Ein paar Tage versuchten sie einen
normalen Tag- und Nachtrhythmus beizubehalten, was lediglich dazu
führte, dass Nelli mehr als einmal hatte Salben gegen Sonnenbrand
und Mittel gegen Sonnenstich herstellen müssen. Irgendwann hatte sie
vorgeschlagen, dass sie nachts arbeiteten und den Tag über
schliefen. Die Idee fand schnell Zustimmung und sie
stellten sich alle danach um. So war es wirklich angenehmer, wenn
ihnen die Sonne nicht den ganzen Tag den Schweiß auf die Stirn
trieb. Auch wenn die alte Frau das nicht hatte zugeben wollen, so
hatte ihr die Hitze sehr zu schaffen gemacht. Sie war eben keine
zwanzig mehr und steckte das noch schlechter weg, als die jungen
Leute – auch wenn Edmund tat, als würde er am meisten von allen
leiden.
So auch an diesem Nachmittag, als er da
saß und für sie alle das Frühstück zubereitete: Ein Versprechen,
an das er sich erstaunlicherweise noch immer hielt.
Nelli hatte Wasser geholt, damit sie
darin ein paar Früchte kochen konnten um eine Art Kompott daraus zu
machen. Sie hatte sich im Sand nieder gelassen um noch ein paar
Bananen klein zu schneiden, während Edmund am Feuer stand. Nach
einigen Minuten des Schweigens, begann er dann aus dem Nichts zu
sprechen.
„Wieso ist es hier eigentlich immer
so unendlich heiß? Wird das hier auch mal wieder kühler? Wenn es
weiter so langsam voran geht, dann bekommen wir hier ja vielleicht
sogar noch den Winter mit“, maulte er und Nelli verdrehte nur die
Augen.
„Bei der Hitze kann ja niemand
schlafen. Warum habe ich eigentlich überhaupt ein Feuer gemacht?“,
meckerte er weiter, als die alte Frau nicht weiter reagierte. Die
hatte schon abgeschaltet und hörte gar nicht weiter zu, als er sich
weiter über die Hitze, die Sonne und den Sand beschwerte. Irgendwann
ging auch ihr aber das ständige Genörgel auf die Nerven und sie
drehte sich leicht gereizt zu ihm um.
„Was zum Henker willst du? Du bist
doch sonst nach dem Aufstehen nicht so gesprächig und schon gar nicht mir
gegenüber“, fragte sie schließlich offen heraus und bewunderte,
wie er sie erst mal für einen Moment verdutzt anstarrte.
„Von dir
will ich gar nichts, Hexe. Du triffst leider so gar nicht meinen
Geschmack. Es ist nur grade niemand anderes da“, erwiderte er wenig
schlagfertig, was Nelli schon stutzen ließ. Ihr Blick glitt kurz
besorgt über sein Gesicht. Täuschte es oder schien der Händlersohn
trotz des Sonnenbrandes erstaunlich blass? Und warum waren ihr die
tiefen Ringe unter seinen Augen noch nie aufgefallen? Schweigend
stocherte Edmund etwas im Essen herum und schien sich nicht so
richtig entschließen zu können, ob er mit der Sprache rausrücken
wollte oder nicht. Nach ein paar Minuten raffte er sich auf.
„Was
hat deine Hexenküche eigentlich noch so zu bieten?“ fragte er
zögerlich und ließ Nellis Genervtheit verpuffen. Anscheinend gab es
wirklich etwas, was ihn bedrückte. Sie gab ihre abwehrend Haltung
auf, drehte sich zu ihm um, was sie damit tarnte, dass sie die
Bananen dem Essen zufügte.
„Kommt
darauf an, was du brauchst“, erwiderte sie deutlich sanfter und
schaute dann zu ihm auf. Er wich ihrem Blick aus und kaute seltsam
nervös auf seiner Unterlippe herum.
„Irgendetwas,
was mich schlafen lässt...“ murmelte er kaum hörbar. Die alte
Heilerin kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Das
erklärte natürlich einiges und sofort regte sich Sorge in ihr. Wie
lange ging das wohl schon? Schlief er etwa seit der Meuterei nicht
mehr?
„Geht
es dir mehr um das Einschlafen oder möchtest du von Träumen befreit
sein?“ hakte sie ruhig nach und jede Spur von Bissigkeit war aus
ihrer Stimme verschwunden.
Edmund
spannte den Kiefer an und ein trotziger Zug erschien um seine
Mundwinkel.
„Macht
das denn einen Unterschied?“
Nelli
nickte langsam.
„Das
macht es tatsächlich. Je nach Kraut werden andere Aspekte des
Schlafes beeinflusst“, erklärte sie und zuckte mit den Schultern,
während der Händlersohn ergeben seufzte.
„Keine
Ahnung! Beides, Einschlafen und
Träume...“ gab er zerknirscht zu. Nelli runzelte die Stirn. Das
war wirklich schlimmer als sie vermutet hatte. Vielleicht würde
seine Laune aber auch besser werden, wenn er endlich wieder schlief.
„Gut,
damit kann ich arbeiten. Ich braue dir etwas, wenn ich meine Bestände
und die Kräuter der Insel gesichtet habe. Aber nur unter einer
Bedingung...“ stimmte sie zu, ehe Edmund sie unterbrach.
„Keine
Experimente und du bleibst mit deinen Händen weg von mir!“
verlangte er und Nelli musste sich das lachen verkneifen.
„Ich
experimentiere nicht an dir. Keine Sorge. Und so lange du dich nicht
wieder verletzt besteht auch kein Zwang, dass ich dich wieder
untersuchen muss. Nein, ich helfe dir und dafür hörst du auf mich
ständig 'Hexe' zu nennen.“ Edmunds Augenbrauen schnellten in die
Höhe und er schaute sie irritiert an.
„Aber
du bist eine Hexe“,
stellte er überflüssigerweise fest und legte den Kopf schief. Ein tiefes Seufzen kam
über die runzeligen Lippen der Alten und sie fuhr sich über die
Stirn.
„Das
schon. Aber es haben mir schon sehr viele Menschen als Schimpfwort an
den Kopf geworfen, wenn ich nicht das gemacht habe, was sie wollten.
Ich bin eine Heilerin“, versuchte sie zu erklären und meinte, eine
Erkenntnis in Edmunds Augen zu sehen.
„Es
war nicht als Beleidigung gemeint“, begann er, ehe sich aber ein
spitzbübisches Grinsen auf seine Lippen schlich. „Jedenfalls nicht
immer. Aber meinetwegen, dann eben Heilerin.“
Gleichgültig zuckte der Händlersohn mit den Schultern, während
Nelli schmunzeln musste.
„Dir
ist bewusst, dass ich auch einen Namen habe, oder?“ fragte sie
amüsiert und beobachtete, wie das Grinsen auf Edmunds Gesicht
breiter wurde.
„Ja.
Ich auch“ erwiderte er frech, sodass Nelli sich einen Spaß
erlauben wollte. Sie zuckte also mit den Schultern.
„Ganz
wie du möchtest, Wendy“,
neckte sie ihn und genoss die Verwirrung, die sich auf seinem Gesicht
breit machte.
„Wendy?“
echote er und zog die Augenbrauen hoch.
„Ja,
Wendy. Für Wendel“, erklärte sie, als wäre es das natürlichste
der Welt. Ihr Grinsen wurde mit jedem Moment breiter, je röter
Edmunds Gesicht wurde.
„Schon
gut, Schon gut, Edmund“,
beruhigte sie ihn und gluckste leise. Den Anblick in seinen Augen
würde sie so schnell nicht vergessen. Ganz offensichtlich hatte er
damit nicht gerechnet.
„Danke,
Peternella“, kam es
dann aber zurück, was die Alte nun erst recht wieder zum Lachen
brachte.
„Nelli
ist völlig ausreichend. Ich kann mich ehrlich gesagt nicht mal dran
erinnern, wann ich das letzte Mal Peternella genannt wurde.“ Sie
grinste breit und auch um Edmunds Mund zog sie ein Schmunzeln.
„Kein
Wunder, der Name ist ja auch viel zu sperrig. Den kann man überhaupt
nicht brüllen“, merkte er an, was Nellis Augenbrauen nach oben
wandern ließ. Das sagte ausgerechnet er mit seinen drei Namen, von
denen kein einziger wirklich gut von den Lippen ging. Was war denn
bitte Wendel für ein Name? So zuckte sie lediglich mit den
Schultern.
„Oh
ja. Ich weiß auch nicht, was meine Mütter sich dabei gedacht
haben“, erwiderte sie gleichgültig und steckte kleine Zweige ins Feuer. Edmund hatte den Kopf nachdenklich schief gelegt und stocherte
im Essen rum. Anscheinend rang er wieder mit sich und Nelli war schon
neugierig, was es dieses Mal war.
„Woher
kommst du eigentlich? Wurdest du als Hex-... Heilerin geboren oder
von garstigen alten Weibern als Baby mitten in der Nacht verschleppt
und in einen Kessel geworfen?“ wollte er gespielt desinteressiert
wissen, doch den Sarkasmus konnte er nicht ganz verstecken. Nelli
beschloss, den zu ignorieren und ihm stattdessen vernünftig zu
antworten.
„Ich
war ein Waisenkind. Meine Ziehmutter hat mich aufgesammelt und
ausgebildet. Ich kann mich an meine richtigen Eltern nicht erinnern“,
erzählte sie ruhig, während Edmund schon wieder eine Vorlage für
den nächsten fiesen Kommentar hatte.
„Jemand
hat dich freiwillig aufgenommen? Hast du dann der Ziehmutter auch
deinen Namen zu verdanken?“ stichelte er und die Alte verdrehte
erneut die Augen. Manchmal war es selbst ihr ein Rätsle, wie sie so
ruhig bei seinen Aussagen bleiben konnte.
„Stell
dir vor, als Kind war ich sogar ganz niedlich. Aber ja, den Namen hat
sie mir gegeben.“ Edmund feixte und machte sich gar keine Mühe,
das zu verstecken.
„Wie
viele hundert Jahre muss ich nochmal zurück gehen, um mir das
vorstellen zu können?“
„178
Jahre“, antwortete sie und musste dann aber selbst grinsen. Edmund
schien zu überlegen und runzelte dann die Stirn.
„Nein,
beim besten Willen. So weit reicht meine Vorstellungskraft nicht um
zwischen den Falten auch nur irgendwas Niedliches zu entdecken“, neckte er sie und Nelli schüttelte gespielt missbilligend den Kopf.
„Du
hast eindeutig zu wenig Fantasie“, stellte sie fest und Edmund
konterte direkt: „Oder du zu viele Falten.“
Kurz
überlegte die Alte und wiegte den Kopf hin und her. „Vermutlich
eine Kombination aus beidem. Aber komm du erst Mal in mein Alter,
dann werden wir sehen, was von deinem Aussehen noch übrig bleibt,
Jungchen.“ Edmund lachte kurz auf und zuckte dann mit den
Schultern.
„Darüber
brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Meine Familie wird nicht so
alt.“
„Nicht?
Macht sich jeder von euch so schnell Feinde wie du?“ Die Ironie in
ihrer Stimme war unüberhörbar und der junge Händlersohn schnaubte
leise.
„Das
vermutlich auch. Muss in der Familie liegen“, grinste er und Nelli
zuckte mit den Schultern.
„Sei
froh, es hat auch viele Nachteile, so
alt zu werden“, merkte sie an und schien mit ihren Gedanken für
einen Moment ganz weit weg zu sein. Sie konnte nicht verhindern, dass
ein trauriger Ausdruck in ihre Miene trat. Gesichter tauchten vor
ihrem inneren Auge auf, an die sie schon lange nicht mehr gedacht
hatte. Als Edmund ihr eine Schüssel mit dem fertigen Essen
hinstellte, zuckte sie kurz zusammen. Unangenehm berührt räusperte
sie sich und fühlte den Blick des jungen Mannes auf ihr ruhen.
„Du
hast viele Menschen in all der Zeit verloren, oder?“ fragte er und
Nelli meinte fast so etwas wie Mitgefühl in seiner Stimme zu hören.
Also nickte sie langsam und schaute auf die Schale vor sich.
„Viel
zu viele“, gab sie ehrlich zu. Edmund zögerte und schaute sich
nach den anderen beiden um, die in etwas Entfernung noch schliefen.
„Auch
deine...Geister?“
fragte er leise, beinahe ehrfürchtig. Wieder nickte die Alte und
rührte in dem Essen um.
„Ich
habe schon immer Geister gesehen und mit ihnen kommuniziert“,
erklärte sie und schaute wieder zu Edmund auf, der die Stirn
gerunzelt hatte.
„Warum
schleppst du dann nicht deine ganzen verlorenen Menschen mit?“
wollte er wissen und Nelli fragte sich zeitgleich, wann jemand das
letzte Mal wirklich so aktiv Interesse an ihr gezeigt hatte.
„Nicht
jeder wird zu einem Geist. Nur Tote, die noch etwas auf der Erde zu
erledigen haben. Wie zum Beispiel Trevors Vater, diese nutzlose
Miesmuschel.“ Allein beim Gedanken an dieses Gespräch wurde die
alte Frau wieder wütend. Es ging ihr nicht in den Kopf, wie Johnny
hatte diese Chance vermasseln können. Edmunds Blick zeigte offene
Skepsis.
„Stimmt
das wirklich mit diesem Geisterkram oder hast du Trevor nur belogen?“
Nelli kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn.
„Das
stimmt wirklich. Ich kann Geister sehen, mit ihnen sprechen und ihnen
meinen Körper zur Verfügung stellen, um mit anderen zu sprechen.
Was hätte ich denn davon, Trevor zu belügen?“ Dieser Gedanke
ergab einfach keinen Sinn, egal, wie sie es drehte und wendete.
Edmund musterte sie.
„Keine
Ahnung. Deinen Spaß und einen verzweifelten Formwandler?“ schlug
er vor und die Hexe schnalzte missbilligend mit der Zunge.
„Das
ist ziemlich wenig, oder? So verrückt bin ich nun auch wieder
nicht...“ merkte sie spitz an und Edmund wiegelte abwehrend ab.
„Schon
gut, schon gut. Aber was ist mit deinen Geistern?
Wen kannst du schon verloren haben, wenn in deinem komischen Zirkel
doch alle so uralt werden?“ wechselte er das Thema und Nelli musste
sich ein grinsen wieder verkneifen.
„Fünf
Ehemänner und etliche Liebhaber?“, schlug sie amüsiert vor und
legte den Kopf schief. Kurz musterte Edmund sie und grinste dann.
„Das
ist doch hoffentlich 150 Jahre her?“ neckte er sie und brachte die
Alte damit wieder zum Lachen.
„Nicht
ganz, aber schon ein paar Jahrzehnte. Ich habe es die letzten Jahre
vermieden, mich enger an Menschen zu binden. Ihr seid seit bestimmt
guten 30 Jahren die ersten, die ich 'Freunde' nennen würde“, gab
sie offen zu, was ihr einen verwunderten Blick von Edmund einbrachte.
„Weil
wir so besonders sind? Oder weil niemand was mit dir zu tun haben
wollte?“ fragte er nach und musterte sie mit zusammen gekniffenen
Augen. Nelli wiegte erneut den Kopf hin und her.
„Zu
viel Bindung ist schlecht, wenn man schon viele Menschen verloren
hat. Man hat ständig Angst, dass das wieder passiert und versucht
sich das zu ersparen“, erklärte sie langsam, fast stockend,
während sie Edmunds Blick weiter auf sich spürte. Ihr Blick ging
zum Horizont und ihre Gedanken wanderten weit zurück in die
Vergangenheit, ehe sie eine Berührung an der Schulter zurückholte.
„Du
solltest essen, sonst wird es kalt. Und wenn Trevor wach wird, bleibt
nichts mehr für uns übrig.“ Edmund nickte in Richtung der
Schlafenden.
„Falls
du nachher Hilfe mit den Kräutern brauchst, sag einfach Bescheid“,
fügte er noch hinzu und Nelli musste sich kurz räuspern, ehe sie
sprach.
„Danke,
werde ich machen“, antwortete sie, wohlwissend, dass sie vermutlich
nie darauf zurück kommen würde. Edmund war mit dem Fällen von
Bäumen und dem Bau des Gerüsts schon mehr als beschäftigt.
„Hier
verzichtet auch keiner auf Hilfe...“ seufzte er theatralisch und
zauberte Nelli damit wieder ein Lächeln auf die Lippen, während sie
beobachtete, wie die anderen beiden wach wurden und verschlafen zum
Feuer kamen.