Zum Geleit
Man sagt, Melancholie bezeichne grosse Niedergeschlagenheit, Schwermut, sogar Depression. Kann sein. Für mich nicht. Melancholie ist für mich ein Zustand, in dem ich ganz sicher nicht fröhlich bin. aber auch nicht traurig oder gar depri. Eher wehmütig. Weil ich mich an etwas erinnere, das vergangen ist und ich es gerne wieder hätte. Aber so geht das Leben eben nicht. Glücklicherweise bin ich nicht oft melancholisch. Aber wenn ich es war oder bin, dann immer in der Zeit zwischen Dämmerung und Nacht.
SPLITTER
Ich
erinnere mich...
Ich war drei Jahre alt, als ich mir den Schädel an der Bettkante
dermaßen einschlug, daß das ganze Laken blutrot war – und ich war
noch keine vier Jahre, als mir meine Schwester das Radfahren
beigebracht hat: Aus unserem Wohnzimmer bis vor die Tür der
Nachbarswohnung und wieder zurück, alles im vierten Stock eines
Mietshauses ohne Kindersicherung an der Treppe und meine Mutter fiel
beinahe die Treppe runter mit ihren Einkaufstüten, als sie mich da
fahren sah.
Ich
erinnere mich...
Ich stand auf dem Anker eines Segelschiffs bei Windstärke acht, auf
gleicher Höhe mit dem Wasser und versuchte, ein verheddertes Seil
vom Anker loszuschneiden, das uns hinderte, das Schiff zu wenden und
ich hatte selbst ein anderes Seil um die Brust, damit mich die vier
Leute oben an Deck wieder raufziehen konnten, falls ich reinfallen
sollte und ich war so nass, wie's nur möglich war, jede Welle eine
Dusche aber trotzdem war das ein unglaublich gutes Gefühl auf diesem
Anker herumzubalancieren und den Wind zu riechen und das Wasser
spritzt einem in's Gesicht, salzig und kalt und gegen dich und genau
darum spürst du, was es bedeutet lebendig zu sein.
Ich
erinnere mich...
Ich ritt auf Ponies auf einem Bauernhof in Steinbach an der Mosel als
kleiner Junge und durfte dort auch auf dem Schoß des Bauern einen
Traktor zum Feld und wieder zurück fahren. Was für ein großer
Moment für so einen kleinen Kerl wie mich – so ein Riesending mit
Rädern, die doppelt so groß waren wie ich damals mit meinen fünf
Jahren!
Dort in Steinbach sah ich zum ersten Mal in meinem Leben einen
Tausendmarkschein, den grossen braunen mit Adam Riese vorne drauf,
lässig in der Hand gehalten von einem Mann in einer Kneipe, deren
Namen ich vergessen habe und in der ich mit meinem Vater saß, er ein
Bier vor sich und ich ein Malz.
Ich
erinnere mich...
Ich habe Musik gespielt in Deutschland, Frankreich und England mit
meinem Orchester, war dort zu Gast bei fremden Menschen, die mich
freundlich bei sich aufnahmen und sich auch nach zwei Jahren noch an
mich erinnerten, wenn wir uns wiedersahen. Manche sah ich nur einmal
und danach nie wieder und denke trotzdem noch heute ab und zu an sie
und frage mich, ob sie wohl noch leben und wenn, was sie gerade tun
und wie es ihnen geht. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte sie
wiedersehen, obwohl ich inzwischen von manchen weiß, daß sie
gestorben sind, gegangen vor mir und dann frage ich mich, wann wohl
meine Zeit zu gehen kommt.
Ich
erinnere mich...
Ich habe mir den schlimmsten Sonnenbrand meines Lebens auf einem
spanischen Berg geholt, auf dessen Spitze ein glatter Felsen ruhte,
wie ein bequemer Liegestuhl, so daß ich dort den ganzen Nachmittag
dummerweise in der prallen Sonne lesend verbrachte... und ich habe den höchsten
Berg der äusseren Hebriden, den Mount Clisham, zusammen mit den
anderen Teilnehmern der „Anglo-German Expedition 1988“ bestiegen.
Sechs Briten und fünf Deutsche und oben angekommen mußten wir dann
feststellen, daß wir alles für's Picknick mitgeschleppt hatten –
nur an Wasser für den Tee hatte keiner gedacht...
Ich
erinnere mich...
Mein erster Schultag war für mich ein Graus, denn ich hatte
Bauchschmerzen wie eine hochschwangere Frau sie haben muß und davon
gibt es sogar noch ein Photo, das meine Mutter früher gerne mal
hergezeigt hat, sie mit mir an der Hand in die Kamera lächelnd und
ich daneben zusammengekrümmt in der Hocke und weinend unter'm
Vordach meiner zukünftigen Schule.
Und wenn man weiß, das diesem Vordach genau gegenüber auch heute
noch die Turnhalle liegt, vor deren Aussenmauer wir als Viertklässler
dann Jahre später unser Abschlussklassenphoto aufnahmen bevor wir
hinauszogen in die ach so weite Welt, dann hat man schon fast ein
komplettes Bild unserer kleinen Schule.
Die
Schule gibt es heute noch, aber den damaligen Rektor
gibt es heute nicht mehr – Julius S. hieß er und hatte meinen
Respekt.
Den verlor er Jahre später
für immer, als ich ihn auf einem Begräbnis wiedertraf und er mich
glücklicherweise nicht wiedererkannte in seiner Funktion als
Vorstand einer sehr religiösen Gemeinde, in deren Vertretung er die
Trauerrede hielt.
Denn hätte er mich
wiedererkannt und angesprochen an jenem Tag am Grab dieser Frau, die
ich im Zivildienst pflegte mit aller Kraft und die ich trotzdem
verlor, eine Frau, die seiner Gemeinde angehörte ihr Leben lang und
immer für eben diese Gemeinde da war, als es ihr noch gut ging und
die von genau dieser „Gemeinde“ so abgrundtief im Stich gelassen
wurde, als es ihr schlecht ging – hätte mich mein ehemaliger
Rektor wiedererkannt und angesprochen, hätte ich ihm wahrscheinlich
die Zähne in den Hals geschlagen.
Nicht etwa, weil er ein
schlechter Lehrer gewesen wäre – denn das ist er in meiner
Erinnerung nicht. Wer bereit war, etwas zu lernen, dem hat er auch
was beigebracht. Aber ein mieser Heuchler war er ebenfalls...
Ich erinnere mich...
An
den Tag, an dem ich in meiner Zividienstbude eine halbe Flasche Wodka
auf Ex leerte, die weiß ich woher noch im Eisfach meines
Kühlschrankes lag, weil ich keine halbe Stunde zuvor zum ersten Mal
dabei war, als ein Mensch starb und ich dabei seine Hand hielt und
genauso erinnere ich mich an die Hilflosigkeit in diesem Augenblick,
mit der die herbeigerufene Pflegerin den Psalm Davids
herunterleierte, weil ihr auch nichts anderes einfiel. Wobei: Was
hätte ihr denn einfallen sollen?
Ich erinnere mich...
An den
Augenblick, als mein Vater im Hause meines Onkels die Nachricht
bekam, daß meine Tante gestorben war: Er schaut aus dem Fenster der
kleinen Nische, wo bei meinem Onkel immer das Telephon stand und heute
noch steht. Und, ganz Polizeibeamter, der mein Vater war wird er ganz
steif und offiziell:
„Ja...ich
verstehe... Frau S. Ist gerade verstorben...ja...ich werde das
weitergeben...Danke.“
Und
ich weiß bis heute nicht, ob mein Vater der arme Kerl war, der
meinem Onkel diese Nachricht überbringen mußte. Wahrscheinlich ist
es schon.
Ich
weiß genau, daß dieser Tag ein Samstag war.
Denn
immer Samstags hatte ich Orchesterprobe – und an diesem einen Samstag rief ich den
Dirigenten meines Orchesters an und sagte ihm zum einzigen Mal in all
den zwölf Jahren, in denen ich Schlagzeuger dieses Orchesters war,
daß ich nicht zur Probe käme und legte dann wieder auf.
Und
danach ging ich zum Friedhof keine dreihundert Meter weit weg, auf
dem meine Tante später beerdigt wurde und saß lange unter einem
Baum und heulte, weil ich nicht wußte, wie mein Leben ohne sie jetzt
weitergehen sollte.
Ich erinnere mich...
An
die bitteren Stunden, als ich meine kleine „Schwester“ Japke Niza
T. zum letzten Mal lebend sah an ihrem achtzehnten Geburtstag, den
sie noch erleben wollte, ehe sie sich nach einem fast dreijährigen
Kampf gegen eine Krankheit, für die sie nichts konnte und die sie
trotzdem erwischt und hinweggefegt hat und ihr gerade mal ein
achtzehn Jahre langes Leben gegönnt hat, von ihr gelebt und genossen
und geliebt; Und noch heute hat sie meine Hochachtung und Bewunderung
für ihre Kraft, selbst den Zeitpunkt zu wählen, an dem sie diese
Welt verlassen würde.
Ich
erinnere mich an ihre Frage an mich: „Sehen wir uns wieder?“
Und
ich glaube, mich daran zu erinnern gesagt zu haben: „Ja. Wenn Du es
willst, sehen wir uns wieder“.
Aber
genau weiß ich es nicht mehr.
Und ich
würde gerne den Gott verfluchen, der in seiner „Allbarmherzigkeit“
zugelassen hat, daß das geschehen ist. Aber dafür müßte es ihn ja
erst einmal geben...
Ich erinnere mich...
An den
Tag in Frankreich, an dem ich auf einem sechzig Meter hohen Turm saß
und die Beine von der Kante baumeln ließ und die Landschaft unter
mir sah aus wie eine Märklineisenbahn aus dieser Höhe, alles so
klein und künstlich und wie ich von diesem Turm spuckte und ich die
Spucke immer kleiner werden sah auf ihrem Weg nach unten, bis ich sie
schließlich nicht mehr sehen konnte, weil sich das Weisse meiner
Spucke auflöste in den 21.000 weissen Flecken sechzig Meter unter
mir, die, wenn man wieder vom Turm herabgeklettert war, zu 21.000
weissen Kreuzen wurden. Jedes für einen Menschen stehend, der dort,
in der Gegend um Verdun herum im ersten Weltkrieg gestorben war. Ich
stand vor diesem Meer aus Kreuzen und verstand zum ersten Mal
wirklich, was das Wort „Krieg“ bedeutet.
Und
gleichzeitig konnte ich nicht begreifen, wie so ein Wahnsinn möglich
war, auch wenn in dieser Zeit „Gott, Ehre und Vaterland“ die
höchsten Gefühle waren.
Gott,
Ehre und Vaterland.
Was für
ein schlechter Witz ist das ???
Sie sind
damals alle darauf hereingefallen und tun es heute noch. Tausende und
Tausende und Abertausende noch dazu und meine beiden Großväter
ebenfalls, so daß ich sie niemals kennenlernen konnte.
Es hing
einmal eine Photographie meines Großvaters väterlicherseits rechts
an der Wand neben dem Fenster im Wohnzimmer meiner Großmutter. Darauf er als
stolzer Matrose.
Im
unseligen Dienste eines schlechten Kunstmalers.
Ich erinnere mich...
Der
Weihnachtsbaum im Haus meines Onkels. Ein Baum bis unter die Decke
und wir alle stehen da und mein Onkel steht da und hat ein Geschenk
für meine Tante in der Hand, Schuhkartongroß und er hält es fest
und sie muß es aufmachen, während er es festhält und als es
endlich auf ist schlägt er von unten dagegen und eine fette Ratte
springt raus und meine Tante kreischt und schreit und wir anderen
ebenfalls. Aber es ist nur eine lebensgrosse Ratte aus Gummi und mein
Onkel lacht sich weg und wir auch, als wir es merken.
Jetzt
steht die Gummiratte bei mir in meinem Regal und ist nur noch
Erinnerung an das, worüber wir einmal lachten.
Die
Weihnachtsbäume bis unter die Decke sind Vergangenheit, das Lachen
damals und meine Tante sind Vergangenheit. Es wird niemals wieder so
werden, wie ich es einmal erleben durfte, weil alles nur einmal
geschieht.
Weil
alles einmalig ist.
Wie wir wurden was wir sind...
Warum werden wir manchmal morgens wach
und haben ein Zitat im Kopf, an das wir seit Jahren nicht mehr
gedacht haben?
Was ist der Grund dafür, daß wir auf
einmal die Melodie einer Werbesendung zu pfeifen beginnen, die wir
vor Jahren gesehen haben und an die wir in den Jahren dazwischen
keinen Gedanken mehr verschwendet haben?
Ich weiß keine Antwort darauf und
ebensowenig, ob es jedem so geht oder vielleicht nur mir. Aber da es
mir so geht, habe ich mich entschlossen, meine Erinnerungen
aufzuschreiben, wie sie mir in den Sinn kommen.
Erinnerungen sind wie kleine Filme:
Manche dauern nur Sekunden, andere entwickeln sich mit dem leisen
Erinnern wieder zu langen Sequenzen – das Erinnern ruft einem das
scheinbar Vergessene zurück ins Bewusstsein. Welche Dinge mich wann
warum berührt haben auf irgend eine seltsame Weise, daß sie für
mich zu Erinnerungen werden konnten, kann ich nicht sagen. Denn ich
erinnere mich ja nicht nur an die schönen Momente in meinem Leben
sondern auch an vieles, von dem ich wünschte, ich hätte es lange
schon vergessen.
Wenn es aber so ist, daß meine
Erinnerungen, jede für sich - klein als auch scheinbar groß - in
irgend einer Weise dazu beigetragen haben , mich zu dem zu machen,
der ich heute bin, dann stimme ich zu.
Ich glaube fest daran, daß jede noch
so kleine Begebenheit, jedes Gespräch, das ich jemals geführt habe,
jedes Lied, das ich einmal hörte, jedes gelesene Buch...einfach
alles, was ich je getan oder nicht getan habe Einfluss darauf
genommen hat, was und wer ich heute bin.
Es ist es gar nicht wichtig, sich an
alles zu erinnern. Zum einen kann man es nicht, selbst wenn man das
wollte – man müßte ja sein gesamtes Leben in jedem Detail noch
einmal erleben.
Zum anderen läßt sich eine Sanduhr
zwar herumdrehen, aber deshalb läuft sie ganz sicher nicht
rückwärts. Das Leben verläuft ja linear: An einem ganz bestimmten
Punkt beginnt es.
Und an einem anderen, ebenfalls ganz
bestimmten Punkt endet es wieder.
Und dazwischen liegen all jene Momente,
die ein Mensch erleben kann und aus denen im Augenblick des Erlebens
Erinnerungen werden. Glücklich diejenigen, die bereit sind, sich an
alles zu erinnern, denn auch die traurigen Erinnerungen sind eine
Quelle der Kraft – denn was geschieht in jenen Momenten mit uns?
Wir trauern in der einen Sekunde des
Erinnerns vielleicht um jemanden, den wir verloren haben. Und
erinnern uns in der nächsten Sekunde an viele der schönen und
fröhlichen Erlebnisse, die wir gemeinsam gehabt haben.
Und dann sitzen wir da mit einem Kloß
im Hals und Tränen in den Augen, während wir gleichzeitig lachen
müssen – weil wir uns erinnern.
Das ist Leben ... und ich liebe es
genau so.