Beiträge von Alopex Lagopus im Thema „Seemannsgarn“

    Puzzeln, dachte Agatha und widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. Nun gut, Edmund wusste es nicht besser. Wie auch alle anderen. Unangenehm fühlte sie deren aufmerksame Blicke auf sich ruhen.

    Sie zögerte. Sie wusste nicht, ob das, was sie vorhatte, eine gute Idee war. Die meisten reagierten auf ihre Magie ... recht negativ, um es positiv auszudrücken. Den Leuten war es suspekt, wenn Tote plötzlich wieder auferstanden. Für Agatha jedoch stellte der Tod nur einen Zustand dar, den man ändern konnte. So wie Schlaf auch. Da wunderte sich schließlich auch niemand, wenn die Leute am nächsten Morgen wieder aufwachten und putzmunter herumliefen. Beim Tod musste man eben mit ein paar größeren Geschützen nachhelfen. Das war alles.

    Nur wie würde die Gruppe reagieren? Sie spürte deutlich den stechenden Blick der Alten, die sie bereits seit ihrer Ankunft misstrauisch begutachtete. Auch dieser Edmund war ihr nicht besonders geheuer und was sie von Esther halten sollte, wusste sie immer noch nicht. Im Zweifelsfall hoffte sie, Trevor auf ihrer Seite zu wissen. Und da er hier augenscheinlich der Stärkste war, war seine Gegenwart mehr als willkommen.

    „Nun, ihr regelt das sicher irgendwie“, sagte der Formwandler und wollte sich abwenden. „Ich geh mich mal waschen und zurückverwandeln.“

    „Hiergeblieben!“ Instinktiv griff Agatha nach seinem Hosenbund und wollte ihn zurückziehen, wodurch sie selbst mitgeschleift worden wäre, hätte Trevor nicht verwirrt angehalten.

    So würdevoll wie in dieser Situation noch möglich, richtete Agatha sich wieder auf und sagte: „Ich brauche eure Unterstützung. Zu fünft wird das vielleicht was, aber ich kann für nichts garantieren.“

    „Wird was was?“, fragte Edmund.

    Agatha ignorierte ihn. Geschäftig wühlte sie in ihrer Tasche herum und holte die rote Kreide hervor. „Ich brauche Platz.“ Gekonnt setzte sie die Kreide auf den Boden und malte einen perfekten Kreis auf den Boden, in dessen Zentrum die Schubkarre mit dem zermatschten Matrosen lag. Es folgte ein nur eine handbreit kleinerer Innenkreis. Zwischen die beiden Linien zeichnete Agatha die Symbole, die sie für ihr Vorhaben brauchte. Inzwischen gingen sie ihr so flott von der Hand als würde sie einen normalen Brief schreiben. Schon war die dritte Runde durch den Raum abgeschlossen. In den Kreis setzte sie mit fünf weiteren Strichen ein Pentagram.

    „Jeder von euch stellt sich jetzt auf eine der Spitzen.“

    Niemand regte sich.

    „Und wieso soll ich das bitteschön tun?“ Edmund warf ihr einen misstrauischen Blick zu.

    „Weil es eure beste Chance ist, diesen Haufen Matsch in der Schubkarre noch auszuhorchen. Ich schlage vor, du beeilst dich. Mit jeder verschwendeten Sekunde sind die Aussichten auf Erfolg geringer.“

    Trevor zuckte nur mit den Schultern, dann stellte er sich auf eine der Sternspitzen. Edmund folgte. Wenn auch wiederwillig.

    „Du auch, Großmütterchen“, richtete Agatha das Wort an Nelli, die nur stocksteif die Symbole auf dem Boden betrachtete. Sie schien in einer Art Schockstarre zu sein. Agatha fackelte nicht lange, sondern schob die Alte an die gewünschte Position. Esther stand bereits perfekt und regte sich nicht. So weit, so gut.

    Wilmor kam mit erhobenen Schwanz auf sie zu und setze sich neugierig an den Rand des Zirkels. Er war klug genug, die Linie nicht zu überschreiten. Nicht verwunderlich, nachdem es ihm einmal ein Bein gekostet hatte. Trotzdem betrachtete er den Vorgang mit wachen Blick. Schließlich war es auch nicht selten, dass nachher etwas aus dem Zirkel sprang, was er jagen und auffuttern konnte.

    Indes machte Agatha sich an die Symbole auf dem Pentagram selbst. Es waren ihre eigenen experimentellen Abwandlungen, mit denen sie auch Wilmor erschaffen hatte. Den hirnlosen Zombie konnte jeder Nekromant erwecken. Aber den bewussten Zombie, der wie ein Mensch agierte und sich an sein Leben erinnerte, das war bisher niemanden gelungen.

    Agatha war sich sicher, mit ihren Experimenten auf einem guten Weg zu sein. Sie hatte damit experimentiert, Lebenskraft aus ihren eigenen Körper als Kraftquelle für die Erweckung zu nutzen. Ein gefährlicher Vorgang, der nicht ohne Grund als Tabu galt. Bisher hatte ihre Kraft nie ausgereicht, aber mit vier Verbündeten sah die Sache anders aus. Sie musste jetzt nur präzisieren, wie viel Energie sie den Anwesenden abzwacken wollte.

    Sie sah zu Nelli, die nach wie vor mit geweiteten Augen auf den Zirkel starrte und wirkte, als könnte schon ein Windstoß, das Klappergerüst ihres Skeletts zum Einsturz bringen. Von ihr nahm sie am besten nur einen winzigen Teil. Sie würde sich keine Pluspunkte bei der Mannschaft machen, wenn die Alte nach der Erweckung vor Schock an einem Herzanfall zugrunde ginge. Von sich selbst und Trevor wollte sie ebenfalls nicht zu viel Energie nehmen. Schließlich musste sie in der Lage sein, sich zur Wehr zu setzen, falls etwas schief ging. Und das Bezog neben dem Zombie auch ihre „Gefährten“ mit ein.

    Sie sah zu Edmund, der weiterhin kritisch und mit verschränkten Armen auf sie hinabsah. Schnell kritzelte Agatha die Symbole in seine Zackenspitze. Sollte er ruhig mehr als die Hälfte der Energie für den Zauber tragen. Wer drei Frauen gleichzeitig mit auf sein Zimmer holen und bespaßen konnte, der durfte auch für drei Männer den Beitrag zum Zauber leisten.

    Zufrieden nickte Agatha. Am Rand des Kreises begann Wilmor sich auf die Lauer zu legen. Mit den ganzen Verbänden sah er aus, wie eine Mumie beim Yoga. Konnte er sich nicht ein bisschen weniger auffällig geben?

    Sie seufzte. Sei's drum. Als ob ich diese schlechte Scharade nach dem Zauber noch aufrecht erhalten könnte ...

    Ihr Blick fand den des Formwandler. „Halt dich bereit, Trevor. Falls etwas schief läuft, musst du eventuell draufschlagen.“

    Trevor nickte.

    „Also schön.“ Agatha nahm einen tiefen Atemzug, dann begab sie sich auf die letzte freie Position des Pentagrammes zwischen Trevor und Nelli.

    Dann begann sie die Worte in der alten Sprache zu murmeln. Jene Worte, die sie auch für Wilmor verwendet hatte. Schon fühlte sie die Magie durch ihren Körper in die Hände steigen. Mit einem lauten Schrei ging sie auf die Knie und stieß die Handflächen auf den Kreis. Wie Blitze zuckte die wilde Magie über den Rand, erreichte Nelli und Trevor neben ihr, dann Esther und Edmund, bevor sie zwischen ihnen krachend zusammenschlug. Die Linien des Pentagramms erstrahlten für einen Augenblick in tiefen Rot und Wilmor maunzte verzückt. Mit einem elektrischen Krachen schlug die Magie in die Schubkarre. Agatha taumelte, als der Zauber seinen Tribut forderte und beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren. Den anderen erging es nicht anders, wobei Großmütterchen tatsächlich die beste Figur machte. Ihr sackte lediglich kurz das Kinn auf die Brust. Die war ja doch noch dynamischer, als sie aussah.

    Edmund hingegen ging wie erwartet keuchend auf die Knie. Agathas Mundwinkel zuckten leicht. Geschieht ihm recht.

    Mit klopfendem Herzen trat Agatha in den Kreis. Hatte sie es geschafft? Es war nach wie vor ein sehr experimenteller Zauber, der bisher nur bei Wilmor angeschlagen hatte.

    Wütendes Gezeter erhob sich aus der Mitte des Zirkels. „Hey, ihr Maden! Passt gefälligst besser auf! Wenn mich diese Kiste erwischt hätte, dann ...“

    Er verstummte, als Agatha an die Schubkarre trat. Verwirrt blinzelten die Überreste des Matrosen ihr aus einem Auge entgegen. Sein Brustkorb war zertrümmert, trotzdem schien das seine Fähigkeit zum Sprechen nicht zu beeinträchtigen.

    Verzückt klatschte Agatha in die Hände und grinste über beide Ohren, wodurch der Matrosenmatsch in der Karre zusammenzuschrumpfen schien.

    „E-ey, wer bist du? Und wo bin ich hier?“ Er zögerte. „Und wieso kann ich meine Arme nicht bewegen?“

    Agatha musste den Drang unterdrücken, ihn sofort weiter auseinanderzunehmen und zu untersuchen. Dafür war nachher sicher noch genug Zeit. Jetzt musste sie zunächst das Vertrauen ihrer Truppe gewinnen.

    Immer noch grinsend drehte sie sich zu ihren Mithelfern um. „Er gehört ganz euch!“

    Mit gemischten Gefühlen beobachtete Agatha Eckerharth das sich seinem Ende nahendem Schauspiel. Der Riesenkrake hatte ganze Arbeit geleistet und das Schiff wie ein übereifriger Holzfäller in seine Einzelteile zerhackt. Trümmer und Fässer schwammen an ihr vorbei. Auf einem Stück konnte sie noch den Namen des Schiffes lesen: Unsinkbar II. Ich hätte sofort hellhörig werden sollen ...

    Teilnahmslos betrachtete sie von ihrem Ruderboot aus, wie die letzten Schreie verstummten. Während der Kapitän von der Mannschaft verlangt hatte, das Schiff zu verteidigen, hatte sie sich klammheimlich eines der Beiboote geschnappt. Zusätzlich hatte sie die anderen Boote ebenfalls zu Wasser gelassen. Überlebende, die sie nach dem Gemetzel wegen Verrat ins Wasser werfen wollten, konnte sie nicht gebrauchen. Ein paar mehr Wasserleichen, die das Boot für sie antreiben konnten, umso mehr. Schließlich hatte sie das einzige ohne Ruder erwischt.

    Sie seufzte und schlang die Arme um die Beine. Solange sie sich still verhielt, sollte der Riesenkrake sie nicht angreifen. Es gab ein interessantere Ziele. Inzwischen stand auch das zweite Schiff unter Belagerung. Ihr Kapitän musste gedacht haben, dass sie es mit dieser Verstärkung schaffen konnten. Tja, leider hatte die Gegenfraktion auch Verstärkung bekommen. Böse Zufälle gab es ... Manchmal bekam sie das Gefühl, sie zog das Unglück magisch an. Erst eine inkompetente Crew, dann die Sache mit dem Skorbut und jetzt das!

    Vor ihnen zogen die Tentakeln die letzten Überlebenden unter Wasser. Verdammt, dachte Agatha. Bei der Rate wird am Ende keine Leiche für einen Zombie übrig bleiben, der mich zur nächsten Insel paddelt ...

    Es platschte und ihr Blick fiel auf ihren Kater Wilmor, der sich den gefangenen Fisch mit seiner Pfote ins Maul katapultierte.

    Agatha stutze. Fisch? Während zwei Riesenkraken fröhlich durchs Meer wüteten?

    Sie besah sich den Fang ihres Begleiters genauer, den er ihr mit stolzer Brust vor die Füße warf. Es war Stockfisch.

    Munter sprang Wilmor wieder nach vorne, um mit seiner Tatze weitere Nahrung aus dem Meer zu retten.

    Agatha zog ihn zurück. „Scheuch das Wasser nicht auf. Wir wollen nicht, dass die Ungetüme auf uns aufmerksam werden, hörst du?“

    Störrisch befreite sich der Kater aus ihrem Griff, um wieder über den Rand des Bootes zu spähen.

    Ich sagte, du sollst das Wasser nicht aufscheuchen!“, fauchte Agatha und rammte ihren Dolch in den Rücken des Katers.

    Wilmor maunzte empört. Abgesehen davon ging es ihm gut. Schließlich war er ein Zombie.

    Ein lautes Brummen ließ sie innehalten. Das Geräusch schallte über das Meer und brachte ihr Inneres zum Vibrieren. War das der Kraken? Das Geräusch wiederholte sich in der Ferne, bevor die Antwort aus ihrer Nähe erklang.

    Überrascht sah sie, wie sich der zweite Kraken von dem anderen Schiff zurückzog und wieder ins Meer abtauchte. Was soll das? Reicht den beiden etwa ein Schiff mit seiner Besatzung als Mahlzeit? Lasst mir wenigstens eine Leiche übrig!

    Suchend blickte sie über die Wellen. Trümmer, Fässer, Seile, ein hässlicher Hut ... aber keine toten Matrosen. Stattdessen bemerkte sie, wie sich das zweite Schiff nun in ihre Richtung bewegte. Eine Stimme rief etwas vom Deck aus über den Ozean in ihre Richtung. Was wollen die hier? Fracht plündern?

    Schützend duckte sie sich, was bei der erhöhten Aussicht des Schiffes wohl kaum von Nutzen war, um sich zu verbergen. Was soll ich tun? Soll ich auf mich aufmerksam machen? Gut möglich, dass sie mich gefangen nehmen. Oder in eine vollkommen falsche Richtung segeln. Verstecken kann ich mich nicht, also ...

    Ihr Blick fiel auf das rote Pentagramm, welches sie als Vorbereitung für eine Zombieerweckung bereits auf den Boden gemalt hatte, während um sie herum der Kraken gewütet hatte.

    Mist“, entfuhr es ihr und hastig versuchte sie die Linien mit dem Ärmel ihres Hemdes wegzuwischen. Auf keinen Fall durfte irgendetwas darauf hinweisen, dass sie eine Nekromantin war. Die meisten Menschen reagierten eher ungehalten darauf, wenn man die Toten wieder auf der Erde wandeln ließ.

    Hastig tunkte sie den Ärmel ins Wasser und allmählich begann sich die Farbe aufzulösen. Unterdessen kamen die Stimmen immer näher.

    Ooooooiiii, lebt hier noch irgendwer?“

    Idiot, dachte sie, während sich das Schiff immer weiter näherte. Lasst mich in Ruhe, ich brauche eure Hilfe nicht. Es sei denn, ihr kippt plötzlich tot um, um dann nach meiner Pfeife zu tanzen!

    Hastig griff sie nach den bereits beschriebenen Fluchzetteln mit den Zombiebefehlen und steckte sie hastig in die Tasche ihres Gürtels.

    Hey, da drüben treibt jemand in einem Boot!“

    Hastig warf Agatha sich ihre Weste über. Denn außerdem durften die Neuankömmlinge nicht bemerken, dass sie eine Frau war, wenn sie als Matrose dort anheuern wollte. Das brachte immer nur Probleme mit sich.

    Bereit und gewappnet winkte sie dem Schiff zu. Eine Begegnung ließ sich jetzt eh nicht mehr vermeiden. Was sagen Menschen in so einer Situation?

    Hier drüben! Hier drüben bin ich!“

    Inzwischen hatte sie das Schiff erreicht. Bei genauerer Betrachtung wollte Agatha ihre Aussage wieder zurückziehen und lieber das Gegenteil rufen. Dass Schiff, wenn es denn diese Bezeichnung verdiente, wirkte eher, als wäre es aus alten Bauteilen notdürftig zusammengeflickt worden. Ihr Rettungsboot mochte sehr viel kleiner sein, doch wirkte es um einiges sicherer. Jetzt gibt es kein Zurück mehr ...

    Zwei Männer lugten über die Reling und warfen ihr zwei Seile zu. „Hier, befestige das an deinem Boot, wir ziehen dich hoch.“

    Sie tat wie geheißen und tatsächlich zog man sie hoch. Dabei erklang eine angefressene Stimme: „Ein Überlebender soll das sein? Was hat der noch in seinem Boot dabei? Ziegelsteine?“

    Endlich war das Boot oben und eine Hand wurde ihr gereicht. Sie gehörte zu einem Mann mit langen braunen Haaren, der sie mit einem kräftigen Ruck an Board zog. „Du hast Glück, dass wir gerade in der Nähe waren. Gibt es noch weitere Überlebenden?“

    So weit ich weiß nicht“, erwiderte Agatha wahrheitsgemäß. „Das Ungetüm hat sie alle erwischt, bevor sie mein Boot erreichen konnten. Nur ich und Wilmor haben es geschafft.“

    Ihr Retter kniff skeptisch die Augenbrauen zusammen, ging aber nicht weiter darauf ein. „Gut, suchen wir weiter. Es können noch mehr überlebt haben.“

    Agatha atmete auf. So weit so gut! Sie bemerkte, dass außer den beiden Männern, die sie hochgezogen hatten, auch zwei Frauen an Board waren. Eine, die nur etwas älter als sie sein konnte und eine, die es definitiv war.

    Gerade überlegte sie noch, ob sie sich mit ihrem wirklichen statt ihrem männlichen Decknamen vorstellen sollte, als die Alte plötzlich ausrief: „Gute Güte, da steckt ein Dolch in deinem Kater!“