Bumm!
Ein dumpfer Schlag in der Ferne.
Astra blinzelte mühsam. Bis eben war sie körperlos durch Schleier geschwebt, frei von Schmerz, Angst und Trauer, frei von allem, was ihre Sinne aufnehmen konnten. Doch dieses merkwürdige Geräusch hatte sie vernommen. Es klang wie ein Faustschlag, eine gedämpfte Explosion.
Bumm!
Da war es wieder.
Gefühl schoss in ihre Glieder zurück und mit einem Mal spürte sie, dass sie einen Körper hatte, dass sie zwar noch immer schwebte, doch dieses Schweben in der warmen dunkelroten Sphäre steuern konnte.
Etwas rief in ihr, drängte tief in ihrem Herzen danach, dass sie den Kopf drehte und in eine bestimmte Richtung sah. Zögernd blickte sie erst nach links, dann nach rechts.
Weit in der Ferne, wie Sterne in einer anderen Galaxie, erblickte sie zwei schillernde Punkte, einen größeren, einen kleineren. Der Größere war etwas blasser, er flackerte unstet.
Bumm!
Dieses Mal dröhnte es wie ein Donnerschlag, der große Stern blinkte und für einen Moment sah es aus, als würde er erlöschen. Astra, schien er zu seufzen, es tut mir so leid.
Angst kroch in ihr herauf, drängende Panik erfüllte ihren Körper mit Zittern. Der Stern durfte nicht verglimmen. Sein Licht musste bestehen bleiben. Licht …
Sie atmete aus, streckte ihre bloßen Hände dem fernen Leuchten entgegen, sandte ihr Licht durch die Tiefen dieses unbekannten Raumes, dem sterbenden Stern entgegen.
Geh nicht, dachte sie, bevor der Schmerz in ihren Körper zurückschoss. Geh nicht, ich komme zu dir.
Ein mächtiges Brausen, untermalt von kreischenden Lauten. Wind kam auf und zerrte an seinen Haaren. Verstört riss Nate die Augen auf, die er in Erwartung der erneuten Finsternis um ihn fest zusammengepresst hatte.
Nur Zentimeter von ihm entfernt hatte sich eine Lichtwand aufgebaut, hauchdünn, laut summend und undurchdringlich. Er konnte den Strahl aus Schwärze sehen, der auf diese leuchte Grenze traf und sich rasch in Rauch aufzulösen schien, bevor dieser brüllend von dem hellen Schein verschluckt wurde.
Verblüfft sah er an sich herab und stellte erstaunt fest, dass das Licht aus seiner Brust strahlte. Immer wärmer wurde es in ihm, bis schließlich eine kleine, schimmernde Kugel aus ihm heraus glitt und sanft vor ihm auf und ab schwebte.
“Astra”, flüsterte er tonlos.
Die kleine Kugel beschrieb einen sanften Bogen, dann schossen zahlreiche silberne Fäden aus ihr heraus, durchdrangen die Wand aus Licht. Nate hörte einen wütenden Schrei, dann ein Zischen, als hätte jemand Wasser in ein Feuer gegossen.
Langsam schrumpfte die Lichtwand und gab Nate einen ungehinderten Blick auf das Geschehen vor ihm.
Die Silberfäden waren an der von Artax ausgesandten Dunkelheit entlanggekrochen und schlangen sich um dessen Handgelenk, formten ein immer dichter werdendes Netz, welches die Finsternis zurückhielt.
“Das wird nicht gelingen.” Die Frauenstimme klang grimmig. “Ich erlaube dir nicht, diese beiden zu verletzen. Sie sind Träger des Lichtes und du hast keine Macht über sie.” Für einen Augenblick erschien auf der schwindenden Lichtwand ein vertrautes Gesicht, so nahe, dass Nate am liebsten die Hand ausgestreckt und es berührt hätte. Doch dann verschwand das Bild, die Silberfäden strahlten hell auf, bevor sie sich in Artax’ Hand bohrten und seinen ganzen Körper erleuchten ließen. Ein letztes Schimmern, dann erlosch das Licht.
Wortlos starrten die beiden Männer auf die Stelle, an der Astras Ebenbild verschwunden war. Dann stieß Artax ein Grollen aus, dass Nate die Nackenhaare aufstellen ließ. Laut brüllend riss der Elementale die Faust nach vorn - doch nichts geschah. Er versuchte es erneut, doch die Schattententakel erschienen nicht.
Langsam stand Nate auf, seinen Gegner nicht aus den Augen lassend. Was immer gerade geschehen war - Artax konnte seine Kraft nicht einsetzen. Ob dieser Zustand von Dauer sein mochte oder nicht, spielte keine Rolle, denn Nate würde diesen Moment nutzen. “Lass Ivy los!” Er legte all die Autorität seiner Militärkarriere in diese drei Worte, sah Artax direkt in die Augen.
Ivy wimmerte.
Und Artax brach in Gelächter aus. Es war kein amüsiertes Lachen, wie damals im Hort, es war purer Wahnsinn, der aus ihm herausquoll. Mit einem Ruck schleifte er das Mädchen ein paar Schritte in Richtung Tür, während die freie Hand hinter seinen Rücken wanderte und dort einen langen, schwarzen Dolch herauszog.
“Erkennst du ihn wieder, Kendall?” Artax’ Stimme schnappte über, als er Nate die Klinge entgegenstreckte. “Einen davon habe ich in eurer Wohnung zurückgelassen, in den Handflächen deines treuen Freundes!” Mit einem Kopfnicken wies er auf Rett am Boden. “Vielleicht war ich zu gutmütig. Ich hätte ihn gleich töten sollen.”
Die Dolchspitze wanderte an Ivys Kinn und das Kind erstarrte entsetzt.
Nate ebenfalls. Er besaß keine Waffe. Nichts, was Artax beeindrucken konnte. Sie waren dessen Launen hilflos ausgeliefert. Gänsehaut kroch an ihm herauf und Angst schien sein Denken lähmen wollen. “Artax, lass sie”, brachte er heraus. “Ich … bitte dich. Sie hat nichts damit zu tun. Stell mit mir an, was du willst, aber lass Ivy gehen.” Es war ihm ernst. Er würde alles von Artax’ Hand erdulden, wenn Ivy dafür in Sicherheit sein konnte.
Ohne die Kleine loszulassen, ging Artax neben ihr in die Hocke. “Hörst du das, Ivy? Nate möchte nicht, dass ich dir etwas tue. Soll ich ihm lieber wehtun? Was denkst du?” Jetzt strich die Klinge an dem bloßen Kinderarm entlang. Ivy stieß einen schmerzvollen Laut aus und Blut quoll aus dem Schnitt in der hellen Haut.
Nate machte einen Satz nach vorn, prallte dann aber zurück, als Artax die Waffe wieder hob. “Eine Bewegung und ich schneide sie vor deinen Augen in handliche kleine Stücke, Kendall!”
Bebend vor Zorn und Angst blieb Nate notgedrungen, wo er war. Ivy hatte den Kopf gehoben, ihr Blick ein einziges Flehen. Hilf mir, schrien ihre blinden Augen, doch er konnte nichts tun.
Artax weidete sich offen an der Hilflosigkeit seiner Opfer. “Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich diesen Augenblick herbeigesehnt habe, mein Freund. Seit du mir im Hort durch die Finger geschlüpft bist, warte ich darauf.”
Er leckte sich über die Lippen und glich in diesem Moment noch mehr als sonst einem Raubtier vor seiner Beute.
Nates Gedanken rasten. Er musste auf Zeit spielen. Irgendwann würde Hilfe kommen, so lange galt es, durchzuhalten. “Wieso?”, flüsterte er. “Ich habe dir nichts getan. Wieso dieser Hass auf mich?”
Artax ließ die Klinge in seiner Hand wirbeln, dann packte er sie wieder fester. “Du hast etwas genommen, das mir gehört, Kendall. Mir allein.” Er blickte Nate direkt an.
Und dieser wusste sofort, worauf sein Gegner hinaus wollte. Die junge Frau mit den weißen Haaren, die ihren eigenen Preis bezahlt hatte …
“Für diesen Frevel werde ich dich zerschmettern, Kendall. Ich werde alles vernichten, was dir lieb und teuer ist, bis nichts mehr übrig sein wird, an das dein Herz sich klammern kann! Und wenn deine Seele dann zerbrochen vor mir liegt und du mich um den Tod anflehst - dann werde ich noch tausend Möglichkeiten haben, dein Leben wieder und wieder zu verlängern, damit der Wahnsinn dich packt und du in die Verdammnis stürzt!”
Ruckartig riss er Ivy nach oben.
“Keiner deiner Lieben wird mir entkommen können!” Mit einem irren Lachen rammte er dem Mädchen die Klinge in die Brust.