Beiträge von Jennagon im Thema „Seemannsgarn“

    Trevor gefiel der Gedanke gar nicht, dass dieser Magier sie ins Auge gefasst hatte. Er überlegte sich bereits Methoden, diesen Kerl loszuwerden. Das würde bei einem Magier wahrscheinlich nur nicht so leicht werden. Trevors erster Gedanke war, in der Nacht das Schiff abzufackeln … Er lauschte nur beiläufig der Unterhaltung der anderen, wo in der Stadt sie die Kiste verstecken wollten, um Thomas auf eine falsche Fährte zu locken. Denn immer wieder keimte der Gedanke in ihm auf, warum er sich bei der Berührung der Kiste die Hände verbrannt hatte. Bei den anderen war nichts geschehen. Aber es war nicht nur der Schmerz gewesen, ihn war Trevor gewöhnt, sondern, dass er die Kiste hatte nicht loslassen können. Als war sie an ihm festgebunden gewesen. Sie hatte ihn paralysiert, wehrlos gemacht. Dieses Gefühl, was er dabei erfahren musste, hing wie ein dunkler Schleier über ihn. Fühlte sich so wahre Angst an? Ein ähnliches Gefühl überkam ihn, als der Magier an Bord gekommen war. Etwas verengte ihm die Brust, sodass er sich lieber zurückgezogen hatte. Von der Kiste, und Thomas, ging etwas aus, das ihm nicht gefiel. Was dafür sorgte, dass er sich schwach fühlte.
                „Was denkst du, Trevor?“, fragte ihn Nelli, und riss ihn somit aus seinen Gedanken.
                „Was? Soll mir recht sein“, antwortete er und wusste nicht einmal, um was es gerade ging.
                „Also verstecken wir die Kiste irgendwo am anderen Ende der Stadt“, wiederholte Edmund anscheinend.
                „Das wird wohl unsere Aufgabe sein“, fügte Nelli hinzu. „Thomas kennt Esther, und Trevor kann man die Kiste nicht geben.“
                „Das ist leider wahr …“, pflichtete Esther bei.
                „Das heißt aber nicht, dass ich euch nicht begleiten kann“, widersprach Trevor.
                „Du solltest dich noch etwas schonen, Junge. Außerdem sollte jemand die Handwerker im Auge behalten.“
    Also bin ich jetzt nutzlos …
                „Wir sollten keine Zeit verschwenden! Die Kiste muss von Bord!“, hetzte Esther.
                „Wir sollten noch etwas warten. Vielleicht zu Sonnenuntergang. Wer weiß, ob Thomas das Schiff beobachten lässt. Wenn ihr gleich von Bord eilt, nachdem er hier war, wirkt das sehr verdächtig“, nuschelte Trevor nachdenklich, und Edmund stimmte zu.
    Somit beschlossen alle, noch etwas zu warten.
    Trevor begab sich in seine Kajüte, als er Omas Stimme hinter sich hörte.
                „Können wir kurz reden?“, fragte sie und ihr Blick gefiel ihm nicht.
                „Ich werde mich schon nicht überanstrengen …“, setzte Trevor an, wurde aber von Nelli unterbrochen.
                „Darum geht es nicht.“
    Trevor musterte sie und hielt ihr dann die Tür zu seiner Unterkunft auf.
    Nelli schloss die Tür hinter sich und watschelte gestützt von ihrem Stock in den Raum. „Versuch dich, soweit es geht von Magie fernzuhalten.“
    Überrascht hob Trevor seine rechte Braue. „Weil?“, fragte er gedehnt. Nicht, dass er das nicht bereits getan hätte, aber er wollte sich seine Verunsicherung nicht direkt anmerken lassen.
                „Weil du ... empfindlicher als wir anderen darauf reagierst ...", erwiderte Nelli wenig präzise.
                „Ach, tatsächlich …“, meinte Trevor ungewollt sarkastisch und zeigte seine Hände. Es war ihm nicht entgangen, dass Nelli ihm beim Diebstahl die Sachen nicht in die Hand geben wollte. Also, musste sie mehr darüber wissen, als sie gerade preisgab. „Was weißt du darüber?“, forderte er zu wissen.
    Sie ließ sich auf sein Bett sinken und klopfte auf den Platz neben sich. „Setz dich, Junge, das wird eine längere Geschichte …“
    Trevor setzte sich, und Nelli atmete tief durch.
    Das, was sie ihm begann zu erklären, war … seltsam. Nelli fragte ihn zunächst, was er über die Formwandler wüsste. Das war – abgesehen von den Kräften und dem, was seine Mutter ihm erzählt hatte – nicht viel. Sie lebten irgendwo abgeschieden, es gab nur männliche Formwandler … Da unterbrach ihn Nelli. Ob er sich noch nie gefragt hatte, warum es nur Männer gab, die sich verwandeln konnten. Tatsächlich hatte sich Trevor das mal als junger Mann gefragt, aber warum über Sachen Gedanken machen, auf die niemand eine Antwort zu haben schien?
    Nelli fiel mit der Tür in die Kajüte und meinte, dass Formwandler keine eigene Rasse waren. Nicht wie Menschen, Nymphen oder Magier.
    Trevor wollte sie unterbrechen, aber sie fuhr ihm über den Mund und erzählte gleichauf weiter. Nämlich, dass sie gemacht worden waren. Dass Magier ihre Macht genutzt hatten, um Krieger zu erschaffen, die ihnen dienten. Anfangs aus Leichen, danach benutzten sie verletzte Krieger und irgendwann nahmen sie auch Freiwillige. Sie bastelten sich ihre eigenen Assassinen und jene mit Fähigkeiten, die von großen Nutzen waren.
    Wie meine Stärke und die Fähigkeit, mein Aussehen zu verändern …
    Der Unterschied zwischen den Assassinen aus Leichenteilen und den Freiwilligen war jedoch, dass die lebenden Versuchsobjekte sich fortpflanzen konnten – wodurch Männer wie Trevor entstanden.
    Allerdings erschufen die Magier beziehungsweise – Nekromanten – wie sie Nelli nannte, ihre Schöpfungen so, dass sie sich niemals gegen ihre Herren erheben konnten. Sie schwächten sie für Magie und machten sie anfällig für allerhand Bannzauber.
    Deswegen meine Verletzungen …
    Das hielt die Formwandler vor etlichen Jahrhunderten aber nicht davon ab, das Weite zu suchen und sich bedeckt zu halten.
    Trevor versuchte, das alles zu verstehen. Er sortierte Nellis Erzählung in seinen Gedanken. Er und seinesgleichen waren also tatsächlich geborene Soldaten. Zumindest das stimmte. Er wurde geboren, wahrscheinlich schockierten ihn deshalb die neuen Erkenntnisse nur wenig.
                „Das ist wirklich … interessant …“, murmelte Trevor abwesend. „Deswegen kannst du Nekromanten nicht leiden, oder?“
    Jetzt hätte Trevor gerne Agatha ausgefragt, aber jene hatte sich bereits verdünnisiert. Ob sie mehr darüber gewusst hätte? Vermutlich nicht, sonst hätte sie nicht so fasziniert von ihm getan.
    Nelli nickte. „Ihre Versuche an jedem Lebewesen sind widerwärtig. Menschen so zu misshandeln ... Niemand sollte sich derart in die Natur einmischen.“
    Trevor verstand, dass sein Unbehagen gegenüber Thomas dann wohl keinen natürlichen Ursprung hatte, sondern irgendwie gemacht war. Vielleicht ähnlich wie bei der Kiste. Ein Zauber, der ihm Wesen wie Trevor vom Leib hielten.
    Trevor gestand Nelli, sich bei Thomas absichtlich verzogen zu haben, da ihm geradezu die Luft weggeblieben war.
                „Dann ist Thomas gefährlicher als wir glauben“, murmelte Nelli und fuhr sich über ihr Gesicht.
                „Stelle ich denn eine Gefahr da?“, wollte Trevor wissen und verzog ernst sein Gesicht. „Wenn Thomas fähig ist, mich zur Flucht zu bewegen, was, wenn er Leute wie mich auch anders manipulieren kann?“
                „Es ging eher darum, sich selbst zu schützen. Ich glaube nicht, dass er dich derart manipulieren kann, aber zur Sicherheit solltest du ihm vielleicht eher aus dem Weg gehen ...“
    Großartig, das heißt, ich bin absolut nutzlos gegen diesen Mann …
                „Wir sollten es vielleicht den anderen sagen, damit sie Bescheid wissen. Wenn etwas passiert, sollte zumindest Esther mich … bannen können.“
    Oder töten!
    Nelli nickte langsam. „Ich fürchte keiner von uns ist ihm gewachsen. Das Sinnvollste, was wir machen könnten, wäre verschwinden.“

    „Aye“, pflichtete Trevor Nelli zu und begann, die Verbände von seinen Händen zu lösen.
    Nelli half ihm und löste die letzten Verbände. „Ah, das sieht schon besser aus“, sagte sie.
    Die Haut an seinen Händen war noch rosa, aber es waren keine offenen Wunden mehr zu sehen.
                „Selbst wenn nicht, habe ich mich genug ausgeruht. Wir sollten die Kiste verschwinden lassen und das Schiff seetauglich bekommen.“
                „Du nützt verletzt aber auch nichts. Sonst machst Du es nur schlimmer“, brummte Nelli widerwillig.
                „Ich habe schon schlimmeres überstanden …“ Trevor erhob sich und seufzte. „Wir sollten die beiden anderen zusammentrommeln.“ Gerade, als Trevor die Tür öffnen wollte, hielt er noch einmal inne. „Wie lange wusstest du das alles eigentlich?“
                „Grundsätzlich schon sehr lange. Ich dachte nur bei dir wäre es nicht so stark ausgeprägt. Oder eher hatte ich es gehofft“, gab Nelli leise zu, was Trevor ein verstehendes Nicken entlockte, bevor er seinen Kiefer aufeinanderpresste.
    Er schickte Nelli vor, die anderen zu holen. Er brauchte einen Moment, um das alles nochmal zu überdenken. Seine Rasse, nein er und seinesgleichen, waren also gemacht worden ...
    Diener, Krieger, Soldaten … er musste zugeben, dass das einiges erklärte. Vor allem den Hang zum Töten, den er vor einiger Zeit an sich akzeptiert hatte. Es war bei ihm und allen anderen Formwandler vermutlich verankert. Nur, dass Trevor die Freiheit besaß, selbst zu entscheiden, wen er beschützen wollte. Trotzdem besaß er anscheinend nicht nur Stärken, sondern auch schwerwiegende Schwächen. Obwohl er wie jeder andere Mensch geboren worden war, überdauerte die Empfindlichkeit gegenüber Magie. Er war nicht scharf darauf, herauszufinden, welche Absicherungen sich die Nekromanten noch hatten einfallen lassen, damit Formwandler sie nicht angreifen würden.

    Nachdem alle zusammensaßen, erklärte Trevor, was mit ihm und der Kiste los war. Und, dass er anscheinend gegen Magie machtlos war. Edmund schwieg zunächst, während Esther offen ihre Bedenken äußerte, ihn verletzen zu können. Zudem bekundete sie, wie widerwärtig auch sie das Vorgehen der Nekromanten fand.
                „Ja, ich habe verstanden, dass Formwandler Kreaturen wider die Natur sind …“, murmelte Trevor leise monoton und rieb sich über sein Gesicht.
                „In allererster Linie bist du ein Teil dieser Gruppe. Und in zweiter Linie ein Opfer“, widersprach Nelli und verdrehte die Augen. „Selbstmitleid hat noch niemandem geholfen, Bursche.“
    Trevor horchte auf. „Ich bemitleide mich nicht! Und ein Opfer bin ich auch nicht“, entgegnete er entsetzt. „Aber, was die Nekromanten tun, haben wir alle verstanden. Und vielleicht tun sie es immer noch … Wer weiß … Nichtsdestotrotz sehen unsere Chancen gegen Thomas schwindend gering aus. Außer, Esther hat genauso mächtige Zauber im Peto!“
    Esther dachte nach. „Thomas und ich sind zwei völlig unterschiedliche Magier. Ich bin eine Beschützerin, während er ein Zerstörer ist. Diese Magier sind dafür ausgebildet worden, solche wie mich niederzustrecken. Deswegen bin ich eher dafür, dass wir uns so schnell wie möglich aus dem Staub machen.“
    „Vielleicht solltest du dir etwas von der anderen Art aneignen?“, schlug Trevor vor. „So für die Zukunft?“
    Esther zuckte mit ihren Schultern. „Ich gebe mein Bestes.“
    Alle waren sich einig, dass sie sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen sollten.
                „Wenn wir nur Zeit schinden könnten …“, murmelte Edmund. „Das Schiff ist niemals so schnell fertig, wie dieser klebrige Kerl die Kiste gefunden hat …“
    Esther überlegte. Zuerst druckste sie herum, aber dann schlug sie vor, dass man Thomas noch mehr in die Irre führen könnte, wenn sie den Zauber dupliziert, der sich auf der Kiste befand.
    Edmund grinste verschlagen. „So können wir eine Kiste ins Landesinnere versenden, die andere auf ein Schiff, das den Hafen verlässt …“
                „Genau!“, stimmte Esther zu.
    Für Trevor und Nelli klang das nach einem sehr guten Plan.
    Also machte sich Esther daran, ein Duplikat des Zaubers herzustellen.
    Edmund schlug ein Stück Seife als Medium vor, was trotz der heiklen Lage für ausgiebiges Gelächter sorgte. Genau das Richtige für den Schmierlappen, wie Trevor fand.
                „Seife, das sollte ich hinbekommen!“, meinte Esther und versprach, alsbald mit dem Zauber fertig zu sein. Sie erhob sich und wollte sich gleich ans Werk machen.
                „Aye …“, sagte Trevor gedehnt an Edmund gewandt. „Wie wäre es, wenn wir dann anfangen?“
                „Anfangen? Mit was?“
                „Mit deinem Training?“
                „Training?“, wollte Nelli wissen und grinste schelmisch über beide Wangen.
                „Es kann nie schaden, zu lernen, wie man andere verkloppt“, erklärte Trevor, und Edmund lachte bedächtig.
                „Ich habe keine Ahnung, was du meinst“, dementierte der Händlersohn und presste seine Antwort zwischen seinen Zähnen empor.
    Trevor sah zunächst Edmund, dann Nelli verwundert an. Hätte das ein Geheimnis bleiben sollen?
    Upsi?
                „Naja, jedenfalls gehe ich etwas an den Strand südlich von hier. Wenn ihr mich sucht, wisst ihr, wo ihr mich findet. Ich darf selbst nicht außer Form geraten.“
                „Aber übertreib es nicht. Deine Hände sind noch empfindlich …“, warnte ihn Nelli. „Nicht, dass ich dich danach wieder zusammenflicken darf.“
                „Aye!“
    Trevor erhob und streckte sich. Er überließ es Edmund, ob er ihm folgen und lernen wollte oder nicht. Dem Formwandler war klar, dass Edmund nicht gänzlich ungeübt war, immerhin hatte dieser fechten gelernt. Das war ein guter Ansatz.
    Trevor würde sich beim Training darauf konzentrieren, ihm zu zeigen, wie er Bewegungen seines Gegners dezent voraussehen konnte, um entsprechend reagieren zu können. Meist verriet die Körperhaltung, wohin ein Hieb oder Schlag hingehen würde. Die Bewegungen der Schultern oder des gesamten Oberkörpers. Das hatte Trevor schmerzlich in der Praxis erfahren müssen. Er wollte Edmund ein wenig unter die Arme greifen, bevor ihm ein Messer in der Schulter steckte. Wobei er zugeben musste, dass Edmund ob seiner Statur sehr gut Schmerzen aushalten konnte – besser gar als Trevor selbst. Viel Einstecken zu können, konnte in einem Kampf ebenso hilfreich sein, wie austeilen zu können.

    Nachdem Trevor am Strand angekommen war, fing er an, Klimmzüge zu machen, was er aber schnell aufgab. Er spürte jede Faser des Holzes an seinen Händen; das war nicht angenehm.
    Wie zarte Mädchenhände, großartig …
    Doch kaum widmete er sich dem einfachen Gewichte heben, da erschien am anderen Ende des Strandes eine Silhouette.

    Trevor hatte Oma vom Schiff gehoben. In ihren Händen hielt sie dabei allerhand Gegenstände. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum sie zuvor mit ihrem Gesicht an seiner Brust entlang gelitten war, bis ihre Füße sicheren Boden ertasten konnten.
    Knapp gefolgt von Edmund, der fiepend auf einer Kiste stand. Ihm wiederum folgten zwei andere Ratten.
    Trevor brauchte nicht lange, um ihn zu erkennen. In erster Linie an seinem wütenden Gesichtsausdruck und weiter daran, dass Edmund nie lange allein blieb. Nicht mal als Ratte, das war bewundernswert.
    Sie berichteten davon, was sie gefunden hatten. Nun ja, Nelli tat das. Und verwies darauf, dass sie schnellstmöglich auf ihr Schiff zurückkehren sollten.
    „Tut mir leid, meine Damen, den Herrn muss ich jetzt mitnehmen“, sprach Trevor zu den beiden Ratten, die dabei waren, sich an Edmund zu schmiegen. Dieser schien gar nicht so wütend darüber, dass Trevor ihn sich wieder auf die Schulter setzte. Aber Rattendamen waren sicherlich auch nicht gänzlich der Geschmack des Händlersohnes.
    Edmund schien förmlich tief durchzuatmen.
    Zusammen begaben sie sich zurück auf ihr Schiff und wollten alles weitere besprechen. Es würde wahrscheinlich nicht lange dauern, bis einer das Fehlen des Buches und der Kiste samt Inhalt bemerken würde.
    Trevor fragte Nelli, ob er ihr die Ausbeute abnehmen sollte, aber sie musterte ihn und verneinte dann.
    Dachte sie etwa, er würde es beschädigen oder stehlen?
    Sie lächelte schief und lief dann weiter.
    Seltsam …
    Zurück auf der Revenge wurden sie bereits von Esther empfangen. „Und?“, wollte sie wissen. „Wie ist es gelaufen?“
                    „Soweit ganz gut, denke ich“, antwortete Trevor und schaute den Rest an. „Wir haben nur mehr, als wir gedacht hätten.“
                    „Es hat sich nun mal so ergeben“, meinte Nelli und zuckte mit ihren Schultern. „Edmund und ich waren uns einig, dass wir es mitnehmen.“
    Die Ratte fiepte. Aber rasch wurde ein Gemurmel daraus. Es war wie ein ploppendes Geräusch, als plötzlich Edmund wieder vor ihnen stand. Kurz darauf „ploppte“ auch wieder die Gestalt von Oma auf.
                    „Der Zauber ist wohl vorbei“, stellte Esther fest, während Edmund tief durchatmete.
                    „Bei allen Weltmeeren … So einen Scheiß mache ich nie wieder mit. Von wegen alles ganz einfach …“
                    „Ganz ruhig, Edmund“, versuchte Trevor, ihn zu beruhigen. „Hat doch alles geklappt.“
                    „Super geklappt, ja, großartig ... Dem nächsten, der sagt, es kann nichts schiefgehen, ehe alles schiefgeht, trete ich in den Arsch!“
    Trevor verkniff sich ein Grinsen. Er wusste, das war der Situation nicht förderlich. Es konnte immerhin niemand etwas dafür, dass er zu einer geworden war. Naja, außer er selbst.
    „Und? Haben wir alles?“, fuhr Esther unbehindert fort, und Oma nickte.
    „Das Fernrohr haben wir wahrscheinlich zurück, es ist sicherlich in der Kiste, aber da gab es mehr zu holen.“
    Esther riss ihre Augen auf. „Ihr habt mehr gestohlen?“
    Edmund grinste. „So er, so wir!“
    Esther schien davon gar nicht begeistert. Dennoch musterte sie die Ausbeute. Sie begutachtete das Buch, danach die Kiste. Dabei murmelte sie etwas Unverständliches.
    „Auf der Kiste liegt ein Zauber …“, sprach Esther und behielt sie in der Hand. „Wird nicht einfach, sie zu öffnen.“
    „Das bekommen wir nach allem auch noch hin. Immerhin sind zwei Magier an Bord“, entgegnete Trevor.
    „Ansonsten breche ich sie einfach auf“, drohte hingegen Edmund.
    „Vielleicht finden wir dazu etwas im Buch.“ Esther schien zuversichtlich. „Hier, halte mal.“ Sie reichte Trevor die Kiste.
    Oma wandte noch ein „Tu das nicht!“ ein, aber es war zu spät.
    Trevor nahm die Kiste und es war, als durchzog ihn ein Gewitter. „Schöne … Kiste“, brachte er nur den abgehakten Satz hervor, dem ein paar Adjektive fehlten. Er konnte sie weder loslassen noch fallenlassen. Es brannte. Ihn durchströmten Stromschläge. „Nehmt … die Kiste“, stotterte er weiter, während er das verbrannte Fleisch seiner Hände riechen konnte, was ihn auf die Knie zwang.

    Was war wohl eine bessere Tarnung, als sich als Ratte an Bord des Schiffes zu schleichen? Sicherlich nichts.
    Trevor war sich sicher, dass Edmund sich in seinem kurzzeitigen Körper sehr unwohl fühlen musste, aber er konnte sich das Lachen und das Grinsen einfach nicht verkneifen.
    Aber nun war Oma an der Reihe. Auch sie trank das Gebräu auf einem Schluck leer und kniff die Augen zu. Anscheinend schmeckte es nicht gerade nach Rosenwasser. Kurz darauf verwandelte sich Oma in einen unscheinbaren Seemann. Mit unscheinbar meinte Trevor, dass er weder sonderlich groß noch kräftig war. Eben solch einen Seemann, der leicht zu übersehen war. Sein Gesicht war übersät von Pockennarben, was das gesamte Bild etwas abrundete.
    Jedoch schaute sie danach resigniert in ihren Handspiegel. „Naja, etwas hübscher hätte er sein können“, meinte Nelli. „Aber nach Edmunds Verwandlung bin ich froh, dass ich kein Tintenfisch bin.“
    Wieder erklang Gelächter, und Trevor nickte Agatha zu, die seinen Blick erwiderte. „Alles klar“, stimmte die Nekromantin zu und verschwand gleichauf durch die Tür der Küche.
    „Was ist?“, wollte Esther wissen.
    „Ich habe ihr einen Auftrag gegeben. Sie ist gleich zurück“, erwiderte Trevor. Er hatte mit Agatha an Deck besprochen, dass er ihr Kleidung besorgen sollte. Denn alleine wollte er seine Freunde nicht an Bord des Schiffes gehen lassen. Zumindest nicht ohne Ablenkung. Und er brauchte nun mal keinen Trank, um seine Gestalt zu ändern.
    „Was hältst du von Agatha?“, fragte Oma ihn, kaum, dass Agatha den Raum verlassen hatte. „Von einer Nekromantin?“
    Trevor hob seine Augenbrauen. „Ich finde sie nützlich“, antwortete er, und wurde von Esther unterbrochen.
    „Nekromantie ist dunkle Magie. Man sollte sie nicht benutzen dürfen“, wandte sie ein.
    Trevor musste zugeben, dass er von Magie keine Ahnung hatte. Was war gute Magie? Was war böse Magie? Er sah das etwas pragmatischer. „Ist es nicht der Magier, der den Unterschied schafft?“, hakte er bei Esther nach. So sah er es zumindest bei jeglicher Art Waffe.
    Esther zuckte mit ihren Schultern. „Schon möglich. Aber Tote für ihre Zwecke zu benutzen, kann nicht gut sein." Trevor stimmte Esther teils zu. Sonderlich ansehnlich war diese Art der Magie nicht. Zumindest nicht, wenn der Tote zuvor von einer Kiste zerquetscht worden war. „Bisher hat sie mir zumindest keinen Grund geliefert, ihr zu misstrauen. Gut, das mit dem Kerl in der Schubkarre war äußerst makaber, aber … sie hat versucht, zu helfen.“
    Ein leises Quietschen erklang von seiner Schulter. Trevor konnte aber nicht sagen, ob Edmund ihm zustimmte oder widersprach. Trevor war auch nicht der Energieentzug entgangen, der dazu nötig gewesen war, den Toten zum Leben zu erwecken, aber Agatha hatte dafür niemanden von ihnen getötet. Eine Warnung hätte sie allerdings aussprechen können, das war wahr. „Wir alle haben wahrscheinlich schon Dinge getan, auf die wir nicht stolz sind. Allen voran ich. Ich bin gewillt, ihr den gleichen Vertrauensvorschuss zu geben, den ich bekommen habe.“
    Er fragte sich manchmal tatsächlich, warum sie sich auf ihn verließen und ihm trauten. Er wüsste nicht, ob er das an ihrer Stelle getan hätte. Zumindest am Anfang.
    „Ich vertraue dir, Trevor“, sagte Esther. „Wenn du irgendwann der Meinung bist, man könnte der Nekromantin trauen, dann werde ich dir glauben.“
    „Dann hoffe ich mal, dass ich dann nicht daneben liege.“
    „Hoffen wir das nicht immer?“, stimmte Nelli zu und lachte.
    Es dauerte nicht lange, da kehrte Agatha zurück und hielt ein dunkelrotes Kleid mit schwarzen Rüschen in der Hand. „Ist das in Ordnung?“, wollte sie von Trevor wissen, und dieser nickte.
    „Was hast du vor?“, fragte Esther und musterte ihn.
    „Ich werde die Seemänner an Deck ablenken, damit Edmund und Oma ungesehen unter Deck kommen. Zudem fühle ich mich wohler, wenn sie eine … Rückversicherung haben.“
    „Und was machen Agatha und ich derweil?“
    „Ihr bewacht unser Schiff“
    , kam unisono von Trevor, Nelli und anscheinend von Edmund zurück. Allerdings erklang seinerseits nur wieder ein Fiepen.
    Trevor nahm das Kleid und verschwand kurz in seine Unterkunft. Er nahm die Gestalt einer hübschen jungen Frau an. Einer jungen Frau, die ihm aus dem warmen Süden im Gedächtnis geblieben war. Haut wie Porzellan, und Haar, dass so schwarz wie der Nachthimmel gewesen war. Sie hatte in einer Kutsche gesessen, während er und die Crew Vorräte auf Johnnys Schiff geladen hatten. Sie war sicherlich keine Hafendirne gewesen, aber das spielte hierbei jetzt keine Rolle. Dann zog er das gestohlene Kleid an. Agatha sollte einfach etwas von einer Wäscheleine am Bordell entwenden, was sie anscheinend auch getan hatte. Danach kehrte er zu den anderen zurück.
    Gleichauf kam ein Pfeifen von Omas Seite. „Das kann sich sehen lassen …“
    „Interessante Wahl …“
    , merkte Esther an.
    „Was lenkt eine Crew mehr ab als eine Frau in hübschen Klamotten?“, meinte Trevor mit melodischer Stimme.
    Edmund fiepte wieder, aber er musste Trevor eindeutig später erzählen, was er alles gesagt hatte.
    „Ich finde solch eine Verwandlung immer wieder faszinierend“, warf Agatha ein und musterte Trevor wiederholt. „Selbst die Stimme wird übernommen.“
    Trevor grinste.
    „Wir sollten los“, unterbrach Oma mit eindeutig tieferer Stimme die Gruppe. „Sonst lässt die Magie der Tränke noch nach, bevor wir von unserem Schiff kommen.“
    Da hatte sie recht. Trevor ergriff Edmund und stopfte ihn sich in das überaus üppige Dekolletee.
    Zuerst wehrte sich Edmund lautstark, aber kaum saß er an Ort und Stelle, suchte er sich einen bequemen Platz.
    Trevor lachte und kicherte, weil das Fell ihn kitzelte. „Jetzt … hör auf! So kann ich nicht arbeiten!“, schimpfte er. Als er sich umsah, bedachten ihn Esther, Nelli und Agatha mit skeptischen Blicken. „Was?“, wollte Trevor wissen. „Ich kann ihn wohl kaum wie einen hässlichen Hund hinter uns herlaufen lassen. Und für eine Stola ist er etwas zu kurz geraten.“
    „Na sicher …“, murmelte Nelli und ging zur Tür. „Wir sind bald zurück!“
    Agatha und Esther wünschten ihnen viel Erfolg, während sie den Raum und danach das Schiff verließen.

    Trevor bat Oma, einen kurzen Moment hinter einer Kiste zu warten, bis die drei Crewmitglieder, die an Bord der Telara herumspazierten, von ihm abgelenkt genug waren.
    Trevor spazierte auf das Schiff, während es Edmund anscheinend etwas unbequem wurde.
    Das kleine Fellknäul drehte und wandte sich in Trevors Ausschnitt, sodass der Formwandler einen spitzen Schrei losließ, der umgehend die Aufmerksamkeit auf sich zog. „Jetzt halt still, Edmund, oder ich werfe dich über die Rehling!“, flüsterte er.
    Abschätzend wurde er von den drei alten Gestalten gemustert, die augenscheinlich das Schiff bewachen sollten.
    Hätten sie auch gleich ein paar Urnen aufstellen können …
    „Juhuu …“, rief Trevor den drei Männern gedehnt zu. „Könnt ihr mir sagen, wo ich ein paar stattliche Kerle für mein Abendgeschäft auftreiben kann?“
    Die drei Seeleichen musterten sich gegenseitig. „Na, hier!“, meldete sich einer von ihnen, befeuchtete seine Handfläche mit etwas Spucke und fuhr sich durch das tote Wiesel auf seinem Kopf.
    Stattlich, nicht bestattlich …
    Trevor kicherte, tat so, als würde er sich umsehen und versuchte, Edmund aus dem Kleid zu ziehen. Dieser wehrte sich geradezu dagegen und verkroch sich immer weiter ins Innere des Korsetts. „Einen Moment, ihr alten ... Säcke ... Herren …“, sprach Trevor an die Mannschaft gewandt. „Ich muss mich nur etwas herrichten …“ Er fischte weiter nach der Ratte. „Brüste, was?! Jetzt hab ich dich! … Ehm, ich meine, wenn man nicht aufpasst, wo sie hinwandern, entwickeln sie ihr Eigenleben … Schwubb sind sie weg!“ Er zog Edmund aus seinem Ausschnitt. So unauffällig wie möglich, setzte er seinen Reisegast während einer Drehung auf einem Holzfass ab und wandte sich danach wieder den Herren zu.
    „Bei den üppigen Dingern …“, antwortete einer der Männer lachend und entblößte so ein beinahe zahnloses Gebiss.
    Lach nur, du Spaten!
    „Ein tolles Schiff, wirklich“, lenkte Trevor vom Thema ab. „Ich würde ja auch gern mal zur See fahren.“
    „Frauen bringen auf See Pech!“
    , sagte ein anderer der drei Herren und grinste frech, während er sich seine Hose am Gürtel richtete.
    Die drei versammelten sich um Trevor herum und schienen abgelenkt genug, sodass Oma auf das Schiff schleichen konnte. Diese nutzte die Gelegenheit und die Schatten aus, um ins Innere der Telara zu gelangen. Wiederum das Zeichen für ihn, sich aus dem Staub zu machen. „Ach ja, schon soo spät“, gab er gähnend von sich. „Ich sollte nach Hause.“
    „Nicht so schnell, meine Hübsche. Hast du nicht gesagt, du suchst jemanden für das Nachtgeschäft?“, erwiderte der dickste und kahlste von den drei Männern. „Wir waren lange auf See!“
    „Tja, aber drei Kerle schaffe ich heute wirklich nicht mehr. Meine Schicht ist gleich um! Wäre doch ungerecht für diejenigen, die nicht drankommen.“
    „Das bekommen wir schon geregelt“
    , sagte der mit der windschnittigen Katze auf dem Kopf.
    „Nee, danke!“
    „Jetzt hab dich nicht so“, bedrängte ihn der Dicke. „Du bist doch hier an Bord gekommen ..."
    "Aber da wusste ich noch nicht, dass ihr alle so ... alt und muffig seid."
    "Wir sind waschechte Seemänner!"
    , behauptete das Flötengebiss.
    "Waschecht? Das riecht anders!“, konterte Trevor. „Habt ihr nicht was Jüngeres im Angebot? Gut gebaut mit vollständigem Gebiss? Vielleicht einen mit Mutterkomplex, der gerne kuschelt?"
    „Sowas gibt es hier nicht!“, antwortete der Dicke.
    „Dann bin ich wohl auf dem falschen Schiff!“ Trevor ging einen Schritt zurück, aber der Dicke hielt ihn am Arm fest. Die anderen beiden stellten sich um den Formwandler herum.
    „Das ist aber nicht nett, dass du jetzt einfach gehen möchtest“, sprach der beinahe Zahnlose.
    „Es ist nicht nett, dass ihr versucht, eine Frau festzuhalten!“, ergänzte Trevor und befreite seinen Arm durch einen Ruck. „Die Dame hat nämlich ‚Nein‘ gesagt.“
    Alle drei lachten, und Trevor verfinsterte seinen Blick. Diese Herren brauchten wohl etwas Nachhilfe zum Thema Manieren. Er sah sie sich an und überlegte, ob er weiter diskutieren sollte oder nicht. Trevor kam zum Schluss, dass das wohl wenig bringen würde. Sie sahen nur eine Frau vor sich, und in diesem Moment war er froh, dass er keine der anderen für diese Aufgabe abgestellt hatte. „Na schön …“, gab Trevor gespielt nach. „Hier sind meine Dienste!“ Er ergriff den Dicken und den Zahnlosen am Kopf und schlug beide so fest gegeneinander, dass beide regungslos zu Boden sackten, dann wandte er sich der Fusselbirne zu, die völlig perplex dastand. „Wenn eine Frau ‚Nein‘ sagt, dann heißt das auch nein!“, fügte der Formwandler hinzu und holte kräftig aus. Er schlug dem Seemann so kräftig ins Gesicht, dass dieser sich rücklings überschlug und liegenblieb.
    Das ist jetzt nicht ganz nach Plan verlaufen, aber …
    Trevor sah sich die drei Gestalten an. Das sah schon sehr nach einem Überfall aus und würde sicherlich Skepsis säen. Er musste sich was einfallen lassen, dass vorrangig für Verwirrung sorgte. Und da begann er zu grinsen. Kurzerhand zog er seine Kleidung unter dem Rock hervor und schaute sich um. Niemand war zu sehen, weshalb sich Trevor umzog und zurückverwandelte. Dem Seemann mit dem krepierten Wiesel auf dem Kopf zog er das Kleid an, positionierte ihn sitzend an der Reling und platzierte die beiden anderen Kerle so, dass sie an seiner entblößten Brust lehnten. Die Flasche Rum, die ohnehin an Deck gestanden hatte, stellte er neben sie. Zwei Bretter in den Händen vermittelte das Bild, dass das Besäufnis eskaliert war. Das sollten sie erstmal ihrem Kapitän erklären. Zudem würde es sie lehren, nicht so schnell noch einmal eine Frau zu bedrängen. Das hoffte Trevor zumindest. Nach einem weiteren Blick in alle Richtungen, machte sich der Formwandler davon und wartete in sicherer Entfernung darauf, dass Edmund und Nelli von ihrem Auftrag zurückkehrten.

    Trevor legte in seinem Zimmer die Rüstung ab und fuhr sich über die Narben, die er von der Meuterei zurückbehalten hatte. Noch nie hatte er dem Tod so direkt ins Auge gesehen, was bei seinem vergangenen Leben an ein Wunder grenzte. Dieser Zustand machte ihn demütig, aber auch wütend. Über fünfzehn Jahre hatte er auf See verbracht, hatte gekämpft, geraubt und geplündert. Er hatte sich immer mit der Frage beschäftigt, ob er der Böse in den Geschichten war, die man sich darüber erzählen würde. Sein Vater hatte ihm erklärt, damals nicht wissend, dass Johnny sein Vater war, dass sie von den reichen Leuten nahmen, um es den Ärmeren zu geben. Zum größten Teil meinte Johnny sich damit selbst, aber das tat nichts mehr zur Sache. Viele Piraten hatten einmal für die reichen Herrschaften gekämpft, bevor sie von jenen verraten und ohne Sold zurückgelassen wurden. Jetzt befand sich Trevor auf der anderen Seite der Medaille. Er wollte mit seinen Freunden zurückholen, was man Edmund gestohlen hatte. Das ging aber nicht mit seinem jetzigen Aussehen. Er konnte keinen Matrosen beschatten, wenn er aussah wie ein düsterer Rächer. Deshalb nahm er die Kleidung zur Hand, die er auf seinem Bett ausgebreitet hatte. Ein abgetragenes Hemd, an dem die obersten Knöpfe schon abgefallen waren, eine schmutzige Leinenhose und Lederstiefel, die ebenso bessere Zeiten gesehen hatten. Die Kleidung hing weit an seinem Körper herunter, aber Trevor hatte nicht vor, als er selbst zu gehen. Er wollte es vermeiden, am Hafen die Aufmerksamkeit unzähliger Dirnen auf sich zu ziehen, denn anscheinend sah er besser aus, als er immer gedacht hatte. Zumindest hatte der Tag ihm etwas in diese Richtung angedeutet. Er nahm die andere ranzige Kleidung zur Hand, die er zurechtgelegt hatte und begab sich zu Esthers Zimmer. Mit ihr hatte er bereits das Vorgehen besprochen und sie wartete vermutlich auf ihn. Er klopfte und wartete, bis sie ihm antwortete.
    Esther bat ihn hinein und war gerade dabei sich ihre Haare hochzustecken, während Trevor ihr die Kleidung auf ihr Bett legte. „Hier … damit solltest du genauso wenig auffallen. Wenn dich jemand fragt, bist du noch ein Grünschnabel und das erste Mal auf See.“
    Esther musterte argwöhnisch die Kleidung. „Das riecht nach totem Tier. Aber gut, ich befolge deinen Rat“, erwiderte sie grinsend, und Trevor nickte.
    „Meine Kleidung riecht auch nicht wie der Morgentau, aber das wird im Hafen nicht auffallen. Ganz im Gegenteil. Wenn wir zu sauber sind, werden die Leute dort noch misstrauisch.“ Dann musterte er Esther und legte Verbandszeug neben die Kleidung. „Und vergiss nicht, was gegen die Zwillinge zu machen“, fügte er hinzu und umkreiste seinen Brustbereich mit seinem Zeigefinger. Natürlich hätte Esther auch den Zaubertrank von Oma nehmen können, aber Trevor wollte nicht, dass Esthers magische Fähigkeiten beeinträchtigt wurden. Wer wusste schon, was solch eine Verwandlung bei ihr auslösen würde. Um als verdreckter Jüngling durchzugehen, brauchte es nicht viel.
    Esther schaute an sich hinunter, dann wieder Trevor an und nickte. „Wenn es unbedingt sein muss“, antwortete sie.
    Wenn es sein musste? Ja, das musste sein! Wie stellte sich Esther ihre Tarnung denn vor? Es musste sie in der Hafengegend nur jemand anrempeln und dann …
    „Es muss sein!“, erwiderte Trevor knapp und verließ das Zimmer, um davor zu warten.
    Es dauerte einige Zeit, bis Esther aus dem Zimmer trat. Zeit, die Trevor damit verbrachte, sich alle möglichen Szenarien in seinem Kopf zurecht zu spinnen, die auf sie warten könnten.
    Nachdem die Tür aufgegangen war, musterte er Esther.
    „Meinst du, das genügt?", fragte sie.
    „Muss es!“, meinte Trevor. Wie eine Adlige sah sie nicht mehr aus, aber er hätte lügen müssen, wenn er behaupten müsste, sie sähe wie ein Kerl aus. Deswegen betrachtete er den Eimer mit Dreck, den sie zusammengekehrt hatten. Kurzerhand fasste er in den Eimer und schmierte Esther den Staub und Dreck ins Gesicht.
    Esther beherrschte sich sichtbar, aber Trevor musste ihre weiblichen Züge verstecken.
    „Vielleicht sollte ich gleich noch in eine Grube voll Matsch springen?“, fragte sie, was Trevor trocken verneinte. Das sei genauso übertrieben, wie zu sauber herumzuspazieren.
    Durch einen Griff an die Seite, machte Esther Trevor auf ihren Zauberstab aufmerksam. „Man weiß ja nie, was passiert.“
    Trevor nickte. Er hoffte, dass sie sich so lange über Wasser mit ihrer Tarnung halten konnten, dass eine Auseinandersetzung mit Magie nicht umgehend erforderlich werden würde. Ausgerechnet Esther mitzunehmen, widerstrebte ihm zutiefst. Nicht, weil er dachte, dass es zu gefährlich werden würde – gefährlich war das ganze Unterfangen -, aber sie würde gleich Dinge zu sehen bekommen, die sie so sicherlich noch nicht gesehen hatte. Die Männer am Hafen zeigten sich nicht gerade von ihrer erhabensten Seite. Das war früher mit ein Grund gewesen, warum Trevor lieber an Bord des Schiffes geblieben ist, anstatt seinen Landgang zu genießen. Er konnte mit dem Benehmen vieler Matrosen und Piraten nichts anfangen. Naja, außer ihnen gehörig die Visage umzustrukturieren.
    Trevor rief durch das Schiff, dass Esther und er nun gehen würden, und danach machten beide sich auf den Weg zur Hafenschenke. Trevor war sich sicher, dass sie ihr Ziel dort antreffen würden. Und wenn nicht, konnten sie diesen Ort zumindest schon einmal ausschließen. Es war düster und nass auf dem Weg zur Schenke. Eine kühle Brise fegte über den Hafen von Seiten des Meeres hinweg. Hinter der Ladung eines Schiffes, die zuvor gelöscht worden war, blieb Trevor stehen und nahm die Gestalt eines bärtigen großen Mannes an, der eine üppige Plauze vor sich hertrug. Es war die Gestalt eines Mannes aus seiner Heimat, die er gut in Erinnerung hatte. Er war der Dorfschmied gewesen, und wenn es zu einer Auseinandersetzung kam, würde keiner so schnell die Kraft des Mannes hinterfragen. Auch war sich Trevor sicher, dass diese Gestalt unter den Männern in dieser Region vollkommen unbekannt sein sollte. Zudem erklärte sich nun Trevors etwas zu weite Kleidung.
    Esther starrte ihn ungläubig an.
    „Was?“, fragte Trevor mit tiefer, bäriger Stimme. „Ich habe es etwas leichter, meine Gestalt zu ändern.“
    „Ich hatte mich schon gefragt, wie das in der Umsetzung aussieht“, erklärte sie trocken, was wohl auf den Vorgang seiner Verwandlung bezogen war.
    „Ich wachse oder schrumpfe zu einer anderen Gestalt“, antwortete Trevor schulterzuckend und lenkte dann seinen Blick in die Richtung, in die sie mussten.
    Die laute Musik und das Gegröle fanden bereits ihren Weg zu ihnen. Laute Stimmen überschlugen sich, sodass es schwer werden würde, sein eigenes Wort in der Schenke zu verstehen.
    „Dann wollen wir mal …“, meinte Esther und ging voraus.
    Trevor holte sie ein und nahm sie vor dem Eingang beiseite. „Halte dich an mich“, warnte er sie. „Keine Alleingänge, hast du mich verstanden?“
    Esther musterte Trevor. „Verstanden. Dann musst du mir versprechen, auch keine Alleingänge zu unternehmen.“
    Trevor und Alleingänge? Sicherlich würde er Esther nicht irgendwo stehenlassen. Die Vermutung lag nahe, dass sie danach nie wieder auftauchen würde. Deshalb nickte er nur bestätigend, ehe er die Tür zur Schenke öffnete.
    Im Inneren zeigte sich ein ihm gewohntes Bild. Männer sangen bei den Seemannsliedern mit, Dirnen mit entblößten Brüsten saßen auf den Schößen der Männer oder wurden in ein Zimmer in der oberen Etage geführt. Es roch nach Schweiß, Bier und nach anderen Dingen, die Trevor lieber nicht beim Namen nennen wollte. Im Gedränge der Menschen ging er sicher, dass Esther nah hinter ihm blieb, bis sie sich den Weg zur Theke gebahnt hatten. An dieser Stelle kamen alle vorbei, die etwas zu trinken haben wollten. Zu ihrem Glück befanden sich zwei freie Stühle genau vor ihnen. Trevor schob Esther vor den einen, damit sie sich setzen konnte. Ihr war der Schreck über die Zustände in diesem Laden deutlich anzusehen, weshalb Trevor erstmal zwei Bier bestellte, bevor er begann, sich im Raum umzusehen. Das schaumlose Bier kam rasch, und Esther nippte daran. „Es ist mir unbegreiflich, wie ihr diese Plörre trinken könnt.“ Sie verzog angeekelt das Gesicht. „Siehst du schon was? Ich spüre seine Präsenz ganz deutlich. Er muss in der Nähe sein.“
    Noch konnte Trevor ihn nicht sehen, aber vielleicht war er auch gar nicht im Erdgeschoss. „Nach einem halben Jahr auf See schmeckt alles gut, was kein gepökeltes Trockenfleisch ist oder aus Zitronen besteht“, antwortete er deshalb.
    „Mir hat die Zeit auf der Insel gereicht. Obwohl ich überrascht bin, wie viele Variationen es bei der Zubereitung von Fisch gibt“, antwortete sie lachend.
    Trevor nickte geistesabwesend. „Das ist trotzdem etwas anderes“, erwiderte Trevor. „Auf der Insel hatten wir Fisch, Obst und frisches Trinkwasser. Das ist für eine Mannschaft anders. Mal abgesehen davon, dass Alkohol auf See verboten ist.“
    Kann ich verstehen. Betrunkene Seemänner braucht niemand.“ Sie sah hinter sich. „Außerdem ist die Gefahr, dass sie über Bord gehen, dann nochmal größer.“
    „Oder sich gegenseitig über Bord werfen …“, nuschelte Trevor in seinen Bart und trank sein Bier leer. Wie es aussah, befand sich der Seemann tatsächlich in den oberen Räumen. Zumindest war er im Schankraum nicht zu entdecken. Das hieß, dass sie warten mussten.
    Für einen kurzen Moment dachte Trevor, dass sie tatsächlich alles ohne große Ereignisse hinter sich bringen konnten, aber kaum hatte er sich getraut, diesen Gedanken zu fassen, tippte ihm jemand auf die Schulter. Nachdem sich Trevor umgedreht hatte, stand ein Mann mittleren Alters hinter ihm. Ein rotblonder ungepflegter Bart zierte dessen Gesicht, während sein rechtes weißes Auge ihn anstarrte, das linke blaue Auge ebenso, aber nur halb so bedrohlich wie das erblindete. „Dein Kumpel hockt auf meinem Stuhl!“, presste der Fremde aus zusammengebissenen Zähnen hervor.
    „Hier hast du einen anderen“, meinte Trevor schlichtend und schob den Stuhl, der noch vor ihm stand, hinter sich.
    „Den will ich nicht! Ich will meinen Stuhl!“, entgegnete der Blonde.
    Trevor sah zu Esther, die mit wechselnden Blicken versuchte, die Situation einzuschätzen. Sie rutschte auf dem begehrten Stuhl herum, den Trevor schließlich samt ihrer zarten Person etwas beiseiteschob.
    „Ich wusste gar nicht, dass dein Name hier draufsteht“, sprach Esther ungewohnt provokant an den Blonden gewandt, weshalb Trevor mit dem Kopf schüttelte und seinen Zeigefinger an seine Lippen hob.
    „So klug, um auf solch ein Argument zu antworten, ist er nicht.“ Dann wischte Trevor sich seine Hände an seinem Hemd ab, die feucht vom fahlen Bier waren.
    „Ey, was soll‘n das heißen?“, krakeelte der Seemann vor Trevor und tat einen Schritt auf ihn und Esther zu. Er schubste Trevor gegen seinen dicken Bauch, der dadurch mit dem Rücken leicht gegen den Tresen stieß. Gerade, als der Blonde Esther vom Stuhl helfen wollte, nahm Trevor ihm am langen Schopf, knallte sein Gesicht auf den Tresen, hob ihn drauf und schob ihn der Länge nach darüber, bis er am anderen Ende bewusstlos hinunterfiel. Einige Seemänner schafften es, ihre Krüge rechtzeitig hochzuheben, dem Rest, der dies verpasst hatte, spendierte Trevor ein neues Bier. Zum Dank erhoben sie ihre Krüge und widmeten sich danach einfach wieder ihren Gesprächen oder den Frauen.
    Weiber quatschen. Wir quatschen nicht!“, erklärte Trevor Esther mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht, während andere Kerle im Hintergrund ihre zuvor gemachten Einsätze tauschten.
    Esther grinste und hob prostend ihren Krug.
    Trevor erwiderte dies und atmete schwer durch. Das dauerte ihm alles zu lange. Wie lange konnte der Seemann schon brauchen? Vermutlich war er eingeschlafen, während ihm die Dirne die Taschen ausräumte. Er schwor sich, nur noch das dritte Bier abzuwarten, bis er nach oben gehen würde, um ihn aus dem von Krätze verseuchten Zimmer zu ziehen.
    Esther starrte nach einer Weile ins Leere.
    Kurz dachte Trevor, dass das am dritten Bier lag, aber dann wandte sie sich ihm zu.
    „Er kommt näher. Sehr schnell“, sagte sie, und Trevor schaute zur Treppe.
    Der gesuchte Seemann stolperte mehr die Treppen hinunter, als dass er geradeaus lief. Der Kerl hatte gut einen im Tee, sodass ein Ergreifen mehr als einfach werden sollte. Sie sahen ihn zum Ausgang gehen, weshalb sich beide auf den gleichen Weg machten.
    „Wollt ihr beiden schon gehen?“, fragte eine üppig ausgestattete Dame, die sich beiden, wie eine alte ramponierte Fregatte, in den Weg schob. „Die Nacht ist noch jung …“
    Du aber nicht!
    Die schwarz-rote Korsage verdeckte kaum, was die Dirne anzubieten hatte, darunter auch einen roten schuppigen Ausschlag. Die Frisur, wenn man das Vogelnest als solches bezeichnen wollte, hatte an dem Abend schon die Hände einiger Seeleute zu spüren bekommen. Ganz zu schweigen von dem Lippenstift, der überall in ihrem Gesicht zu finden war, nur nicht mehr dort, wo er eigentlich hingehörte. Das weiße Puder ließ sie zudem wie eine Hafenleiche aussehen. Wie eine, die seit Tagen schon vor dem Steg herumtrieb und von den Möwen angefressen worden war. Wehmütig dachte Trevor an den Goldenen Pfau zurück. Mann konnte sagen, was Mann wollte, aber dort waren die Frauen schöner anzusehen gewesen. Was vermutlich auch daran lag, dass nicht alle von ihnen dem ältesten Gewerbe nachgegangen waren, sondern sich darunter auch reiche Händlertöchter befunden hatten.
    „Kein Interesse, nein“, antwortete Trevor und schob sich an der Dirne vorbei, während Esther es dahingehend wegen ihrer Körpergröße etwas schwerer hatte.
    „Wie wäre es mit dir? Auf den alten Schiffen lernt man das Segeln …“
    Esther schob sich auch an der Dirne vorbei und schloss zu Trevor auf. „Gleich kommt mir das Bier wieder hoch …“, murmelte sie dabei.
    Eilig verließen sie die Schenke, um den Seemann zu folgen. Als sie herauskamen war er nirgends zu sehen, aber Esther ging geradewegs nach links die Anlegestellen hinunter.
    Trevor hatte nicht vor, an ihren magischen Fähigkeiten zu zweifeln und folgte ihr. Es dauerte nicht lange, da sahen sie ihn am Rande eines Stegs. Schwankend pullerte er in das Hafenbecken.
    „Warte kurz …“, flüsterte Trevor an Esther gewandt, und die beiden beobachteten ihn. Nebenan wurde gerade die Ladung eines Schiffes gelöscht. Hier konnten sie ihn nicht so einfach überwältigen, ohne die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zu ziehen. Doch gerade, als der Seemann sein Geschäft beendet hatte und sich augenscheinlich die Hose wieder zuband, ertönte ein lautes Rufen, gefolgt von einem Knarzen und Reißen. Umgehend zückte Esther ihren Zauberstab, um vermutlich das Schlimmste zu verhindern, aber da fiel schon eine große hölzerne Kiste auf den Seemann hinunter, die ihn vollständig unter sich begrub.
    „Autsch …“, gab Trevor von sich. „Vielleicht … ist er noch am Leben?“ Die große Blutlache, die sich bildete, sprach dagegen.
    „Das darf doch nicht wahr sein!“ Esther wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Was machen wir denn jetzt?“
    „Naja, wir nehmen, was wir kriegen können“
    , antwortete Trevor und zuckte mit seinen Schultern. „Vielleicht kann Oma mit dem Geist reden oder …“ Er hielt Inne. Er wusste nicht, ob Esther bereits etwas von Agatha wusste. Sie war immerhin auch eine Magierin und kannte vielleicht eine Möglichkeit, etwas aus den Leichenteilen herauszubekommen. Immerhin sprach sie auch mit einem Kater, der ganz offensichtlich ein Messer im Rücken mit sich getragen hatte. „… Vielleicht finden wir einen Weg …“
    Die Besatzung des anderen Schiffes fluchte derweil und schien nicht zu wissen, was sie jetzt tun sollte. Eine bessere Gelegenheit gab es nicht. „Komm mit“, sagte Trevor und ging auf die Leute zu. „Der arme Konrad … Beim Pissen erschlagen worden …“, rief er den Leuten lautstark zu. Mit einem stechenden Blick machte Trevor Esther auf die Schubkarre neben ihnen aufmerksam.
    Esther verstand, was er wollte, und nahm die Karre an sich. „Sowas Dummes aber auch“, rief sie den Männern zu. „Wollen wir ihm wenigstens die letzte Ehre erweisen, ehe die Möwen ihn auffressen?“
    „Und wer seid ihr beide?“, wollte einer der Seemänner wissen und musterte beide mit seinen braunen Knopfaugen.
    „Ich bin Derrick“, stellte sich Trevor vor und verwies dann auf Esther. „Und das ist Harry. Wir kennen … kannten den Kerl, den ihr gerade unter einer Kiste begraben habt. Wir haben auf ihn gewartet, während er sich erleichtern wollte.“
    Macht euch nicht die Mühe“, wandte der Kerl vor ihnen ein. „Wir schubsen ihn ins Becken.“
    „Aye, aber nicht so schnell“, wandte Trevor ein. „Ihr habt einen Matrosen eines anderen Schiffes begraben. Der Kapitän fordert sicher eine Entschädigung. Also, wenn ihr nicht wollt, dass wir zu unserem Kapitän rennen und ihm alles haarklein erzählen …“
    Esther nickte neben Trevor. „Und da wir nicht dabei zusehen wollen, wie die Möwen sich an ihm laben, nehmen wir ihn mit ... Also, was von ihm übrig ist, heißt es.“
    Die Männer tauschten Blicke aus. „Wenn ihr unbedingt wollt …“, gab der eine nach und pfiff lauthals, nachdem er die Kiste wieder mit dem Kran verbunden hatte.
    Der Seemann war nicht so platt, wie es Trevor gedacht hatte. Gut, er war teils aus seiner Kleidung herausgeplatzt, aber der Kopf schien noch halbwegs intakt. Der Kiefer wackelte etwas nach, aber das sollte dann später nicht mehr sein Problem sein.
    „Äh, Harry, wir brauchen die Schubkarre, sofort!“, rief Trevor Esther zu.
    Esther schob vorsichtig und mit Abstand die Schubkarre unter die Kiste, von jener der Seemann schmatzend hinunterfiel. „Das war es … schönen Abend noch“, verabschiedete sich Trevor vom Rest, nahm die Schubkarre und bedeutete Esther, ihm zu folgen.
    Kaum waren sie hinter anderer Ladung verschwunden, brach Esther zur Seite aus und übergab sich hinter ein paar Kisten. „Siehst du, dafür braucht es nicht mal mehr die Dirne … ein paar Überreste reichen.“
    Esther kam zurück und wischte sich mit ihrem Ärmel über den Mund. „Ein paar Überreste hat mir gefallen. Der Kerl sieht aus wie durch einen Fleischwolf gedreht. Ich hoffe, Nelli kann wenigstens etwas damit anfangen.“
    „Das werden wir herausfinden“
    , sagte Trevor und lief weiter.
    Nachdem sie bei der Revenge angekommen waren, wurden sie von ihrer Crew begrüßt.
    „Wo ist der Kerl?“, forderte Edmund gleichauf zu wissen und sah sich um.
    Nelli räusperte sich und verwies stumm auf die Schubkarre, bevor sie einen Seufzer von sich gab. „Junge, du solltest ihn am Leben lassen“, sprach sie belustigt.
    „Was?“, hakte Trevor nach. „Das war ich nicht!“
    „Er war es wirklich nicht“, bestätigte Esther. „Der Seemann hatte sich erleichtert und dann ist … eine Kiste auf ihn gefallen.“
    „Die Trevor geworfen hat“, fügte Edmund hinzu und unterdrückte ein Lachen.
    „Nein“, widersprach Trevor vehement. „Ich hätte sicherlich eine werfen können, aber sie ist vom Kran gebrochen.“
    „Und was sollen wir mit dem Seemannsbrei?“, fragte Nelli.
    Hinter ihr meldete sich Agatha. „Vielleicht kann ich helfen …“
    „Wenn du nicht verdammt gut im Puzzeln bist, sehe ich schwarz“, erwiderte Edmund und stemmte erwartungsvoll seine Arme in die Hüfte.

    Trevor hatte Nellis Einkäufe mit ihr zusammen verstaut.
    Nun sah sie Trevor erwartungsvoll an. „Willst du dir nicht auch etwas gönnen, mein Lieber?“
    „Ja, schon“, erwiderte der Formwandler. „Ich habe es nur nicht eilig damit.“
    Es war ungewohnt für ihn, so viel Geld zu besitzen. Er wusste nicht, für was er es genau ausgeben sollte. Ausrüstung, das war schon klar, aber, wo bekam er die in Hafennähe her? Meist waren dort nur wenig Rüstungsmeister oder Schmiede zu finden. Zumindest welche, deren Arbeit man gebrauchen konnte.
    „Sieh dich doch einfach etwas um“, bestärkte Nelli ihn.
    Nickend stimmte Trevor ihr zu, holte sich etwas Gold aus der Truhe und ging an Deck. Hier kam ihm Esther entgegen, die er, ob ihrer neuen Kleidung, erst einmal verwirrt musterte.
    „Gar nicht schlecht“, dachte er, was sie ihm sicherlich auch am Blick ansah.
    „Hast du Edmund gesehen?“, wollte sie von ihm wissen.
    „Häh, was?“, fragte Trevor und musste seinen Blick erst von ihrem neuen Aufzug lösen. Sie sah nicht mehr aus wie eine Adlige, sondern wie eine Kampfmagierin. Trotzdem konnte er nicht behaupten, dass sie durch diesen Aufzug etwas von ihrer Anmut einbüßte, denn hübsch war sie nun mal. „Eh, nein, warum?“
    „Ich habe … da ist …“, begann sie, zu stottern. „Ich habe den Seemann gesehen, der bei der Meuterei dabei war. Er hat sein Schiff gewechselt.“
    Trevor sah augenblicklich über den Hafen hinweg. „Aha …“, nuschelte er. Das war die Gelegenheit, Rache zu nehmen.
    „Wir sollten uns zusammensetzen und bereden, was wir jetzt tun werden. Vielleicht bekommen wir das Fernrohr zurück.“
    Warten … großartig.
    „Vielleicht kannst du nach ihm Ausschau halten, wenn du in die Stadt gehst?“
    Trevor seufzte. „Werde ich.“
    Gerade, als er gehen wollte, hielt Esther ihn noch einmal auf. „Und Trevor?“
    „Aye?“
    „Sieht das albern aus?“
    Sie verwies auf ihre Kleidung.
    „Nobe! Solltest du ab jetzt immer tragen!“
    Sie lächelte und wirkte fast etwas verlegen.
    Trevor machte sich auf den Weg. Die Straßen der Stadt waren außergewöhnlich gut gepflastert. Oftmals watete er durch knöchelhohen Schlamm, wenn sie früher irgendwo an Land gegangen waren. Geschäft reihte sich an Geschäft, aber eine Schmiede konnte er nirgends entdecken. Jetzt brauchte er sie mehr denn je, da Esther den Seemann entdeckt hatte. Noch einmal wollte er keine Begegnung riskieren, in der sein Oberkörper so ungeschützt war wie bei der Meuterei.
    Trevor schlenderte eine ganze Weile durch die Gassen, fragte Anwohner, wo er sich ausstatten konnte, aber diese drehten sich immer nur von ihm weg. Das konnte er verstehen. Bei einem Blick in ein Fenster wirkte er mehr wie ein Obdachloser, anstatt wie ein Seemann, der ausreichend Gold in der Tasche hatte, um sich die Dinge leisten zu können, nach denen er fragte. Vielleicht sollte er sich erst einmal um sein Äußeres kümmern, bevor er sich in neue Kleidung zwängte. Deshalb blieb er vor einem Badehaus stehen.
    Ein heißes Bad wird nicht schaden …
    Er trat ein, bezahlte großzügig den Preis und wurde urplötzlich wie ein König behandelt, nachdem sich der Besitzer der Echtheit des Goldes versichert hatte. Er bekam ein Bad für sich alleine, in das von Frauen Speisen und Wein gebracht wurde. Ihre Kleider waren gerade so lang, dass sie das Nötigste bedeckten. Es wirkte mehr, als hätten sie sich Tischdecken umgebunden. Und er bekam das Gefühl, dass sie das mit Absicht trugen. Währenddessen fragte sich Trevor ebenso, was ein Einzelbad, das mehr aus einem Schwimmbecken bestand, für einen Nutzen hatte, wenn ständig jemand eintrat. Unzählige Male boten ihm die Frauen an, ihn zu säubern, was er höflich ablehnte. Sich mit einem Schwamm abschrubben schaffte er noch allein. Er wollte doch nur etwas die Ruhe genießen …
    Nach dem Bad hatte er sich nicht einmal gänzlich angezogen, da stand schon eine weitere Frau hinter ihm, die ein Tablett in ihren Händen hielt. „Soll ich mich um Ihr Haar kümmern?“, säuselte sie.
    Trevor fuhr sich durch seinen langen Schopf. „Das könnte wahrscheinlich nicht schaden“, dachte er laut.
    Sie zeigte auf einen Stuhl, auf den er sich setzten sollte, stellte das Tablett ab und griff zu einem Kamm. „Seid Ihr ein Soldat?“, fragte sie und musterte seinen Oberkörper. Ihre Blicke blieben an den vielen Narben hängen, die seinen Körper zierten.
    „Nein“, antwortete er und dachte nach. „Eigentlich bin ich … Vielleicht so etwas in der Art.“ Ein Pirat war sicherlich nicht gern gesehen, und irgendwie war er das auch nicht mehr. Um Pirat zu sein, brauchte man ein Piratenschiff.
    Die Dame warf sich lasziv lächelnd ihren blonden Zopf über die Schulter und begab sich hinter ihn. Sie begann, sein Haar zu kämmen. Durch den rauen Wind und der harten Arbeit, hatte sie alle Hände damit zu tun, die Knoten zu entfernen, wofür er sich entschuldigte.
    Lachend kämmte die junge Frau weiter und schlug vor, das Haar an manchen Stellen etwas zu kürzen, damit Trevor es in Zukunft leichter hatte.
    Da ihm weitestgehend sein Haar egal war, meinte er, sie solle tun, was sie wollte. Es war schließlich nur so lang, da man auf See selten einen Barbier fand.
    Kaum hatte er ihr gestattet, zu tun, was sie wollte, fing sie an, seine Seiten komplett abzurasieren. Nur sein Deckhaar ließ sie stehen, dass sie mit etwas Duftöl behandelte, damit sie es engmaschig flechten konnte, ohne, dass ihr Strähnen abhandenkamen. Nachdem sie damit fertig war, stellte sie sich mit dem Rasiermesser vor ihn. „Euren Bart auch?“
    „Etwas?“

    Wieder lächelte sie und setzte sich einfach auf seinen Schoß.
    Er war schon oft rasiert worden, aber so noch nicht. Sein Gesicht wurde heiß, als er sah, dass er der jungen Frau in den Ausschnitt schauen konnte.
    Unterdessen kürzte sie den Bart und machte ihn sauber.
    „Verzeiht … Ist es nötig, dass Ihr …“, stammelte er.
    „Stört es Euch?“, wollte sie wissen.
    „Stören ist nicht das passende Wort …“, murmelte Trevor und hing mit seinem Gesicht beinahe zwischen ihren Brüsten.
    „Sondern?“
    Vorsichtig schob er die Blondine von seinem Schoß. „Ich bin mir nicht sicher, was Ihr vorhabt, aber … dazu bin ich nicht hier.“
    Der Blick der jungen Frau wechselte von verschmilzt lächelnd zu verwirrt. „Wofür nicht?“
    „Na, das hier …“, erwiderte Trevor und fuchtelte mit seinen Händen herum. „Ihr müsst nicht so tun, als würde ich Euch gefallen.“
    „So tun?“, wiederholte sie. „Warum sollte ich denn so tun?“
    „Naja, das ist ein Bad, ihr seid alle knapp bekleidet …“

    Ihr Blick erhellte sich. „Ihr haltet mich für eine Hure?“
    „Neeein!“, antwortete Trevor gedehnt und war nun selbst verwirrt. War sie das nicht?
    „Wie Ihr sagtet, ist dies hier ein Bad und kein Bordell. Wir sind knapp bekleidet, weil es in den Dampfbädern unheimlich heiß werden kann. Dicker Stoff würde außerdem sehr langsam trocknen. Alles, was ich tue, tue ich aus freien Stücken.“
    Trevor entschuldigte sich tausendfach für dieses Missverständnis, aber die junge Frau dachte gar nicht daran, sich zu beruhigen. Da sie ohnehin mit ihrem Werk fertig war, schnappte sich Trevor sein Hemd, warf ihr zur Entschuldigung eine weitere Münze hin und flüchtete aus dem Badehaus hinaus. Die Frau folgte ihm und erzählte lautstark etwas von Emanzipation und das auch Frauen Spaß gebrauchen konnten.
    Weiterhin sich entschuldigend, lief er rückwärts und stolperte in das nächste Geschäft hinein. Krachend landete er auf seinem Rücken und sah plötzlich kopfüber in ein bekanntes Gesicht. „Ihr …“, stieß Trevor wütend aus. Er erkannte den Verkäufer wieder, der ihm den Ramsch verkauft hatte. Nelli hatte etwas von Koboldmagie erwähnt, deshalb war es wahrscheinlich nicht verwunderlich, dass sein Laden auch an diesem Ort auftauchte. Aus irgendeinem Grund hatte er sich an Trevors Fersen geheftet.
    „Ihr seht gut aus!“, begrüßte ihn der Kobold und grinste.
    „Und Ihr seht gleich tot aus!“, erwiderte Trevor und rappelte sich auf.
    Schützend hielt der Verkäufer seine Hände vor sich. „Jetzt wartet doch einen Moment …“
    „Ich reiß Euch in zwei Hälften und verstreue Euch in alle Winde …“

    Der Kobold schob sich mit einer Hand seine Brille auf dem Nasenrücken zurück. „Das ist mathematisch gar nicht …“
    „Ist mir scheiß egal, ob das rechnerisch möglich ist, du Pisstopf! Ich mache aus deinem Schädel ein Nachtlicht!“
    Trevor ging bedrohlich auf ihn zu.
    Der Kobold griff rasch in seine Tasche und warf etwas auf den Boden. Umgehend verteilte sich Rauch im Laden, sodass Trevor seine eigene Hand vor Augen nicht sehen konnte. „Komm raus, du Arschgesicht.“
    „Nicht, wenn Ihr so erregt seid. Man kann doch über alles verhandeln.“

    „So wie beim letzten Mal? Vergesst es! Ich reiß Euch den Schädel ab, furz Euch in den Hals, piss Euch ins Maul und danach … danach scheiß ich Euch die Wände voll!“
    Plötzlich tauchte der Kobold im sich lichtenden Nebel wieder auf. „Ihr seid aber kreativ.“
    Trevor schnappte sich den Verkäufer am Kragen und schüttelte ihn wie ein nasses Segeltuch. „Ihr werdet sehen, wie kreativ ich bin, wenn ich Euer Gebiss auf die Kante Eures Verkaufstresen gelegt und so lange auf Euch eingeschlagen habe, bis man euch beide nicht mehr auseinanderhalten kann!“, schrie Trevor.
    „Wartet … wartet …“, flehte der Kobold. „Ich habe etwas für Euch, nachdem Ihr gesucht habt.“
    „Und woher soll ich wissen, dass Ihr mich nicht wieder verarscht?“
    „Ihr habt etwas, dem kein Kobold widerstehen kann!“
    Er schaute auf Trevors Beutel hinunter.
    „Gold?“, wollte Trevor wissen.
    Die Augen des Kobolds wurden glasig und er grinste über das ganze Gesicht. „Ja, Gold“, hauchte er erfreut.
    Trevor ließ den Kobold los und schaute ihn abwartend an. „Und was habt Ihr für mich?“
    „Uhh … uhh … eine Rüstung.“
    Er lief ganz euphorisch zu einem großen Schrank und öffnete ihn. Hinter den Türen erschien eine pechschwarze Rüstung. „Geschmiedet in den Metallöfen der Zwerge im hohen Norden … So alt, dass sie mehr Leben hat kommen und gehen sehen als die Elfen von Ymaldril.“
    „Und wenn ich in den Regen komme, löst sie sich wahrscheinlich auf.“
    „Zeigt etwas Respekt“
    , widersprach der Kobold ernst. „Diese Rüstung schützt Euch vor Stößen und Klingen. Genau das passende für einen Formwandler.“
    Trevor betrachtete den Kobold skeptisch. „Ich traue Euch nicht.“
    „Zurecht …“, er legte sich den metallenen Brustpanzer an, der ihm viel zu groß war. „Schlagt zu!“
    Trevor ließ sich kein zweites Mal bitten und schlug zu.
    Der Kobold flog durch die Wand in den nächsten Raum hinein, indem andere Kobolde saßen; sie schliffen Steine, nähten Kleidung und unterhielten sich.
    Daher kommen also die ganzen Fälschungen …
    Kurz unterbrachen sie ihre Diskussionen, während sich der Verkäufer aufrappelte. Hustend trat er wieder in den Verkaufsraum. „Seht Ihr? Nicht ein Kratzer.“
    „Ihr blutet am Kopf“
    , widersprach Trevor.
    „Ja, aber meiner Brust geht es gut.“
    „Und was soll diese Rüstung kosten?“
    „Eine ganze Goldmünze. Für eine weitere bekommt Ihr noch ein passendes Schwert, dessen Klinge Ihr nie schärfen müsst und einen Schild.“

    Trevor überlegte und betrachtete die Rüstung. Der Brustpanzer besaß einen ausgeprägten Schulterschutz. Es war keine vollständige Rüstung, wie er sie von Schlosswachen kannte. Die Unterarmschienen würden seine Arme nur zur Hälfte schützen, aber dafür konnte er sich bewegen. Die Rüstungshandschuhe bedeckten lediglich die Oberseite seiner Hände. Über der schwarzen Hose befanden sich lederne Schenkeldeckel. Diese Art Rüstung bot ihm genug Bewegungsfreiheit, sodass er nicht steif in der Gegend herumstand. Genau das, was er brauchte. Zudem würde er so nicht die halbe Besatzung wecken, wenn er sich bewegte. Mehr Schutz hatte er nicht nötig – zumindest dachte er das. Das tiefschwarze Hemd und die Stiefel rundeten alles ab. „In Ordnung“, schlug er auf den Handel ein. „Und der Rest?“
    Erfreut hüpfte der Kobold in den Nebenraum, für dessen neuen Zugang Trevor gesorgt hatte und holte ein Schwert hervor. Eigentlich zog er es mehr hinter sich her, da es nicht für seine Körpergröße gemacht war. „Hier! Jetzt dürftet Ihr für alles, das kommt, ausgestattet sein.“
    „Und wehe, es stellt sich etwas als Ramsch heraus.“
    „Wird es nicht. Wirklich. Ich hätte da aber noch einen Helm …“

    Trevor verlor allmählich seine Geduld. „Ich brauche keinen Helm!“, dementierte er.
    „Und wenn Euch etwas am Kopf trifft?“
    Trevor stöhnte. „Und was ist das für ein Helm?“
    Der Kobold grinste und holte einen schwarzen Totenkopf als Helm hinter seinem Rücken hervor.
    Wie ist der dahin gekommen?
    „Der passt doch zu Euch!“, pries der Kobold den Helm an.
    Augenrollend nahm Trevor den Helm an sich; setzte ihn aber nicht auf, sondern band ihn sich an seinen Gürtel. Er bezahlte alles und trat mit neuer Ausrüstung aus dem Laden heraus, der daraufhin einfach verschwand. „Kobolde …“ murmelte Trevor genervt vor sich hin und lief die Straße entlang. Umgehend fiel ihm auf, dass sich die Menschen nicht mehr von ihm angewidert abwanden. Eine Mutter schob ihre Kinder in das Haus vor sich und schloss die Tür. Die Leute traten allgemein einen Schritt von ihm weg, und er musste zugeben, diese Reaktion gefiel ihm irgendwie besser. Jetzt sollte er sich auf die Suche nach Edmund machen, wenn er auf seine Rache nicht ewig warten wollte. Wer wusste schon, wo sich der reiche Händlersohn verkrochen hatte … Reich und Händlersohn! Trevor fragte einige Bewohner nach der besten und teuersten Taverne, und alle waren sich einig. Sie sagten, er solle in den Goldenen Pfau gehen. Da bekäme Mann alles, was er begehrt. Trevor wusste, was das hieß, und ja, das klang nach Edmund. Zielstrebig lief er in die Richtung, in die er geschickt worden war, bis er in eine noch bessere Gegend kam. Häuser, die ausschließlich aus hellem Gestein bestanden, säumten die Straßen. Die Menschen hier trugen edle Kleidung, besaßen Bedienstete, die ihnen ihr Hab und Gut nachtrugen, während sie sich angeregt mit anderen auf der Straße unterhielten. Schlussendlich stand Trevor vor dem Goldenen Pfau. Ein steinernes Schild, worauf das „Goldene“ in eben dieser Farbe hervorgehoben war, schmückte den Eingang. Aus dem Inneren war seichte Musik zu hören. Diese Taverne unterschied sich vehement von denen, in denen sich Edmund und Trevor zuvor betrunken hatten. Der Formwandler atmete tief durch und betrat dann das Gebäude. Kaum hatte er den Eingang betreten, eröffnete sich ihm ein Anblick, den er so nicht kannte. Wasser plätscherte in einem Brunnen, der die Mitte des großen Raumes zierte. Eine Glaskuppel über diesen ließ Tageslicht hinein und überall verhangen seidene Vorhänge Zugänge in andere Bereiche. Hinter dem Tresen wackelte ein korpulenter Mann hervor, der aussah, als hätte eine Wildsau einen Flamingo gefressen – oder umgedreht. Er trug bunte Farben an Augen und Lippen, hatte sich einen riesigen Leberfleck auf die Wange gemalt und seine Kleidung erstrahlte in einem grellen Rosa.
    „Nanu nana …“, näselte der dickliche Mann. „Wo kommst du denn her, mein Großer?“
    „Von draußen!“, antwortete Trevor trocken.
    Übertrieben begann der Mann zu kichern. „Was kann ich denn für dich tun?“
    „Ich suche einen jungen Mann!“
    , erklärte der Formwandler und schaute sich bereits im Raum ausgiebig um, aber noch war Edmund nicht zu entdecken.
    „Welcher Art denn?“
    „Zirka so groß …“
    Trevor verwies mit seiner Handfläche auf Edmunds geschätzter Körpergröße, „… schmal, aber nicht schmächtig. Dunkles Haar, blaue Augen. Wirkt auf den ersten Blick arrogant, wohl auch auf den zweiten, aber eigentlich ein ganz verträglicher Zeitgenosse.“
    „Herrje, das grenzt die Auswahl aber immens ein. Ein Mann, der weiß, was er will, das gefällt mir.“
    „Ist hier jemand, auf den die Beschreibung passt? Ja oder Nein?“

    Wieder gluckste der Mann und dachte nach: „Ich werde sehen, ob ich so jemanden finde, mein Hübscher. Hier bleiben bekanntlich keine Wünsche offen.“
    „Häh?“
    Bevor Trevor fragen konnte, was er damit meinte, tänzelte der seltsame Kerl schon davon. Er sah sich in der Zwischenzeit weiter um. Beim Anblick des Tresens fiel ihm auf, dass er bei seinem Landgang noch nichts gegessen oder getrunken hatte. Im Badehaus war er wegen der Frauen gar nicht dazu gekommen, etwas zu sich zu nehmen. Knurrend hing ihm sein Magen mittlerweile in den Gedärmen und es fühlte sich an, als würde er versuchen, sich selbst zu verspeisen.
    Eine brünette junge Frau kam herbei, die sich hinter den Tresen stellte. „Darf ich Euch etwas servieren?“, fragte sich und lehnte sich provokant mit ihrem Busen auf die Steinplatte vor sich.
    „Bier!“, antwortete Trevor und lehnte sich an den Tresen.
    Sogleich servierte die junge Frau ihm sein Getränk in einem Kristallglas, das ebenfalls zeigte, dass dieser Laden mit den Hafentavernen nicht zu vergleichen war. Gerade, als die Brünette etwas zu Trevor sagen wollte, kehrte der Paradiesvogel zurück und hatte einen jungen Mann am Kragen. „Hier, dieser junge Mann dürfte deinen Geschmack treffen“, begann er, woraufhin sich die junge Frau mit einem „Oh“ von Trevor abwandte und verschwand.
    Trevor begutachtete den Knaben, den der Kerl mit sich führte. Das war nicht Edmund.
    „Hi, ich bin Norm“, stellte sich der Jüngling vor.
    „Eigentlich arbeitet er in der Küche“, erklärte der pinke Geselle. „Aber gegen etwas zusätzliches Geld hat er nichts.“
    „Mein Signalwort ist ‚Apfelstrudel‘“, meinte Norm.
    „Was bei den Klabautermännern …“, fing Trevor an zu krakeelen und lief rot an. „Ich suche nicht irgendeinen Kerl, sondern einen bestimmten. Es ist möglich, dass er hier Gast ist oder war. Zudem … ziehe ich Frauen vor, nur, damit das klar ist.“
    „Einen Gast?“, hakte der korpulente Mann nach und ließ Norm los. „Warum hast du das nicht gleich gesagt, Schätzchen? So einer ist vorne im Schankraum. Du bist in das … Gesellschaftsabteil gelaufen.“
    „In das was?“
    „In den Bereich der Taverne, der kein Bordell ist.“

    Trevor sah sich noch einmal um. Deswegen die Vorhänge vor den Zimmern. Hinter jenen versteckten sich dicke Holztüren, die den Kunden die nötige Privatsphäre ermöglichte. Trevors Gesicht wurde heiß wie Wüstensand. Der Kerl vom Empfang hatte wirklich gedacht, er wollte einen anderen Mann mit auf ein Zimmer nehmen. Erst bezichtigte er an diesem Tag, dass eine junge Frau eine Prostituierte war, obwohl sie es nicht war und jetzt stand er, ohne es zu merken, inmitten eines Bordells. Einmal mehr wurde er sich gewahr, warum er Landgänge hasste. Er legte ein paar Münzen auf den Tresen, exte sein Glas und ließ sich den Weg in den Schankraum weisen. Vor Scham setzte Trevor seinen Helm auf, während er an Räumlichkeiten vorbeilief, aus denen eindeutige Laute zu ihm drangen. Nicht jeder musste ihm ansehen, wie unangenehm ihm diese Verwechslung war.
    Nachdem er den Schrankraum erreicht hatte, entdeckte er Edmund sofort zwischen einem Haufen Männern und Frauen, die förmlich an seinen Lippen hingen. Auch Andre saß dabei, was ihn etwas wunderte, aber nach der Zeit auf dem Schiff, war es sicherlich nicht außergewöhnlich, dass er mit Edmund etwas aß.
    „Und das war die Geschichte, wie wir, dank mir, dem Kraken entkommen sind“, erzählte der Händlersohn, was Trevor die Brauen unter seinem Helm anheben ließ.
    „Ich habe dich gesucht!“, sprach der Formwandler den Händlersohn gedämpft durch das Metall an.
    Edmund hob ebenfalls seine Brauen und wirkte verunsichert. „Ich habe niemanden bestellt.“
    Trevor erinnerte sich an seinen Helm und zog ihn ab. „Ich bin es“, erklärte er.
    „Trevor?“, fragte Edmund.
    „Wer denn sonst?“
    „Wozu der Helm? Steht dir gar nicht“, meinte Edmund grinsend und wandte sich gleich darauf wieder den Damen und Herren zu.
    „Der soll auch nicht gut aussehen, sondern … Ist auch egal. Ich muss dir etwas erzählen. Esther hat …“
    Edmund hörte Trevor gar nicht zu. Viel lieber unterhielt er sich mit einer Frau, die ihn über seinen augenscheinlich neuen Anzug fuhr.
    Andre schien die Situation abschätzig zu beobachten.
    „Edmund, wir sollten zum Schiff zurück.“
    „Entspann dich mal, wir haben doch keine Eile. Du siehst aus, als würdest du gleich zusammenbrechen“
    , wandte der Händlersohn ein und bestellte für Trevor Wein und Essen, ehe er sich weiter der Damenwelt widmete.
    Trevor wollte ihm widersprechen, aber die Aussicht nach Speis und Trank ließen ihn verstummen. „Na gut“, gab er nach, „aber danach sollten wir gehen.“
    „Jaja“, säuselte Edmund und wollte den Formwandler erst ignorieren, bis er ihn schelmisch angrinste. „Im Übrigen ist das der Mann, von dem ich euch erzählt habe. Lasst euch von seiner Erscheinung nicht verunsichern, er hat einen weichen Kern. Und für die Frauenwelt …", er senkte die Stimme, "er ist noch zu haben."
    Etliche Damen wandten sich nun Trevor zu, der sich schüchtern lächelnd an den Tisch setzte, der nur noch wenig Platz bot. Er räusperte sich. „Edmund, was soll das?“, presste er zwischen zusammengebissene Zähne empor.
    „Du sollst dich entspannen“, forderte ihn sein Freund auf und klopfte ihn auf den Rücken. „Er ist etwas schüchtern, der Gute“, sprach er zu allen. „Dabei ist das gar nicht nötig. Unter der Rüstung steckt ein gut gebauter, junger Mann, der jede Frau erröten lässt." Edmund beugte sich zu den Frauen vor und grinste. "Erstklassige Muskeln, kann ich euch sagen."
    War das so? Wurde er so wahrgenommen? Nur wegen etwas Arbeit auf See?
    „Naja …“, erwiderte Trevor zurückhaltend, während er von den Frauen gemustert wurde. Nachdem ihm das Bestellte gebracht worden war, schlang er das Essen hinunter, kippte zwei volle Weinbecher hinterher und schenkte sich eifrig nach. Das konnte er gebrauchen. Er musste die Schamröte unterdrücken, die die Blicke der Damen mit sich brachten, während Edmund weiter von ihrer Reise erzählte. Er schmückte alles etwas aus, aber das störte Trevor nicht. Das taten immerhin alle. Gerade, als Edmund zu dem Teil mit den Kannibalen kam, schwang die Tür zur Taverne auf und zwei fiese Gestalten traten ein. In dreckiger Kleidung standen sie im Raum und forderten gleichauf etwas zu essen und Bier. Auch, wenn Edmund und Trevor am Beginn des Tages noch nicht besser ausgesehen hatten, wussten sie sich sehr wohl zu benehmen.
    Die beiden Neuankömmlinge machten mehr den Anschein, als wollten sie Ärger.
    Die Schankmagd brachte den beiden das bestellte Bier, das sie umgehend auf den Boden ausleerten. „Wir haben Bier verlangt und nicht diese Plörre“, schimpfte der Fette von beiden.
    Trevor beäugte die beiden genau. Vielleicht wurde der Tag doch noch interessant.
    Die Schankmagd brachte neues Bier, während die beiden Kerle sich umsahen. Der eine sah recht kräftig aus, der andere wirkte neben diesen wie eine halbe Portion. Kurz unterhielten sie sich, dann stapfte der Dicke auf den Tisch zu, an dem Edmund und der Rest saßen. „Na, was seid ihr denn für eine Runde?“, wollte er wissen, und Trevor sah Edmund an.
    Trevor wollte wissen, ob er abwarten oder direkt eingreifen sollte. Edmund war im Reden bekanntlich besser als Trevor. Das sah man schon an den Leuten, die bei ihm saßen.

    "Die Runde, die sich von eurem Geruch belästigt fühlt. Schon mal etwas von Seife gehört?“, entgegnete Edmund und rümpfte die Nase.
    Vielleicht hatte sich Trevor auch geirrt.
    Der Fette lachte. „Es ist ganz schön frech, dass ihr die Anwesenheit aller Damen für euch beansprucht. Wir können uns bestimmt einig werden.“ Er ballte beide Fäuste, was wohl hieß, dass er die Damen nicht höflich um ihre Anwesenheit bitten wollte.
    „Wenn die Damen freiwillig mitgehen, werde ich sie nicht aufhalten“, erwiderte Edmund schlichtend, und die Damen rückten weiter in die Sitzgruppe hinein. Das hieß wohl Nein.
    Der Fette verfinsterte seinen Blick und wollte gerade nach dem Handgelenk einer der Damen greifen, als Trevor jenes ergriff und ihn aufhielt. „Ich denke nicht, dass eine mitgehen will“, meinte der Formwandler und stierte den Fetten an.
    „Schau mal, der Lauch spricht für die Weiber“, krakeelte der Schmächtigere von beiden.
    „Tja, die freundlichen Mistsäcke wollen es nicht anders." Edmund zuckte mit seinen Schultern. "Pass auf, dass du dir nichts einfängst, Lauch. Ich glaube, die verbreiten eine Krankheit. So, wie die riechen, verwesen die von Innen.“
    Da Trevor die Erlaubnis von Edmund hatte, sich um das Problem zu kümmern, richtete er sich langsam auf. Auch, wenn der Fette einen halben Kopf größer als er war, ängstigte ihn das nicht.
    „Was willst du, Fatzke?“, fragte der Fette. „Dich esse ich zum Frühstück.“
    „Und ich töte sowas wie dich im Schlaf“, erwiderte Trevor, während die Gäste näher an Edmund heranrückten. Dieser lehnte sich entspannt zurück.
    „So wie du aussiehst, meinst du das mit dem Essen ernst. Schwitzt du eigentlich schon vom Atmen?“, fragte Edmund und trank genüsslich von seinem Wein.
    Der Besitzer der Taverne, der bunte Vogel, kam herbeigeeilt und versuchte, die Situation zu retten. Er bot den beiden fremden Herren eine Horde anderer Damen an, aber die Neuankömmlinge verneinten dies. Sie wollten eine oder zwei der Frauen, die an Edmunds Tisch saßen. Vermutlich nur, damit sie ihre Überlegenheit ausspielen konnten.
    Schroff warf der Fette den Besitzer mit seiner freien Hand beiseite und befreite seine andere aus Trevors Griff. „Ihr wollt doch sicherlich keine Probleme, oder?“
    „Weiß nicht, Trevor. Wollen wir?“
    , antwortete Edmund und nahm entspannt einen weiteren Schluck.
    „Die haben sie bereits“, meinte Trevor und wich mit seinem Blick nicht vom Fetten ab.
    Dieser holte aus und schlug Trevor einfach ins Gesicht.
    Trevor wankte nicht, sondern wandte sich dem Fetten nach dem Schlag wieder zu, hielt sich das Kinn und grinste. „Ist das Euer Ernst?“, versicherte sich der Formwandler.
    „Was war das denn? Du schlägst ja zu wie ein Mädchen“, bestärkte der Händlersohn den Formwandler und lachte.
    Die Gruppe von Menschen rückte Edmund immer weiter auf die Pelle. „Keine Sorge“, meinte der Händlersohn. „Macht es wie ich. Lehnt euch zurück und genießt die Vorführung.“
    Trevor trat einen Schritt vom Tisch weg und stand so dem Dicken genau gegenüber. „Ich lasse euch noch diese eine Möglichkeit, euch zu verpissen. Ich hatte wirklich einen miesen Tag …“
    Der Fette schlug erneut zu.
    Trevor seufzte nach diesem Schlag und hielt den Dritten mit seiner Hand auf. Mit aller Kraft, die ihm innewohnte, zerdrückte er die Faust des Fetten, der schreiend auf seine Knie sank. „Ich hatte einen echt miesen Tag“, wiederholte Trevor. „Ich kann das jetzt wirklich nicht gebrauchen, dass zwei Vollpfosten Probleme machen, während ich mich mit meinem besten Freund amüsiere.“
    „Heinz, komm, den schaffst du!“, feuerte der zweite Fremde den anderen an.
    „Der ist echt stark“, jammerte der Fette.
    Trevor ließ die Faust los und hob den Dicken an seinem Hemdkragen in die Luft. „Ihr solltet ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen!“ Der Formwandler schmiss den Kerl in eine Eckbank und widmete sich gleichauf seinem Freund. „Edmund?“, fragte Trevor. „Meinst du, ich sollte dem Kerl den Ausgang zeigen?“
    „Ohne Hilfe findet er ihn sicher nicht“
    , rief Edmund.
    Trevor näherte sich dem Hänfling, während dieser immer weiter in sich zusammensackte. Ein gezielter Schlag ins Gesicht setzte ihn außer Gefecht. Trevor schnappte sich ihn am Hosenbund, öffnete die Tür, während der Kerl seine Zähne auf dem Boden verteilte und schmiss ihn raus. Danach widmete er sich dem Fetten, den er an seinen Füßen aus der Ecke zog. „Dir schulde ich noch etwas“, sagte er, während der Kerl benommen aus der Wäsche schaute. Trevor holte aus und polierte ihm das hässliche Gesicht. „Du solltest an der Art arbeiten, wie du mit Frauen sprichst, ansonsten komme ich wieder und prügle dich zurück in den Mutterleib!“ Der Formwandler zerrte den Fremden an seinem rechten Bein zum Ausgang und warf ihn dem anderen hinterher. Danach setzte er sich wieder, prüfte, ob er an der Nase blutete und trank sein Wein leer.
    Andre sah ihn von Gegenüber erstaunt an. „Bist du ein Mensch?“, fragte er gerade heraus.
    „Vermutlich ein Gott!“, säuselte eine Dame lasziv in Trevors Ohr, woraufhin Trevor errötend schluckte.
    Edmund grinste dreist und bestellte mehr Wein und Bier. „So, du willst dich also mit deinem besten Freund amüsieren?“
    Trevor hob seinen Zeigefinger, sagte aber nichts zum Händlersohn, sondern widmete sich Andre. „Teils … teils“, flüsterte er ihm zu und sprach dann zu allen. „Ich hatte den Zwischenfall nicht geplant. Entschuldigt …“
    Edmund runzelte die Stirn. „Warum entschuldigst du dich? War doch witzig." Er deutete auf die Frauen, die Trevor seltsam ansahen. „Und hat Eindruck gemacht.“
    „Ich wollte nicht … Ich kann so ein Benehmen nicht leiden“, fuhr Trevor fort und sank etwas auf der Bank zusammen.
    „Teils teils? Was heißt das?“, wollte Andre ebenso leise wissen.
    Der Formwandler konnte zwischen all den Menschen nicht offen über seine Rasse sprechen. Wer wusste schon, wie sie zu ihnen standen. Mittlerweile wusste er, dass er vielen Männern in Muskelkraft überlegen war, alleine das war schon zu riskant, aber Trevor konnte sich selten beherrschen, wenn er in einen Konflikt geriet.
    Gerade, als er Andre antworten wollte, mischte sich die Blondine ein, die sich neben Trevor gesetzt hatte. Als sie ihn fragte, wie stark er sei, wusste Trevor darauf keine Antwort. Er war oft an seine Grenzen gekommen, wenn er an das Schiff dachte, aber als eine weitere Dame fragte, ob er die Bank mit allen Damen hochheben konnte, bejahte Trevor dies. Natürlich wollten sie einen Beweis, und Trevor ließ sich überreden, zu zeigen, dass vier schmale Grazien auf einer Bank kein Problem darstellen. Vorsichtig hob er die Bank hoch, um sicherzugehen, dass keine von ihnen hinunterfiel und stellte sie danach wieder genauso vorsichtig ab.
    „Das kann ich hier ... nicht offen aussprechen“, erklärte Trevor dann dem jungen Matrosen und setzte sich wieder.
    Andre senkte seine Stimme. „Dann lass uns woanders hingehen. Ich bin sowieso fertig mit essen." Er schaute seinen Kater an, der in aller Seelenruhe den Teller von Andre sauber leckte. Er hatte sich von all dem Trubel nicht beeindrucken lassen, was Trevor erstaunlich fand. "Und Wilmor anscheinend auch ..."
    „Ich sollte ohnehin zurück zum Schiff gehen.“
    Edmund ließ Trevors Becher aber nicht leer werden und erzählte im gleichen Atemzug davon, wie Trevor das Schiff gezogen hatte. Weitere junge Frauen wechselten umgehen auf Trevors Bank und schauten ihn musternd an. „Ist das wahr?“, fragte eine von ihnen.
    Trevor schluckte. „Ja, schon, aber ich war nicht alleine, ohne E…“
    „Er hat es alleine gezogen“
    , fiel Edmund ihm ins Wort.
    „Und Ihr habt keine Frau, die irgendwo auf Euch wartet?“
    „Nein, hat er nicht“
    , antwortete Edmund statt Trevor.
    Allmählich bekam der Formwandler das Gefühl, der Händlersohn verfolgte irgendeine Art Plan, während Andre ihn erwartungsvoll ansah.
    Es war vermutlich nicht falsch, den jungen Matrosen einzuweihen, wenn er sich dazu entschied, weiter mit ihnen zu reisen. Denn immerhin stellte Trevor ein ewiges Risiko dar. Er kippte seinen Becher und wollte entgültig gehen, als ihm die Blondine neben ihm einfach in den Schritt griff.
    „Woah“, stieß Trevor überrascht aus und stand schlagartig auf. „Vielen Dank, es war nett, aber die Arbeit ruft!“, fuhr er überrumpelt fort und verließ die Sitzreihe.
    Während Edmund lachend beinahe von selbiger fiel, eilte der Formwandler aus dem Goldenen Pfau.
    Andre eilte ihm nach.
    „Willst du es wirklich wissen?“ wollte Trevor wissen, während er mit hochrotem Kopf Richtung Hafen lief.
    Andre wirkte ungeduldig. „Hätte ich sonst gefragt?“
    Der Formwandler lief ein paar Schritte weiter, sah sich um und ergriff Andre dann am zierlichen Handgelenk. Er zog ihn in eine verlassene Seitengasse hinein und musterte den schmächtigen Seemann. Trevor musste sich immer die Personen genau ansehen, die er nachahmen wollte. Kurzerhand verwandelte er sich in Andre, wodurch seine Rüstung zu groß an seinem Körper hinunterhing.
    Andre sah erneut überrascht aus, indessen Trevor etwas auffiel, während ihm die Hose auf Halbmast hing. „Andre?“ Er stockte. „Kann es sein, dass du eine Andrea bist?“
    "Was zum ...? Wie ...?", äußerte Andre ... Andrea erschrocken und schrak zurück.

    Trevor wartete ab, und Andrea schien sich zu beruhigen. Lag so etwas wie Faszination in ihrem Blick?
    "Das ist kein Illusionszauber, hab ich recht?", äußerte sie neugierig und musterte Trevor mit großen Augen. "Hast du mich wirklich bis ins kleinste Detail kopiert? Das ist ja ..." Ohne Vorwarnung kniff sie ihm in die Wange und zupfte an seiner Haut herum.

    "Ich weiß nicht, wie detailliert es ist, aber es reicht, um etliche Menschen zu täuschen", antwortete Trevor mit ihrer Stimme und ließ sie ihn mustern. "Und nein, es ist kein Illusionszauber. Ich bin ein Formwandlern."

    "Oooh!", stieß AndreA fasziniert aus und begann, ihn zu umrunden. "Ich habe von euresgleichen gehört, aber nie zu hoffen gewagt, mal einen wie dir zu begegnen. Wie genau machst du das mit dem Verwandeln? Ist das Magie? Oder ist das wie ein Muskel, als ob ich meinen Arm bewege? Und wie oft kannst du das machen? Ist das anstrengend? Wie lange kannst du verwandelt bleiben? War dein Aussehen vorher auch nur eine Verwandlung, oder hast du auch ein echtes Aussehen? Musst du jemandem zum Verwandeln sehen, oder reicht auch die Vorstellung? Oder kannst du verschiedene Formen im Körpergedächtnis behalten wie ein Lautenspieler die Noten in seinen Fingern?"

    Perplex starrte Trevor die kleine Frau vor sich an, die gar nicht mehr aus ihrem Redefluss herauskam. Er verwandelte sich wieder zurück und versuchte, die Fragen zu sortieren. Er beantwortete sie ihr, so gut er konnte. So ganz genau wusste er auch nicht, wie oder warum er sich verwandeln konnte. Er hatte sich das niemals gefragt, denn immerhin fragte sich auch kaum ein Mensch, warum er atmete. Zudem konnte er sich auch nur im Menschen verwandeln, die er sah oder an die er sich erinnerte.

    "Das ist ... wirklich faszinierend." Sie beendete ihre Untersuchung und blieb vor ihm stehen. "Okay, ich habe mich entschieden. Ich will wissen, wie deine Magie funktioniert. Jedes kleinste Detail! Erlaube mir, dich weiter studieren zu dürfen!"

    "Studieren? Mich?" Trevor musterte sie. "Das klingt nicht so, als wärst du darin ... unerfahren."

    "Ich hab mein Leben lang nichts anderes gemacht. Wenn jemand etwas enträtseln kann, dann ich."

    Trevor schaute sie weiterhin skeptisch an. "Und das bedeutet?"

    "Ich beherrsche ebenfalls ... ein wenig Magie", gab sie zu. "Keine Sorge, du musst dich nur ein paarmal hin und her verwandeln und ich schau mir an, was dabei so passiert. Alles ganz einfach."

    "Jetzt? Hier? Vermutlich ist das Schiff dafür b... besser geeignet."
    "Natürlich nicht jetzt und hier", erwiderte sie schnell. "Dafür sollten wir ungestört sein."

    "Aha ..." Trevor zog beide Brauen hoch. "Und soll ich dich weiter Andre nennen oder ..."

    "Agatha. Agatha lautet mein Name. Auch wenn es mir lieber ist, wenn du in der Öffentlichkeit bei Andre bleibst." Sie verdrehte genervt die Augen. "Manche Kerle können ... lästig sein, wenn du verstehst, was ich meine. Ich will Komplikationen lieber aus dem Weg gehen."

    Trevor nickte. "Wem sagst du das ...", gestand er zunächst leise. "In Ordnung, Agatha, dann bleibt es vorerst bei Andre, wenn andere dabei sind." Trevor verwies mit seinem Kopf Richtung Hafen und setzte seinen Helm wieder auf, anstatt ihn nutzlos durch die Gegend zu tragen. "Dann sollten wir uns am besten auf den Weg machen."

    Trevor starrte auf die getigerte Katze hinunter. Gut sichtbar steckte ein Dolch im armen Tier.
    Muss wohl im Trubel passiert sein … Armes Ding …
    „Wir sollten das Vieh erlösen!“, meinte Edmund.
    „Nein!“, stieß der fremde Matrose aus. „Ich … kümmere mich schon um ihn.“
    Ihn? Also ein Kater!
    „Worum willst du dich da kümmern? Dieser Kater ist dem Tod geweiht“, erwiderte Nelli.
    „Ach, der hat schon mehr als das überlebt!“ Der schmächtige Matrose schnappte sich den Kater, grinste übertrieben drein und begann, sich umzusehen. „Wo kann ich ihn behandeln?“
    „In der Küche. Da steht auch ein Kochtopf“, erklärte Edmund, dessen Blick seine Absicht verriet.
    Wilmor fauchte.
    Trevor musste zugeben, dass Katzen nicht direkt auf seinem Speiseplan standen, aber nach Tagen mit Fisch und Obst hätte er allmählich auch gerne etwas anderes auf seinem Teller gesehen.
    Der Blick des Matrosen wurde finster. „Wilmor wird nicht gegessen!“
    „Du kannst ihn sicherlich in einem der Zimmer … behandeln … erlösen“, wandte Esther freundlich ein, schien sich aber auch unsicher, was es bei einem Dolch im Rücken zu retten gab.
    Trevor betrachtete die Gruppe. „Vermutlich ist es besser, du nimmst mein Zimmer. Als zwei Seemänner … werden wir uns schon einig“, schlug er vorsichtig vor.
    Bei Edmund war er sich nicht sicher, ob er dem Tier nicht umgehend heimlich das Fell abzog und zu Kater-Ragù verarbeitete. Ester war eine junge Frau und Nelli … Der Matrose war erst einen kurzen Moment auf dem Schiff. Er war noch nicht bereit für Nelli.
    Umgehend zeigte Trevor dem Fremden sein Zimmer, woraufhin dieser hinein ging und dem Formwandler nach einem knappen „Danke“ die Tür vor der Nase zuschlug. Verdutzt blieb er vor der Tür stehen. „Ehm … brauchst du Hilfe?“
    „Nein!“
    „Soll ich dir ein paar Verbände bringen?“
    „Nein! Halt! Doch! Das wäre sehr freundlich!“

    Trevor ging zögerlich los, holte ein paar Verbände aus der Vorratskammer und war gerade dabei, die Tür wieder zu schließen, als dahinter Nelli auftauchte. Ein spitzer Schrei entfuhr ihm, und die Verbände flogen wahllos durch die Gegend.
    „Irgendetwas stimmt mit diesem Matrosen nicht!“, sagte sie ohne Umschweif.
    Schwer atmend von dem Schreck, schaute Trevor auf Nelli hinunter. „Ayeee?!“
    „Sei vorsichtig!“
    „Werde ich sein“, antwortete Trevor und hob die Verbände wieder auf. „Er ist sicherlich nur etwas durcheinander. Immerhin wurde sein Schiff gerade von einem riesigen Kraken zerlegt.“
    „Möglich, aber ich habe da so ein Gefühl.“
    Musternd betrachtete Trevor die alte Frau. „Ein Gefühl?“
    „Ein Gefühl!“
    „Welcher Art?“
    „So ein Gefühl eben. Dieses schmerzende, brennende Gefühl im Bauch, wenn etwas nicht stimmt.“
    „Das nennt man Sodbrennen“
    , kam aus der Tür zur Küche, in der nun Edmund stand, knapp gefolgt von Esther.
    „Ich bin alt genug, Sodbrennen von einem unheilvollen Vorboten unterscheiden zu können, Junge“, widersprach Nelli und bedachte Edmund mit einem ernsten Blick.
    „Wenn du meinst …“, gab Edmund schnaubend von sich.
    Esther atmete sichtlich erschöpft durch. „Vielleicht sollten wir erst einmal abwarten, bevor wir ihn und den Kater direkt wieder ins Meer werfen. Wir haben ihn gerettet, also sind wir jetzt auch ein bisschen für ihn verantwortlich.“
    „Großartig. Noch mehr Mäuler …“, nuschelte Edmund und fuhr sich genervt über sein Gesicht. „Das eines klar ist: Von dem Schatz bekommt er nicht eine Münze.“
    Trevor schenkte Esther ein Lächeln. Zumindest eine Person, die nicht direkt in allem etwas Schlechtes sah. „Wir sollten dafür sorgen, schnell von hier wegzukommen“, gab Trevor zu bedenken. „Wer weiß, ob der Kraken noch einmal auftaucht.“
    Darin war sich die Gruppe zumindest einig. Noch einmal wollten sie dem Ding nicht begegnen. Also beschlossen sie, so schnell es ging, die Segel zu setzen und von diesem Teil des Meeres zu verschwinden.
    Trevor ging indes zu seinem Zimmer, aus dem er ein lautes Mauzen zu hören war. Er klopfte, und kurz darauf ging die Tür einen Spalt auf.
    Musternd betrachtete der Matrose den Formwandler, schnappte sich die Verbände und verschloss die Tür wieder. „Gern geschehen!“, rief Trevor hinterher und begab sich an Deck.
    Der Rest der Gruppe war dabei, für die schnelle Flucht zu sorgen und nach dem Zustand des Schiffes zu schauen. Es war zum Glück – und Esther - einigermaßen heil geblieben. Eine ganze Weile trieben auf ihrem Weg noch die Trümmerteile des anderen Schiffes neben ihnen her, aber bald schon erinnerte nichts mehr an den Angriff.
    Das war auch der Moment, in dem der Matrose an Deck kam. Er hielt den Kater in Händen, der fast vollständig von den Verbänden umwickelt war.
    Erstaunt sahen alle das Tier an.
    „Ich sagte doch, dass er schon Schlimmeres überlebt hat.“
    „Wie überaus … erstaunlich“
    , murmelte Edmund neben Trevor, der sein Abendessen dahingehen sah.
    „Übrigens, mein Name ist Andre. Ich hatte mich wohl im Trubel vergessen vorzustellen“, fuhr der Matrose fort. „Und vielen Dank für die Hilfe.“ Er ließ den Kater hinunter, der daraufhin munter davonlief.
    Skeptisch sah Nelli dem Tier hinterher. „Das ist wirklich … erstaunlich.“
    „Wir haben gerne geholfen“, erwiderte Esther und stellte alle vor.
    Der Matrose sah jeden abwechselnd an und nickte dem Genannten zu. „Sooo“, sagte Andre nach einem Moment des peinlichen Schweigens. „Und wo soll es hingehen?“
    „Egal!“, antwortete Edmund. „Hauptsache, es ist Land, es gibt etwas zu essen und Geschäfte.“
    Wahrscheinlich war es erstmal klüger, dem Fremden nicht alles haarklein zu erzählen. Allem voran nicht von dem Schatz, der sich im Laderaum befand.
    Andre merkte sicherlich, wie er von allen betrachtet wurde.
    Trevor musste zugeben, dass er bei seiner Statur sicherlich noch nicht lange auf See unterwegs war. Es wunderte ihn beinahe, dass Andre die Katze nicht schon längst selbst gefressen hatte. Die schmächtigen Arme, die dünnen Beine … Selbst Edmund sah neben dem jungen Mann fett aus. Aber diesen Vergleich verkniff sich Trevor, laut auszusprechen. Nicht ein einzelnes Barthaar war im Gesicht zu sehen … Trevor zuckte, ob seiner Gedanken, mit den Schultern. Vielleicht war er noch sehr jung?
    Die Sonne neigte sich, und sie beschlossen, abwechselnd Wache zu halten und für den richtigen Kurs zu sorgen. Alle außer Andre. Dieser war erst einmal außen vor, denn niemand wusste, ob er das Schiff nicht vielleicht in eine andere Richtung lenken würde. Wenn sie die bisherige Reise etwas gelehrt hatte, dann, dass fremden Matrosen nicht immer zu trauen war.
    Trevor übernahm bereitwillig die erste Wache, solange sich Andre in seinem Zimmer, in seinem Bett ausruhte. Mitten in der Nacht zog er dann Edmund an seinen Beinen aus dem Bett, dass dieser die zweite Wache übernahm. Schlaftrunken wankte dieser an Deck, fluchte leise vor sich, was Trevor mit einem Grinsen bedachte. Aber auch bei ihm machte sich Müdigkeit breit, sodass er sich in das Zimmer begab, in dem Andre feste schlief. Zumindest wirkte es so. Mit einem Kissen und einer kratzigen Decke gewappnet, entledigte sich Trevor teils seiner Kleindung und legte sich auf den Boden. Er hatte schon unbequemer geschlafen … Dachte er zumindest. Just in diesem Moment, mauzte es neben ihm.
    Der Kater lief zuerst auf ihm herum und legte sich dann dreist auf sein Gesicht. „Großartig …“, murmelte Trevor und schob den Kater weg.

    Trevor schaute Esther nach, die sich auf den Weg zurückbegab. Dann betrachtete er die Münzen, die verstreut herumlagen und wandte sich Edmund zu. „Zumindest grenzt Esthers Fund unseren Suchraum ein.“
    „Das stimmt“, meinte Edmund.
    Die beiden schauten sich um und bewegten Sträucher zur Seite, schauten noch einmal in das Loch, in das Esther gerutscht war. Dass die Besatzung die Kiste in das Loch geworfen hatte, schloss Trevor aus. Wahrscheinlich wäre sie auf halben Weg steckengeblieben.
    „Hier ist was!“, rief Edmund, und Trevor begab sich umgehend zu ihm.
    „Was ist es?“
    „Sieht aus wie ein schmaler Höhleneingang.“
    Edmund war ein paar Meter den Hügel hinuntergelaufen und hatte unweit von ihnen einen Eingang entdeckt.
    „Na, das sieht schon eher wie eine Stelle aus, an der man eine Kiste voller Gold lagern würde.“
    „Vermutlich haben sie auf den Weg nach unten ein paar Münzen verloren“
    , mutmaßte Edmund. „Nur haben wir kein Licht.“
    „Das stimmt.“

    Beide hörten leises Plätschern aus dem inneren der Höhle. Anscheinend lief Wasser aus den Wänden und tropfte zu Boden. Aber ohne Fackel war nichts zu erkennen.
    Sollten sie schnell zurücklaufen und Stoff holen? Eine Lampe vom Schiff?
    Trevor stöhnte. Den ganzen Weg zurücklaufen … Das würde sie kostbare Zeit kosten. Deswegen riss er sich kurzerhand die Ärmel seines Hemdes ab und wickelte den Stoff um einen Ast. Mit den Feuersteinen, die er bei sich trug, zündete er die improvisierte Fackel an.
    Edmund grinste. „So geht es natürlich auch.“
    Beide ließen den schmalen Eingang hinter sich und betraten die Höhle. Spinnenweben hingen von der Decke, und Edmund umging diese mit einer Eleganz, die beinahe bewundernswert war. Trevor hatte aufgrund seiner Größe und Masse nicht die Möglichkeit und befreite sich lieber nach und nach von den klebrigen Fäden.
    Plötzlich stand Trevor vor einem Abgrund. „Hier geht es nicht …“, setzte er an, aber weiter kam er nicht, als Edmund ihm im Halbdunkel anrempelte. „Pass doch …“ Fluchend ergriff er den Händlersohn und wollte sich an ihm festhalten.
    „Spinnst d…“, schrie Edmund auf, aber wurde davon unterbrochen, dass er Trevors Körpergewicht nichts entgegenzusetzen hatte.
    Was auch Trevor schnell merkte, und beide den Abhang hinunterrutschten.
    Schreiend und wehklagend glitten sie den Hang hinunter, wodurch auch die Fackel erlosch.
    Als beide kaum noch Atem zum Schreien hatten, landeten sie auf etwas Weichem.
    Dem Schreien wich Husten. Irgendetwas war in der Luft, das die Atemwege reizte.
    „Großartig“, sprach Edmund und stöhnte schmerzerfüllt. „Jetzt sitzen wir in einem Loch!“
    „Ich kann die Hand nicht vor Augen sehen, so ein Mist“, ergänzte Trevor.
    „Wo ist diese Fackel?“, fluchte Edmund und begann anscheinend wie Trevor, die Umgebung abzutasten.
    „Ich hab sie!“, gab Edmund von sich.
    „D… Das ist nicht die Fackel!“
    „Oh …“
    Kurz herrschte Schweigen.
    „Würdest du deine Hand da bitte wegnehmen?“, fragte Trevor und bemerkte gleichzeitig, wie sich unwillkürlich seine Mundwinkel bewegten.
    Bevor Edmund darauf antwortete, brachen beide in heiteres Gelächter aus.
    „Warum lachst du?“, wollte Edmund von Trevor wissen.
    Der hatte aber darauf keine Antwort. Er musste einfach lachen, obwohl an der Situation nichts komisch war. Sie hockten orientierungslos in einer Höhle fest.
    Beide krochen auf dem sandigen Boden herum, ohne zu wissen, in was sie alles griffen – und das schien nicht mal Edmund zu stören. „So habe ich mir mein Grab nicht vorgestellt“, gestand dieser und lachte weiter.
    Irgendetwas stimmte nicht mit ihnen. Das merkte Trevor deutlich daran, dass er nicht aufhören konnte zu lachen. Edmund ebenfalls nicht. Normalerweise hätte Trevor kreative Hasstiraden zu ihrer Situation von Edmund erwartet, aber dieser lachte, kicherte und gluckste, während er das Offensichtliche aussprach.
    „Vermutlich hat das was mit dem Zeug in der Luft zu tun, was wir eingeatmet haben …“, erinnerte Edmund Trevor an ihre Landung.
    Natürlich, das musste es gewesen sein. „Wir müssen uns zusammenreißen!“, erwiderte Trevor, aber sein Lachen untergrub die Ernsthaftigkeit seiner Aussage.
    „Siehst du auch diese bunten Farben? Ich glaube, ich kann Gerüche sehen“, sprach Edmund.
    Trevor sah keine bunten Farben, dafür aber ein violettes Pferd, dass durch die Luft ritt. „Darum kümmere ich mich später …“, murmelte der Formwandler.
    Sie krochen weiter, nachdem sie die Fackel nicht finden konnten. Den Abhang hinaufzuklettern, den sie runtergerutscht waren, war hoffnungslos – erstrecht ohne Licht. Aber vielleicht gab es noch einen Ausgang. Wenn der Schatz hier unten war, mussten die Schiffbrüchigen auch irgendwie hinausgekommen sein.
    „Gibt es tanzende Pilze?“, fragte Edmund unterdessen.
    „Siehst du welche?“, wollte Trevor wissen.
    „… Vielleicht …“
    Wieder kicherten beide. Trevor versuchte währenddessen, den blauen Bären, der in der Dunkelheit saß, zu ignorieren. Beide Männer wussten, dass es nicht real war, was sie sahen. Aber ihr Verstand ging trotzdem auf diese Halluzinationen ein. Sie konnten sich nicht wehren. Sie begannen immer wieder zu lachen, sich mit den Gnomen und Feen zu unterhalten oder diese Wesen nach dem Weg zu fragen. Edmund versuchte sogar, hin und wieder zu reimen. Von ihrem Tod in der Höhle, aber auch das konnten beide kaum ernst nehmen, wenn sie sich darüber amüsierten.
    Doch dann sahen Trevor und Edmund das gleiche, nachdem sie um eine Ecke gebogen waren. Da war Licht – und das konnte keine Halluzination sein, denn beide sahen es.
    Um eine weitere Ecke in etwas Entfernung schimmerte das Licht von Feuer.
    Ohne sich wirklich zu fragen, wer dieses Feuer am Leben hielt, richteten sich beide auf und folgten dem Licht wie Motten.
    Nachdem sie um die Ecke gebogen waren, standen sie in einer großen Höhle, erhellt von mehreren Fackeln und Feuerschalen. Große Felsen dienten anscheinend als Ablagen, überall lag Gerümpel herum, das Edmund und Trevor als Überbleibsel eines Schiffes ausmachten. Aber dann sahen sie auch die Kiste am anderen Ende. Das Gold darin schimmerte rötlich und zauberte bunte Reflektionen an die Höhlenwand. Das, oder ihre Halluzinationen verursachten das göttliche Bild ihres Ziels.
    „Wunderbar! Wir haben ihn gefunden … den Schatz! Ich werde mir erstmal neue Kleidung kaufen und zu einem Barbier gehen. Ich sehe aus wie ein Hinterweltler …“, schwärmte Edmund.
    Trevor folgte ihm und wollte auch schon von einer Rüstung anfangen, als sie das Rasseln von Ketten hörten.
    „Ich hoffe nur, diese Fantasien hören auf“, motzte Edmund und wedelte mit seiner rechten Hand vor seinem Gesicht herum. „Diese dummen, geldgierigen Schmetterlinge … Die wollen nur unseren Schatz!“
    Trevor hatte seine Probleme damit, das Pferd, das immer noch penetrant um sie herumritt, loszuwerden. Ständig duckte er sich unter den Hufen hinweg. „Dir folgt zumindest kein violettes fliegendes Pferd!“
    Wieder erklang Rasseln. Und mit dem Rasseln bog um eine andere Ecke der Höhle eine seltsame Gestalt. Die Kleider hingen in Fetzen vom Körper – und der rechte Arm schien zu fehlen.
    „Ehm … Edmund?“, sprach Trevor, während Edmund den Inhalt der Schatzkiste untersuchte.
    „Münzen, Ringe, Ketten und …“
    „Edmund?“, wiederholte Trevor lauter und tippte dem Händlersohn wild auf die Schulter. „Siehst du das Ding da?“
    Edmund wandte sich genervt um. „Was sehe ich?“, schimpfte er. „Dieses entstellte Etwas? Wir wissen doch beide, dass wir unter dem Einfluss von irgendwas stehen.“
    „Ja, aber … wir sehen es beide!“
    Edmund schluckte trocken. „Hat deine Halluzination Kleidung der letzten Saison an?“
    „Eher der vorletzten“
    , nuschelte Trevor.
    Der Händlersohn legte eine Perlenkette beiseite. „Hässlich?“
    „Schon!“
    „Ketten?“
    „Japp!“

    Jetzt schrien beide zur Abwechslung, während jemand anderes lachte.
    „Da sind uns Diebe ins Netz gegangen“, sprach eine fremde Stimme und eine zweite Gestalt kam in die Höhle. Dieser jemand sah nicht frischer aus als die Gestalt, die an einem Fuß an einer Kette hing.
    Erst jetzt nahmen Trevor und Edmund den Gestank in der Höhle wahr.
    „Frischfleisch für die nächsten Wochen …“, sprach der Fremde weiter und grinste, wodurch seine faulen Zähne zutage kamen.
    Trevor versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber der tanzende blaue Bär im Hintergrund machte es ihm nicht einfach. Er musste seine Stärke fokussieren, aber das Misslingen brachte ihn nur wieder zum panischen Lachen.
    Edmund verlor anscheinend keine Zeit und warf dem Kerl einen goldenen Krug gegen den Kopf.
    Trevor wandte sich ihm zu und formte lediglich ein tonloses „Warum?“
    „Die wollen uns fressen! Wollen wir noch auf das Rezept warten, das er benutzen wird? Solche Leute kauen einem doch immer erst ein Ohr ab, bevor sie versuchen, einen zu töten. Ersparen wir uns das. Töte sie einfach!“ Dann lachte Edmund. „Ohr abkauen … verstehst du?!“
    „Ja, aber mit was denn?“, schrie Trevor, während der blaue Bär hinter Edmund auftauchte. „Ich habe keine Waffen bei mir!“ Trevor kicherte. „Der Wortwitz war aber gut … Ohr abkauen, weil sie Kannibalen sind. Ich verstehe …“
    Zwei weitere Gestalten tauchten hinter dem auf, der sich den Kopf rieb. „Fesselt und tötet sie. Die Reihenfolge ist egal …“
    Trevor schaute sich hektisch um, ob er etwas als Waffe benutzen konnte und ergriff einen Knochen vom Boden.
    „Ist das ein Oberschenkel?“, wollte Edmund wissen.
    „Ist das wichtig?“, fragte Trevor, aber rümpfte selbst die Nase, als er die verwesenden Fleischfetzen daran bemerkte. „Der ist nicht mal ordentlich abgekaut. Schämt euch!“
    Die drei nicht in Ketten liegenden Gestalten rannten umgehend auf Edmund und Trevor zu.
    Edmund ergriff alles Schwere, das in seiner Nähe lag und warf es nach den Kannibalen.
    Trevor hingegen ging auf sie zu und haute dem ersten den Knochen über den Schädel. Er musste die Enge zwischen dem Gerümpel ausnutzen, dass sie nicht gleichzeitig angreifen konnten.
    „Ducken!“, rief Edmund und warf einen Kerzenständer samt brennenden Kerzen.
    Trevor duckte sich, und der Kerzenständer flog einem der Kannibalen mitten ins Gesicht, wodurch seine verdreckten Haare Feuer fingen. Schreiend drehte sich dieser im Kreis und sprang kopfüber in einen Kessel.
    Trevor schlug danach mit dem Knochen zu. Blut spritzte dem Formwandler ins Gesicht, während der Kannibale vor ihm mehrere Zähne verlor. Der Formwandler trat dem Kerl gleichauf gegen den Oberkörper, aber dieser fiel nur dem Hinteren in die Arme, der ihn umgehend wieder Trevor entgegenschubste.
    Edmund rannte in die andere Richtung. Ihm gingen anscheinend die Wurfgeschosse aus, sodass er nach etwas anderem Ausschau hielt.
    Trevor versperrte den beiden den Weg und wog den Knochen in seiner Hand. Gezielt schlug er wiederholt zu, bis der morsche Knochen abbrach. Mit zertrümmerten Gesicht ging aber zumindest der erste Kannibale zu Boden, sodass Trevor seine Chance sah, Edmund zu folgen.
    Der Kannibale, dessen Haupt gebrannt hatte, richtete sich dampfend wieder auf und hatte überall Fetzen von Fleisch an sich hängen. „Meine Haare! Meine wunderschönen Haare“, beschwerte er sich.
    „Das nanntest du Haare?“, hinterfragte Edmund lautstark. „Sei froh, ich habe dich von dem Vogelnest befreit.“
    Auch wenn Edmund souverän konterte, konnte Trevor die Panik in dessen Augen sehen. Aber ihm ging es nicht anders. Gegen Kannibalen hatte der Pirat noch nie gekämpft. Er hatte von solchen Leuten gehört, die nach einem Schiffbruch Unaussprechliches getan hatten, aber noch nie sollte er selbst auf dem Mittagstisch solcher Menschen landen. Es mussten Männer der Crew sein, die noch lebten. Anders konnte er sich ihre Anwesenheit nicht erklären.
    Zudem ließ die Wirkung ihrer Halluzinationen allmählich nach, wodurch Trevor und Edmund immer mehr erkannten, wo sie sich befanden. Hatten sie zuvor nur das Schimmern des Goldes wahrgenommen, hingen nun plötzlich Gliedmaßen von der Höhlendecke, überall war getrocknetes Blut zu sehen – und zu riechen.
    „Vorher war es angenehmer“, stellte Edmund fest, und dem konnte Trevor nur zustimmen.
    „Hier!“, meinte Trevor und drückte Edmund den abgebrochenen Knochen in die Hand.
    Sichtlich unterdrückte Edmund den Kotzreiz. „Widerlich …“
    Trevor durchwühlte rasch das Gerümpel vor ihnen und fand ein kleines Messer. Dieses gab er dann Edmund und nahm lieber wieder den Knochen an sich. Die beiden Kannibalen kamen von beiden Seiten um den Felsen herum. „Ihr kommt hier nicht mehr raus. Wir haben den Ausgang versperrt, um die Steuern des Königs zu beschützen“, erklärte der menschenfressende Kassenwart.
    „Hah! Aber es gibt einen Ausgang!“, wiederholte Edmund euphorisch.
    Trevor und Edmund standen Rücken an Rücken, um beide Seiten abzudecken. Der Händlersohn fuchtelte wild mit dem Messer vor sich her, während Trevor dem Kassenwart das spitze Ende des Knochens entgegenhielt.
    „Tut uns leid, wir sind ungenießbar“, meinte Trevor.
    „Du vielleicht, aber bei dir muss man das Muskelfleisch nur lange genug kochen …“
    Trevor stach zu, aber der Kannibale wich aus. Er warf dabei die Feuerschale neben sich um und steckte die Stofffetzen am Boden in Brand.
    Trevor schlug mit seiner Faust zu und traf diesmal den Kannibalen. Ein zweiter Schlag brachte den Kerl zu Boden, weshalb er sich zu Edmund wandte und diesen neben sich stellte. Noch einmal stach Trevor mit dem Knochen zu und traf den Kerl, dessen Haupt gebrannt hatte, im Kehlkopf. Ein Schwall Blut trat hervor, der Edmund mitten im Gesicht, und Trevor am Oberkörper traf.
    Der Kannibale röchelte, und Trevor rammte ihm den Knochen tiefer in den Hals, weshalb ein zweiter Blutschwall auf ihnen landete.
    Geradezu apathisch stand Edmund da und spuckte das Blut aus. Nur sein rechtes Augenlid zuckte. Trevor war sich nicht sicher, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war.
    Unterdessen rappelte sich der Kannibale hinter ihnen wieder auf.
    Edmund und Trevor wandten sich ihm zu. Edmund betrachtete das Messer, dann seine Kleidung. Danach nahm er Anlauf, schrie und schubste den Kerl rücklings ins Feuer am Boden.
    Trevor stand erstaunt da. Edmund schien wirklich die Schnauze voll zu haben – und das nicht nur vom Blut. Aber nach der heroischen Tat, stolperte der Händlersohn über einen kleinen Felsen direkt in die Arme des angeketteten Kerls, der wohl teils die letzte Mahlzeit war. Zumindest hätte das den fehlenden Arm erklärt. Dabei flog das Messer quer durch den Raum. Trevor ignorierte den brennenden Kannibalen, der wild mit seinen Armen herumfuchtelte und in die Richtung rannte, aus der Edmund und Trevor gekommen waren. Stattdessen ergriff der Formwandler den Knochen, der noch im Hals des anderen steckte und lief auf beide zu.
    Ein spitzer Schrei erklang von Edmund, als der angekettete Kannibale ihn zu Boden warf. Anscheinend versuchte der Kannibale, Edmund in die Nase zu beißen. Gesicht an Gesicht biss der angekettete Kerl ins Leere, solange, bis ihm Trevor den Knochen in den Hinterkopf rammte. Zumindest landete dieses Blut nur auf Edmunds Kleidung und diesmal nicht in seinem Gesicht.
    „Das ist alles widerlich!“, schrie der Händlersohn und warf den Toten von sich. „Wie kann man so leben?“
    Trevor zuckte mit seinen Schultern. „Vermutlich sind sie wahnsinnig geworden.“
    „Ach wirklich?! Mir kamen sie ganz bei Sinnen vor ...“
    Trevor reichte Edmund seine Hand und half ihm auf. "Dann stell keine Fragen, wenn du die Antwort kennst."

    Beide waren über und über mit Blut bedeckt und sahen oder rochen selbst nicht besser als die Kerle aus der Höhle. „Aber wir haben den Schatz“, versuchte Trevor die Stimmung zu verbessern.
    Edmund wimmerte. „Ich will mich nur noch waschen. Diesen Geruch werde ich nie wieder los, das weiß ich.“
    „Lass uns erstmal hier rauskommen!“, erwiderte Trevor und klopfte Edmund aufmunternd auf die Schulter.
    Rasch sammelten sie alles Gold ein, verstauten es in der Kiste und schlossen sie. Der Ausgang befand sich sicherlich in dem Teil der Höhle, aus dem die Kannibalen gekommen waren. Allerdings bereuten die beiden schnell, nicht mehr gänzlich unter dem Einfluss der Substanz zu stehen, die sie eingeatmet hatten. Haut hing an Leinen von der Decke. Sicherlich war über die Hälfte der Crew gegessen worden. Knochenberge lagen herum und es stank bestialisch. Selbst Trevor musste sich zusammenreißen. Der Geruch brannte ihm in den Augen. Edmund schnappte sich ein einigermaßen – nicht blutverseuchtes – Tuch und wickelte es sich um Nase und Mund.
    „Halte nach einem großen Felsen Ausschau“, meinte Trevor. Er war sich sicher, dass die Besatzung damit den Ausgang versperrt hatte.
    Zu ihrem Unmut befand sich nur ein großer Felsen in der Höhle. Und dieser befand sich hinter dem größten Berg an Fleisch und Knochen.
    „Es war klar … so klar“, nuschelte Edmund wütend hinter seinem Tuch.
    Trevor hielt sich seinen Arm schützend vor die Nase und schaute sich den Felsen genau an. Durch einen kleinen Ritz erkannte er Tageslicht. „Ja, das ist der Fels … Allerdings müssen wir die Leichenteile wegschaffen, damit ich ihn schieben kann.“
    „Du hast nicht zufälligerweise noch eine Schippe in deiner Hose?“
    „Wenn, würde ich mir Gedanken machen“
    , erwiderte Trevor nachdenklich.
    Wenn sie in die Freiheit wollten, kamen sie nicht drum herum. Sie mussten den Ausgang freischaffen.
    „Kein Wort hierrüber … zu niemanden!“, forderte Edmund.
    „Keine Sorge … Es ist auch nicht mein glorreichstes Erlebnis.“
    Tatsächlich schafften es beide, den Ausgang so weit zu befreien, dass Trevor den Felsen wegschieben konnte. Sie ergriffen die Kiste und machten, dass sie aus der Höhle kamen.

    Es dauerte eine Weile, bis sie mit der Schatzkiste durch den unwegsamen Dschungel gelangt waren. Am Strand angekommen, ließen beide die Kiste hinter Esther und Nelli fallen, welche sich mit großen Augen zu ihnen herumdrehten.
    „Was ist denn … mit euch passiert?“, fragte Nelli schockiert, während Esther versucht war, sich die Nase zuzuhalten. Wer wollte es ihr verübeln?
    „Nichts!“, sprachen Edmund und Trevor mit einer Stimme. „Wir wollen nicht darüber reden!“
    Trevor schnipste ein Stück Fleisch von seiner Schulter, und Edmund ergriff ein Stück Haut von seiner Kleidung und warf es angewidert zur Seite.
    „Wir haben den Schatz gefunden!“, ergänzte Trevor und lachte unsicher mit hoher Stimme. „Und jetzt gehen wir uns waschen. Einfach … nur … waschen.“
    Die beiden ließen die verwundert dreinblickenden Frauen hinter sich und liefen geradewegs zum Strand.

    Edmund fuchtelte gehend mit seiner rechten Hand vor sich herum. "Scheiß Schmetterlinge ... haut ab!"

    „Wie war dein Tag so?“, wollte Trevor von Edmund wissen.
    „Ich bin froh, gerade keine Gerüche mehr sehen zu können …“
    Trevor nickte, während das violette Pferd Richtung Sonnenuntergang ritt.

    Der späte Nachmittag war hereingebrochen. Trevor und Edmund standen vor dem Gerüst und begutachteten ihre Arbeit. Edmund und Esther wirkten ausgeruhter, als noch die Tage zuvor. Nelli hatte jeden Morgen einen Tee für die Gruppe gekocht, der sie besser schlafen ließ. Trevor hatte allerdings auf den Tee verzichtet. Wer zwischen knapp hundert Männern unter Deck schlafen konnte, dem machte etwas Sonnenlicht auch nichts aus. Zudem wollte er nicht, dass irgendetwas seinen Geist beeinflusste. Nicht jetzt, wo er lernte, sich und seine Fähigkeiten zu beherrschen. Und sein seit einiger Zeit immer wiederkehrender Traum störte ihn nicht. Es war weder ein Albtraum noch etwas anderes. Er sah lediglich ein weißes Blatt Papier vor sich, das aus der Finsternis hervorstach. Jede Nacht aufs Neue tropfte schwarze Tinte auf dieses Blatt und floss zu einem aufrechtstehenden Bären, dessen Beine sich in Ketten befanden. Er wusste nichts damit anzufangen, aber vielleicht waren Träume auch nur das, was sie waren – Träume.

    Edmund nickte die Zeichnung ihres Gerüstes ab. Alles wirkte solide. Es sollte das Schiff tragen können. Trevor hoffte nun innerlich, dass das Schiff die Tortur mitmachen würde. Sie würden es mit dem Heck voran an auf das Gerüst ziehen. Der Bug war zu sehr beschädigt, um zwei dicke Taue daran zu befestigen.

    „Dann kann es wohl losgehen …“, erklang Nellis Stimme hinter den beiden.

    Trevor schluckte trocken. Ob er es schaffte, das Schiff überhaupt zu ziehen? Er konnte es nicht sagen. Das war mehr als ein paar Holzstämme umherzuziehen oder zu tragen. Allerdings war es sein Vorschlag gewesen, es so zu versuchen. Er selbst hatte sich diese Aufgabe aufgebürdet. Jetzt einen Rückzieher zu machen, kam daher nicht infrage.

    „Ist Esther so weit?“, wollte der Formwandler wissen und schaute sich nach der Magierin um, die das Schiff mit einem Schild schützen sollte. Gerade das beschädigte Bug wollten sie nicht ohne Schutz auf die Holzstämme ziehen.

    Die junge Frau hatte sich bereits neben dem Gerüst positioniert und schien darauf zu warten, dass es losging.

    Abschätzend schaute er sie an. Beide teilten einen Gesichtsausdruck, als gestanden sie sich ihre Bedenken gegenseitig ein. Trevor lächelte ihr schlussendlich zu, nickte und begab sich zu den Tauen. Wie schon zuvor, legte er sich diese über Kreuz über seinen blanken Oberkörper; seine Haut nur geschützt durch ein paar Stofffetzen.

    Nelli gesellte sich zu Esther. Vermutlich war sie ihre emotionale Stütze, während Edmund sich wortlos in etwas Entfernung vor Trevor positionierte. Der Händlersohn sollte dem Formwandler zurufen, wenn etwas schiefging oder es genug war, denn Trevor besaß am Hinterkopf keine Augen.

    Bevor Trevor begann zu ziehen, lockerte er durch Schütteln seine Oberarme. Vermutlich versuchte er nur, Zeit zu schinden. Sein Herz schlug ihm bis in den Hals. Wenn er versagte, mussten sie sich was anderes einfallen lassen – und das konnte wiederum Tage kosten.

    Ein paar Mal atmete er tief ein und aus.

    Dann mal los …

    Langsam lehnte er sich in die Taue und begann, zu ziehen. Wie sonst auch, versuchte er seine Gedanken auf seine Zeit als Pirat zu fokussieren. Dass er nun viele Anordnungen von Johnny besser verstand. Vor allem, warum Johnny gewisse Äußerungen und Befehle ihm gegenüber ausgesprochen hatte. Er kam zum Schluss, dass in all den Jahren, Johnny angefangen hatte, sich vor seinem eigenen Sohn zu fürchten. Trevor hatte seinen Kapitän stolz machen wollen, weswegen er sich mehr Mühe im Zweikampf gegeben hatte als die anderen. Der Formwandler hätte sich aber nie vorgestellt, dass ihm das eines Tages zum Nachteil gereicht hatte. Ja, er hatte irgendwann Johnny im Kampf geschlagen. Irgendwann konnte er ihm nichts mehr beibringen und alles weitere erlernte Trevor im Kampf. Vielleicht befürchtete Johnny auch, dass Trevor mit wachsenden Talenten irgendwann seinen Vater ablösen würde. Als Kapitän des Schiffes. Andererseits fragte sich Trevor, warum sein Vater ihn dann gerettet hatte. Warum hat er ihn nicht wie die anderen von der Marine gefangen nehmen lassen? Viele Dinge verwirrten Trevor, was wiederum seine Wut kanalisierte.

    Es tat sich noch nicht viel. Der Formwandler hatte alle mühe damit, auf dem Sand festen Stand zu finden, sodass er überhaupt vorankam.

    Gib dir etwas mehr Mühe!

    Trevor zog und zog, aber kam nicht voran. Er spürte, dass seine Muskeln brannten, dass er all seine Kraft in das Ziehen legte, aber es schien nicht zu reichen. Vielleicht war es für einen Formwandler schlichtweg zu viel … zu schwer …

    Ein Schrei entwich ihm, woraufhin er die Brauen in Edmunds Gesicht nach oben gehen sah. Vermutlich verstand der Händlersohn, dass es nicht funktionieren wollte.

    Esther stand vermutlich wartend neben dem Schiff. Bereit, ihren Schild aufzubauen, sobald es begann, sich zu bewegen. Nur leider tat es das nicht.

    „Du wirst versagen“, hörte Trevor seine innere Stimme zu ihm sagen. „Wie mit allem!“

    Die drei zählten auf ihn, und er würde sie enttäuschen. Wie er auf Dauer anscheinend jeden enttäuschte. Dennoch zog er weiter. Die kleine Gruppe hatte so viel für ihn getan, dass er nicht umgehend aufgeben wollte. Edmund hatte ihn aus der Kiste befreit. Esther sich um seine Wunden gekümmert und Oma viel ihrer eigenen Lebensenergie hergegeben, um ihn Vollidioten zu heilen. Er konnte jetzt nicht einfach schulterzuckend aufhören. Er biss die Zähne zusammen, raunte zunehmend lauter und zog …

    Plötzlich merkte er, wie er einen Schritt nach vorne schaffte. Einen Schritt, aber es war ein Anfang.

    Nach dem ersten folgte wie durch ein Wunder der zweite Schritt, aber Trevor verstand nicht umgehend, warum es plötzlich zu funktionieren schien. Dann schaute er in das Gesicht von Edmund und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Er dachte an die Gruppe. Daran, was sie für ihn bereits getan hatten, daran, was er nun für sie tun konnte. Dass er nicht seinetwegen nicht versagen wollte, sondern wegen ihnen.

    „Esther hat das Schild aufgebaut!“, schrie Nelli. „Zieh weiter, Junge!“

    Und das tat er. Er verlagerte seine Gefühle; rief sich Bilder ihrer Reise ins Gedächtnis. Davon, wie Edmund ihn hatte neu einkleiden lassen, wie Esther die Kiste von Trevor weggedrückt hatte … von dem Abend unter Deck, an dem sie alle mehr getrunken hatten, als gut für sie war. Von Edmunds und seinem Tavernenausflug, von dem Kuss mit Esther, Nellis stets aufmunternden Worten und ihrer teils verstörenden Wandlung in eine junge Frau … Ihr Lachen, ihre Streitigkeiten und Entschuldigungen … Es konnte nicht immer nur Wut sein, die Trevor beherrschte. Da waren auch andere Gefühle. Gefühle, die viel mehr Macht besaßen als blanker Hass.

    „Noch weiter!“, brüllte unterdessen Edmund.

    Ein plötzlicher Ruck signalisierte Trevor, dass er anscheinend das Schiff gerade auf die Rampe gezogen hatte. Jetzt galt alles oder nichts. Schritt für Schritt versenkte er seine Füße im Sand, versuchte, genug Halt für den nächsten zu finden. Aber auf der Rampe wurde das Ziehen nicht leichter. Ganz im Gegenteil. Er musste alle Kraft aufbringen, die er in sich finden konnte und dabei durfte er seine Konzentration nicht verlieren. Dabei merkte er, wie die Stofffetzen verrutschten. Die rauen Taue rissen an seiner Haut an Schulter und Oberkörper, aber eine Pause einlegen war nicht möglich.

    Der Sand rutschte unter seinen Füßen weg, woraufhin er einen Schritt zurückfiel. Wiederholt ließ er einen Schrei los. Das konnte nicht wahr sein …

    Doch plötzlich merkte er einen Widerstand an seinem Rücken. Kurz riskierte er einen Blick zurück, bei dem er bemerkte, dass Esther einen zweiten Schild aufgebaut hatte. Einen hinter seinem Rücken, der ihn davon abhielt, weiter zurückzufallen.

    „Bitte beeile dich!“, hörte er die Magierin rufen. „Beide Schilde kosten zu viel Energie!“

    Trevor schaute wieder voraus und hatte nicht vor, Esthers Hilfe allzu lange zu benötigen. Mit dem Schild im Rücken, fand Trevor schneller festen Stand und zog das Schiff immer weiter auf das Gerüst. Dabei schnaubte er sicherlich wie ein Bulle. Nicht viel anders kam er sich mit der Last im Rücken vor. Sicherlich ein amüsanter Anblick.

    Auf dem letzten Stück galt es, noch einmal die Zähne zusammenzubeißen und alles zu geben.

    Trevor konnte den Kraftakt nicht verbergen und stieß unkontrolliertes Brüllen aus. Es half ihm ebenfalls, über die Schmerzen auf seiner Haut hinwegzusehen, bei denen er das Gefühl hatte, seine Haut wurde ihm bei vollem Bewusstsein vom Körper gerissen.

    „Nicht mehr viel …“, wies ihn Edmund lautstark an. „Noch ein kleines Stück!“

    Endlich …

    Trevor schnaufte und tat drei Schritte, ehe Edmund rief, dass es genug sei.

    Das Schiff stand sicher auf dem Gerüst, und Trevor sackte auf seine Knie in den Sand. Augenblicklich streifte er sich die Taue vom Körper und senkte seinen Kopf. Er spürte, wie Blut an seinen Schultern und an seinem Bauch hinunterfloss, aber entgegen den vorherigen Schmerzen, handelte es sich bei seinen Verletzungen nur um Schürfwunden. Nichts, das nicht schnell verheilen würde.

    Trevor hörte Edmunds Schritte im Sand. „Ich hätte nicht gedacht, dass unser Gerüst hält“, meinte der Händlersohn

    Trevor lachte. „Wenn das deine einzigen Bedenken waren …“

    Der Formwandler öffnete seine Augen und starrte beharrlich vor sich in den Sand. Es kostete all seine Selbstbeherrschung, nicht vor Erleichterung einfach zu weinen. Die Erkenntnis, dass nicht nur Wut, sondern ebenso das Gefühl von Sorge, Freundschaft und Geborgenheit seine Kräfte auslösen konnten, übermannten ihn geradezu. Das hieß vor allem, dass er nicht das Monster sein musste, vor das ihn sein Vater gewarnt hatte. Seine Stärke konnte ebenso durch etwas Gutes hervorgerufen werden. Er konnte damit Gutes tun. Mehr, als sie zum Töten anderer einzusetzen. Das Schiff aus dem Wasser zu ziehen hatte mehr mit ihm gemacht, als ihm nur das Ausmaß der Fähigkeiten von Formwandlern zu offenbaren. Auch, wenn er sich geschwächt und ausgelaugt fühlte. Er fühlte sich gut. Hungrig, aber gut.

    „Nein, aber es wäre frustrierend gewesen, wenn nach der Schinderei das Gerüst samt Schiff einfach umgefallen wäre.“

    Trevor schloss noch einmal seine Augen und warf seine Stirn in Falten. Er konnte nicht verhindern, dass sich eine einzelne Träne löste, über seine Wange floss und sich schlussendlich mit dem Blut auf seinem Oberkörper vermischte.

    „Kein Grund zu heulen, du bekommst auch eine Extraportion Essen“, erwiderte Edmund und reichte ihm die Hand.

    Trevor ergriff sie und stand auf. „Ich heule nicht … Ich schwitze … durch meine Augen.“

    Edmund lachte. „Natürlich.“

    „Das hat doch wunderbar funktioniert“, hörte er Nelli sagen, deren Stimme sich näherte.

    Schnell wischte sich Trevor die Tränenspur von der Wange und nickte. Noch einmal atmete er tief durch und wandte sich den beiden Frauen zu.

    „Ohne Esthers Hilfe hätte ich das aber nicht geschafft“, gestand der Formwandler und grinste.

    Esther lächelte und wirkte etwas zurückhaltend. „Ich bin froh, dass es so gut … geklappt hat!“ Sie musterte ihn. „Geht es dir gut?“

    Trevor sah überrascht an sich hinunter. „Ja, alles in Ordnung. Taue sind nicht aus Seide … leider. Und dir?“

    Sie nickte. „Mir geht es gut!“

    Darum sollten wir uns kümmern“, wandte Nelli ein und zeigte auf die Schürfwunden, aber Trevor winkte ab.

    „Nein, das ist schon gut. Das heilt auch ohne Hilfe. Ich werde mich nur waschen gehen.“

    „Ich habe noch so viel Salbe übrig“, konterte Oma. „Die muss weg, bevor sie ranzig wird.“

    Trevor lächelte beschwichtigend und gab nach. Bevor er schlafen ging, war sicherlich Zeit, sich etwas Salbe aufzutragen, bevor er sich anhören musste, dass sich jede Art Wunde entzünden konnte.

    „Dann können wir anfangen, das Schiff richtig zu reparieren“, verkündete Edmund, und alle stimmten zu.

    „Wir sollten gleich nach dem Essen anfangen“, erwiderte Trevor, und sein Magen stimmte diesem Vorschlag lautstark zu. Anscheinend verbrauchten seine Fähigkeiten ähnlich der Magie Energie. Bei Trevor äußerte sich das durch einen gesteigerten Appetit und Schwindel, wenn er seinem Hunger nicht nachkam.

    Trevor lief zum Süßwasserteich, von wo aus sie ihr Trinkwasser bezogen und schüttete sich aus Eimern etwas Wasser über den Körper, sodass das Blut abgewaschen wurde. Sich noch mit Salzwasser quälen wollte er dann doch nicht. Danach lief er zurück und gesellte sich zu den anderen zum Essen. Dabei besprachen sie, welchen Teil des Schiffes sie sich zuerst widmen wollten. Alle waren für das Bug. Denn, wenn ihnen das Material ausging, waren ein paar Löcher oberhalb der Wasserkante egal, aber unten musste das Schiff dicht werden. Somit begannen sie, die alte Nussschale wieder instand zu setzen.

    Immer wieder kam Nelli auf ihre Kosten, wenn Edmund sich mit dem Hammer auf seine Finger haute. Trevor fand es erstaunlich, wie oft das einem einzelnen Menschen passieren konnte. Aber vermutlich konnten sie schon froh sein, dass er den Hammer richtig herum hielt. Trevor reichte Esther das Kalfaterwerkzeug. Damit sollte sie die Kauder- und Baumwollstreifen, die sie gefunden hatten, in die Ritze der Planken klopfen, nachdem Edmund sie angebracht hatte. Das alles war nicht einfach. Weder die eine noch die andere Arbeit. Allerdings zog es Trevor vor, sich alleine um das heiße Pech zu kümmern, das danach mit einem Dweiel – einer Art Stoffbommel an einem Stock – aufgetragen wurde, um alles abzudichten. Er wollte nicht riskieren, dass sich einer von ihnen verbrannte. Und bei den handwerklichen Künsten von Esther und Edmund, sah Trevor das leider kommen. Das sagte er ihnen aber nicht. Viel lieber lobte er sie für das, was sie schafften, und rügte sie nicht dafür, was sie nicht an einem Tag erlernten. Das hatte er an Bord eines Schiffes immerhin auch nicht. Die Arbeitseinteilung sorgte zudem dafür, dass sie schnell vorankamen, während Nelli sich um das Innere des Schiffes kümmerte. Die kleinen Zimmer unter Deck wurden von ihr akribisch gesäubert, alte Kissen und Decken gewaschen und nach kurzer Zeit erstrahlte die alte Nussschale geradezu in neuem Glanz.

    Trevor war nach dem Gespräch mit Esther ins Lager zurückgekehrt. Nelli wollte noch einmal zu einer Entschuldigung ansetzen, aber der Formwandler wiegelte dies gleich ab. Nelli traf immerhin wirklich keine Schuld. Er legte der Alten seine Hand auf die Schulter und lächelte sie an. „Vergiss es einfach. Das werde ich auch tun.“

    Nelli musterte ihn sichtlich besorgt, zuckte aber schließlich mit den Schultern. „Wenn du meinst, Bursche.“

    „Übrigens …“, kam von Edmund aus der anderen Richtung. „… dein Vater bleibt auf der Insel. An Bord dulde ich keine Geister!“

    Trevor begann zu lachen. Das war ihm auch am liebsten. Und er war froh, dass Edmund keine Fragen stellte. Der Händlersohn hatte bereits die Zeichnung für das Gerüst in der Hand, auf die Trevor einen Blick warf. Beide waren sich einig, dass es Zeit wurde, von der Insel zu verschwinden.

    Die paar Seile, die sie gefunden hatten, würden sie noch brauchen, deswegen warf er den Frauen einen Blick zu. „Wir brauchen lange Seile!“, meinte Trevor dann. „Am besten ist, wir nutzen, was der Dschungel hergibt! Ihr könnt Lianen sammeln und sie zu langen Seilen drehen. Damit ziehen Edmund und ich dann das Holz aus dem Dschungel!“

    „Das machen wir, Junge“, bestätigte Nelli.

    Esther nickte, und Trevor kam nicht umhin, ihre roten Wangen zu bemerken. Erstaunt zog er die Brauen hoch.

    „Vielleicht solltest du erstmal eine Weile aus der Sonne, bevor dein Gesicht verbrennt“, schlug er Esther vor.

    „Das kommt nicht von der Sonne …“, antwortete Nelli kichernd.

    „Mir geht es gut!“, erwiderte Esther und schaute die Alte von der Seite an.

    Trevor zuckte mit den Schultern. Vielleicht hatte sie nicht ausreichend getrunken oder Ähnliches.

    Räuspernd stand Edmund neben Trevor und erhob seinen Finger. „Sehe ich aus, als würde ich bei dieser Hitze Holz aus dem Dschungel ziehen?“

    Trevor rollte mit seinen Augen.

    „Du kannst auch gerne den Frauen bei der Seilherstellung helfen, wenn das dem edlen Herrn genehmer ist?!“, murrte Nelli.

    Esther sah Edmund derweil an. „Ihr wollt doch auch von der Insel runter. Also solltet Ihr vielleicht mitanpacken“, ergänzte sie.

    Trevor hob schlichtend seine Hände, bevor die Frauen Edmund noch als Galionsfigur ans Schiff binden würden. „So meinte ich das auch gar nicht. Die schweren Sachen übernehme ich! Allerdings kann Edmund bereits andere Bäume fällen, während ich die Gefällten zusammentrage, festbinde und dann hierherbringe.“

    „In welcher Welt ist Bäume zu fällen eine leichte Arbeit?“, wollte Edmund wissen.

    Aber auf diese Diskussion ließ sich Trevor nicht ein. Ein bisschen würde der Händlersohn schon schwitzen müssen. Und wenn Trevor die Gesichter der Damen betrachtete, würde er das spätestens, wenn er mit ihnen ging.

    Trevor legte sein Hemd ins Lager. Die Hitze würde sicherlich auch ihm zu schaffen machen, und das Hemd zerreißen wollte er auch nicht, wenn er die Stämme hinter sich herzog.

    Er schnappte sich die Axt, ein paar Stofffetzen und Edmund am Kragen dessen Hemdes und zog ihn kurzerhand hinter sich her.

    Nelli und Esther verschwanden derweil im Dschungel, um sich direkt an die Seile zu machen.

    „Was soll das?“, beschwerte sich Edmund und richtete seine Kleidung, nachdem Trevor ihn losgelassen hatte.

    „Ich wollte nur sichergehen, dass du nicht doch noch Seile flechten gehst!“

    „Ich werde keine Bäume fällen!“, wiederholte Edmund und ging Trevor nach.

    „Und wie du das wirst!“, widersprach der Formwandler ernst. Trevor wusste nicht für was, aber schaden konnte Edmund das Wissen darüber nicht. Wenn der Händlersohn mit der Arbeit nicht nachkam, konnte er ihm immer noch helfen.

    An einigen Bäumen zeigte Trevor Edmund, wie man Bäume fällte. Dass die Fallkerbe wichtig war, und er den Baum nicht komplett bis zur Kerbe durchhacken sollte. Die Bruchkante sollte stehenbleiben, damit der Baum nicht doch noch unkontrolliert umfiel. Trevor würde dann am Seil den Baum kontrolliert umziehen. So war auch sichergestellt, dass sich Edmund aus der Gefahrenzone begeben konnte.

    Edmund schien genervt und nicht wirklich zuzuhören.

    Trevor war klar, dass der Händlersohn solche Arbeiten nicht gewohnt war. Er bekam das Gefühl, es mit einem trotzigen Schiffsjungen zutun zu haben. Das half ihnen aber auf der Insel nicht weiter. Wenn Trevor all diese Arbeiten alleine erledigen musste, würde es noch länger dauern, von der Insel herunterzukommen. „Ich hoffe, du hast zugehört“, fuhr Trevor fort. „Wenn nicht, brauchst du dir vielleicht über harte Arbeit alsbald keine Sorgen mehr zu machen.“

    „Jaja“, erwiderte Edmund und winkte ab.

    Trevor reichte ihm die Axt und betrachtete die gefällten Bäume. Diese hatten sie bereits entastet, sodass der Formwandler sie direkt zum Lager bringen konnte. Nur … Konnte er diese Stämme wirklich einfach anheben, um sie am Strand zu stapeln?

    Trevor begab sich zum unteren Ende des Stammes und versuchte, ihn anzuheben. Wie ein Kind an einem zu schweren Stein hing er an dem Ende und schaffte es nicht. Immer wieder setzte er an, aber das Holz bewegte sich keinen fingerbreit.

    Urplötzlich hörte Trevor ein Lachen aus Edmunds Richtung, der den Anblick des Formwandlers anscheinend mehr als amüsant fand. „Schön, wenn es dich amüsiert …“, presste Trevor zwischen seinen Zähne empor, während er immer noch versuchte, den Stamm anzuheben.

    „Was genau versuchst du da?“, wollte Edmund wissen.

    „Ich versuche, den Baumstamm hochzuheben!“

    „Klappt wohl nicht ganz“, kam spöttisch zurück.

    „Das Gleiche könnte ich über deine Fällarbeiten sagen …“, antwortete Trevor.

    „Ich habe noch nicht mal angefangen …“

    Trevor stöhnte. Irgendwie hätte ihm das klar sein müssen. „Dann fang an!“, befahl er.

    „Ich nehme keine Befehle von einem Piraten entgegen!“ Edmund griff aber trotzdem nach der Axt.

    Trevor knirschte mit seinen Zähnen. „Hör auf, dich wie ein reiches Kind zu benehmen, das man zwingt, seine eigenen Räumlichkeiten zu säubern! Wir arbeiten hier alle zusammen am gleichen Ziel!“

    „Was ist dein Problem? Ich habe die blöde Axt doch genommen! Wag es nochmal mich als Kind zu bezeichnen, und du kannst deine blöden Bäume allein fällen!“

    „Ich. Habe. Kein. Problem!“, maulte Trevor, hob den Stamm an, allerdings so schwungvoll, dass er rotierend aus dem Dschungel katapultiert wurde. Sichtlich überrascht starrte der Formwandler dem Stück Holz nach, das im Sand zum Erliegen kam. „Geht doch!“, stieß Trevor danach erfreut aus und wandte sich Edmund zu. „Mach ruhig weiter!“

    Edmund sah Trevor blinzelnd an. „Womit?“

    „Mich wütend zu machen. So scheint es zu funktionieren.“

    „Funktioniert was?“

    „Die Stärke eines Formwandlers hervorzurufen. Oder was glaubst du, warum ich einen halben Baum anheben konnte? Das ist das, was mein Vater mir unbedingt ausrichten wollte … Dass ein Formwandler mehr kann, als andere Menschen nachzumachen …“

    „Aha. Dein Vater.“ Edmund verdrehte die Augen, hob die Axt an und wandte sich einem Baum zu. „Der Geist ...“, fuhr Edmund spöttisch fort und schlug mit der Axt zu. „Ihr seid doch alle nicht mehr zurechnungsfähig! Diese schräge Alte belügt dich mit irgendwelchem Klamauk, und du glaubst ihr den Schwachsinn auch noch!“ Die Axt verkeilte sich im Baum, und Edmund versuchte sie herauszuziehen, indem er seinen Fuß gegen den Stamm stemmte.

    Trevor stemmte unterdessen seine Arme in die Hüfte. „Sie hat nicht gelogen. Der Geist war Johnny, der sich als mein Vater herausgestellt hat. Er wusste Sachen, die ich keinem von euch erzählt habe. Wie den Vorfall von der Rosalie. Das war etwas zwischen ihm und mir. Oma mag viele Talente haben, aber das hätte sie nicht wissen können.“ Trevor lachte. „Und nach allem, was wir durchgestanden haben, zweifelst du an ein paar Geistern? Und das ich den Baum gerade zum Strand geworfen habe, erscheint mir auch ziemlich echt.“

    „Was weiß denn ich?! Nur, dass ich auf einer verfluchten Insel mit verfluchter Hitze und einer Hand voll Spinnern festsitze, die nicht mehr alle beisammen haben! Ihr seid alle komplett wahnsinnig! Ich kann wahrscheinlich froh sein, wenn ich das überlebe und nicht ende wie der Steuermann!“

    Edmund schien mit allem überfordert zu sein, aber anstatt innerlich das Verhalten zu entschuldigen, nutzte Trevor die gefallenen Anschuldigungen. Er ging zum nächsten Baum, umfasste das Gefühl, das die Worte ihn ihm auslösten und hob langsam den Baumstamm an. Und diesmal gelang es ihm auf Anhieb. Trevor platzierte ihn auf seiner Schulter, balancierte ihn aus und lief damit zum Rand des Dschungels. Hier ließ er ihn fallen und kehrte zu den anderen zurück. Mit jedem Mal, den er einen Baumstamm hochhob, wurden sie leichter. Er beachtete Edmund nicht. Sprach zu ihm kein Wort, damit er dieses Gefühl in sich nicht losließ.

    Er befürchtet, zu enden wie der Steuermann …

    Wir sind ein Haufen Spinner? Dann ist er unser König!

    Er durfte die Wut nicht verebben lassen. Deshalb musste er aufhören, sich durch Gedanken noch selbst zum Lachen zu bringen. Trevor schulterte den letzten Baumstamm, den Edmund gefällt und entastet hatte und ging zum Strand.

    „Hier sind die …“, hörte er plötzlich eine Stimme neben sich und wandte sich dieser überrascht zu. Ein spitzer Schrei folgte und er sah, wie sich Esther unter dem Stamm durchduckte.

    Trevor ließ sofort das Holz über seinen Rücken auf den Boden fallen, wo es hinter ihm im Sand landete. Direkt vor den anderen Holzstämmen, die er bereits hier platziert hatte. „Entschuldige, ich habe dich nicht gesehen. Alles in Ordnung?“

    „Ja … alles in Ordnung, denke ich …“, antwortete sie mit zittriger Stimme und streifte sich eine Haarsträhne zurück. „Hier sind die Seile.“

    „Danke …“ Trevor musterte sie. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich musste mich nur konzentrieren und hatte anscheinend alles andere ausgeblendet.“ Er begann umgehend, die Baumstämme zusammenzubinden, sodass sie ein großes Paket ergaben.

    „Es ist ja nichts passiert“, erwiderte sie und musterte die Baumstämme. „War das nicht anstrengend? Die Stämme müssten doch schwer sein?“

    Trevor nickte. „Sind sie auch. Zumindest, wenn ich nicht … konzentriert genug bin. Aber Formwandler können anscheinend mehr, als die Form anderer Menschen anzunehmen. Das ist das, was mein Vater mir eigentlich in unserer Situation sagen wollte.“ Und wiederholte somit, was er bereits Edmund gesagt hatte.

    Esther sah Trevor an. „Scheinen nützliche Fähigkeiten zu sein.“

    „So nützlich wie sie sein können, wenn man nicht als richtiger Formwandler erzogen wurde, weil der eigene Vater einem nicht vertraute. Aber ja, etwas mehr Muskelkraft schadet uns wohl nicht.“ Er legte sich die Seile zurecht, die er nutzen wollte, um die Stämme zu ziehen. Sie sollten in etwas Entfernung seine Brust überkreuzen. Ähnlich wie bei einem Kaltblut, das eigentlich für solche Arbeiten genutzt wurde. Aber Trevor ging nicht davon aus, irgendwo auf der Insel ein Lastentier zu finden.

    Die junge Magierin dachte anscheinend nach. „Das tut mir leid mit deinem Vater.“ Sie zögerte etwas, bevor sie weitersprach. „Falls du Hilfe brauchst oder mit jemanden reden willst … Ich höre dir zu.“

    Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein zaghaftes Lächeln ab, das bei Trevor Stirnrunzeln verursachte.

    Sie muss verschwinden! Sie ist viel zu nett! So kann ich meine Fähigkeiten vergessen! Vor allem, wenn sie mich anlächelt wie einen verletzten Hundewelpen.

    Das Gefühl, das er vorher umklammert hatte, war gänzlich verschwunden und während er Esther ansah, konnte er es auch nicht in sich finden.

    Im gleichen Moment kam Edmund mit geschulterter Axt aus dem Wald. „Ich glaube, ihr beiden solltet endlich mal zur Sache kommen, das kann man sich ja nicht anschauen …“, sprach der Händlersohn im Vorbeigehen.

    „Bitte was?“, entglitt es Trevor, der dabei war, sich die Seile umzulegen und die Stofffetzen zwischen seiner Haut und den Seilen zu platzieren. Hatte er was nicht mitbekommen?

    „Was meint er?“, murmelte Esther neben Trevor ebenso unwissend.

    „Sowas staut sich an. Ist sicher nicht gesund. Kein Wunder neigst du zur Gewalttätigkeit.“

    Trevor fiel metaphorisch das Kinn in den Sand. Er starrte Edmund an, der sich anscheinend auf den Rückweg begab.

    Unterdessen spannte Trevor die Seile. „Ich staue dir gleich was …“, antwortete er und sah abwechselnd von Esther zu Edmund.

    Die Gräfin schien nicht wirklich zu verstehen, was der Händlersohn da von sich gab. Also, entweder wollte sie es nicht verstehen oder tat es nicht.

    „Was? Hat die Gräfin dir eine Abfuhr gegeben?“ Edmund klopfte Trevor grinsend auf die Schulter. „Armer kleiner Pirat. Das wird schon noch.“

    Trevor schnappte nach Edmund, aber dieser sprang lachend zur Seite und bedachte den Formwandler mit einem mitleidigem Blick. Trevor begann, sich in Bewegung zu setzen, vor allem, weil er Edmund an den Kragen wollte. „Dir ist klar, dass du die Gräfin beleidigst und nicht mich …“

    „Ich beleidige niemanden. Ich gebe nur den Ratschlag. Wo bietet sich das besser an, als auf einer einsamen Insel.“

    „Ich kann dir versichern, dass es da nichts gibt, das einen Ratschlag bedarf! Vor allem nicht von dir“, äußerte Trevor und zog die Stämme hinter sich her.

    Edmund grinste weiter. „Ja, offenbar. So viele Ratschläge kann man dir gar nicht geben, wie du sie bräuchtest.“

    „So viele gleich … Da bin ich wahnsinnig gespannt …“, nuschelte Trevor hörbar sarkastisch. Spürbar lastete das Gewicht auf seiner Brust, aber er ignorierte es gekonnt.

    „Wo soll ich anfangen?“

    „Wie wäre es mit dem gravierendsten Punkt?“, schlug Trevor schwer atmend vor, während sich alle seine Muskeln anspannten.

    „Der gravierendste Punkt? Bitte! Es wäre sicherlich hilfreich, keine Baumstämme durch die Gegend zu tragen als wären es Zahnstocher! Das ist nicht normal! Oder Leute zu morden wie ein völlig Gestörter! Da will ich gar nicht wissen, was du mit dem jemanden machst, mit dem du vögelst!“

    „Derjenigen!“, blökte Trevor. „Wenn überhaupt wäre es eine Frau!“

    „Von mir aus! Aber oh Wunder, auch Frauen finden es nicht gerade erheiternd, wenn vor ihren Augen ein Schädel zu Mus geschlagen oder aufgespießt wird! Du bist völlig übergeschnappt!“

    Trevor schwieg erstmal. Dem Punkt konnte er wohl kaum widersprechen. Allerdings waren Frauen bei solchen Dingen auch seltener dabei. Zumindest sollten sie das nicht sein. Dass es in ihrer Situation anders gekommen war, dafür konnte Trevor nichts. Zum Thema Beischlaf war das auch unerheblich. Nelli war Trevor ein paar Tage zu alt und mehr eine Großmutter. Und Esther? Allein daran einen Gedanken zu verschwenden, wäre völlig unnütz gewesen. Trevor musste zugeben, dass bei Esthers Anblick sicherlich einige Männer mit dem Gedanken des Umwerbens spielten, aber … Für Trevor war das Aussehen einer Frau zwar nicht unwichtig, was Esther aber vielmehr von vielen anderen unterschied, war ihr guter Charakter. Hilfsbereit, besorgt. Das hatte Trevor bisher selten am eigenen Leib erfahren. Das änderte aber nichts daran, dass die Gräfin für Männer wie ihn unerreichbar war. In seinem Fall konnte er höchstens eine Obdachlose beeindrucken. Und die waren nicht dafür bekannt, sonderlich ansehnlich noch höflich zu sein.

    Konzentration!

    Er konnte den Lagerplatz bereits sehen. Er musste nur noch ein Stück durchhalten. Hinzu kam, dass er den Schwindel unterdrücken musste, der sich allmählich in sein Bewusstsein kämpfte. Schwere Lasten zu tragen war alles andere als leicht auf Dauer. „Noch mehr so weise Ratschläge?“, presste er hervor und zog weiter.

    „Eigentlich schon. Aber ich habe auch keine Lust mehr weiterhin Atem an jemanden zu verschwenden, der es sowieso nicht wert ist. Ein dreckiger Pirat, der einem in den Rücken fällt! Ich hätte dich damals in dem Käfig lassen sollen. Im Nachhinein war der Käfig sogar gut, um alle um dich herum vor dir zu schützen ... Du beschützt niemanden vor Gefahren, du bist die Gefahr!“

    Trevor blieb stehen und hob die rechte Augenbraue. „Echt jetzt?“, fragte er und atmete ein paarmal tief durch. Wenn er sich genauer umsah, reichten die paar Meter zum Schiff und Lager aus. Er befreite sich von den Seilen und fuhr sich über sein Gesicht. Seine Sicht war bereits verschwommen und er brauchte eindeutig eine Pause. Die acht Holzstämme, die er zum Schiff gebracht hatte, waren fürs Erste genug. Später ging es sicherlich wieder. „Du hättest vielleicht beim Thema Frauen bleiben sollen“, sprach Trevor weiter, als ihm mehr Atem zu Verfügung stand.

    Edmund seufzte. „Heißt das, ich darf aufhören, dich wütend zu machen? Ich habe nämlich keine Lust mehr.“

    Trevor nickte. „Ich habe auch keine Lust mehr, wütend zu sein. Ich muss mir dazu etwas anderes einfallen lassen.“

    „Super. Ich weiß nicht mehr, was ich mir noch aus den Fingern saugen soll.“

    Esther kam ihnen nach und schaute beide fragend an. „Was genau war das?“

    Die Männer sahen sich an, dann schauten sie zu Esther. „Was genau meinst du?“, fragten sie synchron.

    „Diese Beschimpfungen und diese Aussprache! Musste das sein?“ Sie klang nicht wirklich wütend, wenn das Trevor beurteilen musste. Mehr verwirrt. Vielleicht doch eher beides?

    „Trevor kann nur, wenn er wütend ist“, erklärte Edmund trocken und zuckte mit seinen Schultern.

    Trevor plusterte seine Wangen auf und wurde wahrscheinlich rot im Gesicht. „Musst du das so formulieren?“, beschwerte er sich. „Wenn, dann erkläre es richtig …“ Der Formwandler wandte sich Esther zu. „I… Ich kann diese Kräfte bisher nur … hervorrufen, wenn ich wütend bin.“

    „Stimmt, das andere kann ich nicht beurteilen“, mischte sich Edmund grinsend ein.

    Trevor seufzte. „Ich musste mich wieder konzentrieren, nachdem du die Seile gebracht hattest. Deswegen half mir Edmund dabei.“

    Bei Esther war trotz der Erklärung noch ihre Zornesfalte zu sehen. Aber sie atmete einmal tief durch und nickte verstehend.

    Die drei liefen zum Lager, wo Nelli Wasser und etwas Obst bereitgestellt hatte. Als sie Trevor sah, nickte sie anerkennend und schlug ihm auf die Schulter. „Gut gemacht, Junge. Ihr alle habt das gut gemacht!“

    Trevor nahm das lächelnd hin und trank etwas Wasser aus einer Holzschale.

    Es würde noch ein paar Tage dauern, bis sie genug Holz für das Gerüst zusammen hatten, aber alle schienen optimistisch, es zu schaffen.

    Trevor betrat den Dschungel. Er hatte gar keine Ahnung, wohin er laufen sollte oder wollte. Das Einzige, was er wusste, war, dass er irgendwo Ruhe finden wollte. Ein Sturm tobte in seinem Kopf, den er so noch nie zuvor verspürt hatte. Nicht nur, dass sein Kapitän, nein Vater, ihn jahrelang belogen hatte … Johnny hatte ihn gehalten wie ein wildes Tier, das er nur von der Leine gelassen hatte, wenn es anscheinend zu seinem Vorteil gewesen war. Nun dachte der tote Seebär, dass Trevor ohne ihn anscheinend vollkommen außer Kontrolle geraten würde. Mürbe lehnte er sich an einen Baum und rutschte auf den Boden. Seine offenen Handflächen ruhten auf seinen angewinkelten Knien, und er betrachtete sie ausgiebig. Ja, es klebte Blut an diesen Händen, aber er hatte nie grundlos getötet. Die oftmals übertriebene Art diente nur dazu, ihm andere Schläger, Mörder oder Piraten vom Hals zu halten, aber er hatte sich nie zu ihnen gezählt. Hätte so jemand eine junge Frau vor einer Entführung bewahrt? Vermutlich nicht. Trevor schloss seine Augen und hob seinen Kopf Richtung Baumkronen. Vielleicht war er etwas zwischen ihnen, denn als Held würde er sich auch nicht bezeichnen. Etliche Kämpfe passierten sein inneres Auge, und unfreiwillig warf er seine Stirn in Falten. Eines musste er zugeben: Es lag ihm tatsächlich im Blut!
    Aber musste das etwas Schlechtes sein? Sein Vater hatte sich gegen das Leben eines Formwandlers entschieden. Trevor kannte das Leben von ihnen nicht und er hatte auch nicht vor, ein Leben wie sie zu führen. Aber vielleicht konnte er den Teil akzeptieren, der seinen neuen Freunden und ihm weiterhelfen würde. Er war nun mal der Einzige unter ihnen, der Kampferfahrung vorweisen konnte. Dafür konnte er nicht zaubern oder Tränke brauen.
    Plötzlich spürte Trevor einen Wassertropfen in seinem Gesicht und er öffnete daraufhin seine Augen wieder. Dunkle Wolken waren aufgezogen und Donnergrollen war zu vernehmen.
    Hoffentlich ziehen sich die anderen ins Schiff zurück!
    Kaum waren die ersten Tropfen gefallen, schienen die Wolken aufzureißen und ein starker Regen setzte ein. Der ganze Dschungel trommelte, und Trevor blieb sitzen. Wasser lief ihm am Gesicht hinunter, das er nur gelegentlich mit seiner Hand von seinem Kinn wischte.
    „… und du hast das Gefühl, die Magierin fühlt sich allein mit dir wohl?“, hallte es in Trevors Kopf wider. „Wenn das in ihren Kreisen herauskommen würde, würde diese junge Frau vollständig ihr Ansehen verlieren.“ Das waren Sätze, gegen die sich Trevor nicht wehren konnte. Taten, für die es keine wirkliche Entschuldigung gab. Er konnte solch einen Vorfall nur für sich behalten und hoffen, dass es andere ebenso taten. Er war nicht hochgeboren, aber das hatte er sich nicht ausgesucht. Niemand konnte sich aussuchen, als was oder wer er zur Welt kam. Dennoch bestimmte die Welt den Platz eines jeden. Jemand wie er wurde nicht plötzlich geachtet. Das Einzige, was ihm übrigblieb, war, dass er gefürchtet wurde. So war es zumindest in seiner bisherigen Welt gewesen. Piraten brauchten nicht nur ein loyales Gefolge, sie brauchten auch einen Ruf, der ihre Schiffe beschützte. Trevor war sich im Klaren darüber, dass er nie wieder ein Pirat sein wollte. Dennoch galt für ihn wahrscheinlich das gleiche. Wenn er die kleine Gruppe beschützen wollte, dann ging das nicht mit Geld oder einem Gefolge. Es ging nur darüber, wer er war und was er konnte. Er musste damit ins Reine kommen. Er musste sich entscheiden! Trevor hatte immer versucht, der gute Kerl zu sein. So zu sein, wie seine Mutter ihn haben wollte. Danach hatte er versucht, so zu sein, wie Johnny ihn haben wollte. Vielleicht musste damit Schluss sein. Es war an der Zeit, herauszufinden, wie er sein wollte. Edmund, Nelli und Esther waren immerhin bisher nicht schreiend vor ihm weggelaufen. Und Esther hatte ihm den Dolch zurückgegeben. Würde sie in seiner Nähe Todesängste ausstehen, hätte sie ihm wohl kaum eine Waffe in die Hand gedrückt. Jetzt war ihm offenbart worden, dass er noch viel mehr konnte, als geschickt eine Waffe zu schwingen. Über das Ausmaß seiner Fähigkeiten war er sich nicht bewusst, aber er würde es auch nicht herausfinden, wenn er hier sitzenblieb.
    Trevor rappelte sich auf und schaute sich durchnässt um. Der Baum, an dem er gelehnt hatte, war vom Stamm her gerade so breit, dass er als einer der Pfosten für das Gerüst herhalten konnte. Davon brauchten sie ein paar. Gut war, dass ihm keiner zusah. Zur Sicherheit schaute er sich aber noch einmal um. Danach stemmte er sich gegen den Baum und begann, zu drücken. Mit aller Kraft versuchte er, den Baum umzuwerfen, aber es geschah … nichts. Durch den Regen wurde die Rinde rutschig, was es nicht einfacherer machte.
    Von wegen stärker ….
    Trevor konnte von dieser Stärke nichts spüren. Er hing wie jeder andere Sterbliche an dem Baum. Aus der Ferne würde es jeder wahrscheinlich für eine innige Umarmung halten.

    Drei Stunden später … hing Trevor immer noch am gleichen Baum. Mittlerweile war es dunkel geworden. Er sah kaum die eigene Hand vor Augen. Schwer atmend hing er mit der Schulter am Stamm und das Mistding hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Sein Haarband hatte er irgendwo verloren, sodass ihm sein langes, dunkles Haar am Rücken und im Gesicht klebte. Zumindest hatte es aufgehört zu regnen, und es war schwül geworden. Trevor konnte nicht mehr unterscheiden, ob er geschwitzt oder nassgeregnet war. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem.
    „So funktioniert das nicht!“, sprach er zu sich selbst und richtete sich auf. „Ich weiß ja nicht, was du für eine Stärke gemeint hast, aber allem Anschein nach besitze ich sie nicht!“
    Anstatt auf Trevor herumzuhacken, hätte Johnny ihm lieber genau beschreiben sollen, wie er sie nutzen konnte. Geister … Der Formwandler war also genauso hilfreich wie vorher. Sie würden mühselig jeden einzelnen Baum fällen und an den Strand transportieren müssen. Trevor war sich bewusst, dass das Tage, wenn nicht Wochen, dauern konnte. Wütend schlug er deswegen gegen den Baum, woraufhin ein Stück Rinde abplatzte. Überrascht zog Trevor die Brauen hoch und kniff die Augen zusammen. Im wenigen Licht des Mondes, der durch das Blätterdach schien, erkannte er seine die kahle Stelle des Baumes und die Delle, die er ins Holz gehauen hatte. „Wut …“, erinnerte er sich. Johnny sagte, dass Wut sein Antrieb war. Aber wie sollte er diese kontrollieren? Wütend zu sein war wie Lachen. Das geschah einfach.
    Werd wütend, Trevor …
    Während er versuchte, sich einen Weg auszudenken, wütend zu werden, sammelte er lange Lianen, die er zu einem dicken Tau verband. Wütend zu werden, konnte nicht so schwer sein. Oder? Er rief sich alle Beschimpfungen sind Gedächtnis, die man ihm jemals gegen den Kopf geworfen hatte, band das eine Ende des Taus währenddessen um sich und ging zum Baum zurück. Das andere Ende band er um den schmalen Baum. Und das so weit oben, dass er davon ausging, den Baum umziehen zu können. Als alles fertig war, startete er einen neuen Versuch. Trevor zog und zog. Dabei dachte er daran, wie Johnny ihn als außer Kontrolle geratenes Etwas beschrieben hatte. Dass er ein Nichts war. Und was soll man sagen? Es half! Er merkte, wie der Baum ein bisschen nachgab und sich in seine Richtung neigte. Aber bevor Trevor einen Erfolg verbuchen konnte, riss das Seil.
    „So eine verfickte Scheiße!“, brüllte er. „Wie soll Mann hier Bäume fällen?“
    „Mit einer Axt?“, hakte seine innere Stimme trocken nach. Natürlich, aber die lag im Lager. Aber Trevor musste zugeben, dass die Lösung vielleicht nicht war, einen Baum umzuziehen, sondern sie erstmal herkömmlich zu fällen. Er konnte danach aber versuchen, mehr als einen gleichzeitig aus dem Dschungel zu ziehen. Edmund konnte sie immerhin auch entasten, während Trevor welche zum Strand brachte. Diese Erkenntnis war schlau, aber trotzdem nervte Trevor der Baum. Der würde bei Tageslicht als erstes fallen, so viel stand fest.
    Apropos Tageslicht … Kaum hatte sich Trevor damit abgefunden, dass er Bäume fällen musste wie ein Normalsterblicher, bemerkte er den rosafarbenen Himmel. Doch bevor er zurückging, wollte er zunächst den Schweiß loswerden. Also lief er erstmal zum Strand, von wo aus er das Schiff sehen konnte. Dort angekommen, streifte er sich das Hemd vom Körper, das an ihm hing wie eine zweite Haut. Danach waren seine Stiefel dran, die er im Sand liegen ließ. Das Hemd tauchte er kurzerhand unter Wasser, rang es aus und warf es dann zu den Stiefeln. Die Hose war auch schmutzig, aber nach all den Vorwürfen seines Vaters, wollte er vermeiden, nackt gesehen zu werden. Ihm persönlich war das ja egal, aber wenn die Obrigkeiten schon bei einem Kuss einer anderen Person den Rang und Namen absprachen … Was geschah dann, wenn Trevor nackt herumlief?
    Sie können sich umdrehen, scheiß drauf!
    Trevor knurrte. Es waren Damen anwesend. Da war es wohl falsch, sich wie die Axt im Wald zu benehmen. Nörgelnd lief er ins Wasser und das samt Hose. Im hüfthohen Wasser versuchte er, etwas die Moosflecken abzureiben, was aber nicht einfach war. Deshalb schaute er sich um, zog die Hose zumindest unter Wasser aus und rieb den Stoff vehement gegeneinander. Das tat er so lange, bis die Flecken auf dem dunklen Stoff verblassten.
    Geht doch …
    Zufrieden mit seiner Arbeit knäulte er die Hose zusammen und warf sie an den Strand. Er warf sie … AN DEN STRAND! Das klatschende Geräusch seiner Hand gegen die Stirn vertrieb die Möwen in der Nähe.
    „Ich bin das nicht gewohnt!“, rechtfertigte er sich vor sich selbst. Was sollte man tun? Aus einem Gossenkind machte niemand binnen weniger Tage einen Gentleman. Aber noch war niemand wach, wie es schien. Deshalb wusch sich Trevor zunächst und hoffte das Beste.

    Zwei Tage waren vergangen, seit Nelli Trevor geheilt hatte. Die alte Dame erholte sich rasch, aber der Formwandler kam nicht umhin, sich mehrfach zu bedanken und sie zu bitten, das nicht mehr zu tun. Nelli quittierte allerdings jeglichen Einwand mit einem zaghaften Lächeln.
    „Du hast dein Leben noch vor dir“, hatte sie gesagt. „Pass aber etwas besser darauf auf!“
    Trevor konnte nur nicken. Dann war diese Zusage zumindest nicht gänzlich gelogen. Wenn er in die Runde sah, würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als sich immer wieder ins Kreuzfeuer zu werfen. Jeder besaß seine Talente, und seines war eben …
    Er atmete durch und starrte auf die Zeichnung, die Edmund und er angefertigt hatten. Zu ihrem Glück war noch etwas Tinte in einem Tintenfass an Bord der Nussschale verblieben, sodass sie das Notwendigste hatten aufschreiben können, was ihre Konstruktion anging. Das Schiff musste auf ein Gestell, damit sie auch den Rumpf reparieren konnten. Dazu benötigten sie eine Menge Holz. Holz, das es zu schlagen galt.
    Trevor fuhr sich über die Stirn. Das würde etwas dauern und es war bereits Nachmittag. Die Hitze trieb allen den Schweiß auf die Stirn, weshalb sie einfacheren Arbeiten nachgingen.
    Er setzte sich neben Nelli und schärfte zunächst die Axt, die er zum Schlagen der Bäume benötigte. Er beträufelte den gefundenen Schleifstein mit etwas Wasser und begann, die Schneide der Axt darüber zu reiben.
    „Ich glaube, ich bin fit genug, mit dem Nähen der Segel anzufangen“, erklärte Nelli.
    Trevor schmunzelte. „Du kannst dir Zeit lassen“, erwiderte er. „Zuerst brauchen wir mal einen Mast!“
    Die Alte gluckste. „Was erledigt ist, ist erledigt.“
    Aus der Ferne sah man erneut Esther an ihren Schilden üben, während Edmund am Fischen Gefallen gefunden zu haben schien. Und er wurde immer besser. Dafür hatte Trevor ihm das Messer zum Ausnehmen ebenfalls geschliffen und so vom Rost befreit.
    „Erinnerst du dich noch an unsere Unterhaltung?“, wollte Nelli plötzlich wissen. „Über die mit den Geistern?“
    Trevor stoppte und sah Nelli an. „Aye …“, antwortete er zögerlich.
    Sie richtete sich etwas auf, trank etwas und sah ihn dann eindringlich an. „Ich war da nicht ganz ehrlich zu dir, Junge. Dich verfolgt ein Geist. Naja, vielmehr will er Klarheit schaffen“, fuhr sie fort.
    Trevor schluckte trocken. Es gab nicht viele, die ihn vermutlich verfolgen würden. Eigentlich fiel ihm nur einer ein. „Ist es Johnny?“
    Nelli war es nun, die nickte.
    „Und was will er?“
    „Zu Lebzeiten hat er verpasst, dir einiges zu sagen. Er würde das gerne nachholen wollen.“
    Trevor runzelte die Stirn. Was sollte das sein? Eine Entschuldigung, dass sie ihn einfach über Bord geworfen hatten? Sollte er sich für seine Rettung vielleicht bedanken? Was wollten Tote von einem? Nicht, dass Trevor sich nicht gerne von ihm verabschiedet hätte, aber …
    „Ich könnte ihn mit dir sprechen lassen, wenn du das möchtest.“
    „Nicht, wenn es dich schwächt. Du hast genug für mich getan“, erwiderte Trevor bestimmt. „Ich wüsste nicht, was so wichtig sein sollte, dass ich es jetzt erfahren muss.“
    „Da gibt es anscheinend einiges“, antwortete Nelli und ließ ein schiefes Lächeln folgen. Wenn sie so schaute, wusste Trevor nicht, ob er es überhaupt erfahren wollte. Er schaute zu den anderen, die ihrer Arbeit nachgingen. Wenn man es so bezeichnen konnte. „Aye“, wandte er dann ein. „Ich will schließlich nicht, dass dich Johnny vehement nervt.“
    Ein leises Lachen folgte von der Hexe. „Er kann ziemlich penetrant sein, das stimmt wohl.“
    Trevor nickte. „Dann … lass ihn schnell erzählen, was er zu erzählen hat, bevor Edmund und Esther zurückkommen.“
    Nelli atmete tief durch und richtete sich etwas auf. Sie schien sich zu konzentrieren. Ihre Atmung wurde ruhiger und sie schloss ihre Augen.
    Trevor bemerkte, wie sein Herz etwas schneller schlug. Er wusste nicht, ob er es gut fand, dass Tote doch nie ganz fort waren. Eigentlich sollte er sich freuen, dass er noch einmal mit Johnny reden konnte, aber aus irgendeinem Grund tat er es nicht. Eine Vorahnung machte sich in ihm breit, die er sich nicht einmal gedanklich eingestehen wollte.
    „Trevor?“, erklang es plötzlich von Nelli. Die Tonlage war so anders, dass der Formwandler sofort wusste, dass nicht Nelli zu ihm sprach. „Kannst du mich verstehen?“
    „Aye …“, antwortete Trevor zögerlich und starrte Nelli an. „Johnny?“
    Der Geist in Nellis Körper lachte und nickte. „Äußerst interessant … Ich stecke im Körper der alten Vettel!“
    Trevor zog seine Brauen zusammen. „Als das würde ich Nelli nicht bezeichnen …“
    „Schon gut, schon gut, ich sollte dankbar sein.“
    Der Formwandler schwieg zunächst, aber dann überwand er sich, zu fragen, was so wichtig sei, dass Johnny Nelli verfolgte.
    „Eigentlich hätte sie dir das auch alles erzählen können“, meinte Johnny, „aber sie wollte nicht. Deshalb … muss ich das wohl selbst tun …“
    Trevor zog die Brauen hoch. „Solltest du dann nicht anfangen, zu reden?“, fragte er.
    Johnny atmete tief durch. „Junge, ich hätte dir vielleicht früher sagen sollen, dass ich dich nicht aus reinem Zufall vor sechszehn Jahren gefunden habe.“
    Trevor hörte zu, bemerkte aber den Knoten, der sich in seinem Bauchraum bildete.
    Johnny stockte kurz. „Ich war ein Formwandler auf der Suche nach seinem einzigen Sohn …“
    Keine Reaktion. Trevor starrte seinen ehemaligen Kapitän nur an. Es war, als hätte er es immer gewusst, was Johnny ihm damit sagen wollte. Trevor war kein Kind mehr, dass umgehend freudestrahlend oder schockiert aufsprang. Vielmehr musste er zugeben, dass sich Wut in seinem Inneren breitmachte. Er drückte sie hinunter, wie eine leere Flasche unter Wasser, aber an seinen zitternden Händen erkannte er, dass sich dieses Gefühl nicht gänzlich ersticken ließ.
    „Hast du dazu nichts zu sagen?“, wollte Johnny wissen.
    Trevor schüttelte nur langsam seinen Kopf. „Fahre fort …“, entgegnete er dann.
    Noch einmal atmete Johnny tief durch. „Ich wollte dich nicht wie einen normalen Formwandler großziehen. Ich hatte irgendwann erkannt, dass unser Leben leer ist. Wir ziehen jedes Jahr los, in dem wir entweder Söhne zeugen oder sie einsammeln. Dann verfrachten wir sie auf eine Insel, auf der wir sie zu Kriegern erziehen. Nur für was? Um uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen? Um jeden Tag auf das Neue zu beweisen, wer der Stärkere ist? Ich wollte das irgendwann nicht mehr. Eigentlich von Anfang an nicht.“
    Er rechtfertigt sich … Das heißt, das war noch nicht alles.
    Trevor ballte seine Hände zu Fäuste. Damit versuchte er auch, seine zitternden Hände zu verbergen. Ein Kloß steckte ihm im Hals. Er fühlte sich unwohl, konnte aber noch nicht sagen, woran es lag. Vielleicht daran, dass das Gespräch nicht wie ein wohlwollendes Wiedersehen klang, sondern mehr nach einer Belehrung.
    „Aber wenn ich dich sehe, dann weiß ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich wollte dich zu einem guten Menschen erziehen. Einem besseren Menschen als ich war. Aber deine Natur ist eine völlig andere als meine.“
    „Meine Natur?“, wiederholte Trevor mit gebrochener Stimme.
    „Ich konnte fast zwanzig Jahre mein Formwandlerdasein verstecken. Ich lebte nur als Pirat. Nicht stärker oder besser als meine Crew. Du kannst das nicht.“
    „Woher willst du wissen, was ich kann oder nicht kann?“
    „Ich habe es am Bord des Schiffes dieses … peinlichen Händlersohnes gesehen. Du kannst nicht aus deiner eigenen Haut, egal, wie häufig du deine Form wandelst.“
    „Er ist nicht peinlich …“
    , war alles, was Trevor antwortete.
    „Du bist unberechenbar! Du bist mein Sohn, aber auch der Sohn deiner Mutter. Sie war nicht irgendwer, sondern die Tochter eines Formwandlers. Das heißt, du bist durch und durch ein Krieger. Nicht nur einseitig, wie in den meisten Fällen.“
    „Was?“, unterbrach Trevor Johnnys Ausführungen. „Sie war … was?“
    „Sie sagte es mir, nachdem wir einige Zeit zusammengelebt hatten. Am Anfang dachte ich, es sei der Fang für mich, aber … auch wenn Frauen sich nicht wandeln können, sie geben die Talente eines Formwandlers weiter, auch wenn sich diese Nachkommen ebenfalls nicht wandeln können. Sie sind hitzköpfiger und geschickt im Umgang mit Waffen. Es liegt ihnen ebenso im Blut wie uns.“
    „Großartig …“
    „Hinzukommt, dass Formwandler noch andere Talente haben. Sie sind stärker als Menschen. Etwas, das ich nicht bereit war, dir zu sagen …“
    „Und warum? Weil ich … unberechenbar bin? Weil ich nicht so bin wie du?“
    „Trevor … ich konnte es nicht nach der Sache mit der Crew von Dexter dem Pickligen!“

    Kapitän Dexter. Eine der unliebsameren Erinnerungen in Trevors Leben. Dennoch bereute er nichts und verzog wütend sein Gesicht. „Sie hatten es verdient!“, erwiderte der junge Formwandler.
    „Hatten sie nicht, und das weißt du!“, konterte Johnny.
    „Sie haben drei unserer Leute getötet …“
    „Auf Landgang!“
    „Was spielt das für eine Rolle?“
    , wurde Trevor laut.
    „Wir Piraten unterliegen Regeln. Dinge, die auf Landgang geschehen, bleiben an Land! Du hattest kein Recht Richter und Henker zu spielen. Ich hätte dich dafür ersäufen müssen.“
    „Dann ist ja gut, dass mich dabei niemand gesehen hat, richtig? Nicht, dass du deinen eigenen Sohn hättest hinrichten lassen müssen.“

    Trevors Wut wuchs. Er war damals achtzehn gewesen. Weit entfernt von dem Mann, der er heute war. Oder?
    „Wut! Genau das ist es bei dir. Deine Stärke tritt zutage, wenn du wütend bist. Oder glaubst du, für einen normalen Menschen wäre es leicht, einfach einen Kopf auf einer Reling zu zerquetschen? So leicht, wie es dir fällt?“
    Trevors Kieferknochen bebten. Was wollte Johnny ihm sagen? Dass er ein Mörder war? Ein Wahnsinniger? Ja, er hatte sich nachts auf die Rosalie geschlichen und drei von Dexters Männern am Großmast erhängt, aber nur jene, die seine Freunde getötet hatten. Das war nicht grausam in Trevors Augen gewesen, sondern Gerechtigkeit. Johnny hatte gar nichts tun wollen. Wollte Johnny ihm damit zu verstehen geben, dass Trevor ein schlechter Mensch war? Wenn er sich überhaupt als solches bezeichnen durfte.
    Und jetzt reist du mit einer adligen Magierin, einem verwöhnten Wassermann und einer alten Frau durchs Land. Du solltest sie loswerden, bevor sie dich verkaufen …“
    „Das würden sie nicht tun!“
    , widersprach Trevor vehement. „Sie sind … Freunde.“
    „Freunde, solange ihr alle in einem Boot sitzt. Was glaubst du, passiert, sobald sie Land sehen? Glaubst du, sie werden keine Angst vor dir haben, wenn sie dich erstmal richtig kennen? Wenn sie erkennen, zu was du fähig bist? Wie du sein kannst?“
    „Das haben sie bereits gesehen, wenn es nach deiner Äußerung geht.“
    „Aye, und du hast das Gefühl, die Magierin fühlt sich allein mit dir wohl? Ich finde nicht, dass das danach aussieht. Vor allem, da auch der Kuss erzwungen und ohne ihre Erlaubnis geschehen ist. Wenn das in ihren Kreisen herauskommen würde, würde diese junge Frau vollständig ihr Ansehen verlieren.“
    „Das war nicht das, woran ich in diesem Moment gedacht habe. Sondern, daran …“
    „Dass es für dich die Gelegenheit war? Du denkst nicht nach!“
    „Ihr Leben zu retten!“
    , schimpfte Trevor laut. Natürlich war er nicht unglücklich über den Umstand, eine junge Frau geküsst zu haben, die vor allem nicht an einem Hafen herumlungerte, aber dennoch … In dem Moment, als es geschehen war, hatte er nur im Sinn, ihr Leben zu bewahren. Etwas unkonventionell, das musste er zugeben, aber da kamen ihm die Regeln der Piraten zugute. Nicht wie sonst. Und er war sich sehr wohl darüber bewusst, dass er weit unter ihrem Niveau war. Es war nicht so, dass er sich irgendetwas zwischen den beiden ausmalte. Und selbst wenn, ging es Johnny nichts an!
    Johnny stöhnte. „So sollte das alles gar nicht laufen …“, nuschelte er. „Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass du hilfreich sein kannst, wenn es darum geht, das Schiff zu reparieren. Dass du deine Stärke finden musst. Dass du sie vor allem kontrollieren musst.“
    „Aye, stattdessen bezeichnest du mich als Mörder und Vollidioten. Gute Entwicklung.“

    „Du bist eben teils noch ein Kind, das in einem viel zu starken Körper steckt! Du denkst immerhin auch, dass diese Leute deine Freunde sind. Freunde … wie in einem Kinderbuch. So läuft es im Leben aber nicht!“
    Mittlerweile drehten sich in der Ferne bereits Edmund und Esther zu den beiden um.
    Trevor wollte sich gar nicht ausmalen, was die beiden dachten. Wenn sie ihn nicht vorher schon für bescheuert gehalten haben, dann sicherlich ab jetzt.
    „Sagt der Mann, der tot ist!“, spie Trevor zwischen zusammengebissenen Zähnen empor und schaute Johnny wieder an. „Deine Methode lief nicht so gut.“
    „Was erlaubst du dir …“, erwiderte Johnny. „Ich habe dein Leben gerettet und mehrfach verschont, obwohl ich anders hätte handeln müssen!“
    „Du bist mein Vater! Ich würde meinen Kindern das nicht vorhalten, sondern jederzeit tun.“
    „Oh natürlich. Du wirst ein großartiger Vater! Das ist auch alles so furchtbar einfach“
    , frotzelte Johnny abfällig. „Vor allem in der Welt, in der wir leben.“
    Trevor stand auf und fuhr sich durch sein Haar. Besser wurde die Unterhaltung nicht. „Für einen schlechten Vater hältst du mich also auch. Sehr gut.“
    „So meinte ich das nicht“, erwiderte Johnny. „Aber du denkst immer noch, dass du leben kannst, wie sie …“ Johnny zeigte auf Edmund und Esther in der Ferne. „Mit einem netten Haus, einer Familie, Geld und Ansehen … Ich weiß, ich wollte dir eine Art Familie vermitteln, das habe ich vielleicht auch zu sehr, denn ich habe gleichzeitig dafür gesorgt, dass du vergisst, was du bist. So ein Leben ist für Formwandler nicht vorgesehen. Schon lange nicht mehr.“
    „Und wenn ich es ändern kann?“
    „Noch mehr Träume!“

    Trevor atmete tief durch. „War es das dann? Du hältst mich für einen unberechenbaren Mörder, der aber gleichzeitig so naiv ist, zu hoffen, dass ich anders leben kann, als ständig auf der Flucht zu sein? Aye, und eine adlige Frau habe ich auch … befleckt? Sagt man das so? Weil ich unter jedermanns Niveau bin. Selbst unter dem Niveau meiner noch ungeborenen Kinder“, zählte Trevor lautstark zusammen. „Dann ist es wohl besser, wenn sie mich verkaufen!“
    „Das klingt so jetzt alles ziemlich hart …“, gab Johnny stotternd zu. „Und ganz so meine ich es nicht. Du musst dennoch lernen, mit deiner Art umzugehen.“
    „Mit meiner Art, natürlich … und meiner Stärke und solchem Zeug auch. Am besten, ich ändere meinen vollständigen Charakter. Meine Art …“ Trevor musste sich nach den Worten seines Vaters zusammenreißen. Als solchen Vollversager hatte er sich nicht einmal betrachtet. Hatte er überhaupt mal etwas richtig gemacht? Irgendwann? „Es ist nicht so, dass ich aus reiner Mordlust töte. Ich tue es, wenn mir keine Wahl bleibt.“
    „Und dann machst du daraus dein persönliches Kunstwerk. Dein Katz- und Mausspiel, weil du es kannst. Weil du weißt, dass du vielen überlegen bist. Und das ist die Arroganz der Formwandler.“
    Trevor biss sich auf die Unterlippe.
    Arrogant bin ich jetzt auch noch.
    Noch einmal sah Trevor zu Edmund und Esther. Die beiden standen mittlerweile beieinander und sahen zu Trevor. Auch schienen sie sich zu unterhalten. Das würde später ein seltsames Gespräch werden, den Streit mit „Nelli“ zu erklären. Wenn sie nicht die Hälfte mitgehört hatten. Was einen Gedanken in seinen Kopf pflanzte.
    Daraufhin wandte sich Trevor vollständig von Johnny ab.
    „Was machst du? Wo willst du hin?“, fragte Johnny.
    „Weg von dir!“, antwortete der Formwandler, aber nicht, ohne sich noch einmal zu ihm herumzudrehen. „Ich will, dass du dich für immer verpisst. Auch aus Nellis Nähe!“
    „Was?“, fragte Johnny erneut und klang überaus erstaunt.
    „Du liegst falsch! Mit allem!“, konterte Trevor mit beinah bedrohlich ruhiger Stimme. Und er wusste selbst nicht, vorher diese kam. Vielleicht davon, dass er Edmund und Esther beobachtet hatte. „Bin ich gut darin, zu töten? Ja, bin ich! Aber deswegen sind wir auf dieser Insel. Naja, Edmund und der Rest haben sich auch gut geschlagen … aber trotzdem … Ich habe ein Gewissen, es entspricht nur nicht deinen Vorstellungen, weil ich niemals ein Pirat war. Wie du sagst, ich komme nicht aus meiner Haut heraus. Ich war nie ein Pirat, zu dem du mich machen wolltest. Ich bin ein Formwandler! Und jene haben früher für andere gekämpft … und das tue ich wieder. Und ich tue es auf meine Art, damit andere es sich zweimal überlegen, mich herauszufordern oder Menschen, die mir nahestehen, zu bedrohen. Ich war bereit, zu sterben, aber sie haben es nicht zugelassen! Hätten sie das getan, wenn sie mich so sehr fürchten? Und was den Kuss angeht … Wenn irgendeiner der überlebenden Piraten auch nur auf die Idee käme, irgendetwas zu erzählen, was bei der Meuterei geschehen ist, weiß ich, dass ich Zungen zum Schweigen bringen könnte. Denn aye, das kann ich wirklich, wirklich gut. Das alles hat vielleicht nicht dir geholfen, aber ich kenne ein paar Personen, denen es das hat und weiterhin wird!“
    Über Trevors Körper glitt ein musternder Blick. „Du bist wie dein Großvater … nicht nur optisch“, kam flüsternd von Johnny. „Er würde dich vermutlich vergöttern. Aber ich kann dir sagen, dass man so nicht unter Menschen leben kann.“
    „Als Pirat aber auch nicht. Und wer weiß, ob ich das jemals werde …“, erwiderte Trevor mit fiesem Grinsen und lief Richtung Dschungel. Er musste erstmal alles verarbeiten. Zudem wollte er zunächst nicht dabei sein, wenn sich Edmund und Esther trauten, zu Nelli zu gehen.
    Trevor wollte die nächsten Stunden nichts erklären müssen. Vielleicht war Nelli so nett, das zu übernehmen, sodass er die Gelegenheit besaß, seinen Verstand zu klären. Jetzt bereute er es fast, dass sie keinen Rum hatten, mit dem er sich in den Urwald setzen konnte. Vermutlich wäre das auch nicht wirklich hilfreich gewesen. Wie auch immer … Er brauchte einen Moment, um sich selbst von dem zu überzeugen, was er Johnny, seinem Vater, gesagt hatte. Dazu brauchte es Ruhe!
    „Trevor …“, erklang es hinter ihm. „Hör nicht auf ihn! Hätte ich gewusst, was dieses nutzlose Stück Abschaum zu sagen hatte …“
    „Alles gut, Oma“, erwiderte Trevor beschwichtigend, der wusste, dass Nelli nichts für die Äußerungen seines Vaters konnte. „Mir geht es gut!“

    Trevor und Edmund suchten den Strand zunächst nach Nelli ab. Esther schaute in der Umgebung des Schiffes und des Lagers. Am Ende trafen sich alle am Lagerfeuer, aber von Nelli fehlte weiterhin jede Spur.

    „Wo könnte sie nur hin sein?“, fragte Esther laut in die Runde.

    „Hatte sie nicht gesagt, wir sollten ihr nicht folgen?“, fügte Edmund an. „Dann wird sie vermutlich nicht in der Nähe des Lagers sein.“

    „Dem stimme ich zu“, erwiderte Trevor. „Sie ging den Strand entlang. Vielleicht ist dann in den Dschungel gelaufen.“

    „Wie sollen wir sie da nur finden?“, wollte Esther wissen. „Es ist ja nicht so, dass der winzig wäre.“

    „Edmund und ich werden suchen gehen. Du, Esther, solltest im Lager bleiben, falls wir sie verpassen.“, beschloss Trevor und sah Edmund abwartend an. Dieser nickte einverstanden.

    „In Ordnung …“, antwortete die Magierin. „Ich könnte sie auch …“

    Urplötzlich verspürte Trevor ein Ziehen in der Brust. Er krümmte sich vor Schmerzen nach vorne, was Esther in ihrem Satz unterbrach.

    „Stimmt was nicht?“, hakte Edmund nach.

    „Weiß nicht!“, brummte Trevor zwischen zusammengebissene Zähne empor. „Es fühlt sich an …“ Ein stechender Schmerz brachte den Formwandler auf die Knie. Es knirschte und knackte in seinem Brustkorb, sodass ihm kurzerhand ein lauter Schrei entglitt.

    Die anderen beiden standen erschrocken herum und wussten nicht, was sie tun sollten.

    Trevor wusste das auch nicht. Aber so schnell, wie der Schmerz gekommen war, war er auch vorbei. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, als er seine Brust abtastete. „Ich glaube, meine Rippen sind … wieder da, wo sie hingehören.“

    „Nelli?“, entfuhr es Edmund besorgt. Immerhin wollte sie dem Formwandler bei seinen Verletzungen helfen. Aber mit so einer Magie hatte wohl niemand gerechnet.

    „Es gibt Zauber, die einem Magier oder Magierin Energie entziehen und auf jemand anderen übertragen. Vielleicht hat das Nelli gewirkt, um Trevor zu helfen. Und wenn sie einen solchen Zauber genutzt hat, ist sie auf jeden Fall jetzt sehr geschwächt..“

    „Und liegt vielleicht irgendwo im Dschungel …“, nuschelte Edmund mit beinah bleichem Gesicht. „So hatte ich das nicht gemeint, als ich sie bat, zu helfen.“

    „Ich auch nicht“, gab Trevor stöhnend zu und erhob sich wieder. „Das wäre auch so geheilt.“

    Dass hier jeder übertreiben muss!“, krakeelte Edmund. „Jeder hier geht mit seinem Leben um, als hätte er neun davon … wie eine Katze …“

    „Ich könnte versuchen, mit einem privaten Gegenstand, Nelli aufzuspüren“, schlug Esther vor. „Dann sucht ihr nicht ins Blaue.“

    „Das wäre eine gute Idee, wenn wir die Zeit hätten, Esther, wir sollten aber gleich losgehen. Du kannst aber für den Zauber alles vorbereiten, falls wir nicht fündig werden“, erwiderte Trevor.

    Esther nickte und schaute sich nach Sachen von Nelli um, während Edmund und Trevor umgehend in die Richtung liefen, in der Nelli verschwunden war.

    Umgehend fingen die beiden Männer an, Nellis Namen zu rufen. Sie folgten noch einmal dem Weg, in den die Hexe verschwunden war.

    „Hier …“, stieß Edmund nach kurzer Zeit aus und verwies auf plattgetretenes Gestrüpp neben sich.

    Die Männer tauschten Blicke und folgten sofort dem Pfad. Sie riefen weiter nach Nelli, während sie in der Dunkelheit herumstolperten. Nur der Mond erhellte den Dschungel etwas, sodass sie nicht jede Wurzel mitnahmen.

    Nach ein paar Schritten blieb Trevor stehen und bemerkte ein Jucken an der Schulter, woraufhin er seine Schusswunde betrachtete. Sichtlich verschmälerte sich die Verletzung, was wohl bedeutete, dass nicht nur seine Brüche ungewöhnlich schnell verheilten. „Wir sollten uns beeilen …“, sprach er an Edmund gewandt, der mit erhobener Augenbraue ebenfalls Trevors Schulter betrachtete.

    „Erinnere mich daran, Nelli nie wieder um eine schnelle Heilung zu bitten“, nuschelte Edmund und lief weiter.

    „Keine Sorge, ich werde diese Art Hilfe auch nicht mehr annehmen“, antwortete Trevor und folgte dem Händlersohn.

    Sie riefen weiter. Esther hörte sie sicherlich bis zum Lager, so laut, wie die beiden schrien. Und irgendwann rochen sie Rauch. Als sei ein Lagerfeuer gerade erloschen. Beide liefen in alle Richtungen, um herauszufinden, aus welcher Richtung der Geruch kam und einigten sich schnell auf den Norden. Sie beschleunigten noch einmal ihre Schritte, stolperten und riefen erneut den Namen der Hexe, ehe sie auf einer kleinen Lichtung landeten. Der Schein des Mondes erhellten den daliegenden Körper, der sich nicht regte.

    „Ist sie tot?“, brach es aus Edmund heraus, und Trevor ging an ihm vorbei, um nach der Alten zu sehen.

    „Sie atmet!“, stellte der Formwandler gleichauf fest, und die Erleichterung in Edmunds Gesicht war nicht zu übersehen. Aber auch Trevor amtete erleichtert aus. „Sie scheint … ohnmächtig zu sein.“ Trevor rüttelte leicht an Nellis Schulter, aber sie erwachte nicht.

    „Dann bringen wir sie schnell ins Lager“, sagte Edmund. „Soll ich sie tragen?“

    Trevor musterte Edmund. Dazu fähig war er sicherlich, auch wenn es ihm schwerer als Trevor fallen würde. War er schon fit genug, Nelli zu tragen? Er beschloss, lieber kein Risiko einzugehen und nickte. „Ich helfe dir!“

    Trevor hob Nelli hoch, sodass Edmund sie Huckepack tragen konnte. Dann ging der Formwandler vor, um Äste und Gehölz aus dem Weg zu schaffen, damit Edmund nicht hinfiel. Es dauerte eine Weile, bis sie aus dem Dschungel herauskamen. Edmund konnte das Gewicht von Nelli ohne große Probleme tragen, aber der unwegsame Pfad erschwerte das Vorankommen. Zwischendrin hörte Trevor den Händlersohn immer wieder fluchen, wenn dieser mit einem Fuß an einer Pflanze hängen blieb oder ihm ein Ast im Dunklen durch das Gesicht peitschte.

    Trevor trat große Äste oder legte Steine beiseite, sodass Edmund einigermaßen sicheren Fußes vorankam.

    „Die Alte amtet mir in den Nacken ... Das ist zwar gut, dass sie noch atmet, aber es ist schon warm genug ...", beschwerte sich Edmund.

    Trevor lachte. „Daran, dass dir Frauen in den Nacken atmen, müsstest du doch gewohnt sein. Nur scheinen sie ihn dir danach meist auch brechen zu wollen.“

    Edmund antwortete mit einem tonloses Lachen.

    Und nein, Trevor hatte Laune der Schankmagd nicht vergessen, der er begegnet war.

    Sei nur still. Dir atmen lediglich behaarte Riesen ins Gesicht, bevor die nächste Schlägerei beginnt.

    „Da vorne ist der Ausgang“, lenkte Trevor vom Thema ab und schob noch ein paar Äste zur Seite, um Edmund den Weg zum Strand freizuhalten.

    Es dauerte nicht lange, bis Esther sie entdeckte. Sie fragte umgehend, wie es Nelli ging, aber dazu konnten die beiden auch nicht viel sagen. Sie legten die Hexe auf ein paar Decken nahe am Feuer. Nellis Atmung war regelmäßig, das beruhigte alle. Trotzdem wirkte sie im wenigen Licht des Feuers ausgelaugt, ihre Haut war fahl und sie war nicht wach zu bekommen. Vermutlich mussten sie warten, bis Nelli etwas zu Kräften gekommen war. Esther holte Wasser und etwas Obst, das sie Nelli verabreichen wollte, sobald sie erwachte. Die drei setzten sich um das Feuer und schwiegen sich an. Keiner schien zu wissen, was er sagen sollte. Trevor erstrecht nicht, da Nelli sich nur in diesem Zustand befand, weil sie ihm helfen wollte. Einerseits war er dafür dankbar, andererseits war ihm die Art der Hilfe etwas zu viel. Und er sah auch an Edmunds Gesicht, dass dieser nicht gewollt hatte, dass Nelli zu diesem Mittel greift, um den Formwandler fit zu bekommen.

    Trevor saß herum. Das war seine Aufgabe. Nelli sorgte für ausreichend Wasser, Esther und Edmund nahmen sich vor, das kleine Handelsschiff zu reparieren. Und Trevor schaute in die Wolken … Sie wollten sich zusammen zum Schiff begeben, damit er es sich anschauen konnte. Zumindest in dieser Sache konnte er helfen. Er war begeistert. Mühsam hob Trevor seinen Arm, dessen Schulter angeschossen worden war und verzog schmerzhaft das Gesicht.
    Das wird wohl noch dauern!
    „So ein Scheiß!“, fluchte er laut, sodass sich alle zu ihm herumdrehten. Mürbe winkte er ab. Sicherlich konnte sich jeder vorstellen, warum er unter spontan auftretenden Flüchen litt. „Dieser verfickte Francis. Wenn er nicht bereits tot wäre, würde ich ihn nochmal töten …“, murmelte er, „… langsam und grausam! Oh ja, ich würde mir Zeit lassen …“
    „Wenn es dir noch nicht gut genug geht, können wir auch noch einen Tag warten, um zu dem Schiff zu gehen“, wandte Esther ein und bedachte ihn mit einem musternden Blick.
    „Bloß nicht!“, erwiderte Trevor. „Noch eine Stunde länger hier im Sand und ich fange an, mich selbst zu verbuddeln! Für immer!“
    Der Formwandler erhob sich. Esther und Edmund halfen ihm dabei. „Es wäre hilfreicher, wenn du nicht so viel wiegen würdest“, gestand Edmund, und Trevor schaute ihn mit erhobener Braue an. „Es wäre nur hilfreicher …“, erklärte sich der Händlersohn.
    War klar, dass sich Edmund beschwerte. Ihm war es vermutlich lieber, Trevor erholte sich schnell, anstatt gebrechlich zu wirken. Esther ertrug wie immer alles ohne zu murren. Zumindest Trevors Gewicht.
    Nachdem Trevor auf seinen Beinen stand, konnte er zumindest alleine laufen. Natürlich war er langsamer als der Rest, sogar als Nelli, aber zumindest brauchte er dabei keine Hilfe mehr. Allerdings konnte er dem Rest nicht helfen, das Lager zum Schiff zu verlegen. Das empfanden alle als sinnvoller.
    Nach einiger Zeit rückte die festsitzende Nussschale in Sichtweite. Trevor erkannte gleich, dass einiges zu machen war. Und dabei waren die Reparaturen nicht mal das Schwierigste an der Sache. Das Schiff saß fest. Um es wiederherstellen zu können, mussten sie es aus dem Wasser bekommen, was er gleich den anderen mitteilte.
    „So weit waren wir auch schon!“, merkte Edmund an.
    „Gut, dann … fangen wir mal an!“, erwiderte Trevor. „Wie wollen wir das anstellen?“
    Edmund wollte etwas sagen, schloss aber seinen Mund wieder.
    Esther schaute verwirrt. Vermutlich hatte sie ebenfalls keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollten.
    „Dazu bräuchten wir Holz … viel Holz“, erkannte Nelli richtig, und Trevor stimmte zu.
    „Die Palmen bieten sich an, aber ohne Axt wird das schwer“, fügte Trevor hinzu. „Habt ihr auf den Schiff Werkzeug gefunden?“
    Esther und Edmund tauschten Blicke aus. „So genau haben wir uns noch nicht umgesehen“, erklärte Esther kleinlaut.
    Trevor nickte verstehend, wobei er sich fragte, was sie sonst auf dem Schiff gemacht hatten.
    „Zudem ist das Schiff nicht vollkommen … unbewohnt“, meinte Edmund.
    Trevor schaute den Händlersohn fragend an, aber am Blick des jungen Mannes erkannte der Formwandler, dass eventuell noch Teile der Mannschaft vorhanden waren. Edmund wurde ähnlich bleich wie nach dem Tod des Dicken. Wahrscheinlich hatte er wenig Lust, weiteren Leichen zu begegnen.
    „Ich kümmere mich um … die Bewohner“, antwortete Trevor. Für ihn war das nichts Schlimmes. Auf See hatten sie genug Tote bestattet oder beiseitegeschafft. Der Vorteil bei den Überresten dieser Personen war sicherlich, dass sie nicht mehr so stanken wie kürzlich Verstorbene.
    Trevor näherte sich dem Schiff. Als einziger Aufstieg hing eine alte Strickleiter von der Seite.
    Großartig … Ob die mich noch trägt?
    „Kommst du da überhaupt hoch?“, wollte Esther von ihm wissen.
    Ihre Sorge in allen Ehren, aber Trevor kam sich neben ihr vollkommen nutzlos vor. Ein Zustand, den er nicht mochte. Jeder andere Mann hätte vermutlich die Fürsorge einer jungen Frau genossen, aber Trevor gefiel das gar nicht. Unweigerlich kam ihm dabei der Moment in den Sinn, als er erwacht war. Esther hatte seine Wunden versorgt. Nun, wo er wieder auf den Beinen stand, war ihm das zunehmend unangenehm geworden. Er wollte nicht mehr wie ein verletztes Tier umsorgt werden. Sie musste ihn für einen Schwächling halten. „Aye, das schaffe ich schon“, erwiderte er deshalb. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich einhändig irgendwo hinaufklettern muss.“
    Trevor ging auf die Strickleiter zu. Er nahm zwei Steine zur Hand und fixierte das untere Ende der Leiter unter ihnen, sodass die Leiter nicht wahllos von einer Seite zur anderen schwanken konnte und stieg hinauf. Die Holzleisten ächzten unter seinem Gewicht, aber sie hielten. Danach schaute er sich um. Ein kleines Fass voller Nägel stand unter Deck.
    Zumindest etwas …
    Er begann, die sterblichen Überreste in einem Jutebeutel zu sammeln. Die Möwen hatten Teile der Mannschaft auf dem ganzen Schiff versteilt, sodass Trevor unmöglich sagen konnte, was zu welcher Leiche gehörte. Er ging jeden Raum ab, während der Rest das Schiff ebenfalls nach nützlichem Kram durchsuchte. Sie fanden Kleidung, die Esther und Nelli waschen wollten. Edmund fand zwei Hämmer, ein paar Holzlatten und Leinöl.
    Trevor begrub die Überreste der Besatzung am Rand des Urwaldes, nachdem er auch den Schädel aus dem Wasser gefischt hatte. Sein Blick fiel danach auf die drei anderen, die sich unterhaltend auf dem Schiff bewegten. Mit seiner Äußerung, dass er der Mann für das Grobe war, hatte er wohl unweigerlich Recht behalten. Nur, ob ihm das wirklich gefiel, konnte er nicht sagen. Neben dem Rest musste er wie ein Barbar wirken. Kämpfen, töten, Leichen beseitigen … War das seine Rolle in dieser kleinen Gruppe? Noch immer hatte er den Geruch von Blut in der Nase; spürte es in seinen Händen. Er verdrängte den Gedanken, dass ihm seine Überlegenheit im Kampf zunehmend gefiel. „Es ist nicht wichtig, wie du kämpfst, sondern für was“, hörte er eine Stimme flüstern, die gefühlt nicht aus seinem Kopf stammte. Er drehte sich um, aber entdeckte nichts, als den dunkler werdenden Urwald hinter sich. Beim zweiten Blick erkannte er einen kleinen Trampelpfad. Verwildert, aber schlicht weniger bewachsen als der restliche Urwald. Trevor warf noch einmal einen Blick zurück zu den anderen und folgte dann dem schmalen Weg ins Innere. Er stieß mitten im Urwald plötzlich auf eine Lichtung. Sie war nicht sehr groß. Vielleicht sechs Schritte in jede Richtung. Staub tanzte glänzend in der Luft, und abgesehen vom Gesang der Vögel, durchbrach nichts die Stille. Vorsichtig betrat Trevor die Lichtung. Es herrschte eine seltsame Stimmung, die er nicht benennen konnte. Als würde er beobachtet.
    Dir hängt dieser Händler noch nach …
    Plötzlich sah er ein Funkeln; das Aufblitzen von etwas Metallischem im Gestrüpp.
    Als er nach dem glänzenden Gegenstand griff, erkannte er tatsächlich eine Axt.
    „Es geht doch!“, rief er freudig, bemerkte aber, dass niemand bei ihm war, um den Fund mit ihm zu feiern. Was auch gut war, denn an der Axt hingen die knochigen Überreste einer Hand.
    Erst jetzt entdeckte er auch die anderen Toten, die wild verstreut herumlagen. Ein Schuh ragte aus einem Gebüsch, der zu einem Mann gehörte, der an einer Palme lehnte. Kletterpflanzen hatten seinen Schädel durchwachsen und ihn förmlich mit der Umgebung vereint. Es schien sich um den Rest der Mannschaft zu handeln, die wahrscheinlich auch versucht hatten, das Schiff zu reparieren.
    Neben einer Säge, waren auch zwei Schaufeln vorhanden. Aber die Leichen sich selbst überlassen? Den anderen Teil hatte er auch im Sand beerdigt, aber …
    Trevor stieß mit einer der Schaufeln in den Boden. Der Untergrund war zu steinig, um Gräber ausheben zu können.
    Dann anders …
    Er schaffte ein paar Steine heran, merkte aber schnell, dass er es allein nicht schaffte, genügend Steine heranzutragen. Er spürte, wie die Bewegungen an seinen Wunden rissen. Mal abgesehen von seinen Rippen, die mit dem Bücken nicht gänzlich einverstanden waren. Er lief zurück zum Strand, wo er Nelli dabei beobachtete, wie sie mittlerweile ihren Mittagsschlaf hielt. Beinahe hatte er ein schlechtes Gewissen, sie zu wecken, aber vermutlich war es auch nicht gut, die alte Dame so sehr der Sonne auszusetzen. Vorsichtig stieß er sie an, woraufhin sie die Augen öffnete und ihn anblinzelte. „Hast du einen Moment Zeit, mir zu helfen?“, fragte er und lächelte sie an.
    „Worum geht es?“, hakte Nelli nach und blinzelte erneut gegen die Sonne.
    Trevor machte mit einer Kopfbewegung deutlich, dass es um etwas ging, das sich im Urwald befand. Er wollte die Toten nicht direkt herausposaunen, sodass Esther und Edmund etwas mitbekamen. Die beiden hatten immer noch mit den Geschehnissen zutun, dass weitere Tote vermutlich die Gemüter nicht weiter erfreuten. „Das zeige ich dir.“ Er schaute dann auf das Schiff. „Wir sind gleich wieder da“, rief er den anderen beiden zu. Esther nickte verstehend, während Edmund ein „Ja, ja“, von sich gab.
    Trevor und Nelli machten sich auf den Weg. Er half der Hexe etwas durch das Unterholz. Die beiden nahmen sich wirklich nichts, obwohl Trevor nicht einmal ein Drittel so alt war. Dennoch machten ihm seine Verletzungen zu, und Nelli das Alter.
    Nach einiger Zeit kamen sie an der kleinen Lichtung an, und Trevor bleibt stehen. „Ich würde sie gerne bestatten, bevor ich … ihre Leichen fleddere“, gab er zu. „Ich meine, sie können die Werkzeuge nicht mehr gebrauchen, aber … ich fühle mich nicht wohl dabei, sie hier so liegen zu lassen und einfach nur den Rest einzustecken. Alleine … schaffe ich das jedoch noch nicht.“
    Nelli schmunzelte. „Kein Problem. Was soll ich tun?“
    Trevor dachte nach. „Es wäre das Beste, wenn wir sie nebeneinander auf die Lichtung legen und dann ein steinernes Hügelgrab machen. Der Boden ist zu felsig, um ein Erdgrab zu schaufeln. Steine liegen jedoch genug herum.“
    Nelli nickte. "Gut, dann sammeln wir zusammen Steine." Sie ging los, und wenig später hörte Trevor, wie sie leise vor sich hin murmelte.
    „Alles in Ordnung, Oma?“, wollte Trevor wissen.
    Nelli schaute auf und winkte beruhigend ab. "Jaja, alles in Ordnung, Bursche. Die Toten sind nur ein bisschen aufgekratzt.“
    Trevor schaute auf und wandte sich Nelli zu. „Aufgekratzt?“, hakte er nach. „Will jemand nicht von dir auf die Lichtung gezogen werden?“ Skepsis machte sich in ihm breit, ob sie nicht doch zu lange in der Sonne gesessen hatte.
    Ihr Lachen klang ein bisschen kratzig. Es schien, als ob er einen Witz gemacht hatte, den nur sie verstand. "Nein, das nicht. Aber sie erzählen mir ihre Geschichte. Anscheinend ist schon lange niemand mehr hier gewesen", erwiderte sie amüsiert.
    Sie hat eindeutig zu lange in der Sonne gesessen oder …
    „Du … kannst mit Toten sprechen?“, fragte Trevor. Angesichts ihres Alters klang das nicht mal vollkommen verrückt. Sie war immerhin eine Hexe. Und er hatte sie nicht als Person kennengelernt, die Blödsinn erzählte. Trevor ließ einen Stein vorsichtig auf die Gebeine eines Toten nieder und wartete auf ihre Antwort.
    Nelli sammelte ihrerseits einige Steine unter leisem Ächzen zusammen. "Oh ja, hatte ich das noch nie erzählt?", fragte sie und bettete einen Stein auf dem Bauch einer der Leichen.
    „Das wüsste ich ansonsten sicherlich“, antwortete Trevor überrascht und griff nach einem neuen Stein. „U… und was erzählen sie?“
    "Oh... gut, dann weißt du es jetzt." Ein Schmunzeln legte sich wieder auf ihre runzeligen Lippen. "Ihr Schiff ist durch einen Sturm vom Kurs abgekommen und dann auf Grund gelaufen. Sie lagen schon länger hier und sind dankbar, endlich zur Ruhe kommen zu dürfen."
    „Aye …“, erwiderte Trevor und schaute sich um. Ein kalter Schauder lief ihm am Rücken hinunter. Sie wurden beobachtet? Und die Geister erzählten Geschichten? Und warum zum Klabautermann gab es Geister? „Und sie haben nichts dagegen, dass wir ihre Sachen danach nehmen?“ Er ging lieber sicher, bevor einer der Geister am Ende noch mit dem Schiff mitfuhr. Trevor konnte sich vorstellen, dass Esther mit solch einem Wissen kein Auge zubekommen würde. Und Edmund würde das sicherlich nicht dulden, da er nicht sehen könnte, wenn der Geist hinter seinem Rücken Grimassen schnitt.
    Nelli schaute sich nach links um und schüttelte dann den Kopf. „Sie sagen, ihnen nützen die ja sowieso nichts mehr", entgegnete sie.
    „Dann … Danke?“ Trevor besaß nicht den Schimmer einer Ahnung, wie man sich gegenüber Geistern benehmen sollte. Spielte es überhaupt eine Rolle? Sie waren tot und konnten ihm nichts tun. Oder doch? Naja, der Grundgedanke war, dass er ihre Geister nicht hatte erzürnen wollen, wenn er sie bestahl, aber … er hätte doch nie gedacht, dass diese Geister tatsächlich existierten. Das sagte man doch immer nur so. Aber jetzt machten Nellis häufig vorkommenden Selbstgespräche sogar Sinn. Vermutlich waren sie immer von irgendwelchen Geistern umgeben, ohne es zu merken – abgesehen von Nelli. „Siehst du viele Geister?“, wollte er deswegen wissen.
    Nachdenklich legte die Hexe den Kopf schief. „Ja, ich denke, dass kann man so sagen. Einige Menschen sind von Geistern umgeben und auch in Städten gibt es davon recht viele“, erklärte sie mit einem Tonfall der Selbstverständlichkeit.
    Trevor lächelte verhalten. Er wusste nicht, ob er näher auf das Thema eingehen sollte oder nicht. Einerseits war er neugierig, andererseits war es etwas, dass man vielleicht gar nicht so genau wissen wollte. Allerdings musste der Formwandler zugeben, dass seine Neugier siegte. „Stört dich das nicht?“, bohrte er weiter. „Man hat immerhin das Gefühl, nie alleine zu sein.“
    Nelli zuckte erneut mit den Schultern. „Ich bin es gewohnt. Ich kann Geister schon mein ganzes Leben lang sehen. Manche sind ruhiger, andere aufdringlicher. Einige kann ich auch bewusst beschwören, wenn ich mich genug konzentriere“, antwortete die Alte.
    Trevor nickte. Vermutlich gewöhnte man sich an alles. Ob ihn auch Geister verfolgten? Vermutlich nicht. Ansonsten hätte er schon irgendetwas an Nellis Verhalten gemerkt. Oder nicht?
    Zunächst konzentrierte er sich aber darauf, die Toten anständig unter die Erde – oder Steine – zu bringen, egal, ob er dabei von ihren Geistern beobachtet wurde. Er versuchte lediglich, ihre Überreste nicht aus Versehen zu zertrümmern. Nachdem sie fertig waren, gönnten sich Nelli und Trevor eine Pause im Schatten einiger Palmen. „Wenn uns Geister verfolgen würden, würdest du uns das aber sagen, oder nicht?“, brach schlussendlich doch die Frage aus ihm heraus. Immerhin wollte er nicht, dass seine tote Mannschaft ihm auf Tritt und Schritt folgte.
    Sie hielt ihm eine Flasche Quellwasser hin und streckte ihre Beine aus. „Würdest du wirklich wissen wollen, Junge?", fragte sie dann schließlich vorsichtig.
    Trevor trank etwas aus der Flasche. „Ich weiß nicht …“, gestand er. „Würdest du das nicht wissen wollen? Vor allem, wenn man viele Menschen im Laufe der Zeit verloren hat?“ Er seufzte und fuhr sich mürbe über sein Gesicht. Im Grunde lag seine gesamte Vergangenheit in Scherben. Alles, was er mal gewesen war, war mit seiner Mannschaft gestorben. Ebenso seine Mutter und deren Verwandten. Natürlich hatte er in Nelli, Edmund und Esther neue Freunde gefunden, aber wer wusste, wie lang diese Verbindung anhielt. Vielleicht, bis sie alle wieder auf Zivilisation trafen. Edmund und Esther besaßen immerhin ein Zuhause. Bei Nelli war er sich nicht sicher, ob sie einen Ort so nennen würde, den sie kannte. Er allerdings war nichts ohne die anderen. Oder besser gesagt, er war noch nichts. Seit seinem Erwachen, das musste er gestehen, hatte er keine Ahnung, was er mit sich anfangen sollte. Der Rest der Piraten würde schon dafür sorgen, dass er an keinem Schiff mehr anheuern konnte – geschweige, ihn noch als Piraten sahen. Keine leichte Situation. Und dann vielleicht noch von Geistern aus der Vergangenheit verfolgt werden – das fehlte ihm noch.
    „Ich sehe auch die Geister der Menschen, die ich verloren habe. Am Anfang war es mehr schmerzlich, doch irgendwann hatte es etwas Tröstliches, dass sie nie ganz von meiner Seite weichen. Sie wachen über uns", führte sie dann weiter aus und trank dann selbst einen Schluck Wasser.
    Trevor begann zu lachen und verwies auf seine Verletzungen, obwohl er wusste, dass er allein für diese verantwortlich war. „Tröstlich zu wissen, dass vielleicht einige Geister mit den Augen rollen, wenn sie mich sehen.“
    „Das nicht. Eher besorgt“, verriet sie.
    Das ließ Trevor aufhorchen. „Besorgt?“, wollte er wissen. Diese Frage kam schneller über seine Lippen, als er über sie nachgedacht hatte.
    Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Wir waren alle besorgt", versuchte sie, offensichtlich das Thema abzuwiegeln.
    Sollte es Trevor dabei belassen? Vielleicht wollte er auch nur etwas hören, das nicht der Fall war. Und er wollte auch Nelli nicht dazu bringen, Geister zu rufen. Er wollte nicht wie ein Kind wirken, das nach seiner Mutter rief. Er hatte noch nie aufgegeben. Weder, als seine Mutter morgens tot im Bett lag, noch als die Piraten ihn vom Handelsschiff verschleppt hatten. Das war nicht sein Stil – wenn er überhaupt einen besaß. Selbst in der Kiste hatte er nach dem letzten verfügbaren Strohhalm gegriffen, der sich nun als Freund herausgestellt hatte. Deswegen lächelte er und sah Nelli an. „Du versuchst hoffentlich nicht, mich zu schützen“, erwiderte er und richtete sich mühselig auf. Noch mehr Fürsorge und Schutz ertrug er nicht. Er war ein erwachsener Mann, kein Kind.
    Die Alte legte den Kopf schief, ein leichtes Schmunzeln auf den Lippen. „Ich versuche, alle irgendwie zu schützen. Auf meine Art.“
    Trevor sammelte die Werkzeuge ein und machte durch eine Kopfbewegung deutlich, dass sie zurückkehren sollten. „Dann hoffe ich, dass wir nur zu viert auf dem Schiff fahren.“
    Sein Grinsen machte hoffentlich deutlich, dass es mehr ein Scherz sein sollte, aber sollten sie Geister umgeben, sollten sie besser auf der Insel bleiben.
    Sie kehrten zurück und zeigten dem Rest ihre Beute. Trevor machte sich daran, die Axt etwas zu schleifen. Allerdings standen sie dann vor einem anderen Problem. Wer sollte die Palmen fällen? Wie sollten sie diese zum Strand transportieren? Esther erklärte sich bereit, das Schiff durch einen Schild vor weiteren Beschädigungen zu schützen, wenn sie es bewegten, aber so weit mussten sie erst einmal kommen. Ihre Idee war aber dennoch sehr gut.
    Edmund sah Nelli erwartungsvoll an. „Kannst du nicht irgendetwas … brauen, damit wie hier nicht die nächsten zehn Jahre verbringen?“

    Es sind vier Marineschiffe, Kapitän!
    Vier? Diesmal meinen sie es ernst!
    Wir werden kämpfen! Wir alle!
    Trevor, nimm das Beiboot!
    Was?
    Dein Tod nutzt uns nichts. Flieh auf die Insel, das ist ein Befehl!
    Ich werde nicht feige wegrennen! Ich bleibe bei euch!
    Geh, Junge!
    Ja, geh, Trevor! Gegen so viele Schiffe haben wir keine Chance.
    Aber ihr bleibt auch, warum sollte ausgerechnet ich fliehen?
    Du bist der Jüngste von uns, wir haben gelebt, und … du hast noch nicht einmal die Wärme einer Frau gespürt, verpiss dich jetzt!
    Nein! Ich bleibe und sterbe mit euch!
    Entschuldige, Junge, aber deine Sturheit bringt dir hier nichts …
    Was mei…

    „Ich werde nicht gehen!“, nuschelte Trevor schwach und vermischte Traum mit dem Erwachen. „Ich bleibe bei euch!“ Er erkannte schwach Licht durch seine Lider, die er aber noch geschlossen hielt. Das Wann und Wo holte ihn mit seinen Schmerzen ein. Jede Stelle machte ihm deutlich, was zuletzt geschehen war. Edmund, Esther und Nelli … Die Meuterer und Piraten.
    Ich lebe noch! Wer hätte das gedacht?
    Trotz seiner Schmerzen rang ihm die Erkenntnis, noch am Leben zu sein, ein Schmunzeln ab.
    Plötzlich erklang ein Rascheln neben ihm, und irgendwer tupfte seine Schulter ab.
    „Wie lange liege ich hier schon?“, fragte er schwach.
    Ein erleichtertes Seufzen erklang, und es war nicht das einer alten Frau. „Zwei Tage“, hörte er Esther leise sagen.
    Umgehend rutschte Trevor das Herz in die Magengrube. Ausgerechnet sie saß neben ihm. Er hatte die Vorkommnisse an Bord noch nicht mit ihr klären können. Aber immerhin hatte sie ihn noch nicht erdrosselt. Kümmerte sie sich erneut um seine Wunden? Nachdem er weiteres Tupfen an seiner Schusswunde verspürte, musste es wohl so sein. „Seid ihr alle wohlauf?“, fuhr er kratzig fort.
    „Ja, mach dir darüber keine Gedanken“, antwortete Esther.
    Trevor entging nicht, dass sie ihn mit Du angesprochen hatte. Aber sollte er nachfragen? Was, wenn sie ihn nun einfach als niederes Wesen ansah, nachdem, was er getan hatte? Wenn sie die Achtung vor ihm verloren hatte – wenn sie jemals welche vor ihm gehabt hatte. Er schluckte. Irgendwie fand er die Vorstellung nicht gut, dass sie – oder auch alle anderen – schlecht von ihm dachten.
    Er kniff etwas die Augen zusammen, als sich ein leicht brennendes Gefühl an seiner Schulter ausbreitete. Wie sollte er anfangen, das alles richtig zu stellen, vor allem nach allem, was er zu den Piraten gesagt hatte? Und nicht nur gesagt … Er hatte auch nicht die beste Seite von sich während des Kampfes gezeigt. Für die Augen einer Adligen muss das geradezu barbarisch gewesen sein. Er hielt noch einmal inne und überdachte seine genauen Worte.
    „Wie fühlst du dich, Trevor?“, fragte sie und durchbrach damit das Schweigen.
    Er versuchte, seine Augen zu öffnen, was ihm auch gelang. Er wandte seinen Kopf zu ihr herum, was unnatürlich lange dauerte und mühsam war. „Ein ‚Gut‘ würdet Ihr mir wohl nicht abkaufen“, antwortete er und rang sich zu einem Lächeln durch.
    Sie erwiderte das Lächeln, aber Trevor fiel auf, dass es sie ebenso Mühe kostete.
    „Da hast du recht“, erwiderte sie schließlich.
    Trevor drehte sich herum und betrachtete die aus Blättern bestehende Decke des anscheinend errichteten Unterstands. Er atmete tief durch. „Gräfin …“, begann er, „meine Worte und Taten an Bord … ich wollte Euch nicht in Verlegenheit bringen. Ich hoffe, Ihr glaubt mir das.“
    Aus dem Augenwinkel heraus, erkannte Trevor, dass Esther vorsichtig nickte.
    „Du hast getan, was du tun musstest, um uns zu beschützen“, gestand sie ihm zu, woraufhin er ein kurzes Lachen ausstieß, was aber umgehend von einem Stöhnen unterbunden wurde. Seine Knochen und Wunden hielten nichts von Erschütterungen.
    „Für den Schutz danke ich dir“, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort.
    Trevor verkniff sich sein Lächeln und legte stattdessen seine Stirn in Falten. Schutz … Es klang, als ging sie davon aus, dass das alles Mittel zum Zweck gewesen war, aber wenn er lange genug über die Situation nachdachte, war er nur den bequemsten und für ihn angenehmste Weg gegangen. Genauso gut hätte er bei seinem vermeintlichen Seitenwechsel sie als Gefangene zum Beiboot bringen können, das hatte er aber nicht. „Immer wieder …“, entgegnete er ehrlich, bevor sein Schweigen zu lange anhielt.
    Danach wurde es still um die beiden. Trevor merkte, wie sie geradezu mechanisch seine Wunden reinigte. Sie rang den Lappen aus und begann danach, die Wunde an seinem Bauch zu säubern. Ihr Blick wirkte nachdenklich. Aber was sollte er sagen? Sie schien nicht in Stimmung für amüsante Kommentare zu sein.
    „Es tut mir leid, dass du ... wieder verletzt worden bist. Ich wünschte, ich hätte das verhindern können“, flüsterte sie nach einer Weile, und Trevor sah sie an. Sie machte sich Vorwürfe? Esther richtete weiterhin ihren Blick auf seine Wunde.
    Trevor hob schwach seine rechte Hand und ergriff sanft ihren Arm am Handgelenk der Hand, welche die Wunde behandelte. „Daran seid ihr doch nicht schuld“, sprach er. „Ich kenne nicht viele Magier, aber Ihr scheint sehr talentiert zu sein. Trotzdem könnt Ihr nicht jeden und alle schützen. Vor allem nicht mich. Versucht das auch gar nicht. Ich möchte nicht an Eurem Gesichtsausdruck die Schuld tragen.“
    „Das kann ich nicht versprechen“, gestand sie und sah ihn an.
    Er lächelte erneut. „Und ich kann Euch nicht versprechen, mich nicht mehr zu verletzen. Aber ich werde versuchen, Euch weniger Arbeit zu bereiten.“ Dabei fiel ihm etwas ein und ließ vorsichtig wieder ihren Arm los. „Es ist immerhin auch nicht die Aufgabe einer Gräfin, die Wunden eines Nichts zu versorgen, das ich nun mal bin.“
    „Du bist kein Nichts. Jeder hat seinen Wert“, korrigierte sie ihn bestimmt.
    Trevor atmete tief durch, während sie sich wieder seiner Wunde zuwandte. „Das mag sein“, gestand er. „Aber Ihr habt die Meuterer gehört … Ich bin kein Pirat. Kämpfen kann ich, aber … bin ein schlechter Formwandler … Ich küsse die erste Frau im Angesicht des Todes …“
    Halt, was?
    Er riss die Augen auf und starrte sie an. Die Schmerzen mussten ihm vollständig den Verstand vernebelt haben.
    „Die … erste Frau“, gab Esther verwundert von sich.
    Trevor besaß anscheinend noch nicht genug Blut, um rot anzulaufen.
    „Zumindest haben wir eines gemeinsam, denn das war auch mein erster Kuss“, sagte sie weiter, was ihn die Braue anheben ließ.
    Hast du großartig hinbekommen … Du verdienst jede einzelne Verletzung, du Schmalspurromantiker.
    „Kannst du dich dazu durchringen, mich nicht mehr als Gräfin zu bezeichnen. Zumindest solange wir vier unter uns sind? Mit einem einfachen Du?“
    Trevor räusperte sich und nickte. „Das mit Eurem… deinem Kuss tut mir … leid“, entschuldigte er sich unbeholfen. „Das war nicht meine Absicht. Ich habe nur nicht viel nachgedacht.“
    Das ist ohnehin nicht meine Stärke.
    „Ich wiederhole mich: Du hast nur getan, was nötig war, um uns zu schützen. Da gibt es nichts zu entschuldigen.“ Esther schien im Gegensatz zu Trevor rot zu werden.
    Er schmunzelte und holte tief Luft. Dann war es eben so, oder nicht? „Dann weißt du wenigstens beim nächsten Mal, was dahintersteckt“, wandte er ein. „Verraten tue ich dich, Edmund oder Nelli zumindest nicht.“
    „Darüber bin ich sehr froh“, antwortete sie, ging aber auf seine Bemerkung nicht ein, was Trevor so stehen ließ. Dass sie von einem Piraten geküsst worden war, war wohl auch nichts, womit eine Gräfin hausieren ging. Er würde das aber auch nicht tun. Er versuchte, es einfach gut sein zu lassen, nachdem sie es anscheinend ebenso vorhatte, dabei zu belassen.
    „Aber bitte sei beim nächsten Mal vorsichtig, wenn du schon der Meinung bist, dich ins Kreuzfeuer werfen zu müssen ...“, fügte sie an, aber ihre Stimme klang leiser und der Tonfall war verhaltener als zuvor.
    Trevor brummte zustimmend. „Allerdings hat ein Kreuzfeuer an sich, dass Mann nur bedingt heil aus der Sache herauskommt. Aber ja, ich werde vorsichtiger sein.“
    Esther lächelte. Es wirkte als würde sie sich nur unfreiwillig mit dieser Antwort zufriedengeben.
    Der Formwandler versuchte, nachdem Esther anscheinend mit der Wundversorgung fertig war, seinen Rücken leicht durchzustrecken. Der Boden war weich, aber dennoch nicht sehr bequem. Vor allem nicht, wenn man bereits zwei Tage herumlag. Daraufhin entfuhr Trevor ein schmerzerfülltes Stöhnen. Sein Rücken tat weh; die Rippen allerdings auch. Esther ergriff seine Hand und drückte sie aufmunternd, was er mit einem bemühten Lächeln quittierte. So hilflos hatte er sich noch nie gefühlt. Gar ausgeliefert.
    „Ich muss aufstehen!“, erklärte Trevor. Es ging nicht, dass er noch weiter nur herumlag. Seine Beine fühlten sich beinahe taub an.
    „Bist du sicher?“, wollte Esther wissen, und Trevor nickte.
    „Mir tut mein Hintern weh …“, gestand er amüsiert.
    Esther half ihm, sich zunächst aufzusetzen.
    Trevor wartete, bis der erste Schwindel vorbeigegangen war. Davon erwähnte er jedoch nichts. Er wollte nicht, dass man ihn zum weiteren Herumliegen zwang. Esther stützte ihn, während er sich erhob. Außerhalb der Überdachung bemerkte er, dass sie sich unweit des Strandes befanden. Genau an der Baumgrenze zu einer Art Urwald. „Es geht schon!“, versicherte er Esther. Er wollte sie nicht noch mitreisen, wenn er doch wie ein nasser Sack umfiel.
    „Nein, das geht nicht. Du solltest dich wieder hinlegen!“, erwiderte die Magierin besorgt, nachdem Trevor ohne sie hin und her schwankte.
    Er nickte erneut. Vermutlich hatte sie recht. Er sollte kleine Schritte machen. „Hilf mir, mich hinzusetzen.“ Sie half ihm, obwohl seine Rippen leicht rebellierten, aber eine andere Position musste er einnehmen.
    „Geht es wieder?“, fragte sie mit besorgtem Blick.
    „Keine Sorge. Ich kann nur nicht mehr liegen. Stehen ist aber auch noch keine gute Idee. Also bleibe ich sitzen. Ich will immerhin nicht all eure Arbeit zunichtemachen.“
    Esther lachte. „Es wäre besser, wenn du dich noch schonst. Wir ... wollen, dass du wieder vollständig gesund wirst. Wenn du etwas brauchst, zögere nicht, mich zu fragen.“
    „Ich bin das nicht gewohnt …“, sagte Trevor ehrlich. „Diese Fürsorge. Entweder du stirbst oder nicht. Es gab nichts dazwischen.“
    Esther setzte sich neben ihn und sah ihn an. „Mag schon sein, dass für dich bisher nur diese beiden Möglichkeiten gab. Aber jetzt hast du ... Menschen um dich, die sich um dich sorgen.“
    „Stand es denn so schlimm um mich?“, hakte Trevor nach, als plötzlich Nelli aus der Ferne zu ihnen stieß. Nachdem sie Trevor neben Esther entdeckt hatte, strahlte sie über ihr ganzes Gesicht und schien wirklich erleichtert zu sein, den Formwandler bei Bewusstsein zu sehen.
    „Der Bursche weilt wieder unter den Lebenden“, gab sie erfreut von sich und beugte sich umgehend nach ihrer Tasche. Aus dieser förderte sie eine Flasche ihres Weines zu Tage und trank augenblicklich die Hälfte davon in einem Zug.
    Das beantwortet wohl meine Frage …
    Es schien sich bei Trevor um schwere Verletzungen gehandelt zu haben, wenn selbst die Heilerin erleichtert zu trinken begann.
    „Bei der guten Pflege …“, antwortete Trevor und lächelte.
    Nelli bot beiden einen Schluck an, aber weder Esther noch Trevor wollten vom Wein, sodass Nelli die Flasche für später verstaute.
    Trevor schaute sich um und sah dann beide Frauen abwechselnd an. „Wo ist eigentlich Edmund?“, fragte er und vernahm von beiden ein tiefes Seufzen.

    Jetzt brach die Hölle los und der Formwandler wurde von Edmund weggedrängt. Von irgendwoher kassierte er einen Schlag gegen den Kopf, was seine alte Wunde an der Augenbraue erneut aufplatzen ließ. Aber das machte er nur an dem warmen Gefühl in seinem Gesicht aus. Er drängte sich in die Freiheit. Zwei Piraten gingen umgehend auf Trevor los, deren Schläge er schaffte, zu parieren. Durch einen Schritt zur Seite, und einem Schlag mit seinem Säbel, trennte Trevor einem der Piraten die Hand mit dem darin befindlichen Messer ab. Der schrie und hielt sich seinen Stumpf, woraufhin Trevor ihm einfach die Beine wegzog. Eilig ergriff er die lose Hand, entfernte das Messer und warf es dem zweiten Angreifer in den Oberschenkel. Schreiend ging dieser ebenfalls zu Boden und verkroch sich gleichauf hinter einer Kiste. Trevor hatte noch die abgetrennte Hand in seiner, als er einen lauten Knall hörte und einen Druck an seiner Schulter spürte. Rauch stieg aus seiner dunklen Jacke empor, während er die Quelle des Lärms fixierte. „Francis …?“, stellte er fest und beobachtete den jungen Mann dabei, wie dieser rasch Schießpulver in die Pistole stopfte. Eigentlich besaß nur der Steuermann oder Kapitän eine solche Waffe, weil sonst Streitigkeiten zu schnell eskalieren konnten. Kurz war Trevor deswegen verwirrt. Allerdings handelte es sich beim Steuermann um Francis‘ Vater. Er musste sie ihm entwendet haben.
    „Schießt du feige auf mich?“, rief Trevor, winkte dem vorlauten Jungen mit der toten Hand und schnitt, ohne hinzusehen, dem Kerl am Boden den Bauch auf, zu dem das abgetrennte Körperteil gehörte. Trevor warf die Hand danach gleichgültig neben den Schreienden.
    „Ich töte dich, du kranker Wichser“, spie Francis aus. „Ich gehöre jetzt zu den Piraten!“
    Jetzt wird er auch noch persönlich …
    Trevor kontrollierte danach seine Kleidung, ignorierte die blutende Stelle – knapp über seinem Schlüsselbein. Er steckte den Finger durch das entstandene Loch in seinem Hemd sowie Jacke und wandte sich dann Francis mit wütendem Blick zu. „Francis? Diese Klamotten waren wirklich teuer …“
    Gepriesen sei Nellis Trank … Keine Schmerzen!
    Der Formwandler betrat die Treppe zum oberen Teil des Hecks und ließ den jungen Matrosen, der sich offen zu den Piraten bekannt hatte, nicht aus den Augen.
    Francis spannte derweil nervös den Lauf der Waffe, zitterte aber wie Espenlaub dabei, sodass es ihm nicht gelingen wollte.
    Ja, fürchte dich vor mir. Das tue ich auch manchmal.
    „Das ist nicht nett!“, meinte Trevor und holte mit dem Säbel aus. „Du hättest besser treffen sollen!“
    Bevor Francis dazu gekommen war, die Waffe erneut auf Trevor zu richten, kullerte der Kopf des jungen Mannes über die Holzdielen. Blut bespritzte Trevors Gesicht und Kleidung, während der leblose Körper widerstandslos zu Boden fiel.
    Anfänger …
    Trevor hob den Kopf am Haarschopf auf und nahm die geladene Waffe an sich. Dann schaute er in die aufgerissenen Augen des Kopfes. „Guck den richtigen Piraten mit zu!“ Der Formwandler ging zurück zu Treppe und steckte Francis´ Kopf auf das obere Ende des Geländers. „Damit du was lernst …“
    Seelenruhig ging Trevor danach wieder die Treppe hinunter, nachdem er Francis´ Kopf noch ein paar Mal getätschelt hatte. Der Pirat, der windend am Boden lag, und versuchte, seine Gedärme an Ort und Stelle zu halten, tat ihm fast leid. So waren Kämpfe nun mal. Entweder hatte man das Glück, sofort tot zu sein, oder mit etwas Pech eben nicht. Trevor erlöste ihn im Vorbeigehen durch einen Schuss in den Kopf und warf dann die Waffe achtlos über die Reling.
    Er hasste es, das klebrige Blut an sich zu spüren. Zumindest versuchte er, sich das einzureden. Irgendwo in sich vernahm er ein höhnisches Lachen, das ihn vom Gegenteil überzeugen wollte. Vor allem, als er in die Gesichter der Piraten sah. Frank stand zusammengekauert neben seinem Kapitän. Der würde seinen Arm nicht mehr so schnell benutzen. Immerhin hatte Trevor ihm sein Schulterblatt gespalten. Ein anderer saß mit dem Messer im Bein in der Ecke und tat sich sichtlich schwer dabei, es aus dem Knochen zu ziehen. Die Meuterer hielten inne, seit Trevor den Schuss abgegeben hatte. Sie betrachteten den Dicken, der tot am Boden lag. Edmund schien besser im Kämpfen zu sein, als es er ihm zugetraut hatte, obwohl der Formwandler davon ausging, dass Edmund noch nie in seinem Leben hatte töten müssen. Das hoffte er sogar für ihn. Daran war nichts Edles. Deshalb tat es Trevor auf seine Weise. Irgendetwas in ihm hielt ihn dazu an, sich am Leben zu halten. Vielleicht war es das Blut der Formwandler. Vielleicht auch nur die Aussicht auf ein anderes Leben.
    Den Piraten war anzusehen, dass sie ihre Situation überschauten. Verletzte, Tote … Ihr Bluthund war von einer "Witzfigur" besiegt worden. Weshalb Trevor ein siegessicheres Grinsen unterdrücken musste. Damit hatten sie wohl nicht gerechnet und auch nicht damit, dass Trevor noch austeilen konnte. Jeder von ihnen hatte immerhin den Zusammenprall mit der Kiste gesehen.
    „Einigen wir uns auf einen Waffenstillstand“, rief Armod. „Lassen wir die Gruppe in Ruhe ziehen, ohne noch weiteres Blut zu vergießen. Bedenke, du bist verletzt.“
    „Wir haben nicht angefangen“, konterte Trevor und sah, wie Edmund weiter hinten am Schiff ins Beiboot kletterte. „Ihr wisst, was geschieht, wenn man ein verletztes Tier in die Ecke drängt.“
    „Deine letzte Chance, Trevor … Noch kannst du die Seite wechseln“, sprach Armod weiter. „Wir sagen zu fähigen Männern nicht ‚Nein‘.“
    Die aber anscheinend vehement zu euch.
    Trevor schnaubte. „Verreckt einfach auf See!“
    „Du bist kein Pirat!“, meinte Frank abfällig und hielt sich seinen verletzten Arm. „Ein Pirat würde niemals den Bluthund für einen verwöhnten Bengel spielen.“
    Trevor musste über diese Äußerung leise lachen. Denn sie waren auch nichts anderes als Untergebene, die der Geldgier nacheiferten. Weder besser, noch schlechter als Trevor. Sein Kapitän hatte wenigstens Sklavenschiffe überfallen, die Sklaven herausgeholt und ihnen einen neuen Lebenssinn gegeben. Sich gegen die Verarmung der freien Leute gewehrt. Und wenn es ging, die Menschen an Bord unbeschadet gelassen. Ein Pirat mit Prinzipien. Unter seinem Kommando war nie eine Frau zu Schaden gekommen.
    „Dann bin ich eben kein Pirat!“, stieß der Formwandler erbost aus. „Momentan gefällt mir das sogar besser! Ich werde meine Gruppe nicht verraten! Nicht für euch oder jemand anderen!“ Er steckte seinen Säbel weg.
    „Ich lasse ihn nicht ziehen. Er hat meinen Sohn getötet!“, erwiderte der Troy mit Wut verzerrtem Gesicht.
    „Bitte Troy …“, flehte Armod. „Wir haben auch Leute von ihnen getötet! Ein paar von uns müssen übrigbleiben. Gerade du!“
    Trevor sah die toten Körper des Kochs und den von Stiev. Er bedauerte deren Tod. Sie hatten tapfer gekämpft.
    „Aber es war mein Sohn!“, schrie Troy.
    „Tu das nicht“, wandte Trevor ein und wollte an Troy vorbeigehen, der ihm vehement den Weg versperrte.
    Genauso dumm wie sein Kind!
    Troy hielt seinen Säbel vor sich. Gerne hätte Trevor ihm erklärt, dass sein Sohn sich entschieden hatte und mit den Konsequenzen leben oder sterben musste, aber vermutlich wäre er taub für derart Weisheiten gewesen. Welcher Vater wäre das nicht? Es war ein Grund mehr für den Formwandler, keine Söhne zu haben. Kinder, die er ohne Richtung auf die Welt loslassen und dazu verdammen musste, ein Leben im Schatten zu führen. Immer im Kampf mit der eigenen düsteren Seite, die ihnen im Blut lag.
    „Dafür töte ich dich!“, nuschelte Troy und stach halbherzig zu.
    Trevor merkte, wie der Säbel einen Finger breit seine Haut am Bauch durchdrang, mehr nicht.
    Du bist kein Mörder … Nur ein alter Seemann …
    Regungslos blieb er stehen, während Blut an der Klinge entlangfloss. Kurz war er der Meinung gewesen, seinen Namen aus dem Hintergrund zu hören, aber das Nachlassen des Trankes begann, Trevor die Sinne zu vernebeln.
    Dem Steuermann hingegen war der Schreck über Trevors mangelndes Ausweichen oder Schmerzempfinden anzusehen. Anscheinend hatte er noch nie einen Menschen getötet und besaß deshalb eine Art Scham davor, ernsthaft zuzustechen. Etwas, das Trevor nicht mit ihm teilte.
    Wie dein Sohn, verpasst du die Gelegenheit, mich zu töten.
    Danach ergriff Trevor Troys Arm und drehte ihm den Säbel aus der Hand.
    War das alles nötig? Trevor wollte das Schiff nur noch verlassen, bevor es seine Kräfte mit ihm taten. Er spürte bereits, wie Nellis Trank rasch nachließ. Wie ihn seine schmerzenden Knochen einholten; ebenso der Rest seiner Verletzungen. Er wusste, dass er zu stark verletzt war, um die Maskerade eines brutalen Kämpfers noch weiter aufrecht zu erhalten. War sie überhaupt eine Maskerade? Aber all diese Fragen machten ihn wiederum wütend. So wütend, dass er Troys Kopf ergriff und zunächst auf die hölzerne Reling schlug. Warum musste er immer wieder unter Beweis stellen, was er konnte? Dass er mehr war als der lustige und schüchterne Seemann? Pirat? Er wusste zurzeit nicht einmal, wer oder was er war. Wütend und ermüdet von dem Kampf, ließ Trevor seinem Hass freien Lauf und schlug den Kopf des Steuermanns unter einem lauten, tiefen Schrei so lange gegen die Reling, bis er nur noch einen fleischlichen Brei in Händen hielt. „Reicht das jetzt?“, schrie Trevor die Meuterer an. „Oder muss ich weitermachen?“ Sein Brustkorb hob und senkte sich sichtbar.
    Noch ein Zucken und ich mache weiter …
    „Du kannst gehen!“, gestand Armod ihm kleinlaut zu.
    Trevor schaute noch einmal in die Runde. Er versuchte, sich die Gesichter jedes Einzelnen einzuprägen, für den Fall, dass er sie an irgendeinem Hafen noch mal wiedersah. Danach warf er Troy wütend über die Reling, als besäße dieser kein Gewicht und marschierte zum Beiboot. „Viel Spaß ohne Steuermann …“, nuschelte er dabei mehr an sich gerichtet.
    Warum konnte ihm nicht einmal etwas Gutes passieren? Etwas Gutes, das danach nicht im absoluten Chaos endete? Dann kam ihm der Kuss mit Esther in den Sinn, der seine Wut besänftigte. Wäre er gestorben, hätte er zuvor zumindest mal eine Frau geküsst. Und gleich eine Gräfin. Aber wahrscheinlich meuchelte sie ihn dafür im Schlaf. Verdient … musste er zugeben. Wenn Männer andere Männer töteten, war das eine Sache, aber einer Frau einen Kuss stehlen … Fast bereute Trevor, nicht von Francis erschossen worden zu sein. Deswegen fühlte er sich fast schlechter als wegen der Sache mit dem jungen Matrosen. Er konnte nur hoffen, dass Esther den Grund dafür verstanden hatte – und er nicht der erste Mann war, der ihr solch eine … Geste zuteilwerden ließ. Ebenso, dass Edmund verstanden hatte, dass er ihn nicht verraten wollte.
    Sechs Augenpaare starrten ihn an, als er mühsam ins Beiboot stieg. Nelli schien sich aber zu fangen und unterstützte Trevor dabei, einen Platz zu finden. Dabei entging ihm nicht, dass sie aufmunternd seinen Oberarm tätschelte.
    Sie kann vermutlich nichts mehr im Leben erschüttern!
    Sie durchschnitten die letzten Taue, und das Beiboot landete etwas unsanft auf der Meeresoberfläche. Wasser schwappte ins Boot, aber nicht so viel, dass es von Belang gewesen wäre. Trevor sah auf und erkannte, dass Edmund kreidebleich war. Er erkannte den Blick. Das war das Gesicht eines Mannes, der zum ersten Mal getötet hatte. So musste Trevor auch mit sechszehn dreingeblickt haben. Deshalb ergriff er die Ruder, setzte sich den anderen gegenüber und begann, das Boot vom Schiff zu entfernen.
    Sein Blickfeld verschwamm immer mehr. Der Schmerz sorgte für ein Klingeln in seinen Ohren. Dennoch, Trevor ruderte. Er würde es so lange machen, bis er nicht mehr konnte.
    „Junge, geht es?“, wollte Nelli wissen und durchbrach mit ihrer kratzigen Stimme die bedrückende Stille.
    Trevor überkam Übelkeit, aber nickte trotzdem. Er ruderte so lange, bis das Schiff in ausreichend Entfernung war. Dabei spürte er, wie sein Puls schwächer wurde. Seine Rippen beschwerten sich ebenfalls und seine Ruderschläge verloren an Kraft, was auch den anderen auffiel.
    „Sieh nur“, hörte er Esther sagen und sie deutete mit ihrem Zeigefinger unter den Formwandler.
    Nachdem Trevor Esthers Finger gefolgt war, entdeckte er das rot gefärbte Wasser unter sich. Noch immer tropfte Blut von ihm in das Salzwasser. Jetzt wusste er auch, warum die Jacke so sehr an seinem Rücken klebte.
    Ein Durchschuss … Wenigstens etwas …
    Aber nicht nur von da fand das Rot den Weg in das Boot. Trevor hatte das Gefühl, dass es kaum eine Stelle an seinem Körper gab, die nicht tropfte.
    Schwindel … Kribbeln im Gesicht … Trevor schüttelte sich.
    Du Schwächling … Mach weiter!
    Aber es brachte nichts. Seine Hände wurden schwach, sein Körper wollte nicht mehr. Bevor ihn die Schwärze ereilte, merkte er, wie er vornüber ins Beiboot kippte.

    Trevor überschaute die Situation aus etwas Abstand, das Edmund anscheinend missfiel. Vermutlich hinterfragte der Händlersohn erneut Trevors Beweggründe, aber damit musste sich der Formwandler erstmal abfinden. Sich direkt neben Edmund stellen war unklug. Beim Überfall auf Schiffe, griffen Piraten immerhin auch nicht nur von einer Seite an. Trevor hatte zwar nicht vor, direkt anzugreifen, aber er musste erstmal alles genau beobachten. Von wem konnten sie Unterstützung erhoffen, von wem nicht. Anhand der Reaktionen ging er davon aus, dass zumindest Stiev und der Koch keine Ahnung hatten, was vor sich ging. Das war gut.
    Langsam ließ er seinen Blick wandern. Er konnte Nelli nicht böse sein, dass sie der Grund der frühen Eskalation war. Sie hatte sich lediglich verteidigt, zumindest glaubte er ihr, was das anging. Noch nie hatte sie bisher eine körperliche Auseinandersetzung angefangen.
    Dann beende du es!
    Eigentlich hatte sie nur beschleunigt, worauf die vier gewartet hatten. Trotzdem … nun standen die Mehrzahl der Männer gegen sie. Trevors Gefühl in seiner Brust, dass er zuvor gehabt hatte, war verschwunden. Es breitete sich eine Ruhe in ihm aus. Eine Ruhe, die ihn immer noch ängstigte; die er nicht spüren wollte. Es war das gleiche Gefühl, das er immer bekommen hatte, bevor Johnny den Befehl gab, ein Schiff zu entern. Sein Kapitän hatte dazu immer gesagt, dass das einen wahren Kämpfer von einem Laien unterscheiden würde. Ein Krieger fand Ruhe in einem bevorstehenden Kampf. Eine Art Genugtuung. Diese Ruhe konnte nicht in den Augen von Edmund erkennen, aber auch nicht in denen von Esther oder Nelli.
    Trevor spürte das Gewicht des Fläschchens in seiner Tasche. Es war an der Zeit. Er beobachtete noch kurz die Diskussion, entfernte in seiner Tasche mit seinem Daumen den Korken und trank es unbemerkt von den anderen.
    Sie hat nicht zu viel versprochen …
    Umgehend merkte Trevor, wie seine Schmerzen schwanden.
    „Wie sieht es aus, Trevor? Hältst du zu deinen Brüdern?“, wollte Armod wiederholt wissen, und alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Formwandler, der die Männer begann, zu umkreisen.
    „Verlockendes Angebot“, erwiderte Trevor und dachte nach.
    Fick dich, du Arsch mit Ohren …
    Sie würden die Frauen ins Beiboot setzen, aber es gab keine Garantie, dass die dort in einem Stück hinuntergelassen wurden. Esther war eindeutig noch zu schwach, um einen Schild oder eine Barriere lange aufrecht erhalten zu können. Sie konnte kaum auf ihren Beinen stehen.
    Trevor spannte jeden Muskel in seinem Körper an. In diesem Moment sah er etwas an Francis‘ Gürtel blitzen. Ein Dolch. Ja, das war vermutlich etwas, dass Esther gut gebrauchen konnte. Um entweder die Taue loszuschneiden oder, um sich damit verteidigen zu können. Zumindest schmälerte eine solche Waffe ihre Chancen nicht. Aber wie ihr übergeben? Ihn ihr einfach in die Hand reichen konnte er nicht. Heimlich? Dazu musste er ihr nah genug kommen!
    Du kennst die Antwort, Trevor …
    Er verfinsterte seinen Blick. Die Idee, die in ihm heranwuchs, war nicht die beste, aber hier ging es nicht um seine Schüchtern- oder Unerfahrenheit, sondern um das Leben derer, die er sich zu beschützen vorgenommen hatte. Der Formwandler richtete seinen Blick wieder auf die Meuterer. „Ich bin allerdings unschlüssig“, fuhr er fort.
    „Unschlüssig?“, hakte Armod nach und lachte in die Runde. „Findest du das Leben bei den Landratten angenehmer? Bist du ein Bastard der See? Ein Landliebhaber?“
    „Junge …?“, stieß Nelli etwa verunsichert aus.
    Trevor sah sie aus dem Augenwinkel heraus an, hob eine Augenbraue und grinste. Daraufhin klärte sich der Blick der Alten und sie sah ebenso grinsend zu Boden.
    Hatte sie auch gedacht, er fällt ihnen in den Rücken?
    Du bist ein Pirat? Wer würde das nicht denken? Dir wird man nie ohne weiteres Vertrauen! Niemand wird das!
    „Ich lasse mich nicht wieder zu einem einfachen Besatzungsmitglied machen oder gar zu einem Gefangenen in einer Kiste“, erklärte Trevor mit fester Stimme. „An seiner Seite …“, er zeigte auf Edmund, entwendete den Dolch an Francis‘ Hüfte, während sich alle zum Händlersohn drehten, und ließ die Waffe in seinem Ärmel verschwinden, „hatte ich wenigstens etwas zu sagen.“
    „Ach so, du willst eine Führungsposition!“, stellte Armod lachend fest.
    Trevor umkreiste die Männer weiter, bis er in der Nähe von Esther und dem Rest stand. „Das wäre das Mindeste.“
    Er untermauerte immer mehr, dass er einen Seitenwechsel in Betracht zog und wollte in diesem Moment gar nicht in Esthers oder Edmunds Gesicht sehen. Aber vielleicht hatte Nelli verstanden, was er tat. Sie war alt und hatte viel gesehen. Vielleicht konnte sie Lüge und Wahrheit voneinander unterscheiden. Und Edmund tat das sicherlich nicht, nachdem er Trevor nicht einmal so weit vertraute, um ihm zu sagen, welche Art Ladung sie an Bord hatten, die es lohnte, zu stehlen. Aber er musste diese Dinge herunterschlucken. Wenn die Piraten auch nur den Hauch einer Schwäche bei ihm bemerkten, hätte er seine Karte verspielt. Zuerst musste er Esther helfen.
    Armod beriet sich mit einigen seiner Männer und wandte sich dann wieder Trevor zu. „Geht in Ordnung. Du kannst der zweite Maat werden, wenn du dich zu uns gesellst.“
    Zweiter Maat? Der spinnt! Ich wäre ein besserer Kapitän als er … Und dann zweiter Maat? Allein für diese Beleidigung sollte ich ihm den Hintern spalten!
    „Wohl besser als nichts, was?“, antwortete Trevor und lachte, woraufhin sich die Meuterer seinem Gelächter anschlossen. Jeder konnte die Stimmung spüren. Es war, als würden sich Raubtiere gegenüberstehen und jedes Tier wartete auf eine sofortige Eskalation.
    „Na toll … Von wegen keinen Grund, zu misstrauen“, stieß Edmund erbost aus.
    Trevor sah zu ihm rüber, durfte aber keine Miene verziehen. Gerne hätte er ihm vorab irgendein Zeichen gegeben, alles richtiggestellt, aber das ging vorerst nicht. Edmund musste warten. Auch, wenn dieser ihm danach nie wieder vertrauen würde. Das war Trevors Los.
    Der Augenblick der Wahrheit … Jetzt oder nie. Vermutlich ansonsten nie, denn die Situation sieht nicht gut aus.
    „Genug der Verhandlungen!“, wandte Armod plötzlich ein. „Schafft die Frauen weg!“
    „Eine Sache wäre da noch, bevor ich mich entscheide … Kapitän.“
    „Und die wäre?“
    Trevors Herz schlug ihm bis in den Hals. Er verspürte keine Schmerzen, dabei hätte er sich etwas gegen Bluthochdruck und nervöses Schwitzen geben lassen sollen, die ihn jetzt übermannten.
    Dahin ist die Ruhe … Toller Krieger!
    Aber um diese Sache kam er nun nicht mehr herum. Die Sekunden vergingen viel zu schnell. Jetzt wartete jeder darauf, was er noch wollte, also war er zum Handeln gezwungen.
    Sei ein Pirat! Oder wenigstens mal ein Mann wie jeder andere!
    Er drehte sich zu Esther und ging einen Schritt auf sie zu, bis er unmittelbar vor ihr stand. Mit seiner freien Hand umfasste er sanft ihre Taille und mit der anderen ihren Nacken.
    Das wird sie mir ewig nachtragen … Seis drum … Du tust das für sie, nicht für dich.
    So sanft es ihm möglich war, küsste er Esther. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, alles verschwamm um ihn herum, ehe er sich wieder zusammenriss. Er rechnete umgehend mit einer heftigen Gegenwehr, die zunächst nicht kam. Vermutlich war sie zu sehr überrumpelt worden. Wer hätte ihr es verübeln können? Immerhin küsste sie gerade ein vermeintlicher Verräter.
    Trevor verschwendete aber keine weitere Zeit und ließ die Hand am Nacken zu ihrem Rücken gleiten, um den Dolch in ihrer Schnürung zu platzieren. Kurz merkte er, wie sie in diesem Moment ihre Ellenbogen gegen seinen Oberkörper drückte, um ihn wegzuschieben, was er dadurch unterband, dass er sie wiederum fester an sich presste, bis sie den Gegenstand an ihrem Rücken spüren musste. Nachdem er sicher war, dass der Dolch hielt, legte er ihr dunkles Haar über ihn und ließ von ihr ab. Ober nicht, ohne ihre Fesslung etwas zu lockern. Durch einen Blick in ihre Augen, versuchte er, sich bereits bei ihr zu entschuldigen. Denn den konnten die anderen nicht sehen. „Wenn es losgeht … wartet nicht auf mich. Flieht!“, flüsterte er und lächelte wehmütig. „Rettet euch!“
    Esther wirkte verwirrt. Aber immerhin hatte sie ihm bisher keinen Schlag oder Tritt verpasst, was der Formwandler als positives Zeichen wertete. Vielleicht hatte sie seinen Plan verstanden. Vielleicht war sie aber auch nur angewidert und schockiert.
    „Was gibt es denn da zu tuscheln?“, mischte sich Frank ein, und Trevor drehte sich der Meute zu.
    „Ein Pirat wird sich doch von seiner Maid verabschieden dürfen?!“
    „Deiner … Maid?“, hinterfragte Armod und gab das Zeichen, zuerst Esther wegbringen zu lassen. Trevor sah ihr kurz nach, versuchte aber auch diesmal wieder, keine Miene zu verziehen, solange sie ihn beobachteten.
    „Deiner?“, kam es auch von Edmund, dessen Gesichtsausdruck irgendwie eine Mischung aus Ekel oder blankem Entsetzen darstellte. Zumindest, wenn Trevor ihn hätte deuten müssen.
    Nelli hingegen sah ihn mit großen Augen an.
    „Wenn jemand anderes Anspruch erhebt, kann er es gerne mit mir auf der nächsten Insel austragen.“
    Ansprüche … Unter Piraten gab es klare Regeln. Wollte einer einem anderen Piraten etwas streitig machen, so ging das nur an Land und mit Waffengewalt. So hegte Trevor zumindest die geringe Hoffnung, dass Esther unbeschadet und unangetastet ins Beiboot gesetzt wurde.
    Jetzt kannst du nur beten, dass du verreckst! Entweder gehst du hier drauf oder sie erschlagen dich im Beiboot!
    Frank winkte ab. „Eine Spalte ist so gut wie die andere …“
    Trevor verzog angewidert sein Gesicht. „Nein … also nein. Dem kann ich nicht zustimmen. Das solltest du behandeln lassen, Frank … Das ist nicht in Ordnung!“
    Armod verpasste Frank einen Schlag auf dein Hinterkopf. „Das würde die Spalte deiner Mutter einbeziehen, du perverser Sack!“
    Klar, und ich soll zweiter Maat sein! Hinter dem Spaltenkönig!
    Nelli wehrte sich vehement gegen das Wegbringen. „Nimm deine Finger von mir, du Hund!“, beschimpfte sie den Piraten, der sie geleiten wollte.
    Trevor stellte sich währenddessen neben Edmund, der ihn immer noch wütend anstarrte. „Und zu deinem Angebot, Armod … schieb es dir in deinen verlausten Arsch!“
    Das kam trockener rüber, als gedacht.
    „Was?“, erwiderte der Pirat wütend.
    „Zweiter Maat ist nichts für mich. Zudem mag ich die Witzfigur, wie du sie nanntest. Und ich finde, er ist alles andere als das. Ich halte zu meiner Mannschaft!“
    „Also willst du mit ihm untergehen?“
    Trevor zuckte mit den Schultern. „Im Gegensatz zu euch, bin ich loyal. Ich sterbe lieber mit ihm, als mit euch Vollpfosten über das Meer zu segeln.“
    Der Formwandler sah nur aus dem Augenwinkel, wie Nelli leise lachte. Dann wandte er sich Edmund zu. „Es ist deine Entscheidung, was du tun wirst, aber ich bin an deiner Seite.“

    Trevor verschluckte sich an seinem Tee und begann lauthals zu lachen. Hatte sich die Gräfin gerade die Schuld an seinen Verletzungen gegeben? Wenn sie gewusst hätte, wie häufig er bereits verletzt worden war … Zudem hatte sie die Kiste von ihm weggedrückt. Das war ihm bereits Hilfe genug gewesen. Er sah sie von der Seite an und versuchte, sein Lachen zu mäßigen. „Gräfin, Ihr habt mir geholfen. Mehr konnte ich in diesem Moment nicht ansatzweise verlangen. Gebt Euch nicht die Schuld für etwas, auf dass Ihr keinen Einfluss hattet.“
    „Ich hätte Einfluss darauf nehmen können. Ich hoffe nur, dass Ihr Euch nicht ernsthaft verletzt habt", antwortete Esther wenig freudig.
    Trevor schüttelte den Kopf. „Nichts, das nicht spurlos verheilen würde“, erwiderte er lächelnd. „Aber Ihr solltet Euch jetzt nicht zusätzlich mit einem schlechten Gewissen plagen. Ihr habt ein ganzes Schiff gerettet. Das Leben einzelner kann man nicht immer bewahren, Ihr müsst das große Ganze dahinter sehen. Ohne das Schiff, hätte keiner von uns auch nur eine Chance gehabt. Daher … ist Euch viel zu verdanken.“
    Esther lächelte zaghaft und atmete neben Trevor tief durch. „Ich habe nur meine Aufgabe versucht, zu erfüllen.“ Dabei warf sie einen flüchtigen Blick auf Edmund, der die neu errichtete Werkstatt musterte.
    Trevor hoffte, sie würde seine aufmunternden Worte annehmen. Er wusste, wie schwer es war, sich selbst einzugestehen, dass das, was man getan hatte, genug sein sollte. „Der war mehr um Euren Zustand besorgt, als darüber, dass Ihr Eure Aufgabe nicht erfüllt. Denn das habt Ihr, und das weiß er. Er hat nur eine seltsame Art seine Sorge zu äußern. Deswegen brachten wir Euch direkt zu Nelli.“
    Esther seufzte hörbar. „Dann müsste ich mich vielmehr bei Euch und Edmund bedanken. Dafür, dass ihr mich vor einem Sturz in die See bewahrt habt.“
    „Gern geschehen, aber nicht nötig. In solchen Situationen helfen wir uns einfach gegenseitig. Jeder, wie er kann. Ich war nur froh, dass Ihr nicht allzu viel wiegt, ansonsten wäre es für mich peinlich geworden.“
    Jetzt fing auch Esther an zu lachen, was Trevor zum Schmunzeln brachte. Er war froh, dass er ihre Stimmung etwas aufbessern konnte.
    Trotzdem, irgendwas störte ihn. Nicht an Esther oder Edmund. Er sah sich um und es fühlte sich an, wie ein Druck auf seiner Brust. Und nein, das stammte nicht von den Brüchen. Irgendetwas legte eine Hand um sein Herz und drohte, es zu zerdrücken. Das hatte er schon einmal gespürt. Damals, als die vier schwarzen Punkte am Horizont aufgetaucht waren. Deshalb legte er seine Stirn in Falten, formte seine Augen zu Schlitze und stellte seine Teetasse vor sich ab.
    Esthers Lachen verebbte und sie musterte ihn von der Seite. „Ist alles in Ordnung?“, wollte sie wissen, und Trevor räusperte sich.
    „Ich weiß nicht. I… Ich fahre seit sechszehn Jahren zur See. Ich habe viele Stürme erlebt. Selten so einen wie den letzten, aber … Normalerweise ist danach die Mannschaft gut gelaunt. Sie freut sich, dass sie es überstanden hat … lebendig, aber hier … Mir gefallen die Blicke und die Stille nicht.“
    Esther sah sich unsicher um. „Einige haben mich vorhin auch seltsam angestarrt“, flüsterte sie Trevor zu.
    Das verhärtete nur seinen Blick. Trevor hatte aus der Ferne bereits Edmund mit einigen Männern über diesen Frauen-Aberglauben diskutieren hören. Es war immer schlecht, wenn ein Haufen abergläubige Spinner an Bord waren. Aber leider gab es für solche Geschichten keine ausreichende Befragung, bevor die Seeleute anheuerten. Allerdings dachte er immer, dass die Männer auf Handels – und Marineschiffen wesentlich ausgeklärter waren. Ähnlich wie sein Kapitän, der von solchem Geschwätz gar nichts hielt. Trevor musterte jeden Mann, der an ihnen vorbeiging. War es möglich … Nein, das wäre ihm doch aufgefallen, oder nicht? Hatte sich Trevor zu sehr ablenken lassen, dass ihm das Offensichtliche durch die Lappen gegangen war?
    Er neigte sich etwas in Esthers Richtung, damit er leise genug flüstern konnte und sie ihn verstand. „Ich will Euch nicht beunruhigen, Gräfin“, setzte er an und sah ihr dann direkt in die Augen, „aber würdet Ihr mir einen Gefallen tun?“
    Esther nickte langsam.
    Hatte er sie bereits verängstigt? Er musterte sie kurz, aber kam schnell zu seiner Bitte zurück. „Geht in Euer Quartier und packt eine kleine Tasche mit allem, was Ihr unbedingt braucht. Nur das Nötigste. Vielleicht in eine Tasche, die Ihr Euch umbinden oder umhängen könnt. Und behaltet diese bei Euch.“
    „Wenn Ihr das für nötig haltet ... Was habt Ihr jetzt vor?“
    Trevor dachte nach und richtete seinen Blick wieder nach vorne. In seinem Zustand war ein miserabler Kämpfer. In seiner Verfassung konnte er kaum ein Schwert halten. Vermutlich wusste das die Mannschaft. Sie konnten es ihm ansehen. „Ich werde mich ebenso vorbereiten, in der Hoffnung, dass ich vollständig daneben liege. Und was die Notwendigkeit angeht … Zumindest würde ich mich besser fühlen.“ Er versuchte, seine Bitte durch ein unsicheres Lächeln zu untermauern.
    Esther nickte erneut und schluckte trocken. „In Ordnung. Dann werde ich tun, worum Ihr mich bittet“, sagte sie schließlich.
    Das Gefühl in Trevors Brust nahm immer mehr Form an. Es war Furcht. Deswegen nickte er ebenfalls; halb in Gedanken versunken, was wohl Esther dazu aufforderte, sich vorsichtig zu erheben. Sie ging die Treppe hinunter, Richtung ihres Quartiers und wandte sich noch einmal zu Trevor um.
    Er musste kein Hellseher sein, um ihre Besorgnis in ihrem Blick zu erkennen. Deshalb lächelte er sie ehrlich an, um ihr irgendwie Zuversicht zu schenken, ehe sie in dem dunklen Gang verschwand.
    Nachdem er sicher war, dass sie sich in ihrem Zimmer befand, richtete sich Trevor unter ächzenden Tönen auf und ging zu Nelli. Die alte Dame war kurzerhand in ihr Zimmer zurückgekehrt, nachdem Esther wieder aufgestanden war. Begeistert schien sie davon aber nicht zu sein.
    „Du solltest auch nicht so viel herumrennen“, meinte Nelli, ohne Trevor anzusehen und verstaute ein paar Sachen in ihrer Tasche. Packte sie bereits zur Sicherheit?
    „Ja, ich … weiß“, pflichtete er ihr bei, „aber ich habe für Ruhe jetzt keine Zeit.“
    Nun drehte sich Nelli doch zu ihm herum. „Hast du unser Gespräch bereits vergessen, Junge?“
    Trevor grinste flüchtig. „Nein, habe ich nicht, aber für gewisse Grundsätze habe ich gerade keine Zeit. Ich denke, dass sich an Deck etwas zusammenbraut und diesmal ist es kein Sturm.“
    Zu seinem Erstaunen wirkte Nelli nicht überrascht. „Mit sowas habe ich bereits gerechnet. Edmund deutete auch etwas in diese Richtung an“, erwiderte sie und seufzte. Sie fuhr sich mit ihrer Hand über die faltige Stirn. „Und jetzt möchtest du was von mir, Trevor?“
    „Etwas, das meine Schmerzen … zunichtemacht.“
    Er sprach absichtlich nicht von lindern. Lindern war zu schwach. Sie mussten verschwinden – vollständig.
    „Direkt zunichte?“, versicherte sich Nelli. „Du willst also, dass ich dir etwas gebe, das deine Schmerzen zunichtemacht, damit du dir eventuell noch mehr zufügen kannst?“
    „Ich werde mir keine zufügen!“, widersprach Trevor.
    „Ja, aber vielleicht andere!“, erwiderte Nelli lauter. „Ich sagte dir, dass du nicht immer andere wichtiger nehmen sollst als dich selbst.“ Ihre Stimme klang, ob ihrer Lautstärke, nicht anklagend, vielmehr besorgt.
    Trevor schaute zu Boden. Seine Gesichtsmuskeln zuckten. Sie konnten sich nicht zwischen einem wohlwollenden Lächeln oder grimmigen Gesichtsausdruck entscheiden. „Ich hoffe, ich irre mich“, nuschelte Trevor und schaute dann wieder auf. „Aber jetzt brauche ich dich, Nelli.“
    Die Hexe musterte ihn. „Um was zu tun, Bursche? Kämpfen?“
    Trevor nickte. „Ich kann Edmund nicht einfach damit alleinlassen. Ich kann nicht …“
    „Du kannst was nicht? Mal andere kämpfen lassen? Abwarten?“
    „Nicht wieder Menschen verlieren, die ich anfange, zu mögen“, kam es Trevor deutlich lauter über die Lippen, als er beabsichtigt hatte. Er schreckte vor sich selbst zurück und entschuldigte sich gleichauf bei Nelli. Müde ließ er sich in den Stuhl neben sich sinken und sah sie an. „Bitte. Wenn ich falsch liege, darfst du mich einen ganzen Monat in ein Zimmer sperren, aber jetzt haben wir keine Zeit dazu.“
    Nelli lächelte. „Ich gebe dir, was du willst, aber … bedenke, dass deine Verletzungen vorhanden bleiben, auch, wenn du sie nicht spüren wirst. Die am Körper, und auch die in deinem Inneren … Du kannst die Zeit nicht betrügen, die es braucht, um zu heilen.“
    Trevor nickte verstehend. Er hätte vermutlich allem zugestimmt, nur um das zu bekommen, was er wollte, auch, wenn er sich damit nicht besser fühlte. Er konnte nicht zulassen, dass Edmund plötzlich allein gegen eine Meute Seeleute stand. Dazu war er ihm zu sehr ans Herz gewachsen. Genauso wie Nelli und Esther. Er hatte Nelli gesagt, dass er das nicht noch mal zulassen würde. Das konnte er auch nicht. Selbst wenn er die Gruppe noch nicht allzu lange kannte. Trevor konnte sich mit gebrochenen Knochen nicht verwandeln, das wusste er. Er musste er selbst bleiben. Aber wenn er schon er war, dann wenigstens kampfbereit.
    „Dessen bin ich mir bewusst“, sagte Trevor und sah Nelli noch einmal hilfesuchend an. Was war ein Krieger, der nicht kämpfen konnte? Dann hätte er auch genauso gut an seinen Verletzungen krepieren können. Dann wäre diesmal wenigstens sinnvoll gestorben und nicht dahingehend, machtlos zusehen zu müssen, wie Idioten ihrem Aberglauben nachgingen.
    „Dann lidern … nein, machen wir deine Schmerzen mal zunichte. Aber wehe dir passiert etwas, dann hole ich dich persönlich ins Leben zurück, um dir den Hintern zu versohlen.“
    „Wird es nicht …“, versprach er vage. Denn das wusste er nicht einmal. Sollte die ganze Mannschaft sich gegen sie stellen, wäre Trevor ebenso unterlegen wie jeder andere Mann.
    Nelli tätschelte ihm das Knie und wandte sich dann ihren Kräutern zu. „Gib mir ein paar Minuten.“
    Umgehend mischte sie einige Kräuter zusammen. Erhitzte sie, mischte weitere Bestandteile darunter.
    Trevor meinte Pilze und Wurzeln zu erkennen, aber so genau kannte er sich damit nicht aus.
    Am Ende füllte Nelli alles in eine kleine Flasche und verschloss diese mit einem Korken. „Wenn du denkst, es ist so weit, trink das. Es wird aber keine Ewigkeit anhalten, vor allem nicht unter Anstrengung.“
    Trevor nahm die Flasche entgegen und steckte sie in die Hosentasche seiner Robe. Erleichtert darüber, dass sie ihm geholfen hatte, richtete er sich auf und drückte der alten Dame einen Kuss auf die Stirn. „Danke, Oma.“
    „Ja ja“, wiegelte sie ihn ab, „sieh zu, dass du das Zeug gar nicht erst brauchst.“
    Trevor begab sich danach in sein Zimmer und band sich sein Schwert um, ebenso den seltsamen Säbel. Mehr besaß er nicht, das wichtig war. Als das erledigt war, begab er sich an Deck, um Edmund aufzusuchen, welcher dem Schiff zugewandt an der Reling lehnte. „Edmund“, sprach Trevor ihn direkt an, „wir müssen reden.“
    „Solltest du dich nicht ausruhen?“, fragte Edmund, und Trevor rollte bereits mit seinen Augen.
    „Ja, das würde ich, wenn hier nicht eine Stimmung wie vor einem Begräbnis wäre …“, erwiderte Trevor leise und stellte sich so aufrecht er konnte neben Edmund.
    Edmund schien nachzudenken und wartete, bis einige Männer an ihnen vorbeigegangen waren, ehe er etwas sagte. „Die Stimmung gefällt mir auch nicht“, gab er dann zu.
    „Ich habe dein Gespräch mit diesem Frank belauscht … und kam zur Vermutung, dass er vielleicht nicht zur normalen Mannschaft gehört“, flüsterte Trevor.
    „Gehört er auch nicht. Er ist in Silberberg dazugekommen“, gestand Edmund, und Trevor drehte sich mit großen Augen zu ihm herum. Also wurde Trevor nicht paranoid, nach allem, was er bereits erlebt hatte. Sein Verdacht erhärtete sich immer mehr.
    Trevor schluckte. „Männer der Marine oder des Handels haben keinen Grund abergläubig zu sein“, erklärte er zunächst. „Sie transportieren auf Schiffen nicht nur Männer oder Ladung. Sie geleiten auch Frauen von einem Ort zum nächsten. Sie sind normale Reisende. Die einzigen Männer, die solchen Mumpitz noch ernstnehmen sind …“ Trevor stoppte kurz und versicherte sich, dass sich niemand in der Nähe befand. „… Piraten.“
    „Bist du sicher?“, verlangte Edmund zu wissen.
    „So sicher ich mir sein sollte“, antwortete Trevor und legte seine Hände auf seine Waffen. „Mit absoluter Sicherheit kann ich es nicht sagen, aber … Ist auf diesem Schiff irgendetwas, das wirklich von Wert ist? Etwas, von dem wir … ich oder die anderen nichts wissen? Aber etwas, das die Mannschaft im Durcheinander in Erfahrung bringen könnte?“
    Edmund kaute auf seiner Unterlippe und zögerte. Eigentlich war das Beweis genug für Trevor. Dieses Verhalten hatte er bereits bei Händlern gesehen, wenn man ihnen den Säbel unter das Kinn gehalten hatte. „Edmund …“, sprach er ihn deswegen offen an. „Habe ich dir je Grund gegeben, mir zu misstrauen?“
    „Bisher nicht.“

    „Du musst mir nicht sagen, was es ist oder wo es ist, aber ist hier etwas?“ Trevor schmerzte beinahe das mangelnde Vertrauen, aber er versuchte, es zu verstehen. Immerhin war er auch ein Pirat und genauso gut hätte es sein können, dass Trevor im Auftrag der anderen handelte. Er konnte allerdings nicht ändern, was er mal gewesen ist oder noch war.
    Edmund zögerte noch einen Moment und rang sich dann zu einem „Ja“ durch.
    „Da versenk mich doch …“, stieß Trevor viel zu laut aus, woraufhin in der Ferne sich einige Männer zu ihnen herumdrehten. „Diese Schmerzen …“, flüchtete sich Trevor in eine Ausrede, „die bringen mich um.“
    „Du solltest dich vielleicht doch wieder hinlegen."
    Trevor drehte sich mit erhobener Augenbraue zu Edmund um.
    Was stimmt nicht mit ihm?
    „Das habe ich nur gesagt, weil sie uns … ist auch egal. Wichtig ist, dass sie uns nicht unvorbereitet treffen“, flüsterte der Formwandler.
    Edmund hob seinerseits die entgegengesetzte Augenbraue und sah Trevor an. „Was schlägst du vor?“
    Trevor dachte nach. So genau wusste er das selbst nicht. Da sie zunächst von den Frauen gesprochen hatten, lag sein Fokus auf ihnen. „Sollten sie Esther und Nelli loswerden wollen, sollten wir sichergehen, dass sie nicht vorhaben, sie mit Kanonenkugeln an den Füßen über die Blank gehen zu lassen. Das heißt, du solltest dir deinen Degen umschnallen, dein restliches Geld schlucken und bereit sein, das Schiff samt Fracht aufzugeben. Wenn wir … ich mich irre, waren wir einfach nur vorsichtig.“
    Edmund sah Trevor perplex an, was diesem beinahe ein Schmunzeln abrang. „Du meinst, wir haben keine andere Wahl als darauf zu warten, dass jeder hier uns in den Rücken fällt?!“, fragte Edmund.
    Trevor sah sich um. „Ich bin kein schlechter Kämpfer, aber gegen all diese Männer kommen wir zusammen nicht an. Esther ist noch zu schwach … Wir können nur versuchen, zu überleben; die anderen zu schützen und dann … sehen wir weiter.“
    „Toller Plan. Hätte glatt von mir kommen können“, nuschelte Edmund und es klang mehr als sarkastisch.
    Trevor lachte leise. „Tut mir leid, entschuldigte sich er daraufhin. „Den letzten Kampf gegen eine Übermacht habe ich … verschlafen.“ Er legte Edmund seine eine Hand auf die Schulter und versuchte, dem Händlersohn zumindest so zu verdeutlichen, dass dieser nicht allein dastand. „Wir sollten einfach nur … vorsichtig sein.“
    „Und ich dachte, der Tag könnte nicht schlimmer werden.“

    „Wenn man erstmal ganz unten ist, geht es zumindest nur noch hinauf“, erwiderte Trevor. „Aber jetzt sollten wir uns vorbereiten. Bemitleiden können wir uns später.“
    Edmund nahm seine Worte erstmal hin, was Trevor dazu veranlasste, vielleicht noch einmal über seine Klingen zu schleifen.
    Der Formwandler behielt seine aufrechte Haltung bei, als er Edmund verließ, auch wenn es ihm die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Er gab ohnehin nicht gerne Schwäche zu, was wiederum eine Schwäche der Formwandler war, aber jetzt erstrecht nicht. Er wollte den vermeintlichen Verrätern nicht das Gefühl geben, dass sie leichtes Spiel besaßen. Und wenn sie nur ansatzweise Trevor kannten und beobachtet hatten, dann wussten sie, dass sie dies auch nicht haben würden. Mit wutverzerrtem Gesicht stieg er die Stufen unter Deck hinunter … Die Frage, die sich ihm aufdrang, war nicht, ob er es überleben würde, sondern: Wie viele kann ich mitnehmen?

    Edmunds Stimme war kaum zu überhören, sodass Trevor umgehend zu ihm geeilt war, um Esther von einem Sturz ins Meer abzuhalten. Er legte sie an Deck, und Edmund wiederholte ihren Namen, um sie zu Bewusstsein zu bringen, aber es half nichts. Esther hatte sich mit ihren Schilden überanstrengt. Einen Zustand, den Trevor nur zu gut nachempfinden konnte. Aber selbst Edmund sah nicht mehr taufrisch aus. Seine Schulter war eindeutig ausgekugelt und trotzdem hatte er den Koch gerettet. Niemand hätte es ihm übelgenommen, wenn er losgelassen hätte.
    Zäher Bursche …
    „Bringen wir sie zu Nelli, schnell!“, brüllte Trevor, und Edmund nickte.
    „Das wird das Beste sein!“
    Trevor richtete sich auf und verzog schmerzhaft sein Gesicht. Seine Rippen wollte nicht gänzlich wie er. Er atmete tief durch, um den Schwindel zu vertreiben. Er musste nur noch einen kurzen Moment durchhalten, dann konnte er sich in seiner Kabine ausruhen …
    Ausruhen …
    „Geht es dir wirklich gut?“
    , fragte Edmund.
    „Alles in Ordnung“, log Trevor. „Du solltest dich lieber um deine Schulter kümmern.“
    Trevor schulterte Esther und hielt sie mit einem Arm fest. Den anderen brauchte er, um sich auf dem schwankenden Schiff irgendwo festhalten zu können. Dabei entgingen ihm die blutige Hand der jungen Frau nicht. Magie schien nicht nur irgendeine Art Hokuspokus zu sein, sondern forderte einiges von seinem Anwender. Vermutlich war nichts im Leben ungefährlich. Trotzdem schien Esther eine wirklich starke Magierin zu sein, die trotz ihres Status, nicht über ein paar Anstrengungen klagte. Nein, sie ging weit über ihre Schmerzgrenze hinaus. Aber warum tat sie das?
    Trevor war es nicht anders gewohnt. Als verwaister Junge hätte er entweder verhungern können oder musste arbeiten. Er hatte viel gesehen. Alte Schiffe, in denen immer Wasser in den Quartieren stand. Füße, die wegen der Dauerfeuchtigkeit abfaulten, Krankheiten, Maden und Würmer. Ratten überall …
    Das Piratenschiff war in weitaus besserem Zustand gewesen, auf dem er aufgewachsen war, was ihn anhielt zu bleiben, anstatt eine Flucht zu versuchen. Er konnte nicht wissen, dass die Mannschaft und Johnny irgendwann zu einer Art Familie wurden. Eine Familie, die er gegen seinen Willen verlassen hatte, weil er vermutlich für zu schwach gehalten worden war. Er verstand nicht, warum Johnny ihn gerettet hatte. Den anderen Männern hatte er gesagt, dass sie bleiben und kämpfen sollten. Nur ihn hatte er bewusstlos geschlagen und über Bord geworfen. Johnny war eine Art Vater für Trevor gewesen. Aber sicherlich nicht die Art, die ihm die Ehre verweigert hätte, mit seinen Leuten den Tod zu finden.
    Trevor wankte zur Treppe. Obwohl Esther nicht sehr schwer war, spürte er zunehmend die Last auf seiner Schulter. Ihre Beine stießen immer wieder gegen seinen verletzten Oberkörper, was ihm den Schweiß auf die Stirn trieb.
    Stell dich nicht so an! Das sind bloß Rippen!
    Edmund öffnete die Tür und trat ein. „Nelli?“, rief er aus.
    „Ich bringe Esther in ihr Zimmer …“, erwiderte Trevor und lief an Edmund vorbei, während dieser die Heilerin holte.
    Vorsichtig ließ Trevor Esther auf ihr Bett nieder, was wiederholt eine Welle des Schmerzes durch seinen Körper jagte. Das würde sicherlich eine Weile wehtun. Aber er hoffte, dass die Mannschaft zum größten Teil unversehrt war. Er schaute sich dann die Hand der Magierin an und setzte sich neben ihr Bett auf einen Stuhl. Er schätzte ihre Wunde so ein, dass sie gut verheilten würde, aber sicherlich nicht spurlos. Narben waren bestimmt etwas, das nicht gerne in ihren Kreisen gesehen wurden – vor allem an einer Frau. Bei Überfällen auf gut betuchte Schiffe, hatte er oft miterlebt, wie sich feine Herren davonstahlen, während ihre Frauen vor Angst erstarrt waren. Johnny hatte immer darauf geachtet, dass es nicht umgehend zu Kämpfen kam. Er mochte es auch nicht, wenn Menschen sinnlos starben. Allerdings hatte er sich oft den Spaß erlaubt, reichen Männern, die feige den Rückzug antraten, eine Lektion zu erteilen, in dem er ihnen die Kleidung wegnahm, sie zwang, die Kleider ihrer Frauen anzuziehen und sie somit bloßstellte.
    Edmund schien nicht so ein Mensch zu sein, obwohl man es hätte von ihm erwarten können. Allerdings hatte Trevor noch nicht erlebt, dass er einer Konfrontation aus dem Weg gegangen war. Ganz im Gegenteil. Er hatte sich sogar mit dem größten der Mannschaft angelegt.
    „Das fühlte sich unangenehm an …“, hörte Trevor Edmund sagen.
    Unangenehm? Das sollte schmerzen!“, erwiderte Nelli, die anscheinend zunächst Edmunds Schulter eingekugelt hatte.
    Eilig kam die alte Frau herein, und Trevor machte ihr umgehend Platz. Musternd glitt ihr Blick auch über Trevor. „Eine Kiste, was …“, sagte sie, und Trevor lächelte gezwungen.

    Edmund schien die Hexe auf den neusten Stand gebracht zu haben.

    „Mir geht es gut, Oma. Esther ist wichtiger.“
    „Das einzuschätzen, überlass mal mir, Bursche.“
    Nelli untersuchte Esther, nickte hin und wieder, als würde sie sich selbst etwas erzählen und wandte sich dann den beiden zu. „Sie wird schon wieder. Sie braucht aber viel Ruhe. Wir sollten in den nächsten Tagen nicht erneut in einen Sturm geraten. Sie wird ihre Magie erstmal nicht sonderlich anwenden können, befürchte ich. Sie ist ausgebrannt wie eine alte Kerze.“
    „Das ist … verständlich“, pflichtete Edmund Nelli bei. „Hauptsache, sie ist nicht allzu ernst verletzt.“
    „Ich befreie sie aus ihrer nassen Kleidung, versorge ihre Wunden und setze einen stärkenden Tee auf.“
    Das Schiff schwankte immer noch gefährlich hin und her. Nelli hatte sicherlich alle Hände damit zu tun, erstmal Esther zu versorgen.
    „Können wir helfen?“, fragte Trevor, aber Nelli lachte.
    „Ich denke, der Gräfin wird es nicht gefallen, wenn wir sie zu dritt aus ihrer Kleidung pellen.“
    Umgehend lief Trevor rot an. „D… das meinte ich auch gar nicht. Ich meinte …“
    „Jaja, du meintest …“, sprach Edmund grinsend dazwischen.
    Trevor atmete tief durch. „Wir können den Sturm ab jetzt nur aussitzen. Ich wollte nur wissen, ob wir beim Tee oder den Verbänden helfen können.“
    „Du ruhst dich aus!“, ermahnte Nelli den Formwandler. „Du siehst selbst aus, als seist du dem Tod näher als dem Leben. Wenn ich hier fertig bin, bist du an der Reihe. Du kannst dich selbst versuchen, von der nassen Kleidung zu befreien oder ich helfe dir dabei.“
    „Oder ich …“, fügte Edmund hinzu. „Ich habe heute schon Schlimmeres gesehen als einen nackten Formwandler.“
    Trevor wusste nicht, was Edmund meinte, aber an dessen Gesicht war zu erkennen, dass ihn irgendwas angeekelt hatte.
    „Das bekomme ich noch allein hin, aber danke, Edmund.“
    Trevor schaute alle Anwesenden an und lächelte dann. „Dann sollten wir uns wohl umziehen, bevor uns die Haut vom Fleisch fault …“
    Er wandte sich der Tür zu und verließ das Zimmer mit Edmund zusammen. Zum Glück besaß er noch die gute Robe, die Edmund ihm gekauft hatte, sodass er diese anziehen konnte. Danach wartete er auf Nelli. Er wusste nicht, was sie bei gebrochenen Rippen machen wollte. Immerhin waren solche Verletzungen nichts Unübliches. Sie waren bisher auch ohne Hilfe verheilt.

    Trevor hielt das alles für einen makabren Scherz der Meeresgötter. Nass hing seine Arbeitskleidung an ihm herunter. Einzelne Strähnen seines Haares klebten ihm im Gesicht. Die Magierin hatte einen Schutzschild um das Schiff aufgebaut, der ihnen Zeit verschaffte, die Segel einzuholen und alles zu sichern. Trevor wollte diese Zeit nicht verschwenden, die ihnen geschenkt worden war und feuerte die Mannschaft an. Seine eigenen Hände waren vom Regen und der Taue aufgeweicht; es bildenten sich Blasen, die er nicht zum ersten Mal hatte. Zum Jammern war aber keine Zeit. Das Schiff schaukelte wild von einer Seite zur nächsten. Durch die Wellen bekam die Nussschale immer wieder heftige Schlagseite.
    Ich glaube nicht, dass Esther das lange aufrechterhalten kann …
    „Hol weg …“, schrie Trevor die Mannschaft an und zog am Tau. „Hol weg!“
    Neben Trevors Stimme war auch von die von Edmund zu hören. Er koordinierte die restlichen Männer, damit sie die Ladung, die an Deck stand, ordentlich festzurrten. Es ging zu wie in einem Ameisenhaufen. Alle rannten herum.
    „Das ist der schwarze Fleck“, schrie einer der Männer. „Ganz sicher!“
    „Hör auf, so einen Blödsinn zu reden“, schimpfte Trevor. „Das ist das Meer!“
    „Trevor hat recht“, stimmte Stiev zu. „Das Meer ist mal gnädig und mal gnadenlos. Das hat aber nichts mit einem Ammenmärchen zu tun.“
    Die Segel waren eingeholt, als eine großen Welle das Schiff traf, begleitet von Blitzen und Donnergrollen. Es kam kaum Wasser zu ihnen durch, aber Trevor und der Rest der Männer, die am Tau gezogen hatten, wurden in die Mitte des Decks geworfen.
    Esther sah anscheinend, wie sich einige Kisten aus der Verankerung lösten und geradewegs auf die Männer zuhielt. Sie schaffte es, einen weiteren Schild aufzubauen, der die Männer vor diesen Kisten schützte.
    Gut gemacht, Gräfin …
    Trevor richtete sich wie die anderen Männer auf und nickte ihr zu.
    Sie lächelte angestrengt und richtete dann wieder ihre Konzentration auf ihren großen Schild.
    „Das muss schneller gehen!“, rief Edmund. „Schafft die Kisten wieder an ihren Platz!“
    Die Männer begannen, sofort die Kisten wieder an ihren Platz zu schieben und verzurrten sie erneut.
    Dieser Sturm spielte mit ihnen Trevor fuhr sich mit seiner Hand über sein Gesicht; schnappte sich ein Seil und warf es sich um die Schulter.
    Das ist zu unsicher … Sie steht unsicher …
    Er begab sich rasch zum Bug. Er hatte alle Mühe damit, sicheren Stand auf den nassen Dielen zu bekommen, aber das war nicht der erste Sturm, den er miterlebte. Seine Erfahrung machte sich dahingehend bezahlt, sodass er nicht direkt von Bord ging. Das hoffte er zumindest.
    Bei Esther angekommen, nahm er das Seil zur Hand und band es am Ankerspill fest. Dann ging er zu Magierin und legte eine großzügige Schlaufe um ihre Hüfte. „Ihr könnt jederzeit aus dem Seil herausschlüpfen, aber es schützt Euch etwas und Ihr müsst Euch nicht die ganze Zeit an dem Seil festhalten“, schrie er gegen den Wind.
    Die Magierin sah überrascht auf das Seil hinunter und danach Trevor an. „Danke“, brachte sie schwach und krächzend hervor, was dem Formwandler zeigte, dass die Schilde einiges an Energie kosteten.
    Wie lange sie das wohl schafft? Wie lange wir es wohl schaffen?
    Er band das andere Ende des Seils danach ebenso fest wie das zuvor. „Nichts zu danken. Hauptsache, Ihr bleibt an Bord.“
    Trevor begab sich sofort auf den Weg zurück zu den Leuten und war gerade auf Höhe des Fockmastes angekommen, als er erneut das peitschende Geräusch eines reisenden Seiles hörte.
    Die große Kiste voll Werkzeug, Besen und Eimer hatte sich gelöst und raste durch eine Welle angetrieben geradewegs auf einen alten Seemann zu.
    „Diese scheiß Fracht!“, hörte Trevor noch Edmund aus der Ferne schimpfen, während der alte Seemann bei dem Anblick der herannahenden Kiste zu einer Salzsäule erstarrte.
    „Schaff deinen Arsch aus der Bahn!“, rief Trevor, aber bevor er seinen Satz beendet hatte, hatte er sich schon in Bewegung gesetzt und hechtete auf den Alten zu.
    Gerade noch, schaffte es der Formwandler, den alten Mann aus der Bahn zu schupsen, während er selbst nicht so viel Glück besaß. Mit voller Wucht erwischte Trevor die brusthohe Kiste und schleuderte ihn gegen die Zimmermannswerkstatt. Das Holz gab nach und so verklemmte sich die Kiste an einer Seite. Trevor spürte den Schmerz in seiner Brust und knurrte.
    Das waren mindestens zwei Rippen … Ich Idiot.
    Er bekam zunächst kaum Luft. Kurz wollte ihn Übelkeit übermannen, aber Trevor riss sich zusammen. Er konnte jetzt nicht den sterbenden Schwan spielen!
    „Ich brauche hier Hilfe“, rief der alte Mann, der sich wieder aufgerappelt hatte, den anderen Seemännern zu.
    Auch Edmund eilte zum eingekeilten Trevor. „Was machst du da?“, wollte er wissen.
    „Pause! Wonach sieht es denn aus?“
    „Geht es dir gut?“

    Sofort versuchten Edmund und einige andere, die Kiste zu bewegen, aber das war alles andere als angenehm.
    „Seid vorsichtig. Die hängt mir ziemlich in den Eingeweiden.“
    Trevor spuckte Blut in die Kiste, und Edmund schaute ihn beinahe besorgt an. „Hab mir auf die Zunge gebissen“, beruhigten der Formwandler den Händlersohn. Das war sogar wahr. Er hatte sich beim Aufprall auf die Zunge gebissen.
    Urplötzlich erschien vor Trevor ein helles Licht und kurz dachte er, der Moment sei gekommen, in dem er vom Tod eingeholt werden würde. Das Licht stellte sich aber als Schild der Magierin heraus. Der Schild schob vorsichtig die Kiste von Trevor weg, sodass er freikam. Tief atmete der Formwandler durch, als er es wieder konnte und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Oberkörper.
    Edmund stützte ihn, aber zum Verschnaufen war keine Zeit.
    „Edmund …“, kam Trevor stöhnend über die Lippen. „Du musst zum Steuermann. Dieser verkalkte Greis hat das Schiff immer noch nicht in den Wind gedreht …“
    Trevor wusste, dass Edmund diesen Befehl bereits gegeben hatte. Aber entweder wusste der Alte nicht, von wo der Wind kam – oder er wollte das Schiff gar nicht retten.
    „Kann man dich alleine lassen?“, fragte Edmund, und Trevor nickte.
    „Ich habe schon Schlimmeres überlebt, keine Sorge. Ich muss nur … durchatmen.“
    Edmund zögerte einen Moment, aber nickte ebenfalls. „Dann mache ich mich auf den Weg!“
    Trevor stützte sich an der zerborstenen Werkstatt ab und sah Edmund hinterher, der einem herumrollenden Fass auswich.

    Denk daran, dich später bei Esther zu bedanken ...

    Noch konnte sich Trevor keine Pause gönnen. Kaum hatte er es geschafft, den Schmerz einigermaßen zu ignorieren, schaute er, wo er als nächstes gebraucht wurde.
    Heute wird noch nicht gestorben …

    Trevor hielt sich ein Auge zu. So langsam fiel es ihm schwer, nur ein Würfelpaar zu sehen.
    Lass die Finger weg von dem Gesöff, bevor du dich noch lächerlich machst …
    Er hatte bereits Esther seine halbe Lebensgeschichte runtergeeiert. Wo sollte das noch hinführen? Allerdings beruhigte es ihn, dass niemand anfing, sich über sein Leben lustig zu machen. Von eingefleischten Piraten hätte er dafür nur ein müdes Lächeln kassiert, oder sie hätten ihn gar als Jammerlappen beschimpft. Denn kaum einer von ihnen hatte ein besseres Leben vorzuweisen. Trotzdem musste er innerlich zugeben, dass es Spaß gemacht hatte, auf die Fragen der Adligen zu antworten. Immerhin kam es selten vor, dass sich Ihresgleichen für einen niederen Menschen interessierten. Aber aus irgendeinem Grund wollte er gerade deshalb auch nicht schwächlich wirken.
    Zu spät vermutlich.
    Wie eine verweichlichte Mimose, die nach einer Flasche Schnaps rührselig wurde. Er wusste um sein Kampfgeschick. Er war schon oft über seine Schmerzgrenzen hinausgegangen, was laut Johnny ebenso ein Lernprozess war wie das Kämpfen selbst. Der Wille, der über den Körper obsiegen musste! Das gleiche versuchte er jetzt bei dem Alkohol, der immer mehr seinen Geist vernebelte - und der sich über ihn lustig machte.
    „Eure Frage …“, wandte Edmund ein, und riss Trevor so aus seinem beginnenden Delirium.
    Nelli schien zu überlegen und hatte bereits ein schelmisches Grinsen aufgelegt.
    Esther hingegen atmete tief durch und prustete dann über ihre Unterlippe die Luft aus ihren Lungen. Sie schien ähnlich wie Trevor Probleme damit zu haben, klare Gedanken zu fassen.
    Aber dann fiel Trevor eine Frage ein. Eine, die ihm unbewusst bereits die ganze Zeit im Kopf herumging. „Dürfte isch?“, fragte er deshalb in die Runde.
    „Nur zu“, antwortete Nelli und schenkte sich noch etwas zu trinken ein.
    Wie kann die Alte so viel weghauen? Ich sehe bereits blaue Elefanten …
    „Mach nur“, gestand auch Esther ihm zu, die interessiert ihre Handfläche beobachtete. Vermutlich versuchte sie, ihr Sichtfeld zu kontrollieren. Schaute aber schließlich wieder jeden in der Runde abwartend an.
    Trevor lehnte sich auf den Tisch, rutschte zunächst mit seinem Ellenbogen einmal an der Kante ab, ehe er sein Gleichgewicht wiederfand. „Fühlt Ihr Euch dieser Reise eigentlich gewachsen?“, fragte Trevor. „Ich meine, mit all den Gefahren und Bürden, die sie mit sich bringt?“
    Edmund hob seine Brauen. Anscheinend hatte er mit einer Frage anderen Art gerechnet und begann, zu überlegen. „Das ist schon alles in Ordnung“, antwortete er schließlich. „Das ist gar kein Problem.“ Edmund winkte ab. „Ich habe es immerhin bald geschafft. Samira rückt näher.“ Das Lachen, was daraufhin vom Händlersohn kam, klang alles andere als überzeugend.
    Aber Trevor verstand, dass Edmund nur ungern zugeben würde, dass er mit der Aufgabe überfordert war. Was würde es ihm auch bringen?
    „Also, ich würde mich jeden Tag selbst in den Schlaf wiegen“, gab hingegen Trevor zu. „Isch meine, Euer Vater hätte Euch einen erfahrenen Kapitän an die Seite stellen können. Hat er aber nischt. Ich war … der erste Maat auf dem Schiff von Johnny, aber niemals Kapitän. Vor so einer Aufgabe würde ich mich einscheißen. Da ist es egal, wie viele Schlachten Mann geschlagen oder wie viel Menschen Mann auf dem Gewissen hat. Ein Fehler, und die Mannschaft bindet einem hübsche Kanonenkugeln um die Füße und schickt einen schwimmen …“
    Auf Edmunds Stirn sammelten sich Schweißperlen. „Ich schaff das schon!“, schien er sich selbst Mut zuzusprechen.
    Trevor nickte. „Ich bin aber zuvor nie mit einer Magierin und einer Hexe gereist, das muss ich zugeben.“
    „Und einer Nymphe …“, gab Esther kichernd zu.
    Trevor hob seine Brauen und schaute dann wieder zu Edmund. „Einer Nymphe?“, hakte er nach.
    „Meine Urgroßmutter war eine Nymphe“, stellte Edmund klar und atmete tief durch.
    „Das erklärt einiges“, musste Trevor zugeben. Da war immerhin immer diese Art Aura, die Art von Edmund, die Trevor dazu brachte, ihm tatsächlich zu folgen. Und irgendwie auch Gefallen daran zu finden. Er konnte ihm selten Böse sein, obwohl er teils eine sehr arrogante Art an sich hatte – die sich auch wiederum dadurch erklärte, dass er Nymphenblut in sich trug. Diese Wesen wussten um ihr Erscheinungsbild. Sie wussten ebenso um ihre Fähigkeit, Menschen zu beeinflussen.
    „Das hatte ich bereits auch geahnt …“, fügte Nelli hinzu. „Sein Gesicht ist fast etwas zu perfekt für einen Menschen.“
    „Das finde ich auch!“, stimmte Edmund grinsend zu. „Schön, dass du das erkennst.“
    Nelli lachte. „Bilde dir darauf aber nichts ein. Schönheit vergeht!“
    Daraufhin mussten Trevor und Esther lachen. Nachdem Nelli gestanden hatte, dass ihre Magie nicht lange anhielt, war das wohl eine passende Antwort.
    „Ich habe mal eine richtige Nymphen gesehen“, erinnerte sich Trevor. „Wenn ich es recht bedenke, sind die gruselig. Schön … wunderschön, aber gruselig. Es ist fast unglaublich, dass sich das Nymphenblut in Euch befindet, und nicht das Blut Eurer Vorfahren in der Nymphe. Wie bei einer Gottesanbeterin … Schwubb, Kopf ab!“
    „Es soll sich wohl um Liebe gehandelt haben“, stellte Edmund klar. „Sie blieb immerhin bei meinem Großvater an Land.“
    „Da wird einem ja schlecht!“, warf Nelli ein und leerte einen weiteren Becher und lachte. „Liebe …“
    „Ich finde das schön“, widersprach Esther der Meinung der Hexe. „Da sieht man doch, dass selbst Nymphen nicht alle gleich sind.“
    „Ich wäre skeptisch geblieben“, hörte sich Trevor sagen und wunderte sich über seine Worte. Eigentlich besaß er durchaus eine romantische Ader. Diese schien aber auch ein Ende zu haben. Vor allem dann, wenn Mann sich nach dem Sexakt ausgeweidet im Bett wiederfinden konnte. Obwohl es dafür nicht mal eine Garantie unter Menschen gab.
    Dafür müsste sich erstmal jemand in dich verlieben, oder du in eine andere Person, du Klappstuhl! Aber tu gerne so, als wüsstest du irgendetwas über dieses Thema ...
    „Das wäre mir zu unwahrscheinlich gewesen“, fuhr Trevor, ob seiner Gedanken, fort. „Wir haben mit den Rudern auf sie eingeknüppelt, nachdem sie versucht haben, sich an unserem Beiboot zu schaffen zu machen. Na gut, die Mannschaft hat auf sie eingehauen. Ich war erst dreizehn und schrie wie ein kleines Mädchen.“
    Die Gruppe begann zu lachen, und sie alle leerten ihre restlichen Becher.
    „Ich kann nicht mehr“, erwiderte Esther, nachdem sie ihren Becher auf dem Tisch abgestellt hatte. „Diesmal will ich wissen, wie ich ins Bett gekommen bin.“
    „Auf dem Weg nach Samira sollten wir vielleicht auch nicht komplett neben der Fahrt sein“, pflichtete ihr Trevor bei.
    „Das Spiel begann, mich ohnehin langsam zu langweilen“, sagte Edmund und gähnte ausgiebig, während er seine Arme von sich streckte.
    „Diese Jugend“, gab Nelli stöhnend von sich, „verträgt gar nichts mehr.“
    „Deine Leber hat auch hundertfünfzig Jahre Vorsprung“, entgegnete Edmund. „Vermutlich hat euch das Gesöff sogar konserviert.“
    Nelli antwortete darauf nur mit einem leisen lachen und erhob sich wie der Rest. „Viel Spaß später beim Frühstückmachen, Söhnchen.“
    Edmund funkelte Nelli mit bösem Blick an, während Trevor und Esther leise kichern mussten.
    Stimmt, Trevor musste nicht kochen. Somit konnte er den Rausch etwas länger ausschlafen. Aber vielleicht würde er sich erbarmen, Edmund zu helfen. So konnte er sich zumindest auch etwas von Edmunds Kochkünsten abschauen. Sie hatten zusammen getrunken, also wollte der Pirat das auch zusammen mit seinem „Herrn“ ausbaden. Das hatte er ihm immerhin zugestanden. Und bis Trevor die Hilfe zurückbezahlt hatte, würde es ohnehin noch eine Weile dauern.

    Sie alle wankten zu Bett – außer Nelli. Die schien noch geradeaus laufen zu können. Esther schloss kichernd die Tür hinter sich, nachdem sie alle Mühe damit gehabt hatte, die Bewegungen des Schiffes auszugleichen; sie wankte von einer Flurwand zur anderen.
    Trevor hatte es vorgezogen, einfach an der Wand entlang zu schleifen. Dabei entging ihm aber nicht, dass Edmund das auf der anderen Seite auch getan hatte. Beide waren jeweils in entgegengesetzter Richtung in Seitenlage gelaufen, bis sie an ihren Türen angekommen waren.
    Ich muss aufhören, so viel zu trinken. Johnny würde das nicht gutheißen! So kann ich nicht kämpfen … Kein Alkohol die nächsten Tage! Vor allem nicht vor Samira … Und keine Gefühlsduseleien mehr! Johnny ist tot, genauso wie der Rest der Mannschaft. Leb damit, dass du noch lebst ...