Zur Story selbst würde ich im fünften Kapitel erstmal noch nicht viel anmerken. Ich finde auch, dass die Story inhaltlich definitiv was hermacht. Wo ich aber schon vorher und jetzt im fünften Kapitel besonders drüber gestolpert bin ist, dass ich immer mehr Probleme damit habe, zu verstehen, wie die Kemono eigentlich ticken und wie ihre Gesellschaft funktioniert - und das wäre mir der wichtigere Aspekt. Das geht ganz grob in die Richtung, die Thorsten schon angesprochen hat.
Das Problem daran: wenn ich nicht verstehe, wie die fiktive Gesellschaft funktioniert, dann werde ich auch Probleme haben, mich in die Charaktere rein zu versetzen und das wäre für mich aber eine zentrale Notwendigkeit. Es gibt sicher auch Leser, die so eine Geschichte eher passiv lesen: freuen sich, wenn dem Charakter was gutes passiert und sind traurig wenn was schlechtes passiert. Aber ich glaube die Geschichten, die einen richtig vom Hocker werfen sind die, wo man mitfiebern kann, Entwicklungen / Twists (beim genauen Lesen) vielleicht schon erahnen kann. Nicht, dass ich sowas selbst gut schreiben könnte - aber ich finde, dass sollte immer das Ziel sein.
Jetzt konkret: die Art und Weise, wie die Kemono leben scheint irgendwie ein Hybrid aus moderner und mittelalterlicher Gesellschaft. Die Technik scheint auf mittelalterlichem Niveau, aber die Freizeitgestaltung, der Lebensstandard, die Werte scheinen erstaunlich modern. Da man das technische Entwicklungsniveau und die Art und Weise, wie eine Gesellschaft funktioniert nicht so ohne weiteres trennen kann, erscheint das auf den ersten Blick seltsam. Es gibt zwar auch Literatur, die eher ein romantisches Bild vom Mittelalter einpflegt, dass nicht im großen Stil Sinn ergeben muss. Das funktioniert bei Kurzgeschichten / Märchen etc. zum Teil auch ganz gut. Aber das scheint mir bei deiner Geschichte (auch basierend auf dem worldbuilding thread) nicht das Ziel zu sein und ich glaube auch, dass es bei längeren Geschichten nicht klappt.
Wenn wir als Leser nicht mehr Informationen bekommen, müssen wir erstmal davon ausgehen, dass Kemono so "funktionieren" wie Menschen.
Wenn ich das zugrunde lege - wir hatten schon in deinem worldbuilding thread drüber gesprochen - dann fällt auf, dass die Kemono erstaunlich wenig Aufwand in die Bereitstellung von Nahrung investieren. Sie scheinen erstaunlich komplexe Produktionsketten aufbauen zu können: Metallwaren, Glas (z.B. für Laternen / Fenster), Stoffe, Papier für Bücher, riesige Gebäude, Möbel aller Art, Werkzeuge etc. Alles einzeln sicher vom Technologiestandard machbar, aber: ohne es durchgerechnet zu haben - bezweifle ich, dass ein 300 Mann Dorf ohne Kontakt zur Außenwelt diese Produktionsketten alle allein stemmen kann. Wie haben sie das nötige Wissen und Know How (auch in der Medizin) entwickelt? Nach meinem Verständnis profitieren Gesellschaften, die einen hohen Entwicklungsstandard haben ja davon, dass sie große Menschenmengen organisieren können. Dann kann man entsprechend Arbeitsteilung machen und dann können sich auch manche Vollzeit mit Forschung beschäftigen und man kann große, komplexe Produktionsketten aufbauen. Wird aber bei einem 300 Seelen-Dorf auch schwierig. Die Kemono scheinen aber mit all dem keine großen Probleme zu haben und haben ganz im Gegenteil noch jede Menge Freizeit um z.B. Unterhaltungsbücher zu lesen. Interessant ist in dem Zusammenhang auch der Begriff "individuelle Selbstverwirklichung" von Mi-ran. Ich bezweifle, dass es den in der normalen mittelalterlichen Bevölkerung gab.
Auch emotional scheinen die Kemono erstaunlich wenig vom harten mittelalterlichen Lebensstil beeindruckt zu sein. Aufgefallen ist mir das bei folgendem Abschnitt:
Es dauerte eine ganze Weile, bis Araho das reglose Verhalten seines Sohnes endlich bemerkte. Er setzte seinen Trinkbecher auf den Tisch ab und sah Juu-ka auf eine Weise an, wie es ein Vater für gewöhnlich tat, wenn er sich aufrichtig um das Wohlergehen seines Kindes sorgte. "Schmeckt es dir nicht, mein Sohn?"
"N-nein, ich..." Juu-ka glitt der Löffel aus der Pfote und ließ ihn in die Suppe platschen. Mit Schamesröte im Gesicht sah er auf die Spritzer seines Abendessens, die sich auf den Tisch und auf sein Fell verteilt hatten. "Oh.. oh je! Das tut mir Leid!" Augenblicklich wischte er die Suppenflecken mit der Pfote auf und leckte sie dann hastig ab.
Juu-kas Mutter griff nach der anderen Pfote ihres Sohnes, senkte sie vorsichtig auf den gräulichen Tischläufer und strich dann sanft über sein Fell. "Juu, Schatz, es ist alles in Ordnung. Wir müssen nur die Sache mit Kaa-ja erstmal alle verdauen." In ihrem Blick lag die Bitte um Nachsicht.
Diese Art, wie Eltern einfühlsam auf kleine Stimmungsschwankungen ihrer Kinder eingehen können scheint mir nur bei einem hohen Lebensstandard möglich. Im Prinzip so, wie ihn moderne westliche Gesellschaften haben. Es wäre aber völlig undenkbar in einem mittelalterlichen Szenario, wo die ganz grundlegenden Bedürfnisse im Vordergrund stehen (Nahrung, Gesundheit), wo harte körperliche Arbeit, Verletzungen, Schmerzen, Krankheit und Tod den Alltag prägen. Ich glaube dass jemand, der diese Alltagserfahrungen macht wegen der unweigerlichen emotionalen Abstumpfung sehr schwer zu dieser Einfühlsamkeit in der Lage sein wird. Sicher muss man mit Kindern in jeder Gesellschaft nochmal anders umgehen als mit Erwachsenen, aber Juu-Kaa ist hier ja auch schon 18.
All das scheint bei den Kemono anders und die Frage ist: warum? Es muss einen dramatischen Unterschied zwischen Menschen und Kemono oder zwischen der unsrigen Welt und deiner fiktiven Welt geben, den ich verstehen müsste, um die Kemono zu verstehen - um zu verstehen, was für Ziele / Alltagssorgen etc. diese Individuen haben. Damit ich mich nicht in etwas verrenne, lade ich auch gerne andere Leser ein, mir hier ggf. zu widersprechen.