Am Feuer
von Theo-Drecht
»Kannst du auch bitte mal damit aufhören?«
Missmutig rührte Elli im Zinnkessel über dem Feuer. Graue faserige Stückchen brachen sich nur widerwillig an dem entrindeten Stock, der heute Nacht zur Suppenkelle herhalten musste. Ein paar Schritte hinter ihr stand Josh, ihr Freund und Wachkamerad, der scheinbar wahllos Messer in in die Dunkelheit außerhalb des Lichtkreises warf. Tatsächlich kündete ein dumpfes thump – thump – thump davon, dass er etwas traf; und nicht nur irgendetwas, sondern den immergleichen verdammten Stumpf, der nach ihrer Rechnung längst in Häckseln über das Moos zerstreut liegen musste. Trotzdem kehrte Josh nach exakt sechs Würfen – so viele Messer besaß er – stets wieder in das Dunkel zurück, ließ sie für einige Momente allein, in denen ihr Herz unwillkürlich höher schlug. Sie hatte sich umgedreht, ihm mit Blicken hinter die schwarzen Äste zu folgen, aber die Suppe ließ sie jeden Moment der Unaufmerksamkeit mit Zischen und Schäumen büßen. Also rührte sie.
Sie wäre gerne selbst einmal in die Nacht aufgebrochen, wenigstens für ein paar Schritte. Vielleicht würde sie eines der anderen Wachfeuer in den karstigen Bergrücken ausmachen können und einen stillen Gruß entsenden. Erst an diesem Morgen waren sie allesamt aus dem Heerlager aufgebrochen, in munteren Zweiertrupps, die sich die erste Strecke durch die harzigen hohen Wälder der sich langsam aufknitternden Hügel noch mit anderen geteilt hatten. Irgendwann, nach einigem Scheiden und Wiederscheiden waren sie und Josh dann allein geblieben und irgendwann war dann auch der Abend gefallen. Und da hatten sie beschlossen, dass hier, auf diesem Kamm, eben ab heute die Grenze verlief ihres Hoheitsgebiets, denn die eigentliche Grenze war ja, so behaupteten die Offiziere, sowieso schon durch die vorpreschende Kavallerie weit ins Landesinnere des Feindes vorverlegt.
Für sie war es egal, in welcher Richtung des Flachlandes eigene oder feindliche Bauerngehöfte lagen. Die Bauern schliefen ohnehin, an warmen Herden, in trockenen Daunen, an murmelnden Kindern… Sie warf einen unwägbaren Seitenblick zu Josh. Eigentlich zählte für sie jetzt nur noch der Feuerkreis und der sich fast übergriffig hineinneigende Wald mit seinen düsteren ästeligen Kronen, die von der kleinen lebhaften Flamme des Feuers nicht erreicht wurden. Sie blieben Scherenschnitte vor einem blassen Sternenhimmel.
Und doch war da irgendwo Unruhe drin. Dumpfes, graues Nachtgetier flatterte saumselig um die Flammen, manches stürzte sich hinein. Hohle Schuhus folgten ihnen aus der Waldkulisse nach. Äste brachen weit hallend irgendwo. Mit dem Sirren und Schmatzen von Joshs Messern mengte es sich hinter ihrer erschöpften Stirn, die zeitweilig von Fettspritzern getroffen wurde, zu einer ungreifbaren Bedrohung, und allezeit das wütende Blubbern der Suppe…
»Sag mal, du bist sicher, dass das n Kaninchen war?«
Sie schreckte auf, fiel beinahe von dem Baumstamm, auf dem sie saß. Josh beugte sich neugierig über den Rand des Kessels, der mittels zweier im Boden vergrabener Astgabeln über dem Feuer aufgespannt hing und glühte.
»Also für mich sieht das eher wie ein Knäuel Eidechsen aus.«
»Dann geh doch das nächste Mal selber Jagen, wenn dus besser kannst!« fuhr sie ihn an.
»Bitte –« versetzte er trotzig und wandte sich wieder seinen Zielübungen zu. Sie bereute es augenblicklich. Sie wünschte sich doch, dass er bei ihr blieb, und ihr zuhörte. Sie hatte sich in diese Angstgedanken hineingesteigert und er hatte sie aufgeschreckt…
Aber weiter tönte der Einschlag der Klingen und sie rührte beklommen im Kessel, mit einer Entschuldigung auf der Zungenspitze spielend… – thump – thump – […] –. ? Ihr Blick flackerte zurück. Wo blieb der dritte Einschlag? War da nicht eben einen Schmerzenslaut gewesen? Unterdrückt, gestöhnt, gezischt – Ihre Soldatenreflexe überschlugen sich und sie ließ den Rührklöppel fallen.
»Josh!« schrie sie auf. Eine Bewegung im Unterholz! Josh war da draußen – er durfte nicht –
Ungläubig wanderte ihr Blick nach oben. Vor die düsteren Kronen senkten sich langsam und geziert Strahlen aus den blankem Himmel. Einen Wimpernschlag zu spät realisierte sie, was es war. Dann schlugen die Pfeile mit schrecklichem Zischen und Knurren um sie ein. Auf sie. Das warme Flackern des Feuers brach sich auf ihren schmalen Weidenschäften. Dann steckten sie fest. Sie spürte sich Keuchen. Nass und warm suppte es in ihr Wams, in den Schurz, der zwischen ihre Knie reichte. Funken stieben aus dem Feuer und flogen scheinbar zu weit, viel zu weit –
Da löste sich ein Gesicht aus dem rotem schummrigen Taumel – Josh – er war blass.
»Oh Gott, Elli, oh Gott!« stammelte er. Er machte sich unmittelbar an ihrer Schulter zu schaffen, aber was machte er denn, da war doch gar keine Wunde? »Oh Gott, verdammte Scheiße, wir müssen weg!«
Aber irgendein unfassbar sengender Schmerz hielt sie zurück. Ihrer beider Blicke wanderten zu ihrer Hand, die, absurd, fast gelassen, weiterhin auf den liegenden Stamm aufgestützt war – nur dass jetzt ein gerußter Weidenschaft durch sie hindurchführte, durch gekrampfte Sehnen, die wie Knochen aus der Haut stachen, und sie dort fixierte.
Kurzerhand legte er seine Rechte um die Fiedern am oberen Ende des Pfeils. »Hier, Elli, schau, nein schau weg, ich zieh jetzt am Pfeil, ja? Und dann brechen wir auf.«
Was dann folgte, beantwortete sie ihm nur mit einem Wimmern und großen kläglich bittenden Augen.
»Scheiße!« fuhr er auf. Ein weiterer Pfeil steckte in ihrem Oberschenkel. Sie würde eh nicht laufen können.
Er griff nach der kleinen Marschtrompete, die bisher unbeachtet an einer Eiche gelehnt hatte. Sie waren immer noch Soldaten, immer noch Grenzer… Er stieß das Notsignal mit brillierenden Oktaven in die Nacht hinaus, wo es zwischen den dunklen schlafenden Bergen widerhallte. Es klang trotz allem prächtig und für einen Moment schöpfte sie Hoffnung, ihre Offizierin könnte mit der ganzen vertrauten Truppe durchs Unterholz brechen und die feigen nächtlichen Angreifer wie Rehwild aus dem Dickicht scheuchen.
Wie kindisch. Joshs Gesicht hatte alle Farbe verloren. Sicher machte er sich jetzt Gedanken darüber, dass auch der Feind nun wüsste, wo sie waren. Wie weit wohl das nächste Wachfeuer war? Sie hatten es nie gesehen – warum hatten sie nicht Ausschau gehalten?
Josh setzte sich zu ihr auf den Baumstamm, wobei er seinen langen Parierdolch aus der Scheide am Gürtel zog. Er hielt ihn vor sie wie einen schimmernden Wall, einen Schild, der er nicht war, als könne er sie vor der zweiten Salve Pfeile schützen. Die Dunkelheit schien sich enger zusammenzudrängen um den kleinen, ach so kleinen Feuerkreis.
Aber Elli fühlte sich müde. Sie schloss die Augen. Und lehnte sich endlich an seine Schulter. Sie roch gut. Leder und Tannenzapfen und Bär.
»Solln sie ruhig kommen Elli, solln sie ruhig kommen.« murmelte er immer wieder, eine Litanei, die ihr Wiegenlied war.
»Siehst du was?« flüsterte sie.
Eine ganze Weile wohl starrte er in den Wald. Die Scheite knackten. »Ich sehe unsere Wachfeuer« kam schließlich zurück. »Sie leuchten noch… Und – und unsere Truppen. Man hört sie weit durch das Land heraufkommen…« All die Zeit hielt er ihre Hand fest. Sie glaubte ihm kein Wort.
Hinter ihnen, während diesem geflüsterten Wortwechsel, kochte indes schweigend die Suppe über. Ungerührt ergoss sie all die aufgeschwemmten Eidechsenstückchen über die mürbe Zinnkante in das Feuer. Ein kleines Blutrinnsal hatte sich ebenso seinen Weg gesucht, die Borke des Stamms hinab, auf die roten Kohlen, und dort fingen sie an, Suppe und Blut, gemeinsam zu verdampfen. Bald schon würden sie ohnehin aufgehen im weichen, aber schrecklich kalten Morgennebel.