würden sie erst das Gebäude betreten.
Hyde betrachtete derweil die alten Grabsteine, die rechts neben der Kirche standen. Die Witterung hatte die Gravuren unleserlich gemacht und würden das Geheimnis, wer alles dort lag, nicht mehr preisgeben. Es war totenstill. Nur die Schritte auf dem sandigen Untergrund zeugten von der Anwesenheit der Truppe.
"Bei uns ist alles ruhig!", erklang es durch Emilias Knopf im Ohr.
"Bei uns auch!", antwortete einer der Soldaten, der vor Hyde lief. Aber kaum geantwortet, erklangen plötzlich Schüsse von der anderen Seite der Kirche und alle nahmen buchstäblich ihre Beine in die Hände und rannten um das Gebäude herum. Immer mehr Schüsse und Geschrei folgten. Emilia glaubte sogar die Worte "Abbrechen, abbrechen ..." zu hören, aber zwischen all dem Lärm hätte das auch "Erbrechen" gewesen sein können.
Ihre Mannschaft kam am Ort des Geschehens an und was sie sahen, war nicht die Art von Alien, die sie irgendwie erwartet hätten.
Eine humanoide Lebensform richtete sich vor ihnen auf, während die drei Soldaten blutend am Boden lagen.
Ein spitzer Schrei entwich der Kopfgeldjägerin und mit weit aufgerissenen Augen sah sie das Wesen an.
"Was bei allen Sternen ...", stotterte Emilia und sah, wie das Wesen seinen auseinandergeklafften Kiefer zu einem Gesicht zusammenfügte und eine überaus lange Zunge zurück in dem verschwand, was seinen Mund darstellen sollte.
Das Ding sah aus wie eine Mischung ... Als hätten ein Nacktmull, ein Kolibri und ein Primat ein Kind des Grauen gezeugt. Zerfetzte Kleidung hing vom fahlen Körper der Gestalt, die sich in den Schatten der Kirche zurückzog.
Wild begann auch ihr Trupp zu schießen, während Hyde zu den Männern lief, aber nichts weiter als deren Tod feststellen konnte. Ihre Gesichter waren geradezu zerfetzt worden, ebenso wie Teile ihrer Körper.
"Das Vieh wollte sie fressen!", schrie einer der Männer und rannte in die Kirche, dicht gefolgt von seinen Kameraden.
"Das Vieh hat gerade drei unserer Leute getötet und ihr rennt ihm in gleicher Anzahl nach?", schrie Hyde. "In ein Gebäude mit Deckungsmöglichkeiten? Seid ihr irre?"
Kurz war Hyde überlegt, eine der daliegenden Waffen zu ergreifen, entschied sich aber dagegen. Sie war keine gute Schützin und wenn sie daneben schoss, dann machte sie das Ding womöglich nur noch aggressiver. Sie sah sich hektisch um und ihr Herz schlug ihr bis in den Kopf. Sie musste anders vorgehen.
In etwas Entfernung entdeckte sie eine Bodenluke zum Keller der Kirche. Vermutlich ein alter Eingang für Vorräte. Rasch nahm sie ihren Schneidbrenner zur Hand und durchtrennte das rostige Schloss, um die beiden alten Holzklappen öffnen zu können. Der Gestank, der ihr dann entgegenschlug, war bestialisch.
"Was ist das für ein Alien?", wimmerte sie mit dem Unterarm an ihrer Nase. "Den Geruch bekomme ich nie wieder aus meinen Haaren."
Hyde aktivierte die Taschenlampe an ihrem Anzug, die den Boden vor ihr erhellte, so wie etwas die Umgebung. Es war kühl und düster in dem alten Gewölbe, von dem sie sich sicher war, dass er ein etwas neuerer Friedhof darstellte.
Während sie den Hinterhalt vorzog, hörte sie etwas entfernt die anderen schießen und schreien. Als lautstarke Meldungen in ihr Ohr drangen, schaltete sie den Kommunikator aus.
Diese trainierten Gorillas sind selbst Schuld. Rennen einfach einem Feind nach, den wir nicht kennen!
Aber Emilia musste feststellen, dass es die Schreie nur dämpfte, sie nicht direkt im Ohr zu haben. Die Steindecke war wohl nicht dick genug, die Vorgänge über ihr im Keim zu ersticken.
Aber sie musste sich auf sich selbst konzentrieren. Irgendwie musste sie die Mission zu Ende bringen. Und wenn nicht, zumindest zur gegeben Zeit den Rückzug antreten. Sie lief also weiter und bog um ein paar Ecken, wobei der Gestank immer intensiver wurde. Die junge Frau bereitet sich innerlich darauf vor, gleich auf ein paar Leichen zu treffen. Für den Anblick, der sich ihr dann bot, war aber nicht einmal sie unempfindlich genug. Sie dachte zumindest einmal kurz über Erbrechen nach. Halb verweste Leichen baumelten von einem alten Wasserrohr, das an der Decke entlang lief und es wirkte, als sei Hyde gerade tatsächlich in den Vorratskeller der Kreatur geraten.
Es reichte ihr. Kurzerhand rief sie Cromwell an und schilderte ihm die Situation, von der sie sicherlich Bescheid wussten. Der General tat auch gar nicht so, als habe er die Schreie und Tatsachen nicht vernommen, die von der Truppe ausgetauscht worden waren.
"Sie haben einen Befehl!", sagte er nur. "Ich sagte Ihnen, wenn Sie scheitern, wird VEN jedwede Beteiligung abstreiten."
"Abstreiten ist das eine ...", entgegnete Hyde leise. "Aber uns abholen ..."
"Ohne das Alien wird niemand abgeholt!", erwiderte Cromwell strickt, dem Hyde spontan akuten Haarausfall wünschte ... und noch mehr. "Scheitern Sie, scheitert die Mission und wir sind gezwungen, alle Beweise zu vernichten."
"Soll das heißen ..."
"Sie haben noch fünfzehn Minuten, nachdem nun die Lebenszeichen ihrer Kameraden erlischt sind, um das Objekt zu sichern. Danach werden wir einen Präventivschlag einleiten."
"Einen was?", sprach Hyde ungewollt laut. "Wegen einem Alien? Ist das überhaupt ein Alien? Was ist das?"
Keine Antwort erklang mehr aus dem Kommunikator und auch sonst herrschte erneut Totenstille. Keine Schüsse oder Schreie waren mehr zu hören. Das Einzige, was Emilia vernahm, waren urplötzlich Schleifgeräusche und Schritte.
Panisch sah sie sich um und entdeckte einen alten hölzernen Kleiderschrank.
Ich verstecke mich vor einem Monster in einem Schrank ... Der Tag wird immer mieser!
So lautlos wie möglich stieg Hyde in den Schrank, schaltete ihre Taschenlampe aus und ließ die beiden Türen einen Spalt offen. Nach einer Weile entdeckte sie das Nicht-Alien. Es schleifte zwei Soldaten in sein ... Nest und hängte mit Hilfe alter Seile auch sie an das Rohr, welches schon bedrohlich knarrte.
Ich bin bei einem verdammten Kannibalen gelandet! Jackel wird mich umbringen, wenn es das Ding nicht tut.
Diese Erkenntnis sorgte dafür, dass Hyde sich nicht besser fühlte. So gar nicht. Auch als sie in der Enge ihren Kommunikator aus der Tasche zog, um die Zeit zu kontrollieren, wurde ihr Angst und Bange. Sie hatte noch zwölf Minuten Zeit, ehe VEN ihren wohlgeformten Arsch in die Luft sprengen würde.
Was mache ich jetzt? Was mache ich jetzt?
Hyde riskierte einen weiteren Blick und sah die Kreatur wieder den Raum verlassen. Mit so etwas hatte sie es noch nie zu tun gehabt. Mit Straftätern, mit entflohenen Kriegsgefangenen ja, aber ein Wesen, das andere Menschen fraß, war ihr vollkommen unbekannt. Vor allem eines, das sich blitzschnell zu bewegen wusste und für welches diese Umgebung ideal war, sich zu verstecken.
Als Emilia in etwa sicher war, dass das Ding den Raum verlassen hatte, öffnete sie die Schranktüren und trat nach außen. Die junge Frau konnte nur mutmaßen, dass das Monster die restlichen Leckerbissen ebenfalls dort in den Keller schleifen würde, daher galt es, diesen schnell zu verlassen.
So leise, aber schnell wie möglich, suchte sie in dem bestehenden Teil der Kirche nach der Treppe, die sie nach oben bringen würde. Sie musste sich ein Versteck suchen. Irgendetwas, das eine Explosion einigermaßen überstehen konnte. Aber als sie oben ankam, stellte sie lediglich fest, dass nur noch Segmente der alten Kirche standen. Von außen zunächst nicht umgehend ersichtlich, gab es beinahe kein Dach mehr, nur Bruchstücke des Gebälks mit Ziegeln und teils blanke Wände umrahmten das Innere, die wegen der teilweise erhaltenen Fenster den Eindruck erweckt hatten, es stand besser um das Gebäude. Hydes Kampfgeist kehrte dennoch zurück. Heute würde nicht der Tag werden, an dem sie den Löffel abgibt, nein. Sie hatte ein Toupet mit Cromwell zu rupfen. Dieser Kerl hatte sie in eine Todesfalle gelotst. Und er wusste darum!
Hyde passierte den Altar, der gerade noch so erkennbar war und suchte etwas Deckung zwischen den herumliegenden Sitzbänken. Da trat das Alien auch wieder ins Innere. Es schien die Sonne zu meiden, denn es hatte sich die Kapuze seines zerfledderten Pullovers über den Kopf gelegt. Still schweigend tat Emilia einen Schritt nach dem anderen von dem Wesen weg, als sie plötzlich gegen einen Stein trat. Das Echo hallte zwischen den Wänden lauter wider, als es hätte nötig sein müssen.
Nein!
Vorsichtig lugte Emila um die Bank herum und sah, wie das Ding sich aufrichtete und sich umsah. Zunächst betrachtete es nur seine Umgebung, aber dann begann es sich, in leicht gebückter Haltung umzusehen.
Hyde entschloss sich, den Rückzug anzutreten und schlich zur gegenüberliegenden Bank, um etwas Abstand zwischen sich und den Kannibalen zu schaffen. Aber es half alles nichts. Das Ding würde sie finden, also musste sie zunächst versuchen, die Situation zu beherrschen. Sie nahm einen tiefen Atemzug und stand auf.
"S-Schönes Zuhause haben Sie da", sprach Emilia stockend und lenkte so die Aufmerksamkeit der Kreatur auf sich. "Es zieht etwas, aber ... das vertreibt schlechte ... Gerüche?"
Das Wesen blieb stehen und betrachtete die junge Frau. Dabei klaffte immer mal wieder der Kiefer des Dings auf und zu, was ihn selbst unruhig wirken ließ. Als wusste es nicht, was es nun tun sollte.
Emilia schluckte trocken.
"I-Ich bin zwar keine Innenausstatterin, aber etwas Farbe würde den Wänden guttun. S-Steht das eigentlich unter Denkmalschutz? Nein?"
Während die Kopfgeldjägerin redete, schritt sie vorsichtig Richtung Ausgang, kurz mit der Zeit im Auge, die ihren sicheren Tod bedeutete, wenn sie es nicht schaffte, einen Unterschlupf zu finden.
"Was wollt ihr?", fragte die Kreatur mit kratziger Stimme, als sei es mal Kettenraucher gewesen.
"Du-Du kannst reden? Das ist ja ... nicht noch unheimlicher, wow ... Also ... Wir, ich und die Kerle, die du getötet hast, wurden geschickt, um ein Alien einzufangen, aber ... das hat wohl nicht so gut funktioniert bisher."
Immer noch schritt Emilia rücklings von dem Wesen weg, dabei versuchte sie, keine hektischen Bewegungen zu machen.
Die Kreatur begann zu fauchen und öffnete noch ein Stück demonstrativ seinen Kiefer, während es plötzlich auf Emilia zuging.
"Ich bin unbewaffnet!", erklärte Hyde und streckte ihre Arme leicht in die Luft, damit es sah, dass sie eigentlich keine Bedrohung darstellte. "Ich bin eine unbewaffnete Frau, die nicht vorhat, dich einzufangen!"
Sichtlich überrascht legte das Ding seinen Kopf auf die Seite.
"Sondern?", wollte es wissen, und Emilia erspähte links hinter sich die Treppe, die nach oben führte. Sie konnte nur beten, dass diese nicht mittendrin aufhörte, so wie alles in diesem Gebäude.
Schnurstracks dreht sie sich um und rannte davon. Sie wusste nicht wohin, sie wusste nur, dass sie noch fünf Minuten besaß, bis ihr alles um die Ohren flog. So schnell sie konnte rannte sie die Treppe hinauf und hörte, dass das Wesen ihr folgte.
"Hör auf, mir zu folgen!", schrie Emilia. "Ich will dir nicht wehtun müssen und ich hab dazu auch gar keine Zeit!"
Zu ihrem Glück ging die Treppe weiter und führte so weit hoch, dass sie im Turm ankam, wo auch nur noch Bruchstücke vorhanden waren, aber zumindest stand dort das Dach noch. Eilig stieß Emilia die Tür auf und schlug sie gleich wieder hinter sich zu, um der Kreatur den Eintritt zu verwehren. Allerdings war es stärker als es aussah. Emilia konnte nur dabei zusehen, wie ihre Beine und Stiefel mit Leichtigkeit über den Boden geschoben wurden.
"Ach, komm schon, das ist unfair!", krakeelte die Kopfgeldjägerin und ließ die Tür los, von der sich schnell rückwärts entfernte.
Die Kreatur stieß die Tür ganz auf, richtete sich bedrohlich auf und knurrte sie weiterhin an. Dabei kam die junge Frau nicht umhin, das ganze Blut zu bemerken, das nicht nur an dessen Händen klebte, sondern auch sonst seinen halben Körper bedeckte.
"Ich habe kein Interesse an dir!", erklärte Emilia. "Du bist mir scheiß egal! Ich würde nur gerne noch etwas leben. Lass mich einfach gehen!"
"Und dann?", verlangte das Wesen zu wissen, während es sich Emilia näherte. "Kommen mehr?"
"Mehr?", wiederholte Hyde und musste kurz lachen. "Nein. Es kommen nicht mehr, denn man hat meine Kameraden und mich hereingelegt. Das was kommt, ist das da!"
Emilia zeigte auf die Rakete, die sich bereits im direkten Anflug befand und einen leicht sichtbaren Kondensstreifen am Himmel hinterließ.
"Sie töten uns beide!"
Ohne eine Antwort des Wesens abzuwarten, sprang Emilia durch einen breiten Riss in der Mauer des Turms auf einen winzigen Teil des noch stehenden Daches und schlitterte die Ziegel hinunter. Am Ende angekommen ergriff sie die rostige Regenrinne, die umgehend aus der Halterung gerissen wurde. Hyde schrie, was ihre Kehle hergab, und das war viel. Die Regenrinne brach vom Dach ab, machte eine 180°Wende und schleuderte Hyde durch ein großes Buntglasfenster der Kirche, wodurch sie in Begleitung von Lärm und fliegenden Glassplittern zu Boden stürzte. Zum Glück - eigentlich nicht - bremsten die herumliegenden Holzbänke ihren Fall. Stöhnend und vor Schmerzen windend, drehte sich Hyde auf den Rücken und versuchte, herauszufinden, ob sie stark verletzt war. Zwischen Geröll und Holzsplittern liegend, konnte sie das nicht sofort feststellen. Aber eigentlich besaß sie auch nicht die Zeit dazu. Die einzige Überlebenschance, die ihr noch blieb, war der Keller. Ziemlich ungelenk richtete sich Emilia auf und war sichtlich geschunden von ihrem Sturz. Blut lief an der Stirn hinunter, das rechte Bein tat ihr weh und auch ansonsten konnte sie jeden Knochen ihres Körpers spüren. Als sie sich an einer Bank festhielt, tropfte auch von ihrer rechten Hand genug Blut, um einen tiefen Schnitt zu markieren, den das Glas in ihre Handaußenseite gerissen hatte.
"Die können mich nicht hinauswerfen und töten, ich kündige ...", nuschelte sie unter Schmerzen und versuchte, Richtung Kellertreppe zu humpeln.
Unterdessen war die Kreatur wesentlich eleganter vom Dach gestiegen, indem es sich einfach an der Wand festhielt und diese kopfüber hinunter kletterte.
"Na toll, Spiderman ist er auch", sprach Hyde mehr zu sich selbst als zum Wesen. "Hast du es immer noch nicht verstanden? Ich bin nicht dein Feind! Dieses fliegende Ding da draußen ist es aber."
Unterdessen nahm Hyde ihren Kommunikator aus der Hosentasche und den Stöpsel aus dem Ohr. Falls sie es überleben sollte, wollte sie der VEN eine spätere Verfolgung nicht allzu leicht gestalten. Die Gerätschaften sollten zerstört werden.
Das Ding lief dann an ihr vorbei, ergriff ihre linke Hand und zerrte sie mit in den Keller. Emilia konnte kaum schritthalten, da ihr Bein vermutlich verstaucht war, aber sie riss sich zusammen.
"Wehe du frisst mich!", drohte sie in ihrer Verzweiflung. "Ich werde dir dann sowas von den Magen verderben, darauf kannst du dich verlassen!"
Es vergingen nur wenige Sekunden, dann war der Aufprall der Rakete nicht nur zu hören, sondern auch zu spüren. Alles wackelte und versank in einer riesigen, heißen Staubwolke. Überall brachen hörbar Bauten ein, die zuvor noch gestanden hatten und auch der Keller gab leicht nach, indem Deckenteile hinunterkrachten. Gerade noch im Gewölbe angekommen, erfasste sie die Druckwelle von außen und knipste ihr zunächst die Lichter aus.