Mein Schicksal
von Asni
Als ich gerade das neunzehnte Lebensjahr vollendet hatte, rief Pater Bennatar mich zu sich. „Mein Sohn,“ sprach er in der ihm eigenen knorrigen, würdevollen Stimme, „du lebst jetzt seit zehn Jahren hier als treuer Diener des Klosters. In all der Zeit hast du die schützenden Mauern kaum verlassen. Es ist an der Zeit, dass du wie so viele unserer Brüder auch auf Mission gehst und dich um die Bewohner dieser Welt kümmerst. Sie alleine sind zu schwach und bedürfen unserer Leitung und Fürsorge.“ Ängstlich und begierig zugleich nickte ich eifrig und fragte voller Ehrerbietung: „Was für eine Aufgabe habt Ihr für mich, Pater?“
„Eine schwierige, mein Sohn, aber gewichtig. Ein großer Elfenkrieger, vielleicht ist er gar Herzog, ist seit einiger Zeit Gast in unserem Kloster. Sein Name lautet Belath. Er ist ein Verlorener auf der Suche nach einem heiligen Gegenstand, von dem er sich die Linderung seiner Sünden erhofft. Wo dieser Gegenstand zu finden ist, wie er aussieht oder wie er zu erwerben ist, weiß er nicht. Das ist auch nicht Eure Aufgabe. Eure Aufgabe, Bruder Magnor, soll es sein, mit all den Euch zur Verfügung stehenden Mitteln die Menschen vor Belath zu schützen und den Elfen vor den Menschen. Kümmert Euch um sein körperliches und geistiges Befinden und steuert ihn durch die Lande, so wie es seit je her Aufgabe unseres Ordens ist.“
In meinem jugendlichen Überschwang sah ich die Aufgabe als wenig ruhmreich und in keinster Weise als gewichtig an. Kurz und knapp formuliert sollte ich Leibdiener eines hochnäsigen Elfenvagabunden sein. Wenn mir auch die nötige Demut fehlte, so gehorchte ich dennoch und tat, wie mir geheißen.
Mit einer kurzen, aber feierlichen Zeremonie wurde ich dem Elfenkrieger Belath zum treuen Begleiter gegeben. Er war der erste Elf, den ich mit eigenen Augen zu sehen bekam. Groß und schlank, immer in eine schwarze Rüstung gekleidet, die mit seinem Körper verwachsen schien. Den dazu passenden Helm hielt unter den Arm geklemmt, die Hände lagen lässig, aber bereit auf dem Knauf eines Schwertes und eines Dolchs, die er am Gürtel trug. Die langen, goldenen Haaren strömten wie ein seidiger Wasserfall von seinem Kopf herab über die Schultern bis hin zu seiner Hüfte. Für meine Menschenaugen wirkte er überirdisch schön, geradezu unantastbar und entrückt wie aus einer anderen Welt.
Der Eindruck verstärkte sich während der ersten Tage unserer gemeinsamen Reise. Wenn Belath überhaupt mit mir sprach, dann redete er in der dritten Person zu mir. Einen anderen Fall als den Imperativ schien er dabei nicht zu kennen oder nicht für nötig zu erachten. Ich gewöhnte mich schnell daran, denn anders als die alten Mönche im Kloster musste er nicht gepflegt werden.
Ab und an drifteten seine Gedanken in eine dunkle, weit entfernte Vergangenheit. Dann redete er davon, wie es war, als es noch keine Sonne gegeben und kein Mensch seinen Fuß auf die Erde gesetzt hatte. Nur die Kinder des Nebels zogen unter dem Leuchten des Mondes und der Sterne durch die Wälder. Mehrfach versuchte ich Belath dazu zu bewegen, mehr von diesen geheimnisvollen Dingen zu erzählen, doch vergeblich. Er hörte mich nicht.
Nach einigen Tagen erreichten wir ein winziges Dorf. Ein Bauer hatte uns zuvor erzählt, dass es dort einen Schrein mit einer heiligen Drachenschuppe gab, der man heilende Kräfte nachsagte. Belath hatte beschlossen, dass wir eben diese Drachenschuppe um jeden Preis erobern mussten, denn sie würde auch ihm Heilung bringen.
Nun standen wir auf dem kleinen Platz vor dem Schrein, etwas außerhalb des Dorfes, in dem wir unsere Packesel zurückgelassen hatten. Alles menschengemachte hier war ärmlich. Ein winziger Verschlag, von dem aus ein uralter Mann allerlei Tand zum Kauf anbot. Das Dutzend bunt gemischter Menschen, die zum Schrein unterwegs waren oder von dort zu kommen schienen, wirkten als könnten sie sich nicht einmal ihre nächste Mahlzeit leisten.
Die Mauer, die den Schrein umgab, drohte beim nächsten Windstoß umzustürzen. Der Schrein selbst überragte die Mauer nur deshalb, weil er auf einem kleinen Hügelchen stand. Es war ein schmuckloses, eckiges Gebäude aus nur grob behauenen Steinen. Das einzige, was heilig und ehrfurchtgebietend aussah, waren zwei Jahrhunderte alte Bäume, die Schrein und Mauer um ein Vielfaches überragten.
In einem Durchgang in der Mauer stand ein in orangefarbene Gewänder gehüllter Priester. Ich beschloss kurzerhand, dass es sich lohnen würde, mit ihm zu reden und ihn zur Herausgabe der Drachenschuppe zu bewegen.
„Wartet hier, edler Belath. Ich werde mit dem Priester sprechen und Euch Zugang zur Drachenschuppe erwirken.“ Wieder einmal schenkte er mir keine Beachtung, sondern stand nur stoisch, mit in die Ferne gerichtetem Blick da.
Mit zielgerichteten Schritten ging ich los. Die Waffen des Elfen, die ich von den Packeseln bis hierher getragen hatte, nahm ich zur Sicherheit mit.
„Mein Bruder,“ begrüßte mich der Priester erfreut. Das Lächeln in seinem von Gram und Kummer gezeichneten, faltigen Gesicht war ehrlich. „Tretet ein und beehrt unseren bescheidenen Schrein!“ Den Kopf demütig senkend, winkte ich ab.
„Verehrter Bruder,“ erwiderte ich mit gedämpfter Stimme, „kann ich mit Euch kurz unter vier Augen reden?“ Das Lächeln des alten Mannes verschwand und machte einem besorgten Ausdruck Platz.
„Kommt,“ sagte er knapp und nahm mich beiseite. Mit langsamen Schritten begannen wir, an der Außenseite der Mauer entlang den Schrein zu umrunden.
„Ich bin Bruder Magnor. Mein Begleiter ist ein Elfenkrieger, der auf der Suche nach einem heiligen Gegenstand ist, von dem er sich Heilung verspricht. Wir hörten, dass Ihr hier eine heilige Drachenschuppe besitzt, der heilende Kräfte zugesprochen werden. Ich weiß, dass es ungewöhnlich ist, aber könnten wir die Schuppe für eine kurze Zeit ausleihen, so dass Belath sie mit seinen Händen berühren kann?“
„Ausgeschlossen!“, erwiderte der Priester ohne zu zögern. „Wenn jeder die heilige Schuppe mit seinen Fingern betatschen würde, wo bliebe denn da die Heiligkeit?“
„Ich verstehe Euch und Eure Bedenken,“ hakte ich schnell ein. „Aber ich befürchte, dass sich mein Begleiter davon nicht abhalten lassen wird. Um Schlimmeres zu vermeiden, ersuche ich Euch, eine Ausnahme zu machen.“
Der alte Priester sah mich ernst an, während wir die letzte Ecke der Umfriedung umrundeten und wieder zum Platz vor dem Schrein zurückkehrten. Es verschlug mir augenblicklich die Sprache, ob des grässlichen Anblicks, der sich uns darbot. Alle Leute auf dem Platz waren nun tot. Ihre Körper lagen obszön ausgestreckt im Dreck, während sich unter ihnen das Blut sammelte. Meine Finger verkrampften um Belaths Waffen. Genau so etwas hatte ich verhindern wollen. Ich war gescheitert. Der alte Priester stieß einen klagenden Laut aus und griff nach meiner Schulter. „Warum?“
Ich konnte ihm keine Antwort geben.
Belath trat indessen unter dem Tor zum Schrein hervor. In der Linken hielt er etwas, das nur die Drachenschuppe sein konnte, in der Rechten hatte er sein Brotmesser. Mit enttäuschten Augen sah er mich an und seine Stimme war brüchig als er sprach: „Dies ist ein falsches Heiligtum... kraftlos. Es vermag die Splitter meiner Seele nicht zu heilen. Folge er mir, wir ziehen weiter.“ Achtlos ließ er die Drachenschuppe in den Dreck fallen und schritt über den Platz in Richtung des Dorfes.
Der alte Priester seufzte. Wir sahen uns zitternd an. In seinem Gesicht wohnte nun noch mehr Gram und Trauer als zuvor. Doch in seinen Augen lag auch Verständnis und Mitgefühl.
„Die Götter haben Euch ein schwereres Schicksal zuteil werden lassen als ihm. Mögen sie Euch besser helfen als meinen Schützlingen.“ Noch einmal drückte er meine Schulter, dann machte er sich auf, sich um die Toten zu kümmern. Ich stand da, hilflos und verlassen. Mein Blick wanderte zwischen dem alten Priester und Belath hin und her. Schließlich folgte ich auf wackeligen Beinen und mit hängendem Kopf dem verrückten, verlorenen Elfen, der ab sofort mein Schicksal war.