Beiträge von Kyelia im Thema „Seemannsgarn“

    Die Revenge stach bereits von weitem ins Auge. Zwischen den ganzen Schiffen im Hafen wirkte der Einmaster beinahe verloren. Vor allem, da das Schiff deutlich beschädigter war, als alle anderen und sich Handwerker mit ihren Karren davor stapelten.
    „Ein Monster? Vor der Insel?", vernahm Edmund einen alten Seemann, als sie gerade an diesem vorbeiliefen. Der Mann stand mit einer Gruppe anderer Seeleute zusammen. Mit seiner Pfeife erinnerte er Edmund ein wenig an den Steuermann der Eleftheria. „Das müssen Gerüchte sein. Die Monster trauen sich nicht so weit an die Inseln heran."
    „Jack behauptet, es wäre ein Krake gewesen."
    „Ein Krake?“
    „Ja, einen so großen habe er noch nie gesehen."
    Edmund warf Esther einen knappen Blick zu. Ob das wohl der Krake war, der ihnen auf dem Weg hierher auch schon begegnet war?
    Esthers Blick war deutlich zu entnehmen, dass sie wohl ähnlich dachte.
    Blieb zu hoffen, dass das Vieh blieb, wo es war. Nur was wollte das Ding so nah an den Inseln?
    Weil Esther neben ihm schon wieder schwankte, schob er sie eilig weiter. Er kassierte zwar einen eingeschnappten Blick, aber das war ihm egal. Am Ende klappte dieser Sturschädel noch zusammen und er durfte sie zum Schiff schleifen. Und dann wäre er wieder der Doofe. Er kam sich sowieso schon nutzlos vor. Das Letzte, was er an diesem Tag brauchte, war ein Vortrag der Alten, er hätte besser auf Esther aufpassen sollen. Wie denn, wenn ihm hier niemand etwas zutraute?


    An der Revenge angekommen, sah er sich eilig an Deck um.
    „Peternella“, rief Edmund über das Deck. Die Alte stand wie ein böses Omen hinter Trevor, der den umherlaufenden Handwerkern Anweisungen gab.
    Es war gut zu sehen, dass Trevor wieder fit war. Nur die dicken Verbände an seinen Händen zeugten noch von den Verletzungen. Wirken gleichzeitig aber wie Handschuhe zum Boxen und weckte bei den Handwerkern offenbar Unbehagen
    „Esther braucht deine Hilfe“, setzte Edmund nach, ehe Esther etwas sagen konnte.
    Halt bloß die Klappe und diskutier das gerne mit der Alten, ich bin raus!
    „Ich habe die Wunde notdürftig verbunden und ehe du mich dafür anschreist, ich habe Esther schon zur Sau gemacht. Sie hatte mich ausgesperrt.“
    „Du hast sie verbunden?", fragte Nelli und klang dabei überraschter als es Edmund lieb war. Ihm traute hier aber auch niemand etwas zu! Esther hatte nicht gewollt, dass er mitkam. Dann hatte sie ihn ausgeschlossen . Ihn dann zurechtgewiesen, er könne ihr sowieso nicht helfen. Und nun bekam er auch noch eins auf den Deckel, weil er versucht hatte, ihre Wunde zu versorgen?
    Danke Edmund, dass du mitgekommen bist. Danke Edmund, dass du mich und die Kiste den halben Weg zurückgeschleift hast. Danke Edmund, dass du die Wunde zumindest verbunden hast. Ach kein Problem, das habe ich gerne gemacht.
    Nelli zog eine Augenbraue hoch. „Euch kann man auch keine fünf Augenblicke allein lassen.“ Sie rieb sich über die Nasenwurzel. „Lass mich sehen.“
    Edmund schob Esther in Nellis Richtung.
    „Aber dafür habe ich die Kiste geöffnet“, verkündete Esther stolz, während Nelli ihre Wunde näher betrachtete und an dem Verband herumfummelte. Genervt verdrehte Edmund die Augen.
    „Diese blöde Kiste…“, zischte er und machte auf dem Absatz kehrt. Er würde die Kiste unter Deck abstellen und dann vielleicht Trevor helfen.
    „Ich sollte mir das in Ruhe anschauen.“ Nelli schob Esther mit sanfter Gewalt unter Deck in die Kombüse.
    Edmund stellte dort die Kiste ab und atmete auf.
    Endlich setzen…
    „Welchen Teil von In Ruhe hast du nicht verstanden?“, wandte sich Nelli an ihn als er sich gerade setzen wollte. Sie wies Esther an, sich auf den Tisch zu setzen.
    Ich war zuerst hier ….
    „Werde ich jetzt auch noch aus der Küche geworfen?“, fuhr Edmund die Alte genervt an. War er denn überall überflüssig?
    „Es sei denn zu willst zusehen und lernen...“
    Verwirrt hob Edmund die Augenbrauen. Das ist neu.
    „Ich will eigentlich, dass er geht“, mischte sich Esther ein. Sie sah aus als würde sie sich bereits unwohl fühlen.
    „Du hast kein Mitspracherecht.“ Nelli wedelte mit dem Stückchen Stoff herum, mit dem Edmund zuvor die Wunde verbunden hatte. „Das ist vielleicht eine Lehre, das nächste Mal vorsichtiger zu sein.“
    Was ist gerade passiert? Warum erlaubt Nelli, dass ich ihr zuschaue? Mit dem Gedanken beschäftigt, was in Nelli gefahren war, ließ sich Edmund auf dem Stuhl nieder und hob die Augenbrauen. Es würde sicherlich für das nächste Mal nicht schaden, mehr zu wissen. Bisher hatte er Nelli immerhin nur von weitem über die Schulter geschaut.
    „Sitz da nicht herum, entweder schaust du richtig zu oder gehst!“ Nelli zupfte Esthers Robe von der Schulter und zog dann ihre Utensilien aus den Schränken. „Aber wage es ja nicht, etwas anderes als die Wunde anzuschauen!“
    Das klingt schon eher nach der Alten.
    Edmund grinste. Es war ja nicht so, als wäre wirklich etwas Interessantes zu sehen.
    „Schade, dabei habe ich noch nie so viel nackte Haut bei Esther bewundern dürfen.“ Weiter kam er nicht, da hatte ihm Nelli bereits den Stock auf den Hinterkopf geschlagen.
    „Geschieht dir recht“, nuschelte Esther neben ihm, während Edmund die Schultern zuckte und weiterhin vor sich hin grinste.
    Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Einer der Handwerker stand dort und sah etwas befremdet in den Raum.
    „Da stehen Soldaten und ein Kerl vor dem Schiff, die mit jemandem reden wollen, der hier das Sagen hat.“ Der Mann sah in den Raum.
    „Wo ist denn Trevor?“ , wollte Edmund verwirrt wissen. Eben war der Kerl mit seinen weißen Verbandhandschuhen doch noch an Deck gewesen.
    Der Mann zuckte die Schultern.
    „Toll, wo ist der Kerl, wenn man ihn mal braucht?!“ Edmund sah zu Nelli, doch die zuckte die Schultern.
    Edmund seufzte.
    „Sag ihm, es kommt gleich jemand.“ Er machte eine scheuchende Bewegung mit der Hand und wartete, dass der Mann verschwunden war. Dann wandte er sich erneut an die anderen.
    „Ziehen wir Streichhölzer?“
    „Esther ist verletzt und ich bin damit beschäftigt, eine Verletzte zu versorgen“, meinte Neli mit einem Grinsen. „Und du willst doch keine Frauen vorschicken, oder?“
    Nein, sondern eine Hexe und eine Magierin ... aber klar, dafür ist die Nymphe wieder gut.
    „Was ist, wenn die wegen der Kiste hier sind? Was machen wir jetzt?!“
    „Keine Panik schieben, wäre ein Anfang“, gab Nelli trocken von sich.
    „Danke für den Hinweis“, zischte Edmund. „Versteckt wenigstens die Kiste und deren Inhalt, ich schau mal, was die wollen und wo Trevor steckt.“ Er musste den ehemaligen Piraten schließlich auch noch etwas fragen.

    Als er an Deck kam, hatten die Handwerker in ihrem Tun innegehalten und drei Soldaten standen zwischen ihnen und sahen sich auf dem Schiff um. Und daneben die gedrungene Gestalt des Magiers, dem er bereits in der Nacht begegnet war. Auch bei Licht betrachtet, sah der Kerl nicht besser aus. Im Gegenteil schmeichelte ihm das gar nicht. Der Kerl trug die gleiche Kleidung wie in der Nacht. Die Haare klebten ihm fettig im Gesicht und er wirkte immer noch wie ein Gerippe mit Augenringen. Wie alter Käse, den man unter der Küchenzeile gefunden hatte, nachdem er dort vor hundert Jahren hintergefallen war.
    Zumindest war nun klar, weshalb diese Leute bei ihnen auf dem Schiff waren. Stellte sich nur die Frage, ob sie wussten, dass sie die Kiste hatten oder ob sie diese noch suchten.
    Immerhin steht das Schiff noch nicht in Flammen. Ein gutes Zeichen.
    Am liebsten wäre er einfach auf dem Absatz umgekehrt und wieder zu den anderen zurück. Aber man hatte ihn bereits entdeckt, weshalb er innerlich die Augen verdrehte und ein Lächeln aufsetzte.
    Edmund ist zu nichts zu gebrauchen, aber ihn vor die Füße eines wütenden und bestohlenen Magiers zu werden, das geht!
    „Mir wurde gesagt, Ihr wollt mit jemandem sprechen?“
    Edmund musterte den Magier, der ihn stechend ansah, als bohrte er sich in seinen Geist. Vielleicht tat er das auch.
    Wäre blöd, wenn der Kerl Gedanken lesen kann. Er lächelte ihm zu. Dann wüsste er ja, dass ich ihn für unglaublich hässlich halte.
    „Wie kann ich Euch helfen? Die Legegebühr ist beglichen.“
    „Wir sind nicht wegen der Legegebühr hier. Wir-“
    „-Ich wurde heute Nacht bestohlen!“, fuhr der Magier dem Soldaten über den Mund. Er fixierte Edmund mit einem Blick, der tödlich hätte sein können.
    Der Kerl weiß es, ich bin so tot!
    „Das ist aber ärgerlich.“ Edmund verschränkte die Arme und lächelte unschuldig, während im innerlich das Herz in die Hosentasche sackte. Bleib entspannt! „Ich hoffe, es wurde nichts Wichtiges gestohlen?“
    Der Kerl musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen.
    „Doch. Und ich bestehe darauf, dass ich Euer Schiff durchsuchen kann.“ Er schnippte mit dem Finger und deutete den Wachen an, dass sie anfangen sollten zu suchen. Diese rührten sich jedoch nicht, was Edmund belustigt zur Kenntnis nahm.
    „Ihr glaubt, wir hätten Euch bestohlen? Sollte ich mich beleidigt fühlen?“
    „Routine“, murrte der Wachmann, als er neben ihn trat. Er sah sich um und beobachtete die Handwerker. Insgesamt schien er eher genervt. Nur konnte Edmund nicht einschätzen, ob es an ihm oder Thomas lag. „Wo ward Ihr gestern Abend und heute Nacht?“
    „An Bord“, log Edmund. Er behielt den Wachmann im Auge.
    „Ihr wart also nicht unterwegs? Habt Ihr etwas mitbekommen? Ist Euch im Hafen etwas seltsam vorgekommen?“
    Also wissen sie nichts. Das ließ Edmund aufatmen und an Selbstbewusstsein gewinnen. Oder zumindest glauben die Wachen dem Magier nicht einfach blind.
    „Die letzte Reise war anstrengend, da sind wir alle froh über Schlaf.“ Er lehnte sich mit dem Rücken an die Reling.
    „Wir untersuchen jedes Schiff im Hafen. Ihr habt sicherlich nichts dagegen, wenn wir uns umsehen?“
    Edmund musterte den Mann und die beiden anderen Soldaten.
    „Meinetwegen schaut euch um“, er zuckte gleichgültig die Schultern.
    Die ganze Zeit war Esther mit der Kiste unterwegs gewesen. Und ausgerechnet jetzt tauchten sie hier auf, kurz nachdem sie die Kiste zurückgebracht hatten. Das war definitiv kein Zufall. Wusste dieser Thomas, dass sie ihm die Kiste gestohlen hatten? „Tut mir nur einen Gefallen und belästigt die Handwerker nicht, und die Alte Frau unter Deck besser auch nicht. Der Kapitän schätzt es nicht, wenn man seine Oma aufwühlt.“
    Als ihm der unangenehme Schweißgeruch des Magiers in die Nase stieg, wusste er, dass der Magier neben ihm stand, ohne sich dafür umdrehen zu müssen. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
    Er konnte nur hoffen, dass Nelli Kiste, Buch und Fernrohr schnell versteckt hatte.
    „Das Schiff ist in keinem guten Zustand“, stellte der Wachmann fest.
    Ach was. Gut, dass du es sagst, wäre mir glatt entgangen.
    „Wir sind in einen Sturm geraten.“
    „Was transportiert ihr?“
    „Im Moment nichts mehr. Um nicht zu sinken, mussten wir viel Fracht über Bord werfen.“
    „Die Schäden sind groß. Warum kein neues Schiff kaufen?“
    „Der Kapitän hängt an dem Schiff. Familienerbstück.“
    Der Wachmann nickte und musterte ihn, als suchte er die Lüge in seiner Aussage.
    Edmund lächelte zurück.
    „Ihr kennt diesen Mann?“ Er deutete zu Thomas. Der Magier sah ihn finster an, Edmund unterdrückte den Impuls die Nase hochzuziehen.
    „Leider nicht“, meinte er, dann tat er überrascht. „Müsste ich?“
    Von Thomas erhielt er nur einen stechenden Blick, aber keine Antwort.
    „Und Ihr seid?“ Der Wachmann wandte sich wieder an Edmund.
    „Entschuldigt, ich habe mich nicht vorgestellt. Ich bin Piet“, meinte Edmund. Er hielt es für besser, seinen Namen nicht zu erwähnen. Wenn Thomas wusste, wer er war, dann auch, dass er es war, der das Fernrohr hatte verkaufen sollen. Und damit auch, wer es zurückgestohlen hatte. Dann erklären zu müssen, wer das Eigentum an dem Teil hatte, würde nur nerven, weil alle Nachweise auf der Eleftheria waren. Und diese…wer wusste schon wo. „Ich bin hier nur das Mädchen für alles. Während mein Kapitän in der Stadt neue Matrosen sucht, vertrete ich ihn. Wenn Ihr mehr wissen wollt, müsst Ihr Euch wohl an ihn wenden.“ Er kratzte sich mit dem Finger an der Schläfe. „Er wird nicht begeistert sein, dass nun das Schiff durchsucht wird und damit die Arbeiten aufgehalten werden. Der Kapitän kann manchmal unausstehlich sein.“
    Der Wachmann beobachtete ihn noch einen Moment, dann nickte er und wies seine Leute an, sich zu beeilen. Hoffentlich hatte das gereicht, um Nelli Zeit zu verschaffen. Andernfalls wären sie gleich sowieso tot.
    „Ich weiß, dass die Kiste hier ist“, raunte der Magier neben ihm, sodass ihm dessen Mundgeruch ins Gesicht schlug.
    Ich glaub, ich übergebe mich gleich…
    „Von welcher Kiste redet Ihr, Herr… ähm…Magier?“ Er versuchte unschuldig zu klingen.
    „Ich spüre es!“, ließ sich dieser nicht beirren, „Und wenn ich herausfinde, dass ihr gestern bei mir eingebrochen seid, dann werde ich euch alle beseitigen.“
    Thomas starrte ihm in die Augen, als würde er dort etwas suchen. Edmund gab sich Mühe zurückzuschauen. Was ihm allerdings deutlich schwerer fiel.
    Du glaubst nicht wie gerne ich dich über Bord werfen will. Ein Degen zwischen die Rippen.
    Ob er dann für ein Fischsterben vor der Insel verantwortlich wäre? Müll gehörte ja nicht ins Meer.
    Das Risiko gehe ich ein.
    „Das ist aber nicht nett, auf fremder Leute Schiffe gehen und sie bedrohen.“ Edmund zwang sich zu einer ruhigen Stimme. „Aber wahrscheinlich verständlich. Ich wäre auch sauer, wenn man meine Sachen stiehlt und würde alles tun, um sie zurück zu bekommen.“ Er musterte ihn. „Vermutlich bedeutet euch diese…Kiste - (?) sagtet Ihr - viel, wenn Ihr dafür so weit geht. Ein Geschenk für Eure Frau? Wartet sie auf Eure Rückkehr?“ Das Einzige, was da wartet, ist das Badewasser. Und das schon seit Jahren. Vergeblich. „Ich wünschte wirklich, ich könnte Euch weiterhelfen, aber ich fürchte, bei uns werdet Ihr nicht finden, was Ihr sucht.“ Das hoffte er zumindest.  
    Vorsichtshalber schob Edmund die Hand in die Hosentaschen, ehe er doch noch auf die Idee kam, den Kerl an den dürren Schultern zu packen und über Bord zu werfen.
    Thomas musterte ihn. „Ratte.“
    Er weiß es genau …
    Edmund wog den Kopf, dann grinste er den anderen an und tat als hätte er ihn nicht gehört. Stattdessen setzte er sich auf die Reling. Hauptsächlich, um seine Nervosität zu verbergen.
    Ablenken!
    „Ihr habt eine lange Reise hinter Euch, oder? Was macht ein Magier so weit weg der Heimat?“
    Thomas antwortete ihm nicht, sah ihn einfach nur an. Edmund blickte zurück, geduldig, obwohl er nicht mit einer Antwort rechnete.
    „Forschung.“
    Er lächelte. Etwas daran, wie der Kerl das sagte, bereitete ihm eine Gänsehaut. Er konnte es nicht benennen, aber er kam sich seltsam beobachtet vor. Wie ein Fisch im Netz.
    „Macht Ihr Magier das nicht eigentlich vom Schreibtisch aus?“
    „Manche Erkenntnisse trifft man nur, wenn man sich selbst ein Bild macht.“
    Aber allein in einer Kammer, könntest du anderen ersparen, sich ein Bild von dir zu machen.
    „Das stimmt wohl“, Edmund hoffte inständig, dass das Gespräch bald beendet war. Er konnte nicht sagen, was im Kopf dieses Mannes vor sich ging. „Dann seid Ihr also Forscher.“ Er tat interessiert. „Meeresforschung?“
    „Kulturen.“
    Ich merk schon, du bist gesprächig.
    „Also Menschen?“
    „Unter anderem, aber vor allem Artefakte.“ Thomas starrte ihn an, als wollte er seine Reaktion testen, doch Edmund liest sich nichts anmerken und hob nur interessiert die Augenbrauen. „So ein Artefakt, wie mir heute Nacht gestohlen wurde“, setzte Thomas nach. Er blickte über das Schiff und stierte zwei Handwerker in Grund und Boden, die daraufhin eilig verschwanden. Edmund nahm es ihnen nicht übel. Er hätte sich auch gerne aus der Dunstwolke dieses Widerlings verzogen.
    „Dann ist es also sehr wertvoll?“
    „Ja.“
    Der Wachmann kam mit ein paar Gegenständen und Büchern zurück an Deck. Auf den ersten Blick erkannte Edmund, dass es sich dabei weder um die Kiste noch um das gestohlene Buch handelte. Er versuchte sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen.
    „Gehört etwas davon Euch?“ Der Wachmann hielt ihnen die Gegenstände entgegen.
    Thomas besah sich die Bücher und die Kiste. Und schüttelte dann den Kopf. Als er sich zu Edmund wandte, loderte etwas in seinem Blick, das er nicht benennen konnte, was ihm aber durch Mark und Bein ging. Fakt war, wenn der Kerl ernst machte, konnte Edmund ihm nichts entgegen setzen. Und Trevor vermutlich ebenso wenig. Im Moment war nicht einmal Esther in der Lage, etwas gegen den Mann auszurichten.
    „Das Schiff ist sauber. Keine Kiste, wie Ihr sie beschrieben habt und das sind die einzigen Bücher.“
    „Das kann nicht sein!“, schimpfte Thomas. „Ich will mich selbst überzeugen!“
    In Ordnung, verschwinde vom Schiff, Magier!
    „Und ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr nun gehen würdet“, versetzte Edmund. „Mein Kapitän wird vermutlich bald wieder da sein und wenn wir dann alle herumstehen und Löcher in die Planken stehen, wird er sauer.“ Er grinste den Wachmann an. „Falls noch etwas ist, liegen wir noch ein paar Tage im Hafen. Eilig haben wir es nicht.“
    Thomas sah aus, als wollte er noch etwas sagen. Die beiden anderen Soldaten verließen aber bereits das Schiff.
    „Hier ist nichts. Nur eine alte Frau unter Deck, eine Menge Handwerker und ein leerer Lagerraum.“ Der Soldat trat ebenfalls an Edmund vorbei.
    Auffordernd hob Edmund die Augenbrauen und wies mit der Hand die Planke hinab, als sich Thomas nicht bewegte.
    „Ich will Euch ja nicht drängen, aber es liegen noch andere Schiffe im Hafen. Ich wünsche Euch viel Erfolg bei der Suche. Ihr wisst ja, wo Ihr uns findet.“
    „Irgendwas stimmt nicht“, gab Thomas von sich. „Die Kiste ist hier. Das spüre ich. Und ich werde sie finden.“
    „Ist das eine Drohung?“ Edmund behielt sein Lächeln bei, fixierte den Magier aber streng. Dieser starrte zurück. „Dann lasst Euch meinerseits gesagt sein, dass ich es überhaupt nicht leiden kann, wenn man grundlos meine Freunde bedroht.“
    Thomas blickte ihn noch eine Weile an, nur kurz zuckte sein Gesicht, dann wandte er sich ab und verließ wortlos das Schiff.
    Vollkommen leere Drohungen aussprechen? Kann ich! Was sollte er schon machen, wenn der Magier wirklich ernst machte? Schreiend davonlaufen? Mit einem Messerchen auf ihn zielen?
    Blieb die Frage, warum Thomas nicht ernst macht? Weil es zu viele Zeugen gab? Dann hieß das, er würde in der Nacht wiederkommen, oder?
    „Das war knapp.“ Trevor tauchte neben ihm auf und blickte dem Magier ebenfalls nach.
    Ich bezweifle, dass es gut war, was ich gesagt habe. Edmund fuhr sich seufzend über das Gesicht und durch die Haare. „Er weiß, dass die Kiste hier ist. Keine Ahnung wie und warum. Ich bin kein Magier. Aber er weiß es.“
    Verzweifelt sah er Thomas nach. Und er weiß, dass ich auf seinem Schiff war …
    „Wo warst du?“, wandte er sich an Trevor.
    „Verrate es nicht Nelli“, meinte Trevor, „aber ich habe die Chance genutzt, dass sie nicht mehr hinter mir stand und habe den Handwerkern bei den Segeln geholfen. Und ich habe den Kerl von oben im Auge behalten.“
    Danke für nichts, Käpt'n.
    Edmund verzichtete darauf, seinen Freund darauf hinzuweisen, dass Nelli ihnen beiden dafür den Kopf abreißen würde.
    „Ich verrate nichts.“
    Ich glaube nicht, dass er damit rechnet, dass wir die Kiste öffnen konnten, überlegte er dann in Gedanken. Also sucht er die Kiste, nicht den Inhalt. Ich schlage vor, wir verschaffen uns etwas Zeit, in dem wir ihn eine Karotte jagen lassen.
    Dann wandte er sich an Trevor. Ihn plagte bereits seit Tagen ein Gedanke und nachdem er mit Esther zurückgekommen war, war dieser deutlich präsenter noch. Allerdings verlangte es ihm einiges, endlich über diesen Schatten zu springen. Ein Schatten, der sich bereits seit der Meuterei vor ihm auftat, wie eine Schlucht. Aber wenn sie es nun wirklich mit Thomas zu tun bekamen, dann konnten sie nicht alles Esther überlassen, oder? Er stand oft genug am Rand und konnte nichts machen als zusehen und hohle Drohungen aussprechen.
    „Sag mal, Trevor?“ Nur wie sollte er es ansprechen? „Würdest du…“ Warum war es so schwer, um Hilfe zu bitten? Nervös trat er von einem Bein auf das andere und schob die Hände in die Hosentaschen. „Also ich habe mich gefragt, ob…“ Er stieß die Luft aus. Sprich es einfach aus, was soll passieren: Kannst du mir beibringen, wie man richtig kämpft? Aber was sollte er machen, wenn Trevor ja sagte?
    „Ich kann dir zeigen, wie man sich verteidigt, ja ...“ Edmund sah Trevor überrascht an. Woher wusste er, was er hatte fragen wollen? Im Grunde war er aber froh, dass er es nicht aussprechen musste. „Sag nur wann und wo.“
    „Sobald es dir besser geht?“, murmelte Edmund noch etwas überfordert.
    Trevor schaute seine Hände an. „Zeigen kann ich es dir auch jetzt schon.“
    War er mittlerweile über die Meuterei hinweg? War er bereit, wieder eine Waffe gegen einen anderen Menschen zu erheben?
    „Jetzt? Ja. Also ich denke, ich bin zu müde und du bist ja auch noch verletzt, und ja, die Handwerker brauchen ja auch ... ähm...Hilfe und i-ich sollte mich erstmal um die Kiste kümmern.“ Er nickte seiner eigenen Aussage zu. „Ja, genau…ähm, vielleicht morgen früh. Wenn wir da noch leben.“
    „Aye“, meinte Trevor und hob die Augenbrauen.
    Edmund nutzte den Moment, um sich aus dem Staub zu machen. Es hatte ihn schon genug Überwindung gekostet, nachzufragen. Auf den Rest musste er sich mental erst vorbereiten.
    In der Küche drückte ihm Nelli breit grinsend ein Buch über Kräuter in die Hände.
    „Bis Seite 100 alles auswendig lernen, Lehrling.
    An welcher Stelle habe ich denn erwähnt, den Lehrling zu spielen?
    „Was?!“
    „Der Verband war gar nicht übel“, meinte sie.
    Ach, jetzt kommt die Alte mit Honig! Jetzt, nachdem ich mein Leben riskiert und wahrscheinlich weggeworfen habe!
    Seine weiteren Beschwerden ignorierte die Alte und verschwand pfeifend aufs Deck. Genervt klemmte sich Edmund das Buch unter den Arm. Er würde sich die Kiste schnappen, den Inhalt Esther zur Verwahrung geben und dann die Kiste irgendwo in der Stadt verstecken. Das verhalf ihnen hoffentlich noch etwas Zeit. Und dann würden sie sich etwas überlegen müssen oder schnell die Insel verlassen.

    Edmund schnaufte, was in seiner Rattengestalt erneut in einem Quieken endete. Das ganze Ding würde die Hexe noch bereuen. Sie hätte ihn viel stärker instruieren müssen!

    Er tippelte über den Tisch, betrachtete die Bücher, die losen Zettel und das ganze restliche Chaos. Der Schreibtisch war ein Grauen! Wie sollte man hier arbeiten? Das konnte unmöglich funktionieren! Ein heilloses Durcheinander. Oder war das Absicht? Wenn man selbst nichts mehr fand, dann fand auch ein Spion nichts? Und wenn es nur derb genug stank, dann fiel der Einbrecher gleich um? Bei ihm fehlte jedenfalls nicht mehr viel.

    Dumme Rattennase!

    Edmund blieb auf einer Karte stehen und betrachtete diese. Es war eine Seekarte, relativ neu. Zwei weitere lagen darunter und deckten so ziemlich alles von der bekannten Welt ab. Einige Stellen waren mit Kreisen und Punkten markiert, abgehakt oder durchgestrichen. Irgendwelche Krakel, von denen er nicht sagen konnte, ob es sich um eine Sauklaue oder eine andere Sprache handelte, beschriften die einzelnen Markierungen. Er nahm es auf und versuchte, sich so viel wie möglich zu merken.

    Aber hier waren sie wegen dem Fernrohr. Oder einem Hinweis darauf. Deshalb wandte er sich ab und schlängelte sich seinen weiteren Weg vorbei an etwas, das vermutlich mal Obst gewesen war. Mittlerweile aber deutlich süßlicher und widerlicher roch. Die Rattennase tat ihm dabei keinen Gefallen.

    Ich will den Kerl nicht sehen, der so lebt. Oder eher vor sich hin vegetierte.

    Beim Versuch auf einen Stapel Bücher (irgendwas über Magie und es waren ähnliche Zeichen darauf zu erkennen, wie auf der Karte – sicher interessant für Esther, er konnte damit leider nichts anfangen. Magier eben...) zu klettern, stieß er versehentlich ein Tintenfässchen um, das sowieso schon abenteuerlich am Rand eines Papierstapels gethront hatte. Der Inhalt ergoss sich abstrakt über die Karten und die Speisepläne.

    Dann wohl kein Kohl für die Mannschaft. Kein Verlust. Und man sollte es ihm danken. Immerhin erstickten die Männer dann nur noch in ihrem eigenen Mief, aber wenigstens stank es nicht nach Kohl. Egal, aus welcher Öffnung der gekommen wäre.

    Das Tintenschwarz verteilte sich über die Karten. Blöderweise tappte er auch noch in die Tinte und hinterließ Rattenspuren. Rein zufällig und ohne jede Absicht – natürlich – hüpfte er nochmal quer über die Karten. Allein dafür, dass man ihm das Fernrohr geklaut hatte. Was auch immer der Kerl auf seinen Karten markiert hatte, er hatte es sich hoffentlich gut gemerkt.

    Zufrieden mit sich und seinem Kunstwerk, lehnte sich Edmund zurück und lugte dann über die Tischkante. Der Tisch hatte Schubladen. Und unter einer von ihnen lugte eine Ratte hervor. Wunderte ihn bei diesem Saustall nicht. Die Ratte starrte zurück. Er starrte die Ratte an. Irgendwas an ihrem Blick behagte ihm nicht, weshalb er sich schließlich abwandte und zu Nelli sah. Die Hexe im Körper des Matrosen widmete sich gerade der Bar.

    „Geht’s noch?!“, maulte er. Nelli verstand ihn nicht, blickte aber dennoch grinsend in seine Richtung.

    „Wenn wir schon mal hier sind.“ Sie zuckte die Schultern.

    Das war wohl nicht ihr Ernst! Wütend gestikulierte er in Richtung der Schubladen, um sich verständlich zu machen. Sobald er diesen Rattenkörper los war, würde er ihr was erzählen!

    Nelli füllte sich jedoch in aller Ruhe ein Kristallglas. Und trank. Edmund musste sich ein Würgen unterdrücken. Wenn er den Schreibtisch so betrachtete, wusste er nicht, ob er aus einem der Gläser einen Schluck nehmen würde. Wer wusste schon, welche Krankheiten sie sich mit ihrer Anwesenheit hier einholten?

    Eine der Flaschen wanderte noch in Nellis Tasche, dann erbarmte sie sich und kam zu ihm.

    Er deutete kommentarlos, aber mit strafendem Blick auf die Schubladen.

    Nelli öffnete sie nacheinander. Sie beinhalteten: Hauptsächlich weiteren Müll und Papier. Unbezahlte Rechnungen, Materiallisten. Eine weitere Flasche ohne Etikett. Die Hexe schnüffelte darin und ließ sie dann ebenfalls in den Taschen verschwinden.

    Die letzte Schublade war abgeschlossen. Das sah schon vielversprechender aus. Nur wie kamen sie an den Inhalt? Möglichst, ohne alles zu zerstören und den Besitzer direkt darauf hinzuweisen, dass sie hier gewesen waren. In dem Durcheinander würde es grundsätzlich nicht auffallen, ein zerstörter Tisch schon.

    „Du hast nicht zufällig einen Dietrich dabei?“, wollte Matrosen-Nelli wissen.

    „Doch klar, in meinen vielen Jackentaschen“, knurrte er. Da er nur fiepte, zuckte er die Schultern.

    Nelli seufzte und sah sich dann um. Sie stand auf und begann zu suchen. „Dann benötigen wir den Schlüssel, also mach dich mal nützlich.“

    Edmund blieb trotzig sitzen. Bisher hatte vor allem er sich nützlich gemacht. Die Hexe hatte gesoffen und Flaschen eingesteckt und sich über sein Fiepen beklagt. Also wenn nun jemand etwas machen konnte, dann wohl sie. Und davon abgesehen glaubte er kaum, dass der Kerl den Schlüssel hier in diesem Chaos verschlampert hatte. Es war wahrscheinlicher, dass er ihn mit sich trug.

    Das wiederum versuchte er Nelli zu erklären. Die natürlich gar nichts verstand.

    Als er von hinten angestupst wurde, wollte er sich erst bei Nelli beschweren, doch diese kramte noch durch die anderen Schubladen. Als sich Edmund umwandte, hockte die andere – wie sich nun herausstellte schwarz-weiße - Ratte genau hinter ihm und musterte ihn aus Knopfaugen.

    „Was?“

    Die Ratte schmiegte sich an ihn, schob ihn dabei beinahe vom Tisch.

    „Jetzt geht’s aber los!“

    Er schob sie von sich, direkt in eine zweite, graue Ratte hinein, die an einem der Tischbeine hochgeklettert kam.

    „Lass das!“

    Entweder war die Ratte jedoch zu dumm, oder aufdringlich. Jedenfalls sah sie keinen Grund ihn in Ruhe zu lassen. Stattdessen begann die zweite Ratte sich von der anderen Seite ebenfalls an ihm zu reiben.

    „Leute echt, wo wart ihr zuletzt? Ihr stinkt widerlich!“

    Er versuchte die beiden Ratten zu ignorieren. Was leichter gesagt war, als getan, da diese ihm am Hintern schnüffelten. Böse Blicke brachten auch nichts.

    Nelli derweil bog sich vor lachen, was er genervt zur Kenntnis nahm und dann die Chance ergriff, auf ihren Arm zu hüpfen und von dort auf ihre Schulter zu klettern. Dass Nelli ihn nicht postwendend wieder von sich warf, verbuchte er als Erfolg und streckte den beiden Ratten die Zunge raus. Irgendwie blickten beide etwas pikiert.

    Nicht mein Problem.

    Derweil machte sich Nelli mit einem Messer an den Schubladen zu schaffen. Etwas Besseres war der Alten nicht eingefallen?

    Edmund knirschte mit den Zähnen. War das überhaupt eine gute Idee, was war, wenn der Magier die Schublade gesichert hatte?

    Er kam nicht dazu, den Gedanken bis zum Ende durchzugehen. Als Nelli bereits fluchend vor einem bläulichen Lichtblitz zurückschreckte. Es knallte. Der Tisch begann blau zu qualmen und die Ratten flüchteten quietschend, leider in Nellis Richtung. Säuerlich registrierte Edmund kurze Zeit später, dass ihm die beiden wieder auf die Pelle rückten.

    „Verdammt noch eins“, maulte Matrosen-Nelli.

    Edmund verzichtete auf den Hinweis, dass der Schreibtisch qualmte und vermutlich gleich zu brennen begann. Stattdessen biss er sich auf die Zunge. Nelli war blau im Gesicht und auch einige Haarsträhnen glänzten blau. Ein Blick an sich herunter verriet ihm, dass er ebenfalls Blau war …

    Klasse…

    Wenn sie nicht bereits aufgefallen waren, dann würde ein Lichtblitz mit anschließender Rauchentwicklung sicherlich bald Leute anlocken. Und so blau, wie sie waren, wäre es schwer, es zu leugnen.

    Wenn schon nicht die eigene Mannschaft, dann die der anderen Schiffe, die im Hafen lagen. Ein Feuer auf einem Holzschiff war immer ungünstig.

    Er versuchte diese Erkenntnis mit Matrosen-Nelli zu teilen. Dieser nickte. Ob Nelli ihn nun verstanden hatte oder zu dem gleichen Ergebnis gekommen war, wusste er nicht. Aber sie hockte sich hin und wedelte den Rauch etwas weg. Als dieser sich verzog, war erkennbar, dass die Schublade immerhin geöffnet war. Das wäre noch die Höhe gewesen: Die Mannschaft angelockt, das Schiff abgebrannt und sie standen ohne irgendwas das. Wobei das immer noch der Fall sein konnte. Was sollte er machen, wenn das Fernrohr nicht in der Schublade war und das Schiff wirklich abbrannte? Seinem Vater zu erklären, dass er sein Schiff und die Ware verloren hatte, war das eine. Ihm erklären zu müssen, dass er es geschafft hatte, die Waren ZWEIMAL zu verlieren, etwas völlig anderes.

    Er kniff die Augen zusammen. Nicht, weil er feige war und Angst hatte, dass die Schublade wirklich leer war. Sondern weil der Rauch ihm in den Augen schmerzte. Und weil die beiden Rattendamen sich schon wieder lästig an ihn kuschelten. Was glaubten die eigentlich, wer er war?

    „Sucht euch einen anderen Vater für eure Plagen!“

    Er schob beide beiseite und tappte auf Nellis Arm nach unten.

    Diese streckte die Hand nach dem Inhalt der Schublade aus und beförderte eine Kiste zu Tage. Es handelte sich um eine schlichte kleine Truhe aus Holz, die mit diversen Zeichen und Strukturen bekritzelt war. Zum einen waren sie hineingeritzt, zum anderen darauf geschrieben. Einige sahen aus, als wären sie durchgestrichen. Irgendwas an dieser kleinen Kiste war seltsam. Als würden sich in ihrer Nähe alle Haare aufstellen.

    „Magisch“, kommentierte Matrosen-Nelli.

    Edmund nickte fachmännisch und schob dabei die schwarzweiße Ratte erneut von sich. Die Frage blieb nun, ob sich darin sein magisches Fernrohr befand. Oder die Kiste allein magisch war. Und darin nur noch mehr Ramsch und Müll.

    Nelli versuchte die Truhe zu öffnen. Doch Wunder – immerhin funktionierte bei ihnen nie etwas auf Anhieb und problemlos – ließ sie sich nicht öffnen. Das war doch schon wieder typisch...

    „Nimm es mit“, murrte er und gestikulierte wieder herum. Das war so dermaßen lästig. Dieses Gestikuliere. Das ihn niemand verstand. Das Geschmuse und an ihm Herumgekratze und Gebeiße der beiden anderen Ratten.

    Er schob sie beiseite.

    Ob Nelli ihn verstand, wusste er nicht. Es konnte gut auch sein, dass sie sein Gefuchtel als Beschwerde den beiden anderen Ratten gegenüber deutete. Gerade trat er eine der Ratten von Nelli hinunter.

    Er kam jedoch nicht dazu, sein Anliegen nochmals zu verdeutlichen. Er vernahm Schritte im Flur vor der Tür, die sich eilig näherten.

    War ja klar …

    Es herrschte Stille. Dann Stimmen.

    Nelli und er sahen sich an. Dann klemmte sich Nelli kurzerhand die ganze Kiste unter den Arm und sah sich im Raum um.

    Edmund tat es ihr gleich. Wenn die Matrosen schon im Flur waren, dann würde es nur noch ein paar Sekunden dauern, ehe sie hier auftauchten. Sie konnten also nicht über den Flur zurück an Deck. Im Raum selbst gab es nur einen Schrank. Und in dem würde man sicherlich zu erst nachschauen. Wenn sie überhaupt hineinpassten. Bei dem Chaos im Zimmer war der Schrank wahrscheinlich bis oben hin mit Schrott zugestapelt.

    Ein Fiepen riss ihn aus seiner Suche. Er wollte schon wütend nach den beiden Ratten treten. Doch die beiden hockten vor dem Fenster, schoben es etwas auf und verschwanden nach draußen.

    Edmunds Blick glitt an Nelli hoch und runter. Auch sie sollte dort durchpassen.

    Er zupfte an ihrer Kleidung und hüpfte ebenfalls zum Fenster.

    Nelli kam dazu, öffnete es und sofort pfiff ihnen wieder der Wind entgegen. Unter ihnen brachen sich die Wellen. Das Heck zeigte zum offenen Meer hinaus.

    „Kommt gar nicht in Frage“, kommentierte Nelli und trat einen Schritt zurück.

    „Das oder du wirst erwischt, altes Weib!“

    Nelli sah ihn als, als wäre er wahnsinnig. Dabei sprach sie hier mit der Ratte.

    Apropos Ratte …

    Die schwarzweiße Ratte und die graue kamen zurück, liefen über ein Tau, dass sich an der Schiffswand entlangschlängelte und dann außer Sicht verschwand. Dort konnte sich Nelli festhalten und den schmalen Vorsprung als Tritt benutzen.

    Die Schritte wurden lauter.

    Edmund betrachtete Nelli und deutete wortlos aus dem Fenster.

    Nelli fluchte, kroch dann aber ungelenk und zitternd durchs Fenster. Den Blick immer nach unten auf das Wasser gerichtet.

    „Nicht nach unten blicken“, fiepte er und kassierte dafür einen bösen Blick des Nelli-Matrosen. Verstanden hatte sie ihn sicherlich nicht, aber vermutlich war es egal, welche hilfreichen Tipps er ihr gab. Manche Menschen wussten Hilfe eben nicht zu schätzen.

    Nelli bewegte sich derart langsam und fischte nach dem Tau, dass Edmund bereits fürchtete, die Zeit wäre eingefroren. Ebenso langsam schob sie sich an der Schiffswand entlang. Immer langsam einen Schritt nach dem anderen auf dem schmalen Vorsprung.

    Edmund warf einen Blick zurück zur Tür. Die Klinke wurde bereits nach unten gedrückt. Wenn Nelli in dem Tempo weitermachte, wurde sie doch noch erschossen. Oder einfach ins Meer geschubst. Oder starb an Altersschwäche.

    Ehe er es sich anders überlegen konnte, pfiff er Nelli etwas zu und hüpfte dann vom Fensterrahmen. Dann musste er ihr eben etwas Zeit verschaffen. Die beiden Ratten folgten ihm, was er sowohl genervt als auch erleichtert zur Kenntnis nahm. Wenn man nach ihnen schlug, bestand die Möglichkeit die richtige Ratte zu treffen nun immerhin nur noch 33%.

    Als die Tür aufging und er das erste Paar Stiefel sah, hüpfte er daran empor und biss dem Mann kurzerhand ins Bein. Der Kerl schrie auf und stolperte zurück. Während Edmund über ihn hinweglief, sich hasste und er sich am liebsten den Mund ausspülen wollte. Wenn Nelli abrutschte und dabei im Wasser ersoff, würde er sie eigenhändig an Land zerren, wiederbeleben und dann töten!

    Er sprang von dem einen Matrosen zum nächsten und blickte dann direkt in das hässlichste Gesicht, das er jemals gesehen hatte. Für einen Moment glaube er, dass die beiden Typen eine Leiche mit sich herumschleppten. Dann öffnete die Leiche jedoch den Mund und fixierte ihn mit den Augen. Verständnis flackerte darin. Irgendwie war er die gleiche Kategorie wie der Haufen Hackfleisch in der Schubkarre. Nur hässlicher.

    Und dass das möglich war, hätte er nicht erwartet.

    Die Leiche schrie etwas, das Edmund geflissentlich ignorierte und dem Typen kurzerhand ins Gesicht sprang. Offenbar schmerzten die Krallen einer Ratte. Denn der Typ wimmerte auf.

    Die beiden Rattendamen folgten ihm, weshalb nun zwölf Rattenfüße (acht davon vermutlich völlig verpestet, vier mit Tinte beschmiert) über den schreienden und um sich schlagenden Leichnam rannten.

    Als auch die anderen Männer nun auf den Kerl einschlugen, hüpfte Edmund von ihm herunter. Die Ratten folgten ihm. Einen Augenblick genoss er den Anblick der auf die hässliche kreischende Wasserleiche einprügelnden Männer. Dieser wehrte sich und fluchte, beschimpfte die beiden Männer.

    Edmund rollte sich beinahe vor Lachen über den Boden.

    Als sie bemerkten, dass da keine Ratten mehr waren und sich ihre Aufmerksamkeit auf ihn richtete, rannte er davon.

    Er hörte hinter sich die Worte „Rauch“, „Feuer“ und „Ratten“. Wobei das letztere eigentlich niemanden verwundern sollte.

    An Deck wuselten noch ein paar Männer herum, die wohl alarmiert ebenfalls aus der Stadt zurückgekommen oder geordert worden waren. Einer von ihnen hatte einen Eimer bei sich. Sein Blick richtete sich sofort auf Edmund, als erkannte er, dass von den drei Ratten nur er keine echte war. Edmund hatte jedoch wenig Zeit, sich darüber noch Gedanken zu machen. Wie weit wohl Nelli gekommen war? Hoffentlich bereits wieder im Hafen. Er traute sich aber dennoch nicht, auf die Seite vom Schiff zu laufen, an der sie geflüchtet war, um dort nachzuschauen. Wäre ja blöd, wenn sie doch noch ins Augenmerk der Mannschaft fiel.

    „Ratte!“, schrie die Leiche. Außer Atem kam diese hinter ihm an Deck gehetzt. „Schnappt sie.“

    „Welche?“, kam es von irgendwoher.

    „Alle!“

    Edmund hüpfte über die drei alten Kerle, die Trevor außer Gefecht gesetzt hatte. Einer von ihnen trug jetzt das Kleid, was Trevor zuvor anhatte. Die beiden anderen wurden gerade von ihren Kollegen wachgetreten.

    Neben ihm schlug ein Säbel in den Boden. Gefolgt von einem Messer.

    Ja, hatten die sie noch alle?

    „LEBEND!“, brüllte die Leiche. Die Erkenntnis kam ja früh. Was wäre, wenn der Säbel ihn bereits gespalten hätte?

    Vor ihm tauchte ein Prügel von einem Kerl auf, der vermutlich mehr wog als das ganze Schiff. Jedenfalls bebte selbiges unter seinen Schritten und es gab ein Seebeben, als er sich bäuchlings auf ihn zuwarf.

    Zum Glück war es nicht allzu schwer dem Fettklotz auszuweichen. Dann hüpfte er auch schon über die Reling ins Wasser.

    Das Wasser schlug über ihm zusammen. Um ihn herum löste sich eine blaue Wolke. Immerhin war das Zeug wasserlöslich. Was nicht wasserlöslich war, war er selbst. Was das Wasser sichtlich zu stören schien. Und so ein Rattenkörper hatte dem nichts entgegenzusetzen. Edmund blieb unter Wasser. Von den Wellen wurde er fröhlich mitgeschleudert. Irgendwo klatschte er gegen eine Kante und eine Mauer, dann tauchte er unter einem anderen Schiff hindurch. Und verschwand damit hoffentlich aus der Sicht der Mannschaft.

    An einem der Schiffe gelang es ihm schließlich, seine Krallen in eines der Taue zu schlagen und sich aus dem Wasser zu ziehen. Als er sich in Bewegung setzte, sah er gerade noch wie ein langer Tentakel hinter dem Schiff unter Wasser verschwand.

    Vermutlich Einbildung. Hoffentlich Einbildung…

    Er schüttelte den Kopf und kletterte dann klatschnass auf den Hafensteg. Dort blieb er eine Weile liegen und schnaufte durch.

    Tja, lief doch prima... Das hat unverhofft sogar Spaß gemacht.

    Langsam machte er sich zwischen Kisten und Füßen auf den Weg zurück. Dort sah er noch immer die wütende Mannschaft und einen hässlichen Kerl ins Wasser starren. Außer Sicht, hinter ihnen, sprang gerade ein alter Matrose in Trevors Arme. Der grimmige Gesichtsausdruck der alten Hexe war bis hierher zu hören.

    Was ebenfalls zu hören war, waren die tapsenden Schritte von zwei Ratten.

    Als Edmund sich umdrehte, seufzte er.

    „Ja, ihr ward eine große Hilfe… Toll gemacht. Ganz großartig. Aber wehe ihr betretet mein Schiff. Ich dulde da kein Ungeziefer.“

    Außer mich selbst ...

    Beide legten den Kopf schief und folgten ihm.

    Ja, leckt mich am Arsch ... Nicht wörtlich gemeint!"

    Edmund strich sich die noch feuchten Haare aus dem Gesicht. Anstatt zu schlafen, war er ein paar Runden am Strand außerhalb der Stadt schwimmen gegangen. Nichts entspannte mehr, als auf dem Wasser dahinzutreiben. Und es war der beste Zeitpunkt um den Kopf leer zu bekommen und sich einen Racheplan für Agatha zu überlegen.
    „Hier“, riss Trevor ihn aus seinen Gedanken. Er reichte ihm ein kleines Gefäß, in welches Nelli zuvor ihren Trank abgefüllt hatte
    Edmund nahm ihm das Fläschchen nur wiederwillig ab und drehte es mit gerunzelter Nase in der Hand. Warum nochmal schickten sie nicht Trevor? Der konnte sich auch ohne Gift verwandeln. Und der tat das sicherlich lieber als Edmund.
    Edmund fühlte sich als Edmund sehr wohl. Er mochte seinen Körper. Er brauchte keinen anderen. Auch nicht für wenige Stunden. Für welchen Körper sollte er sich auch sonst entscheiden? Etwas Hässliches oder Gewöhnliches wollte er nicht. Gab es etwas, was er verbessern wollte, wenn er könnte? Auch nicht.
    Vielleicht sollte er sich einfach jemanden aus seiner Heimat vorstellen?
    Sofort schossen ihm Bilder von seinem Vater in den Kopf.
    Sicher nicht!
    Seine Mutter fiel wohl leider auch weg. Eine Frau würde zu schnell auffallen.
    Stief kannte dort vielleicht auch jemand.
    Ihm kam der Handwerker in den Kopf, der sich am nächsten Tag die Revenge anschauen würde. Die dichten Augenbrauen, die Runzeln und Pockennarben im Gesicht. Die Hakennase. Nein! So wollte er definitiv nicht aussehen! Auch nicht für ein paar Stunden! Er wollte Edmund bleiben!
    „Dann…“, Nelli hielt den Trank hoch, „Prost.“
    Widerwillig tat Edmund es ihr gleich. Er konnte keinen Rückzieher machen. Trevor und Esther hatten ihren Teil erledigt. Und irgendwas würde er auch tun müssen. Andernfalls fühlte er sich noch nutzloser bei der Sache als sowieso schon.
    Und Nelli dachte, sie wäre unnütze Ladung. Dabei war er diese unnütze Ladung!
    Aber warum war er für diesen Teil des Planes eingeteilt worden? Warum hatte er nicht mit Trevor zusammen den Matrosen entführen können?
    Und konnte er sich nicht einfach einen Bart ankleben? Er würde sogar freiwillig ein altes Hemd anziehen!
    Verdammt seist du…!
    „Und konzentriere dich“, meinte Nelli. „Denk ja nicht an Seife!“
    Was glaubte sie eigentlich, was er hier versuchte? Und was brachte sie ihn überhaupt auf die Idee mit der Seife? Und warum sollte er sich vorstellen Seife zu sein? … Wobei, Seife war sauber.
    Nein, ich nehme den Handwerker!
    Widerlich!

    „Was glaubst du, was ich hier mache, Hexlein!“
    Handwerker, Handwerker!
    Er setzte den Trank an. Die ganze Sache konnte doch nur schiefgehen.
    Er kippte den Trank. Das Zeug schmeckte widerlich! Irgendeine Mischung aus dem, was man zum Putzen nutzte – und zwar nicht die Seife, sondern die Bürste – und ungepflegten Männerfüßen.
    Er verzog das Gesicht und wollte sich beschweren.


    In dem Moment polterte Wilmor vom Deck in die Küche und räumte dabei einige Töpfe aus dem Regal. Sie schepperten zu Boden.
    Der Kater jagte einen großen grauen Fellklumpen vor sich her, der erst ihm, dann Trevor und schließlich Esther durch die Beine sprang. Letztere schrie erschrocken auf. Ob wegen der Ratte, dem Kater, der Überraschung oder einer Mischung aus allem, wusste Edmund nicht. Ihr war wohl zu Gute zu halten, dass sie nicht den erstbesten Stuhl nahm und sich kreischend daraufstellte und laut „Ratte“ schrie.
    „Mistvieh“, beschwerte sich Edmund und trat mit dem Fuß in Wilmors Richtung. Er erwischte die Zombiekatze nicht, erntete aber einen bösen Blick der Nekromantin. Was ihm herzlich egal war.
    „Halt das Vieh aus meiner Küche fern, wenn du nicht willst, dass er als Fischköter endet!“
    War es klug ihr zu drohen? Auch egal...

    Die Ratte verschwand unter einem Schrank, unter den Wilmor nicht passte und stecken blieb. Dort konnte Agatha ihre Bestie wieder einsammeln.
    „Toll, jetzt habe ich eine Ratte hier drin“, schimpfte Edmund und warf die leere Flasche nach dem Schrank.

    Und er hätte getroffen, da war er sich sicher. Aber etwas zog ihm den Boden unter den Füßen weg, weshalb ihm die Flasche entglitt und er ungelenk auf dem Boden aufkam. Der Schmerz, der ihn daraufhin durchfuhr, war allem voran ungewohnt und mehr als unangebracht, dafür, dass er nur gestürzt war. Es fühlte sich an, als würde er auseinander genommen und neu zusammengesetzt.
    Dann war es vorbei.
    Und die teils erschrockenen und die teils belustigten Gesichter verrieten ihm bereits, dass irgendwas mächtig schief gelaufen war, noch ehe er seine neue Perspektive begriff. Jetzt konnte er die anderen nur noch von den Füßen aus betrachten.

    „Wie schlimm ist es?“, wollte er wissen. Seine Stimme klang aber eher wie ein Quietschen.
    Bitte kein Stück Seife, beschwor er sich. Allerdings fühlte er sich nicht wie ein Stück Seife. Auch wenn er so groß war. Ein Blick an ihm herunter, verriet ihm, dass er keine Seife war.
    „Tja“, machte Trevor und ehe sich Edmund versah, packte der ehemalige Pirat ihn im Nacken und hob ihn hoch, damit er genau vor seinem Gesicht hing. „Malen wir ihn an, damit wir ihn von der anderen Ratte unterscheiden können?“ Trevor lachte. „Nicht, dass wir ihn versehentlich erschlagen.“
    Trevor bedachte ihn und drehte ihn umher. Edmund stieß einen Fluch aus, der in einem rattigen Quietschen endete. Er seufzte genervt. Wie lange hielt das Zeug nochmal? Und warum hatte er sich überreden lassen?
    Agatha tippte ihn mit dem Finger an.
    „Willst du Wilmor immer noch verbieten, die Küche zu betreten? Den Versuch würde ich gerne sehen.“ Sie grinste ihn breit an und gerne hätte er sie dafür getreten. Er zappelte jedoch nur in Trevors Griff. „Das mit dem Anmalen finde ich gut. Oder wir rasieren ihn.“
    Trevor und Agatha lachten amüsiert auf und auch Esther grinste breit.

    Schön, dass die anderen wieder ihren Spaß hatten.
    Er schnappte nach Agathas Finger und wehrte sich gegen Trevors Griff.
    Die beiden lachten nur weiter, während Trevor ihn auf seine Schulter setzte. Kurz war Edmund versucht, ihm ins Ohr zu beißen, aber der gierige Blick von Wilmor hielt ihn davon ab. Er verzichtete dennoch darauf, sich bei Trevor für den Platz auf der Schulter und damit außerhalb der Katerreichweite zu bedanken.
    Blöde Idee und blöder Trank.

    Denk an das, in das du dich verwandeln willst, Edmund. Das ist ganz einfach, Edmund. Da kann nichts schiefgehen, Edmund. Konzentriere dich, Edmund.

    Ihr könnt mich alle mal!

    Der Matsch redete. Er redete, obwohl er nicht mal mehr Lungen hatte – jedenfalls keine funktionstüchtigen. War das überhaupt möglich? Aber was stellte er überhaupt noch irgendwas in Frage?
    Ich kann nie wieder Fleisch essen, schoss es Edmund durch den Kopf. Er wandte den Blick ab. Hatte er schon zuvor damit zu kämpfen gehabt, sich nicht zu übergeben, dann machte es der jetzige Anblick nicht besser.
    Zudem zitterten seine Knie noch immer und ihm war schwindelig. Es fühlte sich an, als hätte er soeben drei Tage mit Nellis Schnaps durchgefeiert. Und das in nicht mal zwei Minuten.
    Zwar spürte er, wie die Kraft bereits in seinen Körper zurückkehrte. (Und Hunger. Trotz des redenden Hackfleisches in ihrer Mitte.) Aber Andrés komischer Zauber hatte ihm die Kraft quasi aus dem Körper gelutscht. Als würde Wasser aus einem Fass fließen. Eine Vorwarnung wäre nett gewesen. Dann hätte er dem nicht zugestimmt. (Wo sicherlich das Problem lag.) Stattdessen hatte man sein Vertrauen missbraucht.
    Er sah wie Nelli schwankte. Allerdings schien es bei ihr andere Gründe zu haben. Hoffte er jedenfalls. Lieber seine Energie als ihre.
    Sie starrte André mit weit aufgerissenen Augen an, dann wandte sie sich abrupt ab und verließ taumelnd das Deck. Sie brabbelte etwas vor sich hin, dass er nicht verstand. Dass Nelli flüchtete, war ungewöhnlich. Und eine Warnung.
    „Er gehört ganz euch!“, meinte André.
    Als Edmund sich dem Kerl zuwandte, besaß der auch noch die Frechheit zu grinsen.
    Bastard, elender!
    Edmund erhob sich, als er sicher war, dass seine Beine ihn wieder tragen würden und klopfte sich den Staub aus der Kleidung. Offenbar regenerierte sein Körper auch solche Gemeinheiten schnell.
    Er brachte einen gesunden Abstand zwischen sich und den Kreis. Sicher war sicher.
    „Geht es dir gut?“, wandte er sich an Esther.
    Diese nickte nur. Sie stand noch immer zur Salzsäule erstarrt an Deck und glotzte auf den Schubkarren. Naja, auch kein dümmerer Ausdruck als sonst …
    „Es hat funktioniert!“, stellte Trevor begeistert fest und trat an den Schubkarren heran. In dem sich der Matrose lautstark darüber beschwerte, dass er weder Arme noch Beine spüren konnte und dass er nur in der Lage war in den Himmel zu starren. Dass er aus nichts anderem bestand als einem Haufen, schien er noch nicht bemerkt zu haben. Vielleicht auch besser für die arme Sau…
    Ihn überraschte, dass ihm der Kerl leid tat- Aber sowas wünschte man seinem schlimmsten Feind nicht.
    „Dein Ernst?!“, zischte Edmund an Trevor gewandt. Ja, es war erstaunlich, dass es André geschafft hatte, einen Haufen Mensch wieder ins Leben zu rufen. Aber ihm hatte es den Boden unter den Füßen weggezogen. Nelli hatte die Flucht ergriffen und Esther war eingefroren und damit noch abweisender als sonst! Schön natürlich, dass Trevor nicht mal ein Haar falsch vom Kopf abstand! Fetter Sack!
    Er warf André einen finsteren Blick zu. Er ballte die Hände und die Wut, die über diese Unverschämtheit in ihm zu lodern begann, vertrieb jede Müdigkeit.
    „Was hast du gemacht?“, schnauzte er den Matrosen an. Das Schiff schien etwas zu schwanken und Edmund glaubte, in der Ferne ein Grollen zu hören. Allerdings schien von den anderen keiner etwas mitzubekommen. Bildete er sich das nur ein? Oder zog ein Gewitter auf?
    „Ist das nicht offensichtlich? Euer Problem gelöst. Der … Mann lebt wieder.“
    Das sagt der so als wäre es normal!
    „Lebt ...“, kommentierte Edmund trocken. Ein Mensch, der lebte, sah in seinen Augen anders aus. Und sollte es auch. Sowas war … keine Ahnung, was das war. Außer eklig! „Ich korrigiere meine Frage: WIE und was GENAU hast du gemacht?!“
    André musterte ihn abschätzig. Irgendwas Ungläubiges lag in seinem Blick, was Edmund nicht so ganz deuten konnte und das ebenso schnell verschwand, wie es gekommen war. Entweder lag es an der Frage, oder der Kerl war verwundert darüber, dass Edmund schon wieder stand.
    Der Blick wanderte zu dem Wiederbelebten. Edmund weigerte sich weiterhin diesen anzuschauen, und taxierte stattdessen André. Dessen Augen leuchteten freudig auf.
    „Ich bin eine Nekromantin.“
    Edmund kramte das spärliche Wissen zusammen, das ihm über Nekromantie bekannt war. Was im Grunde auch nur daraus bestand, dass es Magier gab, die Tote wiederbeleben konnten. Tja … schien zu stimmen. Dann stolperte er über das „in“ in Nekromantin. Was ihn bei genauerer Betrachtung aber auch nicht überraschte. Immerhin konnte er nun beim Namen nennen, was genau ihn an André(a) bisher gestört hatte.
    „Das beantwortet meine Frage nicht“, meinte er schlicht, ohne seinerseits auf die Bedeutung der Worte einzugehen. Wenn es André(a) überraschte, dass es ihn nicht überraschte, dann versteckte sie das überraschend gut. André(a) zuckte lediglich die Schultern und grinste.
    „Ich dachte mir, du hast am meisten überflüssige Energie, die wir dem Toten schenken können.“
    Edmund musterte André(a) wütend.
    Dann wandte er sich an Trevor. Warum blieb der eigentlich so still?
    „Mir quetscht André …“
    „Agatha“
    , schob die Nekromantin hilfreich ein.
    „Ist mir egal“, schnauzte Edmund in ihre Richtung, ehe er sich wieder an Trevor wandte, „die Energie aus dem Körper bis ich am Boden liege und dich juckt es nicht mal?! Toller Freund!“
    „Da du immer noch meckern kannst, wird es schon nicht so schlimm sein.“
    Trevor grinste ihn an. Es sollte wohl schlichtend wirken, bewirkte aber nur, dass sich Edmund noch mehr reinsteigerte.
    „Das ist doch überhaupt nicht der Punkt!“ Der Kerl in der Schubkarre war ebenfalls tot gewesen, konnte sich aber ganz ausgezeichnet beschweren. War das also auch nicht so schlimm?
    „Das war doch das, was wir wollen.“
    Edmund sah ihn ungläubig an. Hatte er wirklich gar nichts gespürt? Juckte es ihn nur nicht? Oder hatte Agatha es nur auf ihn abgesehen? Und war Trevor das etwa völlig egal? Von wegen Freundschaft. Von wegen beschützen. Irgendwas sagte ihm, dass Trevor es gewusst hatte.
    Wir wollten den Kerl in einem Stück! Nicht als Gulasch!“
    Warum schmerzte es ihn eigentlich so, dass sich niemand mal Sorgen um ihn machte? Oder wenigstens erkundigt, ob es ihm gut ging? Stattdessen wurde einfach akzeptiert, dass Agatha fröhlich Energie nahm und damit herumzauberte. Und Tote zurück ins Leben holte! Wer wusste schon, welche Folgen das noch haben konnte! Und es interessierte niemanden! Hatte sie die anderen etwa verzaubert?
    Trevor seufzte und wandte sich an Agatha. „Du hättest vielleicht wenigstens sagen können, was du vorhast“, schlichtete er. „Oder auch von mir den größeren Anteil Energie für das Ritual nehmen können.“
    Edmund entspannte sich etwas. Trevor war also doch nicht verzaubert worden.
    „Ja, hätte ich. Und ja. Aber hättet ihr dann noch mitgemacht? Ihr bekommt eure Antworten, seid glücklich damit. Wer weiß, ob es geklappt hätte, wenn wir noch ewig diskutiert hätten. Niemand von euch war in Gefahr.“
    Edmund gab ein abwertendes Schnauben von sich. Das konnte sie behaupten. Aber das Gegenteil beweisen konnten sie ihr nicht.
    „Das wirst du noch bereuen“, knurrte Edmund.
    „Bereuen? Dafür, dass ihr dank mir jetzt den Typen ausquetschen dürft? Kann ich doch nichts dafür, wenn du das bisschen Magie schlechter verkraftest als Großmütterchen.“
    Edmund glaubte Agatha kein einziges Wort. Von wegen schlechter verkraftet! Und ausgequetscht wurde der Kerl bereits von einer Kiste.
    Versuche mehr zu vertrauen … Und was hatte es ihm gebracht?
    Notiz an mich: Vertraue niemandem, wenn er sagt >Stell dich in den Kreis<.
    Er sah zu Agatha.
    Und vor allem vertraue nie wieder ihr.
    Alles an ihr war bisher gelogen gewesen. Und auch, wenn er damit gerechnet hatte, dass sie etwas versteckte, was hatte er ihr getan, dass sie es auf ihn abgesehen hatte?!
    Er spürte die Blicke der anderen auf sich ruhen. Auch Esther hatte sich aus ihrer Starre gelöst.
    Er blickte zurück.
    „Was?!“ Er verschränkte abwehrend die Arme. Wenn sie darauf warteten, dass er nochmal umfiel, dann konnten sie lange warten. Zum Gespött machte er sich nicht freiwillig!
    „Tja, wir sollten ihm wohl Fragen stellen, da er schon mal wieder wach ist“, meinte Trevor. Er bedachte den Matrosen aus zusammengekniffenen Augen, als erwartete er jeden Moment einen Angriff.
    „Ja und?“
    „Es ist dein Schiff … Und sie waren auf deine Ladung aus“,
    half ihm Trevor auf die Sprünge.
    Ach jetzt bin ich plötzlich wieder interessant? Macht euren Kram doch allein!
    Eingeschnappt drehte er den Kopf weg. Er wollte das sowieso nicht. Das hieß, er müsste näher herantreten und sich mehr mit dem Toten beschäftigen, als ihm lieb war. Das hieß, er müsste sich mit der Meuterei auseinandersetzen. Das konnte er nicht. Sauer auf diese Leute zu sein, war das eine. Zu sehen, wie einer von ihnen zertrümmert in einem Karren lag und sich versuchte, aufzurichten, war etwas völlig anderes. Am liebsten wäre er hinter Nelli her und hätte sich in sein Bett verkrochen.
    Doch er blieb stehen. Und starrte auf den Wiederbelebten, der sich soeben darüber beschwerte, dass er in einem Karren lag und sie ihm nicht zuhörten. So langsam schien ihm seine Situation bewusst zu werden.
    „Also wenn du nicht langsam aus dem Knick kommst, stirbt der Kerl in der Zwischenzeit nochmal – diesmal eines natürlichen Todes.“
    Agathas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
    „Klappe auf den billigen Plätzen“, zischte er.
    Verdammt nochmal. Er konnte keinen Rückzieher machen. Der Kerl war die einzige Möglichkeit, herauszufinden, wo die Eleftheria war. Die einzige Möglichkeit das Fernrohr zurückzubekommen. Und die einzige Chance, je wieder nach Hause zurückkehren zu können. Denn ohne seinen Auftrag beendet zu haben, würde er sich nie wieder bei seinem Vater sehen lassen können. Und wenn die anderen wollten, dass er die Fragen stellte, konnte er sich nicht einfach weigern. Er war kein Feigling.
    Zögerlich trat er an den Karren heran, so weit er sich traute. Überall war Blut, Eingeweihte, Fleisch, Muskeln und Knochen. Und ….
    Edmund unterdrückte einen neuerlichen Würgreiz, als sich ein Auge bewegte. Der Kerl konnte den Kopf nicht mehr bewegen. Vermutlich war sein Hals gebrochen. Und viel war von dem Gesicht auch nicht übrig. Irgendwie kam er ihm aber dennoch bekannt vor. Er war auf der Eleftheria gewesen. Definitiv.
    „Ähm … klare Nacht, was?“ Er war froh, dass seine Stimme nicht zitterte und er einigermaßen gefasst wirkte. Sicherheitshalter verschränkte er dennoch die Arme vor der Brust. Er wollte wegrennen.
    Die Reste des Gesichts verzogen sich. Der Mann wirkte verwirrt, dann erstaunt und schließlich wandelte sich der Ausdruck in Schock.
    „D-Du. I-Ihr … ein Geist!“, schrie der Mann und wollte fliehen.
    Klar, ich bin der Geist … in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut?
    Der Karren schwankte, als sich der Haufen bewegte, aber es gelang ihm nicht einmal, ein wenig wegzurutschen. Es war schon verwunderlich wie er es schaffte zu atmen und zu sprechen, geschweige denn Sätze zu bilden…
    Edmund atmete durch.
    „Hervorragend“, kommentierte er dann. „Wie ich sehe, hast du mich erkannt. Das ehrt mich.“ Er legte ein falsches Lächeln auf seine Lippen und kaschierte damit seinen Ekel. Der Geruch von Blut bohrte sich in seine Nase und erinnerte ihn an die Meuterei.
    Nicht jetzt!
    „Ich schwöre, ich wollte das nicht! Bitte räche dich nicht an mir! Geh weg! Das war Armods Idee!“
    Edmund hätte wütend auf den Kerl sein sollen. Weil er ihn verraten und zusammen mit den Piraten gemeutert hatte. Aber wie sollte er wütend auf jemanden sein, der nun in ein Einmachglas passte?
    Prima, jetzt kann ich auch nichts Eingelegtes mehr essen.
    „Es ist mir relativ egal, wessen Idee es war“, Edmund schluckte, „aber da du Armod gerade erwähnst-“
    Der Matrose schrie, rief um Hilfe und brabbelte immer weiter vor sich hin. Irgendwas von Flüchen, Gebeten und Geistern aus der Vergangenheit, die ihn unablässig verfolgten.
    „Jetzt halt die Klappe!“, schrie Edmund zurück. Für sowas hatte er an diesem Tag wirklich keine Geduld mehr. Warum musste er das machen? Warum übernahm das keiner der anderen? Er schien doch hier sowieso nur der Depp zu sein, den man als Energiequelle nutzen konnte!
    Der Tote lachte hysterisch. „Ich habe zu viel gesoffen, oder? Ich liege irgendwo und habe Albträume!“ Er lachte wieder.
    „Verdammt!“, stieß Edmund frustriert aus. Konnte nicht einmal jemand das machen, was er sollte? Einmal! Die Wut auf den Kerl kehrte zurück. Zusammen mit dem Zorn über Agathas Frechheit. Und erneut geriet das Schiff ins Schwanken, weshalb er einen Schritt zur Seite und näher an den Karren stolperte. Irgendwo in der Ferne meinte Edmund wieder das Dröhnen zu hören. Er ignorierte es. „Du wurdest von einer verdammten Kiste erschlagen und kannst froh sein, wenn wir dich nicht ins Hafenbecken zu den anderen verwesenden Abfällen kippen! Mehr als ein paar beschissene Reste sind von dir nicht übrig!“ Edmund trat noch einen Schritt näher und stierte dem Mann ins Gesicht. „Und jetzt beantworte gefälligst meine Fragen!“
    In dem unverletzten Auge des Mannes zeigte sich zwar Angst, aber vor allem Trotz und Wut. Dann schien ihm endlich klar zu werden in welcher Situation er sich befand. Oder er sah es in Edmunds Augen. Wie auch immer. Der Kerl fing an zu schreien als würde man ihn bei lebendigem Leib grillen. Edmund trat erschrocken einen Schritt zurück, während Trevor seinerseits einen nach vorn tat und an seiner Seite Position bezog.
    „Ihr gemeinen Hunde! Ihr elenden Schweine! Was habt ihr mit mir gemacht?! Ihr solltet tot sein und nicht ich! Ich habe gesehen, wie ihr auf dem Ruderboot davon getrieben seid! Warum seid ihr hier? Und warum tut ihr mir das an?“ Er schrie, wurde heißer und immer lauter. „Ihr Monster! Ihr seid ebenfalls tot, oder?! Das ist meine Verdammnis!“
    Edmund ließ sich nicht anmerken, wie ihm bei jedem Wort die Galle hochkam und das Herz in die Hose rutschte. Diese Blöße würde er sich nicht geben.
    So viel zu unauffällig.
    Da waren Trotz und Wut in seinem Blick gewesen. Aber auch noch etwas anderes. Ein Wille, der eigentlich schon gebrochen war und dem man nur noch den Rest geben musste. Der Kerl hatte Angst. Angst vor dem Tod. Angst vor dem, was aus ihm geworden war. Angst vor dem, was er getan hatte.
    Trevor trat an den Matrosen heran und ließ die Fingerknöchel knacken. Wenn Trevor ihn nun umbrachte – konnte man einen Toten töten? – dann standen sie wieder mit nichts da. Und er wollte nicht mit Nelli auf gut Glück auf ein fremdes Schiff klettern. Oder als Versager dastehen, weil er es nicht geschafft hatte, etwas aus dem Kerl herauszubekommen.
    Edmund straffte die Schultern.
    „Hör mal-“, begann Trevor. Doch er verstummte, als Edmund sich an ihm vorbeidrängte. Er wünschte sich sehnlichst, er hätte sich Handschuhe angezogen. Stattdessen legte er dem Wiedergeborenen die bloße Hand auf den Mund. Und blendete aus, dass das Fleisch unter seiner Berührung nachgab.
    Wieder stieg ihm der Blutgeruch in die Nase. Er verdrängte es und blendete den Matrosen aus. Er schob alle Gefühle zurück. Er war nicht nutzlos. Und er war nicht einfach nur eine Witzfigur, die man benutzen konnte.
    Er fixierte das intakte Auge des Mannes. Sein Vater hatte ihn immer wieder gezwungen, ihm bei seinen Verhören zuzuschauen. Sein Vater hatte ihm die Courage abgesprochen, es selbst durchzuziehen. Hatte ihn immer wieder als zu weich betitelt.
    „Du solltest besser still sein“, mahnte Edmund. Er war zuerst überrascht, wie kalt seine Stimme klang, dann war er mit dem Ergebnis zufrieden. Diesmal würde er sich nicht abweisen lassen. Diesmal nicht. Immerhin hatte auch er dazu gelernt. Wenngleich er Menschen ungern auf diese Weise manipulieren wollte. Er durfte es einfach nicht an sich heranlassen. Er streifte das Mitgefühl ab, das er für diesen Kerl empfand.
    Das war kein Mensch mehr. Der Verräter war nie einer gewesen. Er hatte sein Mitleid nicht verdient.
    „Im Gegensatz zu dir, können wir weglaufen, wenn wir erwischt werden.“ Er lächelte bösartig. Das Ding hatte Angst? Angst vor dem Tod? Angst vor seinem aktuellen Zustand? Das ließ sich nutzen. „Ich weiß ja nicht, was man hier mit Abschaum macht – vermutlich als Fischfutter verwenden.“ Das Etwas hörte auf zu brüllen. Stumm starrte es zurück, Panik quoll in den Augen. „Das erscheint mir doch gerecht. Oder was meinst du, Verräter?“ Edmund kicherte trocken. „Nachdem du uns auch als Fischfutter zurücklassen wolltest.“
    Es zuckte, Tränen lösten sich aus dem Auge und Verzweiflung lag darin. Es wollte sich seinem Blick entziehen, konnte es aber nicht.
    Edmund verstärkte den Druck. Er rümpfte abfällig die Nase.
    „Aber wenn du kooperierst, vergesse ich vielleicht deine Beteiligung an der Meuterei und sorge dafür, dass du dein restliches Leben nicht als Abfall fristen musst.“ Aber welches Schwein frisst schon Dreck?
    Der Verräter war verloren. Und das geschah ihm recht. Dennoch blitzte in dessen Auge etwas auf. Es versuchte zu nickten.
    Edmund bedachte den Abschaum noch eine Weile. Warum hatte er mit diesem Ding überhaupt Mitleid gehabt? Es hatte ihn verraten. Ob aus Angst. Oder Berechnung. Völlig gleich. Nun war es nichts weiter als menschlicher Abfall. Ein Insekt, das unter einem Schuh zertreten wurde.
    Er nahm die Hand weg. Blut klebte daran. Die Bewegung gab ein schmatzendes Geräusch von sich. Er nahm es ungerührt zur Kenntnis und wischte die Hand gleichgültig an Trevors Kleidung ab, ohne den Blick von dem Ding zu nehmen.
    Trevor brummte lediglich, sagte aber nichts.
    „Ich wiederhole mich nur ungern und ich rate dir, ehrlich zu sein, andernfalls platzt der Deal“, setzte Edmund neu an und konzentrierte sich auf das Auge, „Wo ist mein Schiff? Wo ist die Eleftheria?“ Zuerst musste er sichergehen, ob sich das Fernrohr noch auf dem Schiff befand.
    Der Blick des Verräters zuckte, wollte nach links oder rechts ausweichen, doch Edmund fing den Blick immer wieder ein, bis das Auge auf ihm verharrte. Ängstlich weitete es sich, starrte ihn an.
    „Sie war hier“, flüsterte es. Es klang nicht mehr wie zuvor. Nicht mehr aufgebracht, nicht mehr bösartig oder verwirrt. Nur noch heiser, nur noch abwesend, fast mechanisch. „… im Hafen. Aber Armod Metallfaust ist mir ihr weitergefahren.“
    „Wann?“
    , bohrte Edmund unbeeindruckt weiter.
    „Vor ein oder zwei Wochen schon.“
    „Warum bist du dann noch hier?“
    Bestand die Möglichkeit, dass die Eleftheria bald zurückkehrte?
    „Ich habe die Mannschaft gewechselt.“
    Einmal Verräter, immer Verräter.
    „Das sehe ich selbst!“, meinte Edmund und verschränkte erneut die Arme. „Warum“, er beugte sich etwas tiefer und starrte dem Ding ins Auge, „hast du die Mannschaft gewechselt?!“
    Es sah aus, als wollte es zurückweichen, was ihm natürlich nicht möglich war.
    „Armod hat uns tagelang auf dem Schiff suchen lassen. Wir mussten jede Planke und jedes Fass umdrehen und prüfen. Dabei hat er uns nicht mal gesagt, nach was genau wir suchen. Mit jedem Tag, den wir erfolglos waren, wurde Armod wütender. Zwei Leute hat er über Bord geworfen. Drei Leute zu tote gequält. Ich hatte Angst, dass ich der nächste bin.“
    Dann hat der Dreckskerl mich bei der Meuterei also auch aus Angst verraten… Geld hätte er noch verstanden. Aber Angst?
    „Nach deiner Leidensgeschichte habe ich nicht gefragt!“ Die Worte kamen Edmund gelangweilt von den Lippen.
    „Aber du …“, setzte das Ding an.
    Edmund unterbrach es. „Hat Armod gefunden, was er gesucht hat?“
    Das Ding schwieg und sah ihn nur an. Der Blick flackerte.
    „Ich habe dich etwas gefragt“, fauchte Edmund. Es war nicht nötig die Stimme zu heben. Es zuckte auch so zusammen. Jedenfalls so weit es sein Zustand zuließ. Dem Ding entfloh ein Stöhnen. Ob es Schmerzen spüren konnte? Vermutlich nicht. Andernfalls würde es die ganze Zeit erbärmlich schreien. Das fand Edmund durchaus schade. Er hätte es ihm gegönnt.
    „Ja“, erklang die Stimme abwesend, „hat er.“ Der Blick fokussierte sich wieder auf Edmund. Doch irgendwas in dem Auge war nun anders. Es glänzte nicht mehr. „Aber … da waren wir schon hier im Hafen. Wir wurden … angegriffen und hatten Schäden … am Schiff. Bei der Reparatur … haben Handwerker ein Kästchen gefunden.“
    Edmund entging nicht wie die Stimme kehliger wurde und wie der Atem zu rasseln begann. Offenbar lief ihm die Zeit weg.
    „Wo ist dieses Kästchen jetzt?“
    „Mein … Kapitän hat es.“

    Edmund sah auffordernd zurück. „Wer ist dein Kapitän?!“
    Kurz zuckte der Blick widerwillig, doch dann antwortete es ohne zu zögern: „Thomas von Talar.“
    Edmund ließ sich nichts anmerken.
    Das konnte nicht sein. Es war sein Auftrag gewesen, von Talar in Samira zu treffen, um ihm dort das Fernrohr zu verkaufen … Aber wenn Thomas das Kästchen bereits hatte, hatte er auch das Fernrohr. Aber warum? Sein Vater und von Talar hatten doch einen Handel.
    „Hat von Talar diesen Armod auf mein Schiff geschickt?“
    „Das weiß ich … nicht.“
    Sein Blick flackerte bei der Aussage. Es wirkte nervös.
    „Du lügst“, stellte Edmund trocken fest.
    „Armod hat … seine Pläne nie offen ausgebreitet.“
    „Aber?“,
    bohrte Edmund nach. Das Auge wollte sich von ihm losreißen. Er wollte ihm nicht antworten. Aber Edmund ließ es nicht zu.

    Der Matsch stöhnte leicht.
    „Ich habe … ihn mal mit einem seiner Leute … reden hören. Frank. Er hat von einem Magier … gesprochen. Von Talar ist Magier.“
    Das hatte nichts zu bedeuteten. Aber die Möglichkeit bestand.
    „Hat er die Kiste schon geöffnet?“
    „Ich … weiß es nicht.“

    Edmund musterte den Ausdruck in dem Auge. Es sagte die Wahrheit.
    „Du behauptest ziemlich viel nicht zu wissen.“ Er legte den Kopf schräg und bohrte den Blick in den des Dings. „Und ich weiß nicht, ob ich dir glauben will.“
    Es schluchzte. „Ich sage die Wahrheit!“
    Warum hätte von Talar einen Piraten schicken sollen? Wollte er das Geld nicht zahlen? Hatte er geglaubt, mit dem Diebstahl günstiger wegzukommen? Edmund ballte die freie Hand zur Faust. Sie wären fast gestorben.
    Edmund ging nicht darauf ein. „Du hast gesagt, Armod wäre vor zirka zwei Wochen weitergesegelt. Wo ist die Eleftheria jetzt?“
    „Ich weiß nicht, wohin er unterwegs ist.“
    Edmund packte den Kopf des Dings an den Haaren und zog ihn etwas aus dem Matsch, um sich nicht unnötig vorbeugen zu müssen. Blut tropfte in den Karren.
    „Denk dir mal etwas anderes aus!“, fuhr er es kalt an. „Ich will nicht mehr hören, dass du etwas nicht weißt!“ Er suchte im Auge des Verräters eine Antwort. Fand darin aber vor allem Furcht. „Denk nochmal nach! So bist du nutzlos für mich. Und warum sollte ich dir helfen, wenn du nutzlos bist?“ Er grinste ihm ins Gesicht. „Deine Position ist nicht die beste und du verspielst deinen Wert für mich immer weiter.“
    Es wimmerte.
    Erbärmlich…
    „Ich-“
    „Überlegen dir genau, was du jetzt sagst“
    , schlug Edmund emotionslos vor.
    Es begann zu weinen.
    „E-Es … wurde gemunkelt …, dass … er irgendwas … für den Kapitän … besorgen soll. Etwas Mächtiges… er sprach von … einem Artefakt.“
    „Besorgen für wen?!“ Edmund hob seine Stimme weiterhin nicht, sondern funkelte den Matsch nur durchdringend an. „Jetzt lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. In deinem Zustand wollen wir die Teile doch lieber da lassen, wo sie sind, oder?“ Er rückte etwas an dem Kopf, ehe er ihn fallen ließ. Schmatzend fiel der Kopf zurück. Das Ding schrie auf.
    „von… Talar…“, antwortete es dann. „Was er wollte…das Etwas…es hat etwas damit zu tun, was…in dem Kästchen…“ Es brach mitten im Satz ab und starrte ihm in die Augen. Eine Träne löste sich aus dem Augenwinkel, dann keuchte das Ding und sein Auge wurde milchig und … stumpf? Es schrie wieder und plötzlich kam Bewegung in die Masse. Stöhnend und kichernd schob sich der Menschenschleim aus dem Karren. Warum konnte er sich plötzlich bewegen?
    Trevor trat vor Edmund und er machte ihm Platz.
    Das war es dann wohl…
    Trevor stieß den Klumpen mit dem Fuß zurück in den Karren, wodurch er den letzten Rest Schädel zertrat und packte den Karren. Als würde er nur das Bett aufschütteln, bugsierte er ihn mit Inhalt ins Hafenbecken. Um genau zu sein, warf er den Schubkarren, sodass er mehrere Schritte von ihrem Schiff entfernt in die Bucht klatschte.
    Edmund sah ihm nach. Es ärgerte ihn, dass der Kerl im Grunde nichts gewusst hatte. Und nur Mutmaßungen hervorgebracht hatte, die für sie nur weitere Mutmaßungen nach sich ziehen würde. Sie hatten nichts Handfestes. Und welches Artefakt suchte Armod jetzt? Mit SEINER Eleftheria!
    „Alles gut?“
    Erst Trevors Worte rissen Edmund aus seiner Starre. Er blinzelte und rieb sich die Augen.
    Er nickte nur als Antwort. Er hatte Kopfschmerzen, ihm war schwindlig und er zitterte. Die innere Kälte fiel von ihm ab und machte dem Ekel Platz, der ihm zwar eine Gänsehaut einbrachte, aber gleichzeitig den Schweiß über Rücken und Stirn trieb.
    Abwesend fuhr er sich durch die Haare. Zu spät bemerkte er, dass es ausgerechnet die Hand war, mit der er zuvor den Kopf angehoben hatte.
    Als er die Hand betrachtete, klebten noch immer Blutreste daran und vermutlich nun auch in seinen Haaren. Dass er sich dreckig fühlte, lag jedoch nicht an dem Blut. Das juckte ihn seltsamerweise nicht.
    „Ich schau mal nach Nelli“, murmelte er tonlos und verließ ohne nochmal zu den anderen zu schauen das Deck.

    Da Nelli nicht in der Küche war, klopfte er schließlich an ihre Tür.
    „Lebst du noch?“, murrte er durch die Tür. Während er auf eine Antwort wartete, fielen ihm zweimal die Augen zu.

    Zurück am Hafen, atmete Edmund die feuchte Luft ein und stellte die Kiste vor sich auf den Boden. Auf dem Rückweg zum Schiff hatte er auf Empfehlung des Wirts vom Fetten Sack noch Nahrungsmittel gekauft. Nicht viel, aber genug für Abendessen und Frühstück.
    Erstaunlich, dass er freiwillig darüber nachdachte, für die anderen zu kochen. Das war mittlerweile schon zur Routine geworden.
    Vielleicht hätte ich von Anfang an Koch werden sollen.
    Und diesen Gedanken schob er nun auf den Restalkohol. Von dem er genau wusste, dass er nicht mehr da war. Nur das Hochgefühl und die gute Laune waren geblieben. Der Nachmittag war lustig gewesen, er endlich mal wieder unter Leuten, die nicht mit Bäumen warfen, mit Toten sprachen oder einen unheimlichen Kater mit sich herumtrugen. - Oder so verstockt waren, dass man sie für einen Baum halten konnte.
    Wie sonst ließ sich erklären, dass er beim Einkauf an die anderen gedacht hatte?
    Jetzt gebe ich mein Geld schon für andere aus.
    Neben ihm zog jemand die Luft ein. Als Edmund sich dem Mann zuwandte, stand der mit weit aufgerissenen Augen sprachlos neben ihm. Und stammelte unverständliche Wort vor sich hin. Die Beine zitterten ihm, als stünde er vor einem Nervenzusammenbruch.
    Edmund ließ ihn.
    Es war nicht leicht gewesen, einen Schiffshandwerker zu finden, der überhaupt bereit war, mit ihm mitzukommen, um das Objekt der Probleme überhaupt anschauen zu wollen. Wobei das nicht stimmte. Es gab genug, die mitkommen aber nur gaffen wollten. Die standen irgendwo hinter ihnen, in einem sicheren Abstand, damit ihnen ja niemand dieses Projekt aufhalsen konnte.
    Frechheit.
    Ihr kleiner Schrotthaufen hatte für Aufsehen gesorgt und mittlerweile seine eigene kleine Fangemeinde. Diese sorgte dafür, dass er sich von zwei Handwerkern hatte auslachen lassen müssen. Einer wollte ihm direkt ein neues Schiff andrehen – was in Anbetracht der Lage kein dummer Vorschlag war – er nach reichlicher Überlegung aber ablehnte. Ein Neues Schiff würde dauern und zu viel kosten. Und sowohl Zeit als auch Geld und vor allem seine Nerven waren endlich. Zumal er niemandem Geld in den Rachen stopfte, der ihn zuvor noch ausgelacht hatte.
    Er warf den Leuten hinter sich einen Blick zu. Diese taten augenblicklich unbeteiligt, obwohl sie zuvor noch offensichtlich geglotzt hatten.
    Der letzte Handwerker, den er an diesem Tag angesprochen hatte, japste neben ihm weiter vor sich hin. Dabei erinnerte er stark an einen Karpfen, der versuchte Fliegen aus der Luft zu schnappen. Kurz war sich Edmund nicht sicher, ob es wirklich so war.
    „Was ist das?“ Der Kerl fand seine Stimme wieder. Grauen lag darin, während er wild in Richtung Revenge gestikulierte. Edmund hob die Augenbraue.
    „Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, das ist eine Schaluppe“, Edmund wog den Kopf, „zumindest der größte Teil davon.“ Der Rest bestand aus willkürlich zusammengeschusterten Teilen anderer Dinge - und Bäumen.
    Ein Raunen ging durch die Leute hinter ihm.
    Edmund unterdrückte ein Grummeln, begann aber mit dem Fuß zu wippen.
    Aufmerksamkeit auf seine Person zu ziehen, war nicht immer hilfreich.
    Um den Leuten nichts vor den Latz zu knallen, verschränkte er die Arme und betrachtete das geraffte Rahsegel. Kam ihm das nur so vor, oder bestand es nun aus noch mehr Flicken als zuvor? Offenbar hatte es jemand geflickt. Der Tatsache geschuldet, dass es Nelli nicht dort hoch schaffte, musste es wohl Trevor gewesen sein.
    Der Handwerker stotterte sich irgendeinen Blödsinn zusammen und fuhr sich durch die Haare, während er storchbeinige über den Steg lief und das Schiff musterte. Immer wieder blieb er stehen, brabbelte etwas und schüttelte den Kopf, weinte beinahe und zog sich erneut an den Haaren. Einmal verweilte seine Hand über dem Holz des Rumpfes, dann nahm er sie jedoch weg, ohne die Wand berührt zu haben. Als ob er Angst hätte, das Schiff würde zu Staub zerfallen, wenn er es berührte.
    Zeig mal ein bisschen Respekt, du Wurst! Immerhin hatten sie das Schiff mühevoll zusammengeflickt.
    Hinter ihm vernahm er Stimmen, die entweder vor sich hinkicherten, oder abfällige Bemerkungen von sich gaben.
    Der arme Jörg. Was hat er sich da aufgehalst?
    Das will er nicht wirklich machen.
    Das Ding ist nicht mehr zu retten.
    Sind die wahnsinnig?

    Es wurden Geldwetten abgeschlossen, wann das Schiff sank. Von "noch heute Nacht" bis "zwei Tage" war alles dabei.
    Edmund wandte sich den Leuten erneut zu, die sofort mit tuscheln innehielten.
    „Verpisst euch!“, maulte er die Schaulustigen an. Mit dem Finger deutete er in Richtung der Häuser, während er die Leute nacheinander aus zusammengekniffenen Augen ansah. „Wenn ihr nichts Konstruktives beizutragen habt, dann verschwendet nicht meine Zeit mit euren Visagen und Kommentaren! Reißt eure Fressen gefälligst woanders auf!“
    Toll, nun klang er auch noch wie sein Vater.
    Immerhin dünnte sich die Menge aus. Einige flüchteten regelrecht vom Hafen, andere bedachten ihn mit einem letzten Blick, sagten aber nichts mehr, ehe sie ebenfalls verschwanden, um irgendwo anders Maulaffenfeil zu halten.
    „Ä…ähm…“, meldete sich hinter ihm der Handwerker zu Wort. Als sich Edmund wieder an ihn wandte, stand er da, als hätte er sich eingeschissen und schämte sich dafür.
    „Was?!“
    Der Kerl duckte sich unter seinem Blick weg, ehe er die Schultern raffte und sich zu seiner vollen Größe aufbaute, mit der er gut an Trevor heranreichte.
    „Ich habe noch nie so etwas Furchtbares gesehen. Eigentlich hättet Ihr schon längst sinken müssen. Ein Wunder, dass Ihr es hierher geschafft habt.“
    Edmund unterdrückte den Impuls den Kerl vom Steg ins Hafenbecken zu treten. Alle taten so, als hätte er selbst keine Augen im Kopf. Er wusste, dass das Schiff ein einziger Flicken war, aber immerhin hatten sie es zusammengebaut. Und es hatte bis zu den Inseln gehalten. In einem Seegebiet, gegen das schon andere Schiffe versagt hatten.
    Unterm Strich doch keine schlechte Bilanz.
    „Könnt Ihr jetzt helfen, oder nicht?“, zischte er.
    Der Handwerker sah ihn an als hätte er Möwenscheiße im Gesicht.
    „Das … das ist kein Schiff.“
    Es war ein schwimmender Sarg! Und das wussten sie alle! Aber dieser schwimmende Sarg tat dennoch das, was er sollte. Er schwamm! Und das sehr offensichtlich vor ihnen im Hafenbecken!
    „Der Fachmann seid Ihr und ich nur der Kunde…“ Edmund beruhigte sich. So kam er nicht weiter. Wenn er wollte, dass sich jemand dem Schiff widmete, dann brachte herumschreien nichts. Deshalb zuckte er die Schultern. „…Aber es hat einen Rumpf, einen Mast, Segel, Ruder und es liegt auf dem Wasser. Ich würde sagen, es ist ein Schiff.“
    Der Mann bedachte ihn wieder mit diesem Blick, als fürchte er, dass Edmund den Verstand irgendwo auf See verloren hatte. Wahrscheinlich hockte der Bastard wirklich noch auf der Insel fest.
    „Ihr solltet Euch ein neues Schiff kaufen.“
    Edmund verdrehte die Augen. Spielen die hier alle die gleiche Melodie immer und immer wieder? Er musste irgendwie die Eleftheria wiederfinden. Wenn er seinen Vater enttäuschte, dann …
    „Ich habe weder Lust noch Zeit mir in dieser Stadt die Beine in den Bauch zu stehen und zu warten, bis ein neues Schiff fertig ist.“ Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Aber ich verstehe das natürlich. Das ist eine schwierige Aufgabe und ich kann nachvollziehen, dass Ihr Euch dem nicht gewachsen seht“, er lächelte den Typen an und suchte seinen Augenkontakt. „Ich werde wohl also nach einem fähigeren Handwerker suchen müssen.“ Der Kerl zuckte zusammen, starrte ihm in die Augen und begann zu schwitzen. Edmund blickte zurück. Ein Bad im Hafenbecken würde dem Kerl nicht schaden … und dort stank es nach Algen! Aber immerhin nicht nach Schweiß! Dennoch lächelte er freundlich, bis der Kerl seinem Blick hüstelnd auswich. Er räusperte sich.

    „Ich werde morgen mit meinem Partner wiederkommen. Er hat Erfahrung mit … schweren Fällen. Wir schauen uns das Schiff dann nochmal gemeinsam an.“

    Edmund war zufrieden. „Dann sind wir im Geschäft?“
    Der Mann nickte langsam und betrachtete das Schiff bedauernd. So glücklich sah er nicht aus. Eher überrascht über seine eigenen Worte und seine Entscheidung. Selbst Schuld! „Scheint so.“
    „Prima.“ Edmund bückte sich nach der kleinen Kiste. „Dann bis morgen.“
    Mit diesen Worten ließ er den Blödmann einfach stehen und lief über die Rampe an Deck. Er wollte Trevor Bescheid geben. Denn im Grunde war es dessen Schiff.
    Allerdings lief er erst Esther über den Weg, die offenbar an der Reling gestanden hatte. Wie viel sie von allem mitbekommen hatte, wusste er nicht. Und es war ihm auch egal.
    Er musterte Esther nachdenklich. Etwas an ihr war anders. Sie sah anders aus. Aufrechter. Als hätte sie jemand an einem Faden hochgezogen oder den Stock in ihrem Hintern zurechtgeschoben. Sie ging jedenfalls noch ein gutes Stück selbstbewusster, als sie es wohl vom Hof gewohnt war.
    „Schicke Robe“, meinte er dann. „Die Farbe schmeichelt deinen Augen.“ Und vor allem seinen Augen. Was viel wichtiger war.
    Esther sah nachdenklich an sich herunter und lächelte dann.
    „Danke ... Ist es nicht ... zu viel?“
    Zu viel? Er war verwirrt. Was meinte sie denn nun? Zu viel von was? Dunkle Farben? Muster? Ärmel? Hosen? Leder? Da wollte er einmal höflich sein und sie löcherte ihn mit Fragen, auf die er keine Antwort wusste.
    „Zu viel was? Stoff? Für meinen Geschmack, definitiv“, meinte er mit einem Grinsen.
    Esther verengte die Augen.
    Das war dann wohl die falsche Antwort. Dabei war das doch nicht böse gemeint! Dass sie sich immer bis oben zuknöpfte musste nicht sein. Er wollte es gerade klar stellen, doch Esther kam ihm zuvor.
    „Ich wollte wissen, ob der Aufzug lächerlich aussieht ... aber es wundert mich nicht, dass du in eine andere Richtung denkst.“
    Definitiv die falsche Antwort. Und schon war sie wieder zickig. Wie immer. Aber diesmal würde er sich seine Laune nicht von ihr verderben lassen. Nur weil Esther humorlos durchs Leben ging und sie von Anfang an etwas gegen ihn hatte, dabei hatte er ihr nicht einmal einen Anlass dazu gegeben.

    Jetzt nehme ich hier nichts mehr zurück! Schlimm genug, dass er es in Erwägung gezogen hatte.
    „Würdest du lächerlich aussehen, hätte ich dir sicherlich kein Kompliment gemacht“, fuhr er sie deshalb an. So viel dazu, dass er sich die gute Laune nicht kaputt machen lassen wollte. Von Null auf hundert reichte eine Esther. Selbst das Gemurmel der Leute hatte er sich länger angehört.
    Esther verstummte.
    Er trat an ihr vorbei an Deck und bemerkte dabei, wie sie verlegen lächelte und sich eine Haarsträhne zurückstrich.
    Was denn jetzt? War es Zeit zu rennen? Irgendwie wurde er nicht schau aus ihr.
    „Ich bin mir nicht sicher, ob ich Gegenstand deiner ... Phantasie sein möchte. Dennoch ... Dein Kompliment bedeutet mir viel.“
    Schon war er wieder verwirrt. Erst war sie verlegen, dann sauer, dann wieder verlegen... Hatte Esther ihre Tage?
    Was denn für Phantasien? „Für sowas bleiben nur du und Nelli. Und da fällt die Wahl nicht schwer.“ Und Trevor. Aber da schmerzte schon eine Phantasie. Die Vorstellung von Nelli ließ ihn würgen. Und Esther war in etwa so erotisch wie eine Hand voll Matsch. Die Wahl fiel also auf keinen!
    Aber gut zu wissen, was sie von ihm dachte. Hatte er ihr je einen Anlass dafür gegeben?
    Von welchen Phantasien sprach sie überhaupt?
    Er kniff nachdenklich die Augen zusammen, während Esther die Arme verschränkte und ihn ihrerseits musterte. Ehe ein leichtes Schmunzeln an ihren Lippen zupfte.
    Das ist dann der Moment, in dem es unheimlich wird!
    „Ich könnte Nelli darum bitten, dass sie sich wieder jung macht. Was hältst du davon?“
    Sag ich ja, unheimlich!
    Hatte Esther tatsächlich gerade einen Witz gemacht? Keinen guten, aber vielleicht war doch nicht alles verloren?
    Auch wenn ihm bei dem Gedanken an Nelli und wie sie damals auf der Eleftheria plötzlich in seiner Küche gestanden hatte, eine Gänsehaut überkam, musterte er Esther mit zusammengekniffenen Augen über die Kiste in seinen Armen hinweg. Sie sagte nichts. Er sah sie nur an.
    Das war nicht von ihr beabsichtigt gewesen. Auf keinen Fall.
    Esthers Gesicht zeigte zunehmend Verunsicherung, weshalb er den Kopf zur Seite legte.
    „Nichts“, meinte er daher vorsichtig.
    „Wirklich? Ich bin mir sicher, Nelli hätte ihren Spaß dabei und du könntest deine ... Phantasie ausleben?“
    Dass Nelli ihren Spaß hätte bezweifelte er nicht. Sie hatte an allem ihren Spaß, bei dem er litt. Und da würde er leiden. Er litt schon bei der Erinnerung daran.
    Aber was sollte das jetzt werden? Nahm sie es ihm noch übel und wollte ihn in die Falle locken? Oder lenkte sie nun das Gespräch wirklich in diese Richtung? Aber warum? Und was war ihr Problem mit irgendwelchen Phantasien?
    „Offenbar willst du, dass ich an Albträumen leide.“ Er wog den Kopf und rückte die Kiste in seinen Armen zurecht. So langsam wurde dieses dumme Ding schwer.
    „Nein. Ich will nur verhindern, dass ich Gegenstand deiner Phantasien werde.“
    Jetzt musste Edmund doch lachen. Wenn sie weiterhin auf diesem Thema herumritt, dann war sie selbst schuld. Als wäre Esther jemals in der Lage Gegenstand seiner Phantasien zu sein. Bildete sie sich das wirklich ein, oder meinte sie das im Scherz? Da Esther nicht in der Lage dafür war, Witze zu reißen, musste sie das ernst meinen. Als müsste er sich Dinge zurechtträumen. So nötig hatte er es nicht. Davon abgesehen war Esther kein Stück erotisch.
    „Das kannst du wohl kaum verhindern“, witzelte er dennoch. Wenn sie das Spiel spielen wollte: Bitte!
    „Sei dir da nicht zu sicher“, Esther stürzte die Lippen, „Aber gut, dann lasse ich dir mal deine Phantasien ... Nicht, das du vor lauter Albträumen nicht mehr schlafen kannst.“ Sie zwinkerte, was irgendwie komisch aussah und dafür sorgte, dass er nur die Augenbraue hob.
    „Ich wüsste noch andere Sachen, die mich nicht schlafen lassen würden. Uns beide nicht“, gab er säuselnd von sich.
    „Träum weiter.“ Sie verschränkte die Arme.
    „Von uns beiden?“ Er lachte amüsiert. „Liebend gerne!“
    So alt kann ich gar nicht werden, wie ich sein müsste, um so langweilig zu sein. Aber hey, besser als die Albträume, die ihn jede Nacht quälten. Der Grund, warum er bisher an jedem Geschäft, das Waffen verkaufte, vorbeigelaufen war. Wobei. Die Vorstellung an Esther half vielleicht beim Einschlafen.
    Mit seinem Grinsen trat er an Esther vorbei, die verstummt war und ihn betäubt anglotzte. Auf Esthers Höhe raunte er ihr beim Vorbeigehen noch zu: „In meinen Träumen bist du im Übrigen nackt.“ Warum Zeit mit ihr verschwenden, wenn andere nicht nur Vorstellung blieben? Aber der entsetzte Aufdruck in ihrem Gesicht war Trevors Gewicht in Gold wert. Er lachte heiter.
    Dass Esther ihm dafür eine Ohrfeige verpasste, hatte er jedoch nicht erwartet. Bei jeder anderen ja, aber bei Esther nicht. Dementsprechend glotzte er sie einen Moment verwirrt an. Esther stand der Zorn hochrot zu Kopf, dennoch schien sie nicht weniger überrascht, als sie auf ihre Hand blickte. In seinem Gesicht wiederum spürte er lediglich ein Kribbeln.
    Sieh an, die ewige Jungfer hat sogar verstanden, um was es ging.
    Er musste erneut lachen.
    „Und ich dachte, heute wärst du locker genug, damit ich dich endlich in mein Bett locken kann“, witzelte er weiter. Wofür sie ihm direkt noch eine verpasste. So langsam kam Esther in Fahrt.
    „Ich habe-“, weiter kam er nicht, da ihm Esther noch eine dritte Schelle verpasste. Was ihn aber nur noch lauter lachen ließ.
    „Noch ein Kommentar und ich werfe dich über Bord!“ Esthers Hand zuckte bereits gefährlich zu ihrem Zauberstab. Was Edmund mit einer erhobenen Augenbraue zur Kenntnis nahm. An Drohungen musste sie noch arbeiten, denn ihr Gesichtsausdruck, der jede Tomate vor Neid hätte erblassen lassen, wirkte eher lächerlich, anstatt gefährlich.
    Der Anblick trieb ihm die Lachtränen in die Augen. Als ob ihn eine Ohrfeige – oder drei – schaden würden.
    „Ist ja gut, du Spaßbremse“, meinte er. „Mit dir würde man sich sowieso nicht amüsieren. Keine Ahnung, woher du die Überzeugung und das Selbstbewusstsein nimmst, ich könnte mir etwas mit dir vorstellen.“ Gut, das war vielleicht etwas hart formuliert. Aber nun mal die Wahrheit. Selbst Schuld, wenn sie ihm irgendwelche Phantasien einredete! Als hatten sie keine anderen Probleme! Schön zu wissen, wie und was sie über ihn dachte.

    Den vierten Schlag sah er kommen und drehte sich elegant von Esther weg. Diese rümpfte die Nase und lief ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei.
    Natürlich. Nun war er wieder der Böse, obwohl sie damit begonnen hatte, ihm irgendwelche Motive in die Schuh zu schieben.
    Er wollte ihr nach, unter Deck, um endlich diese elende Kiste abzustellen, blieb aber verwirrt vor Trevor stehen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Der musterte ihn mit erhobener Augenbraue und das „Was war das denn?“ schwebte regelrecht zwischen ihnen, ohne, dass es einer von ihnen aussprechen musste.
    „Guck nicht so“, Edmund verdrehte die Augen, „diesmal habe nicht ich angefangen.“ Er zuckte die Schultern und wollte an Trevor vorbei. Humor war keine höfische Erziehungsmethode. In seiner eigenen Erziehung hatte das auch keinen Platz gefunden. Allerdings bildete er sich ein, dass es bei ihm nicht ganz so schlimm war. Oder? Er konnte nicht behaupten, dass er die letzten Jahre sonderlich viel zu lachen gehabt hätte. Da hatte er auf der Insel und mit den anderen in den paar Wochen mehr Spaß gehabt.
    Nur vielleicht teilte Esther seinen Humor nicht. Oder überhaupt irgendwelchen. Musste er sich jetzt entschuldigen? Es waren doch ihre Unterstellungen gewesen!
    Sag ja, anziehend wie ein Sack Sägemehl.
    „Esther wollte dich eigentlich gerade suchen gehen“, meinte Trevor, „und jetzt schien sie ziemlich sauer.“ Er schob sich in seinen Weg und musterte ihn kritisierend. Es war klar, dass zwischen den Worten eine Botschaft lag. Das konnte er an Trevors Blick erkennen.
    Edmund legte seufzend den Kopf in den Nacken.
    „Ja“, meinte er gedehnt. „Ich schau, dass ich mich bei ihr entschuldige“, irgendwann, vielleicht, aber eher nicht, „ist der Herr damit zufrieden?“
    Trevor musterte ihn, als wusste er genau, dass Edmund nicht vorhatte, sich wirklich zu entschuldigen. Er sagte jedoch nichts mehr, was schlimmer war als jede Zurechtweisung.
    Ist ja gut, ich werde mich entschuldigen… Und wer entschuldigte sich bei ihm? Er hatte mit dem Thema doch nicht mal angefangen?!
    „Weshalb hat Esther mich suchen wollen?“, bohrte er nach, um das Thema zu wechseln.
    Trevor bedachte ihn noch einen Moment, als wollte er sichergehen, dass Edmund die stumme Botschaft wirklich verstanden hatte. Dann wurde er noch ernster.
    „Es geht um dein Schiff.“
    „Die Revenge gehört dir. Ich habe mich schon um einen Handwerker gekümmert. Ihr könntet auch was machen.“

    Trevor musterte ihn durchdringend.
    „Ich meinte ja auch nicht die Revenge, sondern die Eleftheria.“ Damit hatte er seine Aufmerksamkeit. „Esther hat einen der Matrosen aufgespürt, die bei der Meuterei dabei gewesen waren.“ Das wischte ihm das Grinsen aus dem Gesicht. Er krampfte die Finger um die Kiste. Mit einem Mal war auch der letzte Rest guter Laune aus seinem Kopf verschwunden.
    „Wo?“, wollte er wissen. Wenn einer dieser Piraten hier war, dann vielleicht auch die anderen? Vielleicht war das Fernrohr hier? Oder die Eleftheria? Oder er wusste, wo sich beides befand?
    Trevor deutete den Hafen hinab in eine Richtung und faste zusammen, was Esther gesehen und gehört hatte und faselte irgendwas von einem Schiff namens Telara. Edmund folgte seiner Beschreibung. Die Eleftheria war also nicht im Hafen. Wie wahrscheinlich war es da, dass das Fernrohr hier war? Sicherlich hatte es nicht dieser eine Matrose bei sich. Hatten sie es überhaupt gefunden? Was sollte er jetzt machen?
    Scheiße!
    Zu gerne wäre er losgelaufen und hätte den Kerl zur Rede gestellt. Aber er hatte ja noch nicht mal mehr eine Waffe! Und selbst wenn, stand er sich damit nur selbst im Weg.
    Mit Gewalt würde er rein gar nichts erreichen. Zumal er selbst nicht für Gewalt taugte. Das hatte die Meuterei wohl eindrucksvoll bewiesen.
    Edmund folgte Trevor unter Deck in die Küche, wo er endlich die Kiste mit den Vorräten abstellte. In der schlichten Küche stieß er auf Nelli. Und auch André saß mit Wilmor in einer der Ecken. Der "Kerl" war also auch noch da. Je intensiver er den Matrosen musterte, desto sicherer war er sich, dass etwas nicht stimmte. Aber solang er nicht von allein kam... Seis drum.
    Darum konnten sie sich auch später kümmern.
    Trevor lehnte sich an den Türrahmen und blickte finster in die Küche.
    „Wie ich sehe, weiß er Bescheid“, meinte Nelli, nachdem Edmund die Kiste auf den Tisch geknallt hatte und diese finster betrachtete. Also wusste die Alte auch Bescheid. Wahrscheinlich wusste sogar der Kater mehr als er! Warum erfuhr er eigentlich immer alles als letzter?
    Weil du nicht zugehört hast!
    „Was machen wir jetzt?“, wollte Nelli wissen. Edmund runzelte die Stirn.
    Wir? Es war sein Schiff. Die anderen hatte damit eigentlich nichts zu tun.
    „Ich konnte aus ihm nichts rausbekommen.“ Esther betrat ebenfalls die Küche. Sie wich seinem Blick auf und setzte sich betont weit weg von ihm an den Tisch nieder.
    Edmund seufzte genervt.
    „Ihr müsst euch da nicht mit reinhängen, das ist – "
    „-auch unser Problem“,
    fuhr ihm Nelli augenblicklich über den Mund.
    „Ich habe auch noch ein Hühnchen mit denen zu rupfen“, stimmte Trevor ihr zu.
    Esther nickte langsam.
    Edmund wollte protestieren, schwieg aber. Im Grunde hatte er ja gewusst, dass die anderen ebenfalls ihren Zorn auf die Mannschaft hegten. Und sie hatten gesagt, dass sie ihn unterstützten. Aber es war dennoch irgendwie beruhigend, dass sie es wirklich taten. Zugeben würde er es jedoch nicht. Niemals.
    „Jemand noch Hunger?“, fragte er deshalb in die Runde. Trevor und André hatten mit ihm bereits gegessen, aber er wusste nicht, wie es bei Nelli und Esther aussah. Und er brauchte Ablenkung und etwas, womit er seine Hände beschäftigen konnte. Ohne loszurennen und diesem Piraten in den Arsch zu treten.
    Trevor nickte. André zuckte die Schultern, schien aber nicht abgeneigt.
    „Kann ich dir dabei helfen?", bot Nelli an. In seine Gedanken vertieft, zuckte Edmund nur die Schultern. Was sollten sie als nächstes machen?
    Nelli reihte sich neben ihm ein und begann das Gemüse aus der Kiste zu nehmen und es zu waschen. Und sie übernahm direkt die Aufgabe, die er am meisten hasste, weil es ihm die Tränen in die Augen trieb: Zwiebeln schneiden.
    Auch André bot sich – zwar widerwillig – an, beim Schneiden zu helfen. André bekam die Kartoffeln zum Schäle. Noch so eine Aufgabe, die Edmund hasste.
    „Das ist zu groß!“, murrte er bei einem Blick auf die Zwiebelstücke, die Nelli ihm reichte. Ohne zu widersprechen, schnippelte sie nochmal an der Zwiebel. „Jetzt ist es viel zu klein!“ Diesmal motzte er und nahm ihr das Messer aus der Hand, um es sauer in eines der Schneitbretter zu stoßen. Sein Blick glitt zu André. Doch über das Gehacke von ihm wollte er sich nicht aufregen. Was vor allem an dem bösen Blick des Katers lag. Außerdem wollte Edmund keine Bekanntschaft mit dem Messer machen, so wie Wilmor.
    „Willst du es mir vormachen?“ Nelli hob die Augenbrauen.
    „Ich mach das selbst!“, meinte er, sah das Messer aber nur düster an. Was machte der Pirat hier? Wer war seine neue Crew und warum hatte er die alte verlassen? Wer war es? Einer von denen, die seine Mannschaft gemeuchelt hatten? Er schluckte. Das ganze Blut war wieder in seinem Kopf, vor seinen Augen. Vielleicht sollte er sich doch wieder bewaffnen. Von allen in ihrer kleinen Gemeinschaft konnte er sich am wenigsten wehren. Selbst Nelli war mit ihrem Stock und den Tränken bedrohlicher. Wenn schon keinen Degen, dann vielleicht ein Messer oder einen Dolch?
    „Wie du meinst, Edmund. Ich kann auch das Wasser umrühren, da kann ich nicht so viel falsch machen“, hörte er Nelli sagen.
    „Wie wollen ja nicht, dass es heißer wird als du“, meinte er abwesend und tippte mit dem Finger auf die Arbeitsfläche.
    „Also lauwarm?“
    „Es sollte wenigstens kochen“
    , gab er erneut von sich, ohne auf Nelli zu achten. Was quatschte sie ihm nun Tomaten auf die Ohren?
    „Oh, Wasser zum Kochen bringen, kann ich.“
    „Hervorragend.“
    Er nahm das Messer wieder in die Hand, schob alles in einen anderen Topf und briet das Gemüse an. André reichte ihm die Möhren, die er mit einem kurzen genervten Blick zur Kenntnis nahm. Was war der Typ? Schlachter?
    Nelli verdrehte die Augen, kümmerte sich aber um das Wasser. In der Küche breitete sich ein tiefes Schweigen aus, während jeder seinen eigenen Gedanken nachhing und versuchte, einen Plan zu schmieden.
    „Schicke Kleidung im Übrigen“, meinte er schließlich und begann an einer Möhre herumzuschnippeln. „Passt besser als der Stoffriedhof, den du vorher spazieren getragen hast. So ist wenigstens nur noch der Inhalt überreif.“
    „Ich dachte, ich tu mal was, damit ich mir dein Gemecker nicht mehr anhören muss. Außerdem hätte nicht viel gefehlt und ich hätte beim nächsten Windstoß nackt dagestanden. Und gegen Blindheit habe ich leider keinen Trank für euch.“

    Bei der Vorstellung schüttelte es ihn.
    „Plan: Wir werfen dich nackt auf das Schiff und warten, was passiert.“
    Trevor lachte lauthals auf, und lockerte damit die Atmosphäre im Raum „Das wird eingefleischte Seemänner nicht abschrecken. Allein ich habe Dinge gesehen, Edmund … Dinge.“ Dabei weitete er theatralisch die Augen. Die Stimmung kühlte ab und Edmund bekam das Gefühl, dass sie das schon irgendwie schafften. Das hatten sie doch bisher auch. Was war es da, den Piraten - oder zumindest einem davon - zu begegnen. Die Meuterei lag Wochen zurück.
    „Ich hatte Einblicke in den Rachen eines Kraken. Erzähl du mir mal nichts.“
    „Das Wasser kocht“,
    mischte sich Nelli schmunzelnd ein und deutete auf den Topf.
    „Das ist schön für das Wasser. Aber ich brauche gar kein kochendes Wasser.“ Er schob die Möhre in einen anderen Topf und schmorrte das Gemüse mit den anderen Sachen.
    „Aber…“, setzte Nelli an, musterte ihn und grinste dann, „Schön die alte Frau bespaßen. Du hättest auch sagen können, dass ich mich einfach wieder hinsetzen soll.“
    Edmund zuckte die Schultern.
    „Wenn das Wasser schon mal kocht, dachte ich, kannst du auch einfach Tee machen.“
    Nelli schüttelte lachend den Kopf.
    „Gut, mache ich eben Tee.“ Sie beugte sich nach dem Fach mit ihren Kräutern. Das Sie offenkundig gefüllt hatte. Zumindest kam ihm ein angenehmer Duft entgegen. „Im Übrigen ist deine neue Kleidung auch gut gewählt.“
    „Natürlich ist sie das!“

    Im Hintergrund hörte er Esther irgendwas zischen. Offenbar nahm sie es ihm immer noch übel, dass er versucht hatte, ihr ein Kompliment zu machen. Warum drückte sie sich auch nicht deutlicher aus? Nun musste er sich bei ihr entschuldigen und er wusste nicht mal wie…
    „Sie steht dir. Vor allem die Farben.“
    „Schwarz und Gold sind keine Farben.“
    Nelli verdrehte die Augen. „Aber selbst elegante Kleidung kann nicht verstecken, dass du ein Klugscheißer bist.“
    Sie diskutierten noch eine Weile hin und her, während das Essen garte und briet und André irgendwie zwischen ihnen stand. Völlig fehl am Platz.

    Erst, als Edmund alles auf den Tisch stellte, setzten sie sich und überlegten, während dem Essen, wie sie nun gegen den Piraten vorgehen wollten.
    „Wir sollten Aufmerksamkeit vermeiden“, meinte Esther. Es war das erste mal seit einer halben Stunde, dass sie etwas sagte. Klang sie noch immer sauer?
    Edmund hob die Augenbrauen. „Oh ja, weil wir darin so gut sind. Wir fallen quasi gar nicht auf. Wollt ihr wissen, wie die Leute über uns reden, ehe sie vor lachen zusammenbrechen? Allem voran, die Handwerker bei denen ich schon war?“
    „Wir wissen nicht, welchen Rattenschwanz es nach sich zieht, wenn wir das Schiff einfach stürmen“, gab Trevor von sich. „Wir sollten also nicht blindlings reinstürmen.“ Offenbar wollte er es vermeiden, dass jemand von ihnen verletzt wurde. Was Edmund begrüßte. Er hatte auch nicht vor zuzulassen, dass sich einer von ihnen verletzte. Vor allem die anderen.
    Er zuckte die Schultern.
    „Oder wir nutzen es aus, dass wir eh schon Aufmerksamkeit auf uns ziehen… oder zumindest unser Schiff.“

    Eigentlich hatte Edmund vorgehabt, sich um einen Handwerker zu kümmern, der die Löcher in der Revenge flickte. Bestenfalls mit Fachwissen und Material, das nicht gammelte oder schon beim Anschauen zerfiel. Ihr Schiff – wenn man es überhaupt so nennen wollte – sah sowieso schon aus, als hätte es ein impulsives Kleinkind zusammengenagelt und anschließend als Zielscheibe genutzt. Mehr Schrott als Schiff.
    Aber Kleidung, eine Rasur und ein Haarschnitt mit Bad waren wichtiger. So viel wichtiger als ein Schiff, das ihnen kaum jemand klauen würde. Und wenn doch, tat ihm der arme Trottel jetzt schon leid.
    „Du träumst“, hauchte ihm die Stimme der Frau ins Ohr, die hinter ihm hockte. Sie zupfte an seinen Locken und schnitt ab, was an die Verwilderung auf der Insel erinnerte. Oder zumindest, was sie dafür hielt. Es gefiel ihm nicht, ihr zu vertrauen. Und keinen Spiegel zu haben. „Ich hoffe doch von mir?“
    Das Nein lag ihm bereits auf der Zunge. So gut, war sie auch nicht gewesen, dass er auch noch von ihr träumen musste. Er verkniff es sich.
    Reize niemals eine Frau, die mit einer Klinge in der Nähe deines Halses hantiert.
    „Natürlich“, log er, setzte sein charmantestes Lächeln auf und warf ihr einen Blick über die Schulter zu. Das heiße Wasser aus der warmen Quelle ließ ihre Wangen rötlich schimmern, ebenso die vollen roten Lippen. Der Rest ihres Körpers verschwand leider zwischen einem Vorhang brauner Haare. Allerdings hatte er genug gesehen, um zu wissen, dass sie ganz passabel aussah. Nichts, was er später nochmal anfassen würde und vor allem nichts, von dem er träumte. Was ein abwegiger Gedanke.
    „Dann wirst du jetzt dein Schiff zurückholen, richtig?“ Die zweite Brünette neben ihm legte den Kopf schräg auf ihre Arme auf dem Quellenrand und sah ihn verträumt aus ihren blauen Augen an. Sie trieb auf der Wasseroberfläche und bewegte leicht die Füße. Er wandte den Blick über ihren Rücken hinweg ab, bei dem sich die Wirbel unter der Haut sanft abzeichneten. Auch akzeptabel. Mehr nicht. Aber von der Tochter eines Schneiders, die ihm eigentlich nur seine neue Kleidung ins Badehaus hatte bringen sollen, war auch nicht mehr zu erwarten. Aber wer war er, sich zu beklagen? Ihren Namen hatte sie ihm auch genannt. Irgendwas mit einem A am Ende. Auch egal. Der Einfachheit halber war sie einfach Blauauge.
    „Ja“, meinte er abwesend und suchte mit den Augen den Raum ab. Seine Kleidung lag keine drei Schritte entfernt. So langsam sollte er verschwinden. Die beiden quasselten ihm sonst noch den Schmalz aus den Ohren.
    „Ich bin fertig“, meinte die Brünette hinter ihm. Auch ihr Name endete auf irgendwas mit E. Als ob er sich die Arbeit machen würde, sich diesen zu merken.
    E-Irgendwas legte die Schere weg, beugte sich vor, legte den Kopf auf seine Schulter und strich ihm über die Brust.
    Der Fluchtinstinkt, der ihn dabei ereilte, war in etwa so groß, wie die Angst, dass Esther nochmal auf die Idee kam zu kochen. Verdammt groß!
    Was war er? Eine Puppe, die man nach Lust und Laune antatschen konnte?
    E-Irgendwas seufzte zufrieden und schmiegt sich an ihn.
    Wie aufdringlich konnte man sein?
    „Es muss zauberhaft sein, mit seinen Freunden über das blaue Meer zu fahren“, meinte Blauauge mit leuchtenden Augen.
    Ja, zauberhaft, das war auch der Ausdruck, den er für die Tortur der letzten Monate wählen würde.
    Edmund streckte sich, entzog sich der Berührung und stieg aus dem Wasser. E-Irgendwas schmollte, lehnte sich dann aber an den Rand neben Blauauge.
    Beide beobachteten ihn.
    Er genoss es. Alles andere wäre gelogen gewesen. Auch wenn er aussah wie eine Scheibe Weißbrot, bei der man beim Grillen die Hälfte vergessen hatte. Er hätte das Hemd doch ausziehen sollen! Oder im Schatten bleiben! Oder sich komplett verhüllen sollen! Neben den vielen Schwielen an den Händen war er jetzt auch noch braun wie ein Arbeiter! Zumindest an den Armen. Zum Teufel mit dieser zugeschissenen Insel voller Kannibalen!
    Toll, nun genoss er es nicht mehr, von den beiden angeglotzt zu werden.
    Verhüllen war eine herausragend gute Idee.
    „Es ist bemerkenswert, dass ihr es geschafft habt, nur zu viert mit einem Schiff bis hierher zu segeln“, meinte Irgendwas mit E, „ihr seid wahrlich unglaublich.“
    „Seine Freunde sind schon okay, aber ohne Edmund wären sie doch nie so weit gekommen“, schwärmte Blauauge. „Vater sagt immer, man braucht einen hervorragenden Navigator, um durch die Stürme und die vielen Riffe zu kommen.“
    Endlich erkannte mal jemand sein Können an! Auch wenn es eine unwissende Schneiderstochter war und ihr Vater wahrscheinlich nicht mehr vom Meer kannte, als der Blick aus dem Klofenster! Naja, er nahm, was er bekommen konnte. So tief war er inzwischen gesunken.
    Edmund klaubte die schwarze Hose von einem Stapel und schlüpfte hinein. Sie passte perfekt, ebenso wie das weiße Hemd. Immerhin sein Handwerk verstand der Schneider.
    „Gehst du zurück zu deinen Freunden?“ Irgendwas mit E am Ende sah ihn neugierig an.
    Und wieder verleiteten ihre Worte ihn dazu, Nein zu sagen. Die anderen waren nicht seine Freunde. Trevor vielleicht. Der Rest war nerviger als in einem Ameisennest zu sitzen.
    „Erstmal muss ich etwas essen.“ Und er brauchte Wein. Viel davon, um die letzten Wochen und seine „Freunde“ zu vergessen. „Ihr habt nicht zufällig eine Empfehlung?“ Er lächelte die beiden Frauen an. Erfreulicherweise erröteten sie. Sein Aussehen machte also doch noch Eindruck. Zuletzt war er sich bei seinen versteiften Wegbegleitern nicht mehr so sicher gewesen. Vielleicht wirkte man aber auch nur gewaschen nicht mehr wie ein Streuner.
    „Ein Freund meines Vaters hat ein Gasthaus“, meinte Blauauge, Zum Goldenen Pfau heißt es. Vater schwärmt von dem Wildbraten und dem Wein da.“
    Irgendwas mit E am Ende nickte zustimmend. Wild und Wein klangen gut. Nach den langen Wochen voller Fisch, und Obst eine willkommene Abwechslung. Katze hatte er ja nicht bekommen.
    „Hervorragend.“ Edmund knöpfte die Weste zu und zog sich das neue Jackett mit den goldenen Stickereien über. Der schwarze Stoff war ebenso wie die Hose deutlich robuster als seine letzte Kleidung und hielt hoffentlich mehr aus.
    „Sagt mal, gibt es hier in der Nähe einen Händler, der auch Bücher verkauft?“
    Er wollte schauen, ob er Lektüre über das Wetter fand. Wenn er weiter den Navigator mimen wollte, war etwas mehr Wissen bezüglich der Stürme hilfreich. Vielleicht konnte ihm auch jemand sagen, in welcher Ecke dieses Seegebietes, die meisten Stürme auftrafen.
    Blauauge wog den Kopf.
    „Versuch‘ es mal bei Karls, der hat eine der größeren Sammlungen, andernfalls bleibt nur noch der Bürgermeister übrig“, sagte E-Irgendwas. Etwas Bedrücktes lag in ihrem Gesicht. Edmund hob die Augenbrauen.
    „Du kannst ihn nicht zum Bürgermeister schicken.“ Blauauge schien besorgt. Das klang ja schon wieder erbauend. Sie sah wieder zu Edmund. „Er ist ziemlich … verschlossen, lässt sich nie blicken, schickt immer nur seine Männer aus und würde wohl auch keines seiner Bücher verkaufen. Er ist…“
    „… kein sonderlich netter Mensch“
    , ergänzte E.
    Beide Frauen verzogen das Gesicht.
    Na dann, hineinhängen würde er sich da sicherlich nicht. Er hatte selbst genug Probleme, da brauchte er nicht noch mehr. Und einen „nicht sonderlich netten Mensch“ hatte er bereits daheim sitzen. Blieb zu hoffen, dass er bei dem Händler Karls Glück hatte.
    Es ließt sich an einer Hand abzählen, wann er das letzte Mal Glück gehabt hatte.
    Keine erfreulichen Aussichten.
    „Wie heißt der Bürgermeister denn?“ Nur für den Fall, dass er dem Clown begegnete.
    „Bürgermeister Rainer Karl von Kopf.“
    „Der Kerl heißt …“, Edmund fuhr sich über die Schläfen. „Gut, das werde ich mir merken können.“ Kein Wunder war der Kerl kein netter Mensch. Bei dem Namen? Ob der Karl auch kahl war? Reiner Glatzkopf.
    „Edmund?“, Blauauge schmollte ihn von unten an wie ein treudoofer Köter, „wenn uns die Sehnsucht packt, bist du dann heute Abend noch im Goldenen Pfau?“
    „Klar“
    , log er prompt und lächelte. Sollten sie doch Sehnsucht haben. Mehr als von weiten würden sie ihn nicht mehr bewundern dürfen. Es sei denn, er fand niemanden neuen. Was unwahrscheinlich war.
    Er schnappte sich seine restlichen Sachen – die traurigerweise nur aus zwei neuen Karten, Papier und Tinte bestanden, und dem Kompass, den er von Trevor bekommen hatte. Der Händler im Laden hatte versucht, ihm einen neuen anzudrehen. Und Edmund wusste bis jetzt nicht, warum er es abgelehnt hatte. Der Kompass war alt, hässlich - und Trevor hatte ihm das Ding gegeben. Also behielt er ihn.
    Er verstaute den Kompass in einem Beutel am Gürtel.
    Dann prüfte er seine Frisur in einem der Spiegel. Er musste zugeben, für die Tochter eines Badeshausbesitzers hatte E sich gut geschlagen. Schulterlang war jedoch ein Witz. Das war maximal noch eine Handbreite. Und die Seiten hatten sie ordentlich eingekürzt
    „Gefällt es dir?“, wollte E wissen.
    Edmund wog den Kopf.
    „Ungewohnt, aber ja.“ Er strich sich die Haare zurück. Blieb abzuwarten, wie sie aussahen, wenn sie trocken waren. Und ob er ihr dann die Haut von den Knochen ziehen musste, weil sie seine schönen Haare ruiniert hatte.
    „Das freut mich. Du siehst gut aus“, schmeichelte ihm E-Irgendwas.
    „Ich sehe immer gut aus“, meinte Edmund. Dann erkundigte er sich bei den beiden Frauen nach dem Weg zum Goldenen Pfau und verabschiedete sich mit einem letzten höflichen Lächeln.
    Auf Nimmerwiedersehen und danke für die Auskünfte!

    Auf der Straße vor dem Badehaus atmete er die salzige Luft ein. Nach den letzten Wochen kam es ihm regelrecht seltsam vor, wie einfach bisher alles funktioniert hatte. Er war weder davongejagt worden. Noch hatte man versucht ihn zu töten. Das stank zum Himmel. Gewaltig.
    Edmunds Magen knurrte und erinnerte ihn daran, seinen Weg vorzusetzen. Das Schiff konnte noch warten. Oder irgendeiner von den anderen kümmerte sich darum. War es seine Aufgabe? Nein.
    Er wollte gerade in eine Gasse abbiegen, als ihm eine bekannt Gestalt ins Auge sprang, die sich mit einem pelzigen Klumpen durch die Menschen der Gasse schlängelte. Auch nach mehreren Tagen war ihm dieser Andre immer noch suspekt. Irgendwas stimmte mit dem Kerl nicht. Seine Anwesenheit ließ ihn nicht vernünftig schlafen. Von Trevor, der ihn mitten in der Nacht aus dem Bett schleifte, einmal abgesehen.
    Wie hatte dieser Typ den Angriff überleben können – samt Katze -, während alle anderen auf seinem Schiff gestorben oder gefressen worden waren?
    Edmund entschied sich kurzerhand für einen längeren Weg und lief lässig auf Andre zu, bis er ihm beschwingt in den Weg treten konnte. Der Kerl war sogar noch kleiner und schmächtiger als er. Was ein Wicht. Wenn sein Vater jemanden als weibisch bezeichnen wollte, dann ja wohl ihn.
    „Wie ich sehe, hast du das Schiff auch verlassen.“ Edmund grinste vor sich hin.
    „Ja“, meinte Andre lediglich. Der Kater fauchte Edmund an. Er ignorierte es.
    „Wohin soll es denn gehen?“ Vielleicht konnte er mehr aus diesem Typen herausbekommen.
    Wäre doch gelacht!
    „Weiß ich noch nicht.“ Andre wollte an ihm vorbei. Doch so schnell ließ sich ein Edmund nicht abwimmeln. Mit den Händen in den Taschen schlenderte er neben Andre her.
    „Dann stört es dich sicherlich nicht, wenn ich dich begleite, oder?“
    Es war genau die entgegengesetzte Richtung, in die er eigentlich wollte. So ein Mist!
    „Doch tatsächlich stört mich das“, kam es prompt als Antwort.
    Edmund fühlte sich nicht vor den Kopf gestoßen. Gar nicht. Überhaupt nicht.
    „Zum Glück war das nur eine Höflichkeitsfrage. Ich begleite dich trotzdem.“
    Edmund wartete keine Antwort ab und setzte sein charmantes Lächeln wieder auf.
    Das hilft immer.
    Andre sah ihn einen Moment verwirrt an dann erwiderte er: „Hör zu, ich bin dankbar für die Rettung, wirklich. Doch mehr ist nicht nötig. Ich komme ab jetzt alleine klar.“
    Oder auch nicht…
    Warum war er eigentlich nur noch von störrischen Idioten umgeben? Einer nerviger als der andere. War sein Aussehen gar nichts mehr wert?
    Und toll, dass sich der Kerl für die Rettung bedanke. Aber was war mit dem Rest? Er hatte für ihn gekocht! Und darauf verzichtet, die Katze zu braten! Etwas mehr Dankbarkeit war da sicher nicht zu viel verlangt. Vor allem ihm gegenüber!
    Wenigstens ein nettes „Gespräch“! Ein nettes Gespräch, bei dem er Andre ein paar Informationen aus der Nase ziehen und er damit dann bei den anderen angeben konnte. Auch sie hatten schon ihr Glück strapaziert, herauszufinden, was Andre verbarg. Es wäre doch gelacht, wenn er an dem Witzbold scheiterte.
    „Schade“, gab er von sich, „und ich dachte, ich kann dich vielleicht überreden, mit mir Essen zu gehen.“
    Diesen Moment nutzte Andres Magen, um lauthals auf sich aufmerksam zu machen.
    „Also, ich..."
    Erwischt. Edmunds Lächeln wurde noch eine Spur breiter.
    „Mir wurde ein Gasthaus empfohlen. Und ich würde dich natürlich auch einladen, so unter Freunden. Aber wenn du lieber allein zurechtkommst ... “ Er zuckte die Schultern.
    Andre kniff die Augen zusammen.
    „Komme ich auch!“ Sein Magen knurrte nochmals.
    Es hörte sich nicht so an, als würde er zurechtkommen.
    Beim Arsch der verdammten Tiefseegötter! Der war doch noch verkopfter als sie alle zusammen!
    „Jetzt stell dich nicht so an. Ich verspreche auch, dass ich meine Hände bei mir lasse.“ Er kreuzte die Finger hinter dem Rücken. Nur für alle Fälle.
    Für ein paar Informationen jemanden zum Essen einzuladen, entsprach nicht seinem üblichen Vorgehen. Aber warum nicht auch was Anderes versuchen?
    Andre haderte sichtlich mit sich.
    „Na schön“, sagte er schließlich. „Alles auf deine Kappe. Und danach gehen wir getrennte Wege.“
    Wenn der Kleine ihm gab, was er wollte, konnte er getrost bis zum Ende der Welt gehen oder sich im Hafen ertränken. War ihm dann auch egal.
    „Abgemacht“, meinte Edmund mit einem siegreichen Grinsen.
    Er legte ihm den Arm um die Schultern und schob ihn so die Straße entlang zurück in die andere Richtung.
    Andres Gesicht hätte ein Unwissender als bereuende Grimasse deuten können. Aber da Andre die seltene Gelegenheit hatte, mit ihm, Edmund, zu essen, und er auch noch für den Wicht bezahlte, konnte das nicht sein.
    „So viel zu, ‚ich lasse meine Hände bei mir‘“, hörte er Andre grummeln.
    „Ein freundschaftlicher Arm um die Schulter ist doch kein Problem, oder?“ Edmund grinste zufrieden vor sich hin. „Ich reiße dir immerhin nicht die Kleidung vom Leib.“
    Die Lumpen konnte der sich wenn schon selbst vom Leib reißen.
    „Versuch es und du endest wie Wilmor.“
    Der mumifizierte Kater auf Andres Arm maunzte zustimmend. Edmund betrachtete das hässliche Vieh geringschätzig.
    „Als was genau? Als Katze?“
    „Als halbtote Mumie.“

    Edmund hob irritiert die Augenbrauen.
    „Wenn dann schon als gutaussehende halbtote Mumie", betonte er. Immerhin sah er nicht so zerrupft aus. Und wie genau meinte er das? Lebte das Vieh oder war es tot?
    Andre maß ihn mit einem zweifelnden Blick, sagte aber nichts.
    Edmund nahm seinen Arm zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, während er Andre aus dem Augenwinkel bedachte.
    Was ein gesprächiger kleiner Mistkerl. Wie viel Wein wohl nötig war, um seine Zunge zu lockern?
    „Das ist keine normale Katze, oder?“, setzte er deshalb nach und nickte zu dem Tier.
    „Ja“, sagte Andre einsilbig. „Denn sie ist ungewöhnlich männlich für eine Katze. Für einen Kater ist sie ganz normal.“
    Ja, dann eben nicht.
    Du siehst auch zu weiblich aus, um männlich zu sein, Möchtegernmatrose.
    Offenbar würde er viel Wein benötigen. Vor allem für sich. Um den Kerl weiter zu ertragen.

    Für den Rest des Weges verzichtete Edmund auf weitere Gespräche. Und man sagte ihm, er wäre einsilbig. Pah!
    Vor der nächsten Straßenecke ragte schließlich ein großes Gebäude auf, das mit seiner frischen blauen Fassade auf sich aufmerksam machte. Ein goldener Pfau war auf ein Schild gemalt. Und die Fensterrahmen und – läden gelb abgesetzt.
    Unauffällig.
    Das Gasthaus machte von innen einen ähnlichen Eindruck wie von außen. Ordentlich. Gepflegt. Und mit verziertem Goldstuck an den Wänden und blauen Polstern auf den Stühlen. Der Raum war gut gefüllt, war aber nicht überrannt.
    Edmund fasste einen Tisch in der Mitte ins Auge, der ihm perfekt erschien. Er wollte gerade darauf zusteuern, als ein in Rosarot gekleideter Fettsack mit grell geschminkten Augen auf sie zukam.
    „Willkommen, Willkommen“, rief er bereits von weitem. Er breitete die Arme aus und wirkte dadurch wie ein Walross, das sich mit einem Papagei gepaart hatte, und nun auf sie zurollte. „Wie kann ich euch helfen? Ein Tisch für zwei?“
    Edmund überwand den ersten Schreck schnell und verzichtete auf den Hinweis, dass das bunte Outfit ein Verstoß gegen jedes vorhandene und nicht vorhandene Modebewusstsein darstellte. Zum Grellen Fettsack verkaufte sich aber wohl schlechter als Zum Goldenen Pfau. Tja…
    „Wir würden den Tisch nehmen.“ Edmund deutete auf den auserkorenen Platz.
    „Selbstverständlich!“ Der Paradiesvogel klatschte in die Hände. „Kann ich etwas zum Essen anbieten?“
    „Der Wildbraten soll wohl gut sein. Und Wein.“
    Der Fette nickte und verschwand zwischen den Tischen. Erstaunlich wie wendig er war. Ein bunter Haufen Stoff flatterte hinter ihm her und brachte fast eine Schankmaid zum Stolpern.
    „Eine ganz tolle Empfehlung“, gab Andre von sich, kaum, dass sie saßen. Und klang dabei seltsam angewidert.
    „Ich weiß nicht, was du hast. Der Fettsack sieht doch aus, als würde das Essen schmecken. Und mit genug Wein verschwimmt auch sein Anblick.“
    Edmund lehnte sich auf dem gepolsterten Stuhl zurück und betrachtete die anderen Gäste. Dabei entging ihm nicht, dass Andre die Augen verdrehte. Wobei sein Mundwinkel verräterisch zuckte.

    Verdammt viel Wein…

    Edmund schenkte seinen Tischnachbarn ein offenes Lächeln, als er hörte, wie sich diese über ihre Reiseroute austauschten und von Monstersichtungen sprachen.
    „Seid ihr auch einem Meeresmonster begegnet?“, mischte er sich in das Gespräch der anderen ein.
    „Nein“, meinte einer der Frauen. „Aber sagt nur, Ihr seid einem dieser Ungeheuer begegnet?“ Ihre Augen weiteren sich.
    Edmund nickte zufrieden. „Einer Riesenkrake.“ Er deutete auf Andre, der sich auf seinem Stuhl etwas kleiner machte. „Sein Schiff wurde völlig zerstört. Aber wir haben es geschafft zu entkommen und ihn zu retten.“
    Links beugte sich ein Mann näher, sichtlich interessiert.

    „Ach iwo, das hättet ihr nie überlebt“, meinte ein anderer Mann.

    „Gehört Euch das zerstörte Schiff im Hafen?“, wollte der Linke Mann wissen.
    Als Edmund grinsend erneut nickte, hatte er die Aufmerksamkeit einiger Leute, die gebannt auf eine spannende Geschichte warteten. Vielleicht musste er auch am Ende gar nichts bezahlen. Blieb abzuwarten, wie der Abend verlief.

    Edmund bewegte sich immer noch nicht. Stattdessen hielt er den Blick auf den riesigen Kraken gerichtet, der gerade das Schiff in der Ferne zerstörte, als wäre es Kinderspielzeug. Es gab also doch Seeungeheuer... das oder er hatte hetig eines auf den Schädel bekommen.
    „Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Insel doch noch vermissen würde…“, entfuhr es ihm.
    „Beweg dich endlich!“, schrie Trevor von irgendwo auf dem Schiff zu ihm rüber.
    Edmund wollte fragen, wohin er sich denn bewegen sollte, verzichtete aber darauf. Wenn selbst das riesige Schiff keine Chance hatte, was sollten sie dann mit ihrem schwimmenden Sarg anfangen? Vielleicht meinte er auch, dass er von Bord springen und zur Insel zurückschwimmen sollte? Oder wohin sonst hatte er denn vor zu verschwinden? Das Meer war ja wohl offenkundig das Revier dieser ... Dinger! Und wenn das Vieh sie bemerkte, konnten sie sich bewegen, wohin sie wollten, da war nichts mit Flucht! Und spätestens dann wurde das Schiff wirklich zu ihrem Sarg.
    Sein Blick glitt zu dem anderen Schiff. Der Krake war damit beinahe fertig und zertrümmerte gerade fröhlich eine Schiffswand.

    „Heute noch, wenn es geht!“, versetzte Trevor nochmal. Und Edmund musste aufpassen, kein gedehntes "Jaha" auszustoßen.
    Mechanisch lief er schließlich zum Steuerrad und ließ den Blick über ihre Schrottschüssel schweifen. Esther und Nelli behielten am Heck ebenfalls den Kraken im Blick, während sich Trevor über die Seile zu den Segeln bewegte.
    „Hat jemand einen Plan?“, rief er Trevor zu, während er das Steuerrat drehte und das Schiff nach Backbord fahren ließ. Trevor richtete derweil die Segel neu aus, damit diese weiterhin im Wind standen.
    „Weg hier.“
    „Toller Plan!“
    , gab Edmund zurück. Da stellte der Kerl ihn an als wäre er ein Lakai und dann hatte er nicht einmal einen Plan!
    „Entschuldige, das nächste Mal, nehme ich ein paar Bäume mit, um sie nach Riesenkraken zu werfen!“
    War das Angst, die er in Trevors Stimme vernahm? Das konnte wohl kaum sein. Denn wenn selbst der Formwandler Angst hatte, was sollte er dann machen? Wenn hier einer ein Anrecht auf Angst hatte, dann war es ja wohl er. Und nicht der Kerl, der Bäume werfen konnte!
    „Da sind Menschen!“, meinte Esther. Die Adlige senkte das Fernglas, das sie auf dem Schiff gefunden hatten. Die Linse war milchig, aber offenbar erkannte man immer noch genug.
    Was auch sonst? Selten fuhr ein Schiff ohne Besatzung.
    „Und?“, fragte er deshalb zerknirscht.
    „Müssen wir ihnen nicht helfen?“
    Esther sah sie der Reihe nach an.
    „Klar schwimm rüber“, kommentierte Edmund bissig. „Sie freuen sich sicherlich dabei zuzuschauen, wie du ebenfalls zu Kleinholz verarbeitet wirst!“
    Zu seinem Erstaunen stimmte ihm sogar mal jemand zu. Trevor nickte.
    „Wir können nach dem Angriff nach Überlebenden schauen, aber niemandem nützt es, wenn wir auch in die Tiefe gerissen zu werden.“
    Wären sie nicht dem Tod geweiht gewesen, hätte sich Edmund sogar dazu herabgelassen, sich bei Trevor für den Zuspruch zu bedanken.

    Esther dagegen sah aus, als wollte sie weiter protestieren und auch Nelli erhob den Finger. Doch im Gegensatz zu der Jüngeren nickte die Hexe schließlich.
    „Wir kommen zurück“, versicherte Trevor an Esther gewandt. Womit die Magierin zwar nicht zufrieden, aber einverstanden war.


    Edmund blickte zu dem sinkenden Schiff und für einen kurzen Moment hatte er tatsächlich die irrsinnige Hoffnung, dass sie aus der Sache lebend herauskommen würden. Dann ging ein Ruck durch das Schiff und neben ihnen schoss ein Tentakel aus dem Wasser. Im gleichen Moment riss Esther ihren Zauberstab in die Höhe und ein Schutzschild entstand um sie herum. Der Tentakel knallte gegen das Schild und ließ es aufleuchten. Esther keuchte auf und geriet ins Schwanken. Nur mit Mühe konnte sie sich auf den Beinen und den Schild aufrecht erhalten.
    „Es gibt einen zweiten!“, rief Trevor aus. Das war eine Aussage, der es an Offensichtlichkeit nicht mangelte.
    „Wie kommst du denn darauf?“, ranzte Edmund zurück, bereits mit der Überlegung beschäftigt, ob er von Bord springen sollte. Stattdessen krallte er sich am Steuerrad fest, als würde ihm das lächerliche Ding irgendwas nützen.
    „Ich kann das nicht lange halten!“, rief Esther ihnen zu. Zwei weitere Tentakel wollten sich um das Schiff schließen und prallten auf ihren Schild.
    Und was sollen wir jetzt machen?
    Edmund blickte zu den Segeln. Der Schutzschild schützte sie vor dem Angriff, dem sie sicherlich nicht davon fahren konnten. Aber der Schild verhinderte auch, dass der Wind die Segel überhaupt aufblähen konnte. Sie saßen in der Falle. Ohne Wind konnten sie nicht weiterfahren, aber ohne Schild würden sie einfach zerdrückt.

    Er war nicht für Gewalt, aber eine Kanone wäre in diesem Moment sicherlich hilfreich.

    Was genau war eigentlich mein Problem mit der Langeweile in Sonnental?! Ob der Moment gut war, sich irgendwo ängstlich einzuigeln und auf das Beste zu hoffen?

    Trevor entfuhr ein verzweifelter und langatmiger Fluch.
    „Okay, Trevor. Du bist dran! Ich setze darauf, dass du das Vieh im Faustkampf besiegst!“, rief Edmund ihm zu.
    Offenbar war es an Deck auch nicht mehr sicher. Dann also doch ins Meer und um sein Leben schwimmen? Sollte er sich noch die Schuhe ausziehen, ehe er sprang?
    Allein der Gedanke an dieses Vieh im Wasser ließ es ihm übel aufstoßen. Auf der anderen Seite: wie viel Interesse konnte das Ding an einer einzelnen wegschwimmenden Gestalt haben, wenn es doch ein Schiff zerlegen konnte? Wieder andererseits, was hatte das Ding überhaupt für ein Interesse an ihrem Schiff, wenn es sicherlich irgendwo etwas Nahrhafteres zu Fressen gab als Holz? Oder schmeckte Kraken Holz? Oder wollte das Ding an ihre Vorräte! Sauerei!
    „Nur, dass der Kraken mehr Fäuste hat“, stieß Trevor frustriert aus. Er holte einen Säbel unter Deck hervor und drückte Edmund zu seinem Unmut ebenfalls eine Waffe in die Hand. Eher widerwillig und mit spitzen Fingern umgriff Edmund die Klinge. Er wollte nicht kämpfen. Und vor allem nicht gegen einen Kraken. Das Ding war ihm acht zu zwei überlegen.
    Edmund unterdrückte den Drang panisch über das Deck zu rennen. Und nahm sich kurz die Zeit, die Tentakel näher zu mustern. Für einen Kraken hatten sie eine seltsam lilablaue Färbung. Ob das Ding auch noch giftig war?
    „Was machen wir jetzt?“, wiederholte Nelli Edmunds Gedanken. Die Alte klammerte sich an die Reling. „Esther kann das nicht ewig halten!“


    Ironischerweise geriet in eben diesem Moment die Revenge ins Schwanken, als einer der Tentakel erneut auf das Schiff einschlug.

    Edmund verlor das Gleichgewicht und rutschte über das Deck. Der Schutzschild um das Schiff verschwand, als Esther ins Straucheln geriet. Unmittelbar neben ihr schlug einer der riesigen Arme auf das Holz und ließ dieses verdächtig knirschen. Vermutlich brach das Schiff nur nicht, weil Esthers Schild noch den Großteil des Schwungs abgefangen hatte.

    Sowohl Esther als auch Edmund purzelten über das Deck. Unter dem Schiff erklang ein Grummeln, das durch das Holz vibrierte. Ganz so als würde das Vieh freudig lachen.
    Mistvieh!
    Als Edmund endlich zum Liegen kam, fiel sein Blick auf Trevor, der mit einem der Krakenarme focht. Neben ihm schlug Nelli mit ihrem Stock auf einen anderen Tentakel ein und beschimpfte das Vieh mit allem, was ihr verbal zur Verfügung stand. Was diesen aber wenig zu jucken schien. Stur umarmte der Krake weiterhin das Schiff und schlang sich um den Mast. Sie hatten bedenklich Schräglage, weshalb alles umherrutscht.

    Esther suchte derweil panisch den Boden ab. Hatte die ihren Stab etwa schon wieder verloren? Wie konnte sie ständig ihren Zauberstab aus den Händen verlieren? Wenn man einen Magier schon mal brauchte, ließ er seine Waffe einfach fallen!
    Irgendwann binde ich das Teil an ihr fest!
    Edmund stemmte sich hoch, bekam aber im gleichen Moment die Füße weggezogen. Etwas schlang sich um sein Bein. Der Säbel fiel ihm aus der Hand, als er mit dem Körper aufschlug und in die Höhe gezogen wurde.

    Er schrie auf, als er den Boden unter den Füßen verlor. Warum war ausgerechnet er der Erste, der sterben musste? Warum nicht die alte Hexe? War sie zu zäh? Dann Esther! Oder wenigstens Trevor! Warum ausgerechnet er? Das war ja wohl nicht gerecht!
    „Die anderen schmecken viel besser“, schrie er.
    Die Reise war eine kurze gewesen und tatsächlich war das Schiff nicht einfach abgesoffen, wie er es eigentlich erwartet hatte, sondern wurde von einem vermaledeiten Kraken aufgefuttert. Scheinbar hatte sich wirklich alles und jeder gegen ihn verschworen!
    Irgendwer schrie seinen Namen. Aber das war ihm herzlich egal. Fiel diesen Schwachköpfen nichts Besseres ein, als seinen Namen zu rufen?
    Wieder drang ein Brummen unter dem Schiff hervor. Edmund sah, wie Trevor auf den Tentakel einstach, der ihn festhielt. Leider recht erfolglos. Es machte den Kraken nur wütender und sorgte dafür, dass Edmund wenig elegant durch die Gegend geschleudert wurde. Das Blau des Himmels und des Wassers verschwamm in einen einheitlichen Brei. Ihm wurde übel.
    „Wenn dir nichts Besseres einfällt, dann hör auf damit!“, schrie er.
    Das Schleudern hörte auf, weshalb Edmund erschöpft in der Luft hängen blieb. Er kämpfte dagegen an, dass sich weiterhin alles um ihn herum drehte.
    Neben dem Schiff tauchte der riesige Kopf des Viehs auf und musterte Trevor. Wie Edmund fand beinahe vorwurfsvoll.
    Ja, entschuldige, dass sich die Beute wehrt, du dummes Vieh!
    Die Augen des Kraken richteten sich auf ihn und sein Maul öffnete sich. Ein Brüllen erklang. Und der Gestank nach Fisch drang ihm entgegen. Dann wurde er schon wieder durchgeschüttelt.
    Das war nicht so gemeint!
    Kurz bevor er sich doch noch übergeben musste, hielt die Bewegung des Kraken erneut inne. Und Edmund fühlte sich wie ein Fisch, der kopfüber zum Trocknen aufgehängt worden war.
    Er blickte in den schwarzen Schlund.
    Das stinkt ja schlimmer als die Absteigen in Sonnental! Edmund verzog das Gesicht und hielt sich die Hand vor Nase und Mund. Allein der Stand reichte, damit er nun wirklich spürte, wie ihm sein Essen hochkommen wollte. Das Vieh hätte sich zumindest die Zähne putzen können, ehe er die Tentakel an ihn legte und auch noch im Begriff war, ihn zu fressen! Schäm dich!
    Wieder wurde er herumgeschwenkt, weshalb er sah, wie seine anderen drei Begleiter mit den restlichen sieben Fangarmen kämpften. Irgendwo brach sogar ein Stück aus dem Schiff.
    „Könntet ihr mal aufhören, mit dem Vieh zu spielen und mir helfen?!“
    Mit den Fäusten versuchte er auf die schleimige Haut des Kraken einzuboxen. Was schwerer war, als gedacht, da sich die Haut anfühlte wie das, was sich auf der Milch bildete, wenn man diese ohne Rühren erhitzte.
    Lass mich runter und verpiss dich, verdammt!
    Der Tentakel senkte sich. Und Edmund sah sich schon im Schlund des Viehs verschwinden, klatschte dann aber zu Boden.
    Der Krake hatte ihn wieder an Deck des Schiffes fallen lassen.
    Verwirrt sah sich Edmund um. Die Tentakel zogen sich zurück und ließen seine Kameraden ebenso überrascht an Deck stehen, wie er sich fühlte.
    Lediglich ein Tentakel klammerte sich weiterhin an der Reling fest. Der Kopf des Kraken blickte darüber und musterte das Deck. Dann ihn.
    Edmund kroch zurück. Die schwarzen Augen des Ungetüms folgten ihm. Wieder erklang das Brummen. Es war laut genug, dass es weit über das Meer schallen musste.
    Irgendwas am Blick des Viehs verunsicherte ihn.
    „Der andere Krake verschwindet“, hörte er Nelli irgendwo hinter sich flüstern.
    Die Augen des Tiers glitten kurz zu Nelli. Dann tauchte es unter die Wasseroberfläche. Erneut das Brummen, diesmal erfolgte eine Antwort aus der Richtung, in der das andere Schiff gesunken war. Unterhielten sie sich? Hatten die beiden beschlossen, sie in Ruhe zu lassen? Hatte das Holz nicht geschmeckt?
    Das Wasser schwabbte gegen das Schiff und ließ es noch einen Moment hin und her schwanken, dann blieb es ruhig im Meer liegen.
    „Ähm…“, war alles, was Edmund herausbrachte, ehe er sich nach den anderen umsah. Der Schock stand ihnen allen ins Gesicht geschrieben.

    „Dann können wir wohl doch noch nach Überlebenden schauen“, durchbrach Nelli mit kratziger Stimme das Schweigen.

    Während sich Edmund nun doch erhob und zur Reling hechtete, um sich zu übergeben. Die stürmigste See war nichts im Vergleich zu einem Kraken, der einen schüttelte wie ein nasses Laken und stank wie eine ganze Höhle toter Schwachköpfe!

    Edmund schimpfte und fluchte, als er das Hemd schrubbte. Es war eine Sache, durch eine Höhle auf einer einsamen Insel zu irren, in der ihm singende Feen, tanzende Pilze und menschenfressende Halsabschneider auf die Nerven gingen…
    Kurz musste er über das Wortspiel kichern…
    Halsabschneider..
    Er räusperte sich.
    Das war das eine. Aber welcher Kerl mit geistiger Umnachtung war auf die Idee gekommen weiße Hemden für Arbeiter zu nähen? Sie verfärbten in der Sonne. Sie wurden dreckig. Und Blut machte darauf Flecken, die einfach nicht auszuwaschen waren.
    Da spielte es auch keine Rolle, dass Baumwolle und Leinen von Natur aus weiß war! Oder eben bereits ausgebleicht aussah mit diesem scheußlichen Gelbstich…
    „Das bekommst du so nicht raus", meinte Trevor, der es bereits aufgegeben hatte, seine Sachen weiter zu malträtieren. Sein Hemd hielt er in der Hand, den Rest trug er wieder am Leib. Störte ihn der Dreck etwa gar nicht?
    Wobei … zurückgedacht, macht ihm das Blut vermutlich nichts aus. Mir aber schon!
    „Ach, was du nicht sagst.“ Edmund knirschte die Zähne.
    „Zitrone hilft", meinte Nelli. Die Hexe, die so nicht genannt werden wollte, aber nun mal genau das war, kam an die Quelle und musterte die beiden Männer.
    „Ich Idiot“, zischte Edmund, verzichtete darauf, sich die Hand vor den Kopf zu schlagen, „ich besorge gleich welche auf dem Markt für schiffbrüchige Reisende!“
    Das Blut von Geisteskranken hatte ihn von Kopf bis Fuß verschmutzt. Von anderen Körperfetzen ganz zu schweigen, durch die er sich hatte graben müssen. Das Gefühl bekam er nie mehr von der Haut. Den Anblick nicht mehr aus dem Kopf. Und diesen verdammten Fleck nicht mehr aus diesem bescheuerten Hemd! Und nun noch diese dumme Randbemerkung der Alten!
    Denkbar schlechter Zeitpunkt für Ratschläge, altes Weib!
    „Was machst du hier überhaupt, Oma?“, warf Trevor ein, wohl, um eine nahende Grundsatzdiskussion zu unterbinden.
    Warum nannte er die Alte immer Oma? Er war doch gar nicht mit ihr verwandt?!
    Oder doch?
    Sie war alt. Also passte „Alte“ doch viel besser. Und sie war eine Hexe, aber so wollte sie nicht genannt werden. Beim Namen nannte doch auch Trevor sie nicht. Und dennoch hatte sich die Alte über Oma noch nicht beschwert.
    „Ich wollte baden, und dachte, ich schau mal, wie weit die Geheimniskrämer sind.“ Sie hob auffordernd die Augenbrauen, bohrte aber nicht weiter. Besser so. Weder Edmund noch Trevor würden darüber reden. Auch, wenn ersichtlich war, dass Nelli gerne gewusst hätte, was passiert war. Und vermutlich war sie auch hier, um sich zu vergewissern, dass keiner von ihnen verletzt wurde.
    Was ihn am meisten daran nervte!
    Ihm brannte noch der Scham der Situation am Strand in den Wangen, wenn er nur daran dachte. Das kratzte an seinem Ego!
    Edmund gab das Schrubben an seinem Hemd auf und erhob sich.
    „Tu dir keinen Zwang an. Ich bin sowieso weg.“
    Er griff nach dem erstbesten Hemd auf der Leine und warf es sich über. Es kratzte, war zu weit und hing an ihm wie ein Kleid. Entweder war er kleiner als gedacht, oder die damalige Mannschaft hatte Riesen beschäftigt. Was ihm bei dem Erlebnis in der Höhle auch nicht mehr verwundert hätte.
    „Ach, du musst nicht gehen. Ich habe auch kein Problem damit vor euch nackt zu baden.“ Auf Nellis Gesicht bildete sich ein Grinsen, das aus einer Mischung aus Belustigung, Bösartigkeit und vor allem Falten bestand.
    „Ich habe aber ein Problem damit, dich nackt zu sehen, O- … altes Weib!“
    Beinahe hätte er es auch gesagt!
    Wo kam das denn her?
    Edmund wandte sich um, knöpfte das Hemd zu und winkte ab. „Frag nochmal, wenn du wieder dein Teufelszeug der Jugend getrunken hast! Dann helfe ich dir vielleicht sogar beim Ausziehen.“
    Den schweren Schritten hinter sich zu urteilen, hatte auch Trevor wenig Lust darauf, der Alten beim Baden zuzuschauen. Oder er wollte nur am Schiff weiterarbeiten.
    Edmund betrachtete Trevor nachdenklich. Die Alte beschwerte sich, dass er sie Hexe nannte. Dabei war sie das. Trevor nannte sie Oma. Darüber beschwerte sie sich nicht. Bei ihrem Namen nannte aber auch Trevor sie selten bis nie. Warum also verlange es die Hexe von ihm?
    „Warum nennst du die alte Hexe immer Oma?“, rutschte es ihm heraus, ehe er die Worte hätte zurückhalten können. Sofort ärgerte er sich darüber, konnte es aber schlecht zurücknehmen.
    „Sie erinnert mich an meine Oma. Eigensinnig, stur, überlebt die meisten um sich herum ..."
    „Das trifft es erstaunlich gut“,
    sie ist stur und überlebt uns noch alle, „aber was hat sie gegen altes Weib? Sie ist ja auch alt...Was ist an "Oma" besser?"
    Trevor blickte ihn an, als würde er gerade mit einer stinkenden Socken als Hut Limbo über Murmeln tanzen. Irgendwas zwischen Unglaube und Verwirrung.
    „Ich meine es als eine Art Kosename, da sie mich 'Junge' nannte. Ich degradiere sie mit dem Namen oder beleidige sie nicht damit. Stell dir vor, ich würde dich die ganze Zeit Lauch nennen oder halbe Portion ... Angsthase, Schisser, Mädchen, Gnom, Meerjungfrau ... Muttersöhnchen ..."
    Autsch…
    „Das waren ein paar Bezeichnungen zu viel ...", gab Edmund zerknirscht von sich. Ich nenne dich doch auch nicht Monster, du dämlicher Pirat!
    „Ich wollte es nur untermalen ..." Trevor lächelte. „Jemanden ständig auf Schwächen hinzuweisen ist nicht nett. Sei es das Alter, körperliche Merkmale oder die abwertende Bezeichnung von Heilerinnen."
    „Jaja", winkte Edmund ab. Jetzt nervte ihn die Belehrung. Er war doch nicht dumm. Aber das Alter als eine Schwäche hinzustellen, war nicht seine Absicht gewesen. Im Grunde sah er dies auch nicht als Schwäche und so weit er es bisher einschätzen konnte, war die Hexe deshalb auch nicht schwach … Immerhin besaß sie den Schneid ihm auf die Nerven zu gehen! „Ich habe es ja verstanden", knurrte er genervt. „Das mit der Hexe hat sie ja erklärt, aber", er überlegte kurz, „Peternella klingt nun mal dumm und ... " Nelli geht mir einfach nicht über die Lippen ...
    „Dann nenn sie doch auch Oma, wenn sie dich 'Junge' nennt." Trevor zuckte die Schultern.
    „Aber sie ist nicht meine Oma!", gab Edmund entrüstet zurück. Der Gedanke war abwegig! Weit abwegiger als der Name Peternella oder Nelli! Auch wenn es ihm vorhin beinahe über die Lippen gekommen war!
    „Dann bleibt dir nur Nelli.“
    Das habe ich befürchtet…
    Das war nicht fair. Die Alte nannte ihn Wendy und er musste sich ihrer Anweisung beugen, weil er sie sonst beleidigte? Irgendwas in ihm weigerte sich, dem nachzugeben. Womit hatte sie sich das denn verdient? Sie nervte ihn doch nur! Nichts hatte sie sich verdient! Vor allem nicht seinen Respekt!
    „Ich denk drüber nach", grummelte er nur, als sie am Lager ankamen. Fakt war, ‚Nelli‘ kam nicht in Frage! Eine Verniedlichung hatte das klapprige Ledergestell von allen Bezeichnungen am wenigsten verdient!

    Edmunds Blick glitt zum Schiff. Und mit einem Mal war der irrsinnige Gedanke an die Hexe aus seinem Kopf verschwunden.
    „Was glaubst du, wie lange wir noch brauchen?“, wollte er von Trevor wissen.
    Dieser wog den Kopf, sah vom Schiff zu ihm, dann zum Schiff zurück und dann wieder zu Edmund.
    Doppel-Autsch …
    „Vielleicht eine Woche?“, nochmal musterte er ihn. „Vielleicht auch zwei."

    Dreifach-Autsch ...

    Edmund schluckte die Beschwerde darüber, dass dieser Erkenntnis erst eine Musterung von ihm vorausgehen musste, hinunter. Die Freude endlich die Insel hinter sich zu lassen, war dafür einfach zu groß.
    Nur noch eine Woche ... oder zwei....
    „Und wohin dann?“ Esther trat zögerlich an sie heran. Ihrem Blick lag ein Ausdruck bei, der durchaus besorgt wirken könnte, Edmund aber nicht weiter interessierte. Nach der Insel würde er diese Gestalten hinter sich lassen und dann konnten sie besorgt dreinblicken wie sie wollten. Und in Nellis Fall omamäßig andere „Jungen“ nerven.
    „Wenn wir uns nicht verrechnet haben“, damit meinte er sich und Trevor, „dann sind wir vom ursprünglichen Ziel zu weit abgekommen. Mit dieser Nussschale kommen wir dort wohl nicht an. Realistisch gesehen, sollten wir die ersten bewohnten Inseln ansteuern und dort werde ich schauen, wie es weitergeht.“
    „Ich schätze, wir sollten dann Ausrüstung und Vorräte auffüllen und das Schiff ordentlich reparieren lassen", schob Trevor nach.
    Edmund wollte erwidern, dass er kein Wir sah, nachdem sie wieder im bewohnten Teil der Welt angekommen waren, aber Esther unterbracht ihn, ehe er etwas sagen konnte.
    „Wie heißen die Inseln?“
    Sie sah zwischen ihnen beiden hin und her. Was interessierte sie sich plötzlich so sehr für ihren Kurs?
    „Laut der Karte des Kapitäns, Weiße Felseninseln, ein relativ großes Gebiet, mit offenbar größeren Inseln.“

    Ein Gebiet mitten in diesem verfluchten Schwarzen Fleck, das angeblich bewohnt war. Ihm aber rein gar nichts sagte. Auf den Karten Zuhause und seiner eigenen, die leider noch auf der Eleftheria war, auch nicht eingezeichnet. Logisch, schließlich ging man davon aus, dass es keine bewohnten Inseln im Schwarzen Fleck gab. Aber da über dieses Seegebiet sowieso zu wenig bekannt war, weil fast alle Schiffe hier sanken, war das auch nicht verwunderlich.

    Die meisten Seeleute umsegeln das Gebiet offenbar nicht umsonst, grummelte Edmund innerlich.

    Edmund stampfte durch den Wald und knete dabei seine Kleidung in den Händen. Nun war es so weit und er würde seine Kleidung doch beerdigen müssen. Sie war vom Schiffbau und der Zeit auf der Insel deutlich ramponierter und vor allem blutiger als ihm lieb war.
    Grummelnd richtete er den kratzigen Stoff des Hemdes. In dem Haufen Kleidung, den die Mannschaft der Nussschale nach ihrem Tod zurückgelassen hatte, war es schwer gewesen, etwas zu finden, in dem er nicht hing wie ein nasser Sack, oder bei dem ihm die Hose nicht viel zu kurz war. Kratzig war jeder Stoff gewesen.
    Bleibt zu hoffen, dass mir deshalb keiner dieser angeblichen Hexen-Geister an den Hacken klebt, weil ich seine Kleidung trage.
    Nun war er wirklich am Tiefpunkt angekommen… Er trug Arbeiterkleidung, arbeitete und war auch noch braun! Und glaubte an Geister!
    Immerhin musste er der einfachen Kleidung lassen, dass die Taschen größer waren. Im Gegensatz zu seiner eigenen Kleidung dienten diese nicht nur der Zierde und es konnten lockert hundert Dinge darin herumgeschleppt werden, ohne, dass der Stoff riss. Was nichts daran änderte, dass er sich in der Kleidung nicht wohlfühlte!
    Als er zum Lager zurückkam, hörte er bereits von weitem das Gerede der anderen. Es ging um das Schiff, den weiteren Plan und Vorräte. Und ebenfalls darum, was alle machten, wenn sie wieder in der Zivilisation angekommen waren.
    Edmund blieb einen Moment stehen und vergaß auch seine Kleidung. Die deutlich lockerere Stimmung der letzten Tage gefiel ihm. Sie saßen nun öfter zusammen und unterhielten sich, und auch wenn es lediglich um den Schiffbau ging und er mit Nelli ständig aneinandergeriet, schienen alle etwas entspannter. Nellis Tee, so widerlich das Gesöff auch schmeckte, zeigte seine Wirkung. Dazu kam der deutliche Fortschritt beim Schiff.
    Vielleicht können wir diese verfluchte Insel bald hinter uns lassen.
    Schweigend trat er ans Lager heran, betrachtete den Kleidungsklumpen nochmal, ehe er ihn seufzend in die Flammen des Feuers warf, auf dem das Essen kochte, und sich auf seinem Lager niederließ. Genervt blies er sich Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah der Kleidung zu wie sie vom Feuer gierig gefressen wurde.
    „Ah, der feine Herr hat sich umgezogen“, gab Nelli von sich und hängte ihren Topf mit Wasser neben den bereits vorhandenen an das Gestell.
    „Ah, das alte Weib ist immer noch am Leben“, gab er zurück, ohne von seiner Kleidung aufzublicken. Er hatte keine Ahnung, was er ihr getan hatte, dass sie ihn immer wieder aufziehen musste. Aber so langsam gab er seine ablehnende Haltung ihr gegenüber auf. Immerhin schien sie ganz in Ordnung zu sein, oder so ähnlich. Und die Verrückte ließ sich von seiner Laune sowieso nicht beeindrucken und neckte nur noch mehr und bohrte nach.
    „Ach, sei nicht so“, lachte Nelli, „dich entstellt doch auch diese einfache Kleidung nicht.“ Von jedem anderen hätte es ein Kompliment sein können. Doch aus Nellis Stimme sprach nichts als Schalk. Pff. Er nahm es dennoch als Kompliment! Natürlich konnte nichts ihn entstellen.
    „Ich bin ja auch nicht du. Du entstellst die Kleidung…“
    Nelli ließ sich von seinem - wie er fand - hervorragenden Konter nicht beeindrucken.
    „Ich bin auch nicht darauf angewiesen. Ich überzeuge mit meinen Fähigkeiten und nicht meinem Aussehen.“
    Edmund legte den Kopf zur Seite. Was sollte denn diese Bemerkung bedeuten?
    „Eine Aussage, die du erst jetzt im Alter triffst, oder auch schon in deiner Jugend?“
    „Nein, da hatte ich ja beides.“

    Die Aussage überraschte ihn doch genug, damit er sich ein Lachen nicht verkneifen konnte. „Zum Glück bist du so bescheiden.“
    „Ich bin zu alt für Bescheidenheit.“
    „Endlich mal eine Gemeinsamkeit“
    , gab Edmund von sich.
    Er wandte sich wieder an den Stoff, der im Feuer kaum noch zu sehen war und warf dann einen Blick in den Topf mit dem Essen. Als er sich sicher war, dass es noch ein paar Minuten benötigen würde, setzte er sich zurück und beobachtete Esther dabei, wie sie Nägel sortierte – aussortierte, was sie nicht mehr nutzen konnten und das beiseitelegte, was sie für die heutige Nacht benötigen konnten. Sie schien so konzentriert, dass sie das Gespräch gar nicht mitbekommen hatte. Zumindest strich sie sich gedankenverloren eine Strähne aus dem Gesicht. Dennoch lag ein sanftes Lächeln auf ihren Lippen.
    Es war erstaunlich, dass die Gräfin ehrlich lachen konnte. Das hatte er bisher nicht erwartet. Und eigentlich hatte er sie Tage zuvor, als sie ihn ins Wasser gezogen hatte, auch anschreien wollen, aber dann hatte sie derart dumm aus der Wäsche geblickt, dass er es nicht mehr konnte. Und er musste zugeben, dass es ihm besser gefiel, wenn die anderen lachten und gute Laune hatten.
    Und außerdem fand er es lustig Esther aus dem Konzept zu bringen. Die Röte im Gesicht stand ihr.
    „Willst du mir vielleicht helfen?“
    Edmund hob den Blick. Esther hatte sich zurückgelehnt, entkrampfte etwas ihre Finger und sah ihn fragend an. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er Esther immer noch angeschaut hatte.
    „Wobei?“ Er blickte auf die Nägel. Ihm wäre es lieber gewesen, es würde gar keine Nägel mehr geben, dafür hatte er sich in den letzten Tagen einmal zu oft auf die Finger gehauen. Oder unter Trevors Anweisung schiefeingeschlagene Nägel wieder aus dem Holz ziehen müssen.
    Esther zog die Augenbraue in die Höhe. „Nägel sortieren?“
    Edmund stützte das Kinn in die Hände und unterdrückte das Grinsen.
    „Ich denke, das schaffst du auch allein.“
    „Du hast so interessiert ausgesehen
    “, meinte Esther und wandte sich wieder der Arbeit zu, „Da dachte ich, du willst mir vielleicht zur Hand gehen.“
    Edmund biss sich auf die Zunge, um nicht loszulachen. Aber die Gelegenheit war günstig.
    „Interessiert ja. Aber nicht an den Nägeln“, gab er neckend von sich.
    „Ach?“ Esther hob wieder den Blick und sah ihn kurz an. „Und was interessiert dich sonst?“
    „Nicht was, sondern wer.“
    „Klappe, Wendy!“,
    forderte Nelli und schlug ihren Krückstock nach ihm, ehe Esther auf seine Bemerkung hätte antworten können. Allerdings bemerkte er noch, wie Esthers Gesicht rot anlief.
    „Wendy?“, wollte Trevor wissen, was der Hexe ein breites Grinsen hervorlockte.
    „Hör auf mit dem Mist!“, ranzte Edmund deshalb Nelli an. Er spürte den Schlag zwar, fühlte sich von dem Namen aber deutlich mehr belästigt. „Wendel war mein Großvater! Von mir aus verstümmel den Namen des grantigen Alten, aber nicht in meinem Zusammenhang, altes Weib!“
    „Oh, wir sind heute aber wieder sensibel, Wendy“, neckte Nelli grinsend weiter.
    „Ich bin nicht sensibel!“
    Nelli sagte nichts mehr, aber das Grinsen verriet genug darüber, was sie sich dachte.
    Edmund dagegen unterdrückte das Seufzen und spähte nochmals in den Topf mit dem Essen.
    „Bedient euch, das Essen müsste fertig sein“, meinte er, lehnte sich selbst aber zurück und fischte das Logbuch und die Seekarte aus seinem Lager. Immerhin sah es nun wirklich so aus, als würden sie diese Insel verlassen. Das Schiff hatte in den letzten Tagen viel Form angenommen und mit etwas Glück würde es sogar auf dem Wasser liegen. Wenn er ehrlich war, hatte er nicht damit gerechnet. Aber umso zuversichtlicher wurde er nun. Ein Ende war zu sehen, weshalb sie sich nun auch des Öfteren eine Pause in der Nacht gönnten – so wie in diesem Moment.
    Um zu vermeiden, nochmal Nellis Stock ins Gesicht zu bekommen, öffnete er das Logbuch auf der Seite, auf der er tags zuvor aufgehört hatte zu lesen. Die längeren Pausen ermöglichten es, sich mit diesem Gekrakel zu beschäftigen. Gemeinsam mit Trevor hatte er so bereits auf der Seekarte – die für ein so winziges Handelsschiff erstaunlich aktuell und hochwertig war – ihre ungefähre Position markiert. Immer noch mitten im Schwarzen Fleck und mit der Nussschale somit Stürmen ausgeliefert.
    Edmund betrachtete nachdenklich das Schiff. Wenn sie in dem Ding ein ähnlicher Sturm traf wie die Eleftheria, würde auch Esther nichts retten können. Dann sanken sie mitten auf dem Meer. Sie mussten sich also entsprechend absichern. Aber womit? Und wogegen? Er hoffte dazu Hinweise im Logbuch zu finden.
    Edmund blickte wieder in das Buch und schlug die Seite um. Immerhin ließ sich das Kauderwelsch und diese hässliche Schrift nach einer Weile entziffern. Wenngleich sich Edmund nicht sicher war, ob es daran lag, dass er sich langsam an die Sauklaue gewöhnte, oder ihm die Insel das Hirn malträtierte.
    Beim Blättern stellte er fest, dass er offenbar das Ladungsregister vor sich hatte. Bei den neusten Einträgen fand er einige der Sachen, welche sie für den Bau genutzt hatten und bis auf die Lebensmittel konnte er alles bestätigen.
    Seine Augen verharrten bei einer Zeile mit Segeltuch. Soweit er es mitbekommen hatte, hatten sie keines gefunden. Andernfalls hätten die Frauen nicht die letzten Tage herumnähen müssen.
    Und welcher Irre benötigt eine Tonne Segeltuch?
    „Genug der Pause. Ich mache weiter", meinte Trevor und als Edmund aufblickte, merkte er, dass er mittlerweile allein im Lager hockte. Ein Blick zum Schiff zeigte ihm, dass die Alte und Esther bereits dort waren und an Deck kletterten. War er so vertieft gewesen?
    Trevor ließ die Arme kreisen und sah ihn auffordernd an. „Machst du auch noch etwas?“
    Edmund entfuhr ein Knurren. Warum betonte er das so? In den letzten Tagen hatte er doch auch ständig mitgearbeitet! Okay, er hatte anfangs mehr kaputt gemacht, als repariert, aber mittlerweile funktionierte es doch ganz gut. Im Nägel aus dem Holz ziehen, war er erstaunlich gut.
    Edmund schloss seufzend das Logbuch, legte es auf dem Lager ab und erhob sich, um Trevor zu folgen.
    „Sag mal, hast du irgendwo eine Tonne Segeltuch gefunden?“
    Trevor hob die Brauen.
    „Das wäre mir aufgefallen.“
    Edmund nickte nachdenklich.
    „Im Logbuch ist davon etwas verzeichnet.“ Er wog den Kopf… „Entweder ist das Segeltuch irgendwo im Dschungel und wir haben es nicht gesehen", aber wer schleppt denn bitte Segeltuch quer über eine Insel…und wozu?, „oder das Logbuch ist fingiert.“
    Edmund blieb neben der Strickleiter stehen, die an Deck des Schiffes führte und überlegte. Er selbst hatte in seinem Logbuch auch nie etwas über seine wichtige Fracht geschrieben. Das Fernrohr tauchte dort nicht auf, damit niemand wusste, was er transportierte, außer ihm selbst. Der Plan war offenbar nicht aufgegangen. Aber Armon sollte nun ebenso wenig mit anfangen können. Ob der Kapitän dieses Schiffs ähnlich gedacht hatte? Und was war dann die Ladung, wenn nicht Segeltuch?
    „Wie wahrscheinlich ist es, dass das Schiff etwas Anderes geladen hatte?“
    Trevor wog den Kopf.
    „Sehr wahrscheinlich. Das Gewicht zu verzeichnen ist wichtig, das Schiff auf einer Seite nicht zu überladen. Wenn es also kein Segeltuch war, was hier geladen war, dann sicherlich etwas, das sie nicht an Bord lassen wollten ...“
    Edmund verschränkte die Arme und betrachtete das Schiff nachdenklich. Es war nicht sonderlich groß, um sperrige Sachen transportieren zu können. Es mussten also kleinere Sachen sein, die sich leicht verstauen ließen, aber Eigengewicht mit sich brachten. „Etwas, das in etwa das gleiche Gewicht wie eine Tonne Segeltuch hat", murmelte er vor sich hin.
    Trevor nickte nur.
    „Du hast mehr Erfahrung. Was würdest du verstecken wollen?"
    Trevor runzelte die Stirn und warf einen Blick zum Wald zurück.
    „So viel ich weiß, hat mein ... hat Johnny manchmal kleine Handelsschiffe überfallen, wenn er das Gefühl hatte, es war eine Tarnung. Mit ihnen wurden heimlich Schmucklieferungen transportiert, Geschenke anderer Reiche oder ... Steuern. Bei diesen Überfällen war ich allerdings nie dabei. Da war eine kleine Mannschaft ausreichend. Vielleicht ist es hier etwas Ähnliches.“
    Edmund lachte.
    „Du hast nicht zufällig eine riesen Kiste voll Gold gefunden?"
    Trevor stimmte in sein Lachen ein. „Wenn ich das hätte, hättest du das mitbekommen. Aber nein, vielleicht ist sie auch nicht an Bord. Nicht mehr ..."
    „Und wo würdest du eine riesen Kiste voll Gold verstecken?“ Edmund musterte ihn von der Seite.
    „Vergraben das Piraten nicht eigentlich immer?“ Trevor grinste.
    Was war das denn für eine Kindergeschichte? Aber bitte, das konnte er auch.
    „Malen Piraten nicht auch Karten mit Schrittangaben, wo sie den Schatz vergraben haben? Die Insel ist riesig“, erwiderte Edmund sarkastisch.
    „Das ist nur ein Gerücht. Warum sollten sie irgendjemanden verraten wollen, wo ihr Gold begraben liegt? Nein, das haben sie im Kopf. Wenn die Besatzung irgendetwas verbuddelt hat, dann bekommen wir das nicht so einfach heraus."
    „Die Betonung liegt auf Wenn.

    Trevor musterte ihn, dann den Dschungel hinter ihnen und den Sandstrand, dann nickte er. „Der Boden ist allerdings sehr felsig. Ich glaube nicht, dass sie ihn gut vergraben konnten. Vielleicht haben sie eher einen ... Unterschlupf genommen.“
    Edmund sah Trevor an, ehe er die Strickleiter ergriff und nach oben kletterte. Das Schwanken verriet ihm, dass Trevor ihm folgte.
    Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Schiff tatsächlich irgendwas geschmuggelt hatte? Und wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass es Steuern oder Geschenke waren? Was war mit Gewürzen? Andere, teurere Stoffe? Und wenn ja, wie sollten sie diese Sachen finden? Wenn sie nicht einmal wussten, wonach genau sie suchen mussten. Und wollten sie das überhaupt?
    Als er oben ankam, wartete er auf Trevor und wog weiter den Kopf.
    Fakt war, an Bord befand sich nichts, was Segeltuch oder dem Gewicht von eben diesem glich. Auch bei dem, was sie abgeladen hatten, war nichts dabei gewesen. Wenn die Matrosen es also vom Schiff getragen und versteckt hatten, musste es durchaus etwas Wertvolles sein. Aber warum hätten sie sich diese Mühe machen sollen?
    „Diese Matrosen“, begann er, „Wenn wir zu viert ein Schiff reparieren können, hätten sie das auch gekonnt. Sie hatten schließlich alles dabei.“
    „Vielleicht kamen sie nicht dazu“, meinte Trevor und zuckte die Achseln.
    „Aber warum?"
    „Das fragst du im gleichen Atemzug, wenn es vielleicht um eine Kiste Gold ging?"
    „Was bringt einem eine Kiste voll Gold auf einer Insel wie dieser?"
    Edmund hob die Augenbrauen. Ohne eine Möglichkeit von der Insel herunterzukommen, brachte auch eine Kiste Geld nichts. Und auch, wenn sein Vater darüber wohl anders denken würde. Es würde auch nichts bringen, alle anderen dafür zu töten.
    „Darüber macht man sich Gedanken, wenn einem die Kiste voll Gold gehört."
    Das machte keinen Sinn. Dann war es vielleicht zu spät.
    Wir allerdings haben das Schiff bald fertig, überlegte er. Und vielleicht wäre es sogar seetauglich.
    „Was ist mit dir?“, grinste Edmund.
    „Mit mir?"
    „Gold ... Pirat... nur drei andere Schwächlinge, die du beseitigen müsstest..."
    Er zählte an den Fingern mit. Trevor sah ihn kurz verwirrt an und lachte dann los.
    „Wie mein Vater sagte ... Ich war nie wirklich ein Pirat. Und ein Söldner bin ich auch nicht. Ich wäre so dumm und würde teilen."
    Teilen …
    Edmund nickte als Antwort auf Trevors Aussage.
    „Was heckt ihr beiden denn schon wieder aus?“, wollte Nelli wissen. Die Alte kam gerade vom Steuerrad gelaufen und musste die Hälfte des Gespräches mitgehört haben. Uralt, aber wehe es geht um Geld!
    „Edmund ist auf eine Ungereimtheit im Logbuch gestoßen und wir überlegen, was es sein könnte“, meinte Trevor.
    „Eine Ungereimtheit?“, wollte Esther wissen. Die Gräfin kam durch die Tür zum Unterdeck.
    „Es wäre zu vermuten, dass das Schiff nicht nur ein einfaches Handelsschiff war, sondern etwas Wertvolleres transportiert hat“, gab Edmund abwesend von sich, immer noch mit der Überlegung beschäftigt, was es sein konnte … Es fuchste ihn, es nicht zu wissen. Ob es Armod mit seinem Logbuch ebenso ging? Das Wissen, dass das Artefakt auf dem Schiff war, aber es nicht zu finden? Oder hatte er es bereits gefunden? Der Gedanke ließ es ihm kalt den Rücken hinunterlaufen.
    Trevor lachte.
    „Einen Schatz vielleicht.“
    „Einen Schatz?“,
    fragte Esther?
    „Wer weiß“, meinte Trevor.
    Nelli zuckte gleichgültig die Schultern. „Und wenn schon. Zusätzlicher Ballast, den wir transportieren müssen.“
    „Dann lassen wir dich hier“,
    Edmund zuckte ebenfalls die Schultern. Sein Interesse an der Ware lag viel mehr darin, was genau so wichtig war, dass es im Logbuch keine Erwähnung fand. Außerdem hatten sie nach der Meuterei nichts mehr und sollten sie jemals mit dieser Nussschale lebend in einem Hafen ankommen, wollte er sich nicht mehr fühlen wie ein Bauer und essen wie einer. „Und kaufen dir im nächsten Hafen von dem Geld einen hübschen Grabstein. Granit oder Marmor?"
    „Reizend, dass du so viel Geld für mich investieren willst. Ich weiß das wirklich zu schätzen. Ich dachte, du würdest mich nur unter einer Palme verscharren.“
    „Das wäre auch eine Variante.“
    Er grinste die Hexe an und zuckte dann die Schultern. Sie waren zu viert bis hierhin gekommen, also würden sie auch zu viert die Insel verlassen. Auch, wenn er diese Überzeugung anfangs noch nicht vertreten hatte. Was hatte sich geändert? „Wir wissen nicht, was es ist und ob es überhaupt wertvoll ist. Nur dass es interessant genug ist, um es nicht im Logbuch zu verzeichnen. Ich halte es daher für sinnvoll zu schauen, ob man etwas findet. Ich schätze, eine Weiterreise kann sich jeder von uns nur mit etwas Geld leisten.“
    Trevor schob sich zwischen sie.
    „Ich schlage vor, wir kümmern uns erstmal um das Schiff. Im Dunkeln durch den Dschungel zu laufen, ist keine gute Idee und“, Trevor warf Edmund einen grinsenden Blick zu, „ohne Schiff kommen wir mit dem Schatz auch nicht weit.“
    Edmund nickte und verkroch sich wieder in seine Überlegungen. War das vielleicht ein guter Moment, um den anderen zu sagen, was Armod damals gefordert hatte? Was war, wenn die Eleftheria bereits gesunken war? Dann wäre das Fernrohr weg. Oder Armod hatte es gefunden. Ein Schiff war deutlich kleiner als eine Insel. Dort etwas zu verstecken, hatte seine Grenzen. Und irgendwie hatte Armod ja auch herausgefunden, dass er etwas Wertvolles transportierte. Nur wie? Hatte es ein Leck gegeben? Irgendwoher mussten die Piraten von der Waren gewusst haben…
    Er dachte kurz daran, was Esther ihm geraten hatte. Dass sie Nelli und Trevor einweihen sollten, was die Eleftheria geladen hatte. Dass er das auch mit ihnen teilen sollte. Sie hatten ein Recht es zu erfahren, oder? Als magisch Gezeichnete waren sie vom Einfluss des Fernrohrs betroffen, oder? Und er konnte ihnen vertrauen. Oder? Für den Fall, dass Armod es fand … würden sie es wissen wollen.
    Er biss sich auf den Lippen herum.
    „Was ist?“, wollte Esther wissen und sah ihn fragend an.
    „Ein nachdenklicher Edmund … die Welt steht kurz vor dem Untergang“, lachte Nelli.
    Wenn Armod das Fernrohr gefunden hat, könnte das durchaus sein.
    „Ich, muss euch noch etwa sagen, ehe wir weiter machen.“ Kurz sah er zu Esther, „Esther weiß davon.“ Er lehnte sich an die Reling, um seine Nervosität zu verschleiern. „Diese besondere Ladung, von der Armod auf der Eleftheria gesprochen hat, und wegen der ich gemeutert wurde, war…ist das Fernrohr von Chresvol, das ich in Samira an … einen Magier verkaufen sollte.“ Er musste sich zwingen, um den anderen weiter ins Gesicht blicken zu können. „Wenn ich dem Kerl das Fernglas gegeben hätte, dann wäre all das vielleicht nicht passiert. Aber ich konnte nicht … “
    „Das Fernrohr von Chresvol?“ Trevor sah ihn verwirrt an. „Was soll das sein?“
    „Angeblich lassen sich damit magische Wesen aufspüren.“
    „Dann ist es gut, dass du es behalten hast. Das darf nicht in falsche Hände geraten. Das ist viel zu gefährlich“,
    brummte Nelli.
    Edmund nickte. Er hoffte inständig, dass sie das Fernrohr wiederfanden und er es dem Käufer übergeben konnte, dem sein Vater das Teil versprochen hatte.
    „Kann man denn dem Käufer trauen?“
    Nervös tippte Edmund mit dem Finger auf die Reling.
    „Ich kenne den Käufer nicht. Vater hat alles mit ihm verhandelt. Ich sollte nur das Fernrohr überbringen.“
    Trevor nickte mit unverhohlener Skepsis in der Mimik.
    „Also ich kenne seinen Namen. Aber ob man ihm trauen kann, weiß ich nicht“, sah sich Edmund deshalb kleinlaut in der Position sich rechtfertigen zu müssen.
    „Ich bin vielleicht auch voreingenommen. Immerhin ist das sicherlich ein Fernrohr, mit dem man auch Formwandler aufspüren kann."
    Edmund räusperte sich. „Und Nymphen... Hexen... Magier...alles mit einem Funken Magie im Körper."
    Trevors Gesichtsausdruck wurde noch eine Spur skeptischer.
    „Vielleicht sollten wir uns vor der Übergabe den Kerl erstmal anschauen. Nur ... zur Sicherheit.“
    Edmund runzelte die Stirn. Was hieß hier „wir“? Es war schließlich seine Ware.
    Wer ist der Käufer?“, wollte Esther wissen.
    Edmund zögerte. Konnte er es ihnen anvertrauen? Sein Vater hatte ihm immer eingeschärft, dass der Käufer für andere tabu war.

    „Edmund?“, bohrte Esther nach.
    Andererseits … was will er machen?
    „Der Kerl heißt Thomas von Talar. Ein Magier.“
    Esther zog die Luft ein. „Wirklich? Thomas von Talar?“
    „Ja?“ Skeptisch runzelte nun Edmund seinerseits die Stirn und auch Trevor und Nelli beäugten Esther. „Du kennst ihn?“
    Esther wandte den Blick ab, nickte aber. „Ja.“
    Edmund wollte nachbohren, aber etwas sagte ihm, dass sie nicht darüber reden wollte. Scheinbar ging es den anderen beiden ebenso, denn keiner fragte nach. Jedenfalls klang es nicht, als wäre dieser Kerl die richtigen Hände. Aber sein Vater hatte sich erkundigt, oder? Er würde so einen Gegenstand niemanden geben, der etwas Schlechtes damit vorhatte. Auch wenn der Handel viel Geld einbrachte, oder? Und vielleicht irrte sich Esther auch. Oder sie sprachen von zwei verschiedenen Thomas von Talar.
    Also schwieg er und schnappte sich einen der Hämmer. Er hätte das Thema nie anfangen dürfen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee die anderen einzuweihen.
    „Entschuldigt mich“, murmelte Esther und stieß hörbar die Luft aus. Ohne jemanden anzuschauen, verließ sie das Schiff über die Leiter mit gesenktem Kopf und lief zum Lager.
    „Habe ich etwas Falsches gesagt?“, wollte Edmund wissen.
    „Ich denke nicht“, meinte Nelli.
    Etwas verwirrt blieben sie drei zurück.

    Trevor bugsierte die Baumstämme mit einer Leichtigkeit umher, die Edmund beinahe neidisch machte. Aber auch nur beinahe. Immerhin war er deshalb nicht gezwungen, diese Bäume umherzuschleppen. Er spielte sogar mit dem Gedanken, sich einfach wieder in den Schatten zu setzen und dem Piraten dabei zuzuschauen, wie er allein arbeitete. Aber irgendwas sagte ihm, dass von den drei anderen keiner zugelassen hätte, dass er saß, während Trevor arbeitete. Es wäre dennoch deutlich entspannter gewesen als in der Abendhitze Löcher am Strand auszuheben. Warum war es immer noch so warm? Die Mittagshitze hatten sie abgewartet und erst am Abend wieder angefangen. Aber das schien die Hitze nicht zu stören! Wahrscheinlich bekam er gerade einen Sonnenbrand! Das Hemd klebte ihm am Körper und es gab kaum noch eine Stelle, an der kein Sand war!
    Diese Insel ist der Horror! Im Gegensatz zu Trevor brauchte er auch niemand anderen, der ihn wütend machte. Diese ganze Insel ging ihm derart auf die Nerven, dass sich die Schaufel quasi von selbst in den Sand rammte.
    Trevor setzte den Stamm vor ihm neben dem ausgehobenen Loch ab und seufzte ebenfalls auf. Woher genau der Wandler nun seine Inspiration nahm, diese komischen Kräfte zu animieren, wollte Edmund gar nicht wissen. Er war nur froh, dass er nicht mehr gezwungen war, ihn wütend zu machen. Am Ende wurde er wirklich noch geköpft – und er hatte Trevor deutlich lieber auf seiner anstatt auf der Gegenseite.
    „Ich habe meine Schaufel bei den Fässern stehen lassen“, meinte Trevor. „Ich bin gleich wieder da, dann heben wir den Stamm ins Loch und graben es wieder zu.“
    Edmund kam nicht dazu, etwas zu sagen, da löste der Formwandler seinen Griff auch schon von dem Baumstamm und lief los.
    Überfordert und aus seinen Gedanken gerissen, ließ Edmund seine eigene Schaufel fallen und versuchte noch den Stamm irgendwie gerade zu halten. Allerdings wog der Baum deutlich mehr als er und schob ihn einfach über den Sand.
    Trevor schien aus dem Augenwinkel heraus noch zu merken, dass er den Stamm nicht hätte loslassen sollen, doch für seine Hilfe war es bereits zu spät. Der Pfosten kippte und weil Trevor nachgreifen wollte, gab er dem Baum noch den letzten Schubs.
    Edmund machte einen Schritt zur Seite, kam im Sand aber nicht schnell genug voran und wurde vom Baum mitgezerrt und unter ihm begraben. Er landete unbequem auf dem Rücken und das Gewicht prallte ihm ins Gesicht und auf die Rippen, drückte ihm die Luft aus den Lungen. Dass irgendetwas brach, konnte er zudem spüren und hören.
    Wie ich dieses Geräusch hasse!
    Benommen blieb er liegen.
    „Scheiße!“, hörte er Trevor fluchen und dann verschwand der Baumstamm auch schon wieder von seiner Brust. „Geht’s dir gut? Ich habe völlig vergessen, dass der Stamm schwer ist!“
    Ach was … wäre mir gar nicht aufgefallen, murrte Edmund in Gedanken. Fliegengewicht.
    „Wie kann man vergessen, dass ein Baum viel wiegt!“, stieß er aus. Dabei merkte er, dass ihm das Atmen deutlich schwerer fiel als vorher. Irgendwas drückte ihm unangenehm auf die Lunge. Im wahrsten Sinne des Wortes geplättet, setzte sich Edmund auf und atmete mehrere Male durch. Blut tropfte ihm in den Schoß, weshalb er sich ins Gesicht griff.
    Nicht schon wieder die Nase …
    „Ich werde mal Nelli holen!“, meinte Trevor und war bereits losgelaufen, ehe Edmund den Blick heben konnte.
    Verwirrt sah er Trevor nach und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Blut, das er im Übrigen auch im Mund schmeckte. Wahrscheinlich hatte er sich beim Sturz auf die Zunge gebissen. Seufzend spuckte er aus und erhob sich, den Blick auf den Baum gerichtet, dem er nun den Blutfleck auf seiner Kleidung zu verdanken hatte. Er sollte lieber zusehen, dass er die Flecken schnell wieder los wurde, ehe er doch noch gezwungen war, die Kleidung der toten Mannschaft überzustreifen.
    Wozu genau er nun Nelli brauchte, war ihm allerdings unschlüssig.
    Mit dem Fuß trat er gegen den Stamm und verfluchte alles: von der Insel über seine Mitgestrandeten bis zur Reise allgemein. Und zu guter Letzt den Dschungel mit seinen absurd schweren Bäumen!
    Genervt wandte er sich zum Wasser. Dort angekommen, hockte er sich hin, um sich das Blut aus dem Gesicht zu waschen, und wäre dabei beinahe vornüber gefallen, als er Nellis Stimme plötzlich hinter sich hörte.
    „Ich hoffe, du beschwerst dich nicht nochmal über einen von uns“, sagte sie. Edmund verdrehte die Augen ehe er sich an die Alte wandte. Dabei überkam ihn leichter Schwindel.
    „Ich kann auf deine Belehrungen gerne verzichten, Hexe!“, murrte er und schüttelte den Kopf, ehe er sich zurückwandte und weiter das Gesicht sauber machte.
    Nelli hob die Augenbrauen und musterte ihn und wenn er sich nicht täuschte, lag Sorge in ihrem Blick. Warum? Wegen dem bisschen Blut? Da war bei der Meuterei deutlich mehr davon geflossen. Nur ließ sich dieses Blut einfach abwischen. Es war schließlich sein eigenes.
    „Glotz nicht so!“
    „Was sagtest du, wie das passiert ist?“
    , wandte sich Nelli etwas verwirrt an Trevor, der stirnrunzelnd neben ihr stand. Hinter ihnen tauchte auch Esther auf und schlug die Hand vor den Mund. Warum taten alle so, als wäre er bereits tot? Das war doch nur ein Baum gewesen! Ein verdammt schwerer, ätzender, verfluchter Baum!
    „Trevor hat einen Baum auf mich fallen lassen“, gab Edmund von sich und deutete auf den Pfosten. Mit der anderen Hand rieb er sich über die Nase und rückte sie wieder gerade.
    „Er ist nicht gefallen. Er hat dich umgedrückt.“
    „Ich bin eben kein Formwandler mit übermenschlicher Stärke!“
    , blaffte Edmund zurück. Erneut sammelte sich das Blut in seinem Mund. Doch mehr als ein Biss auf die Zunge? Er spuckte auch dieses Blut aus, ehe er sich wieder erhob.
    Du schuldest mir eine Rippe, Pirat!
    „Dafür braucht man keine übernatürliche Kraft“, meinte Trevor klang dabei aber mehr besorgt als ärgerlich.
    „Um einen Baumstamm festzuhalten, der dreimal so hoch ist wie man selbst? Doch, ein normaler Mensch hält das nicht mal eben so unvorbereitet fest!“
    Er krempelte etwas die Ärmel des Hemdes nach oben und versuchte dann den Fleck etwas zu beseitigen. Was nichts brachte.
    Toll…das war es dann auch mit der Hose! Super Tag!
    „Ich sollte mir das anschauen“, ging Nelli dazwischen.
    Verwirrt runzelte Edmund die Stirn.
    „Das ist nichts. Ich habe das Blut abgewaschen, wir können also weitermachen.“ Edmund wollte an Nelli vorbei, doch die alte Hexe hielt ihn am Arm fest. „Komm schon, Hexe. Ich habe keine Lust hier noch ewig in der Sonne herumzustehen.“ Allem voran, weil ihm langsam schwindlig wurde und er noch immer Probleme beim Atmen hatte. Vermutlich sollte er erst einmal etwas trinken.
    Nelli hob die Augenbrauen und runzelte die Stirn noch etwas mehr, was bedeutete, dass zu den vielen Falten noch mehr dazukamen. Erstaunlich, dass das möglich war …
    „Das sieht aus wie ein Nasenbruch“, meinte sie überflüssigerweise und deutete auf sein Gesicht. Bei dem Geräusch, das sein Gesicht gemacht hatte, hatte er sich das bereits gedacht. Die Nase oder der Kiefer. Aber der Kiefer hatte sich beim letzten Mal anders angehört. Und er hatte damals tagelang nicht reden können!
    „Das ist nicht das erste Mal. Das heilt schnell.“ Er winkte ab. Konnten die nicht einfach alle gehen und ihn in Ruhe lassen? Was war an einem Nasenbruch so schlimm? Wie war das? Sie hatten alle eine Arbeit zu erledigen und wollten von der Insel runter?
    „Du hast auch eine Platzwunde, nicht, dass es den Knochen erwischt hat.“
    Wie nervig konnte diese Alte denn bitte noch werden? Es war doch nichts! Sollten sie sich nicht lieber Gedanken darum machen, dass Trevor fahrlässig mit den Baumstämmen herumspielte? Erst warf er sie, dann hätte er beinahe Esther umgeklatscht und auf ihn hatte er den Baumstamm schließlich fallen lassen.
    „Das heilt!“, meinte er und schüttelte Nellis Hand von seinem Arm. Lästiges altes Weib!
    „Und...“
    „Nein!“, ging er sauer dazwischen, „Mir geht es gut!"
    Er marschierte auf Trevor zu, der unschlüssig zwischen ihnen hin und her blickte, dann aber die Schultern zuckte. Immerhin einer, der ihn verstand.
    „Das entscheide ich!“, schimpfte Nelli weiter und deutete mit dem Finger in den Sand neben sich. „Hinsetzen und lass mich das untersuchen! Je mehr du diskutierst, desto länger wird es dauern.“
    ER diskutierte doch überhaupt nicht! Sie hatte angefangen, weil sie seine Meinung nicht akzeptierte! Dabei war das sein Körper! Und erfahrungsgemäß heilte alles narbenfrei ab.
    „Das ist nur ein bisschen Blut! Ich habe mir vermutlich auf die Zunge gebissen!“ Sein Mund füllte sich in diesem Moment erneut, weshalb er ausspucken musste. Davon abgesehen nahm ihm diese dumme Diskussion langsam den Atem.
    Trevor klinkte sich derweil betreten aus und arbeitete weiter, in dem er den Baum in das Loch hob und begann, das Loch drumherum wieder mit Sand zu füllen. Nur ab und an, warf er noch einen Blick in ihre Richtung. Wohl um sicher zu gehen, dass der Streit nicht eskalierte. Ein Streit, den es nicht geben würde, wäre die alte Schachtel nicht so stur!
    „Du hast dir die Nase gebrochen. Und du kannst froh sein, wenn du dir die Zunge nicht durchgebissen hast!“
    „Habe ich aber nicht!“
    Demonstrativ streckte er der Hexe die Zunge entgegen. Sprach er eine andere Sprache?
    „Bist du bei jedem Arzt so sperrig?“
    Ja! Weil Ärzte immer überreagierten! Und er in der Vergangenheit immer gezwungen gewesen war, Verbände und Stützen länger zu trage, als er sie gebraucht hätte. Damit niemand merkte, dass Wunden schneller heilten, als es normal gewesen wäre.
    „Bei jedem Arzt über 90!“, zischte er. Dass er außerdem nicht wollte, dass die Alte ihn anfasste, war Punkt Nummer zwei.
    „Ich hab mehr Erfahrung als alle deine Ärzte zusammen. Und jetzt halte gefälligst still!“ Die Alte rückte wieder näher an ihn heran und machte erneut Anstalten, ihn am Arm festzuhalten, weshalb Edmund zurückstolperte.
    „Du bist auch älter als alle meine Ärzte zusammen!"
    Du bist auch irrsinniger als alle meine Ärzte zusammen! Diese sind nie nächtlich durch den Wald getanzt und lagen dann bewusstlos in der Gegend herum.
    „Ein verdammter Baum ist auf dich gefallen. Normalerweise sollten wir diese Diskussion nicht mal führen!"
    Dann hör doch endlich auf diese Diskussion zu führen!
    „Kümmere dich um dich selbst und setz dich lieber in den Schatten, Hexe.“
    „Gut. Du kannst das jetzt entweder ruhig über dich ergehen lassen oder ich sorge dafür, dass du fest gehalten wirst. Auf deine Spielchen hab ich keine Lust mehr."
    Edmund wollte sagen, dass nicht er derjenige war, der hier Spielchen spielte. Allerdings hatte ausgerechnet in diesem Moment Esther das Bedürfnis sich einzumischen.
    „Ihr solltet tun, was Nelli sagt, oder ich halte Euch fest ...“
    Edmund hob grinsend die Augenbraue.
    „Klar...“, gab er sarkastisch von sich. Als wären die beiden Frauen in der Lage, ihn aufzuhalten. Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg zu Trevor. Davon würde er sich nicht weiter aufhalten lassen. Er hatte keine Lust mehr, weiterhin in der Sonne herumzustehen. Und mit dem Gerüst wollte er auch endlich fertig werden. Das Ganze ging schon viel zu lang.
    „Na schön. Ihr habt es nicht anders gewollt“, hörte er Esther sagen und er sah wie sie ihren Zauberstab zog, dann konnte er sich nicht mehr bewegen. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr und bewegte sich von sich aus einfach zurück zu den Frauen. Egal, wie sehr er sich dagegen wehrte.
    „Aber sonst geht es Euch gut?!“, keifte er Esther wütend an. Was glaubte sie eigentlich, wer sie war? Er musste tief Luft holen, um genug Atem für die nächsten Worte zu besitzen. „Aufhören! Sofort!“
    „Mir geht es sehr gut“
    , meinte Esther und konzentrierte sich darauf, dass er gegen seinen eigenen Willen vor Nelli stehen blieb. „Euch aber anscheinend nicht ...“
    „Lasst das!“
    , schrie er. Traf damit aber nur auf kühle Gesichte.
    „Ich habe dich gewarnt, Jungchen...“
    Edmund war genervt.
    „Du bekommst schlecht Luft und spuckst die ganze Zeit Blut aus. Das ist nicht normal!“, fauchte Nelli derart genervt, dass selbst er zusammenzuckte. Was machte sich die Alte schon wieder solche Sorgen? „Du musst nur mal kurz stillhalten. Danach kannst du dich gerne wieder unter umfallende Bäume legen, wenn du darauf Lust hast.“
    Edmund stieß ein Knurren aus und sah sowohl Esther als auch Nelli böse an. Was sollte das bitte heißen? Dass er schon wieder zu unfähig war, Trevor bei der Arbeit zu helfen? Ja, er war deutlich langsamer! Ja, er musste nach jedem gefällten Baum eine Pause machen! Ja, er konnte keine Bäume herumtragen und offenbar nicht einmal festhalten! Er war für körperliche Arbeit nun einmal nicht gemacht! Und er machte es dennoch! Sollten sich die Frauen doch hinstellen und dieses dumme Gerüst bauen!
    „Jetzt sei brav und lass dich ansehen. Glaubst du, ich habe Lust, nochmal mit der Dunkelheit um ein Leben zu feilschen?“
    Edmund grummelte immer noch unwillig. Wie lange wollte sie ihm das noch vorhalten? Er hatte seine Aussage nicht so gemeint! „Es hat dich niemand darum gebeten.“
    Nelli musterte ihn eine Weile nachdenklich und Edmund war fast sicher, dass sich die Diskussion nun endlich erledigt hatte. Das waren doch nur Kratzer!
    „Ich würde es wieder tun, wenn ich einen von euch damit retten kann. Hinlegen.“
    Edmund starrte lediglich zurück.
    „Ich setze mich, das muss reichen!“ Es sollte ihm immerhin keiner nachsagen, dass er nicht auch für Kompromisse bereit war… wenn er schon von einem Zauber gefesselt in der Gegend herumstand.
    Nelli warf Esther einen Blick zu. „Ich sagte: hinlegen“, meinte sie an die Magierin gewandt, dann drehte sie sich zurück zu ihm. „Kannst du auch mal irgendwas machen, ohne zu widersprechen?"
    „Nein.“

    Noch während er sprach, legte er sich auch schon gegen seinen Willen hin. Tatsächlich war er kurz überrascht, dass ihn die Situation noch mehr nerven konnte, als sie es sowieso schon tat. Mit dem Rücken im Sand, das Gesicht zum Himmel gewandt und die Alte, die sich erst über sein Gesicht beugte und dort herumtatschte und dann das Hemd aufknöpfte, um seine Brust zu untersuchen. Das war sehr nah dran, schlimmer zu sein, als unter einem Baum zu klemmen! Vor allem, wenn man nicht die Möglichkeit hatte, die Hände wegzuschlagen!
    „Oh super, ich wollte schon immer von einer 180-jährigen Hexe befingert werden“, gab er deshalb ironisch von sich.
    „Das nennt sich untersuchen. Und glaub mir, ich habe schon ganz andere Körper gesehen.“
    Er spürte ihre Finger auf seiner Brust herumdrücken. Was genau sie damit erreichen wollte, wusste er nicht, nur, dass er davon husten musste.
    „Das glaube ich dir gern“, angewidert verzog er das Gesicht. Oder hätte es getan, wenn Esthers dummer Zauber ihn gelassen hätte. Probehalber versuchte er einen Finger zu bewegen, was nicht funktionierte. Soweit es ging, wandte er den Blick zu Esther, welche weiterhin den Stab erhoben hielt und ihn konzentriert ansah. Als sie seinen Blick bemerkte, wandte sie sich etwas ab, behielt aber weiterhin die Konzentration auf ihn gerichtet.
    Nachdenklich musterte Edmund sie eine Weile stumm.
    „Ihr beiden könnt aber gerne tauschen“, meinte er schließlich mit einem bitteren Grinsen.
    „Träum weiter, Jungchen“, gab Nelli von sich und schüttelte mit einem Schmunzeln den Kopf.
    Esther legte den Kopf schief und musterte ihn.
    „Tut mir leid, aber daraus wird nichts. Wer sollte sonst den Bann aufrecht halten? Außerdem ist Nelli die Heilerin.“ Ihre Stimme klang dabei so trocken als hätte sie mit Sand gegurgelt.
    Es überraschte Edmund, dass Esther in der Lage war zu kontern. Und sie seine Absicht durchschaut hatte. Trotz der herabwürdigenden Situation musste er sich ein Lachen verkneifen.
    „Schade“, meinte er lediglich, „wo ich doch bereits willig und in Euren Bann gezogen halbnackt vor Euch liege.“
    Esther zögerte sichtlich, räusperte sich dann aber. „Seid versichert“, meinte sie trocken, „mir genügt das.“ Die leichte Röte in ihrem Gesicht kam jedoch nicht nur von der Sonne.
    Edmund bemerkte es und beschloss noch weiter zu bohren.
    „So Eine seid Ihr also, Gräfin?“, neckte er deshalb. „Ich bin doch überrascht. Bringt Ihr Trevor ebenfalls auf diese Weise dazu, vor Euch zu liegen?“
    Esther zog die Augenbrauen zusammen.
    „Jetzt werdet Ihr anmaßend“, gab sie von sich, „ich verbitte mir solche Unterstellungen!“
    Sieh an, da steckt ja doch eine Gräfin im Korsett!
    Beinahe hätte er laut aufgelacht, als er den säuerlichen Unterton in ihrer Stimme vernahm. Irgendwie schaffte sie es nicht ihm damit Angst zu machen. Und das obwohl er sich nicht bewegen konnte. Die Frage war, wie weit er gehen konnte, ehe sie ihn zwang, ins Wasser zu springen, um sich dort selbst zu ersäufen, oder aber sie die Konzentration über ihren Zauber verlor. Ehe er jedoch dazu kam, es weiter zu provozieren, zupfte Nelli ihm an den Haaren.
    „Genug davon“, meinte sie und schob ihre runzlige Gestalt mit Absicht so, dass Edmund aus seiner Position heraus Esther nicht mehr sehen konnte.
    Schreckliche Alte!
    „Spielverderberin“, murrte er nur.
    Nelli erwiderte nichts mehr, grinste aber vor sich hin und untersuchte die Rippen konzentriert, während Edmund in den Himmel blickte, der sich zum Glück langsam rot verfärbte, und dem Schaufelgeräusch von Trevor lauschte. Seltsamerweise war die Hexe bei ihrer dummen Untersuchung deutlich vorsichtiger als er es erwartet hatte.
    „Du verhältst dich wie meine Mutter", sprach er nach einer Weile. Diese gab auch nie auf, wenn er sich verletzt hatte. Und dabei hasste er Ärzte. Allerdings hatte er bei diesen mehr Zeit in seiner Kindheit verbracht, als ihm lieb war.
    „Wenn du dich wie ein kleines Kind verhältst, muss ich das wohl.“
    Edmund seufzte und richtete die Augen auf Nelli.
    „Wieso bezeichnet mich hier jeder als Kind, nur, weil ich eine Meinung habe, die keiner akzeptiert?“
    „Weil du nun mal bockig und stur bist.“
    Nelli seufzte genervt, ließ dann aber von ihm ab und sprach weiter, ehe er seine Gedanken zu ihrer Aussage laut aussprechen konnte. „Du müsstest tot sein“, überlegte sie sicherlich verwirrt laut, „Keine Ahnung, warum du es nicht bist.“ Das klingt wie eine Drohung! „Da sind etliche Rippen angeknackst, die eigentlich gebrochen sein müssten.“
    Und dafür hatte die Alte eine Untersuchung gebraucht? Dafür musste man erst Heiler werden? Er hatte das Knacken schließlich gehört. Hätte sie ihn gefragt, hätte er ihr genau das gesagt. Gut, vermutlich nicht genau das. Aber das irgendwas gebrochen war, war nicht so unwahrscheinlich.
    „Ich sag doch. Das ist nichts. Und in zwei oder drei Tagen ist das auch verheilt.“ So war es schon immer gewesen. Okay, die Brüche würden vielleicht ein paar Tage länger benötigen. Aber was machte das auf der Insel schon für einen Unterschied? Es behinderte ihn schließlich nicht. Mal abgesehen vom schweren Atem. Wobei: ob die Möglichkeit noch bestand, dass er sich theatralisch in den Schatten warf?
    „Warum ist das so?“
    Konnte sie ihn nicht endlich in Ruhe lassen? Sie hatte doch, was sie wollte!
    „Woher soll ich das wissen? Bin ich Wissenschaftler? Das liegt vermutlich am Nymphenanteil meiner Familie...“
    Nelli hob eine Augenbraue. „Ach ja, das erklärt einiges.“ Nachdenklich stützte sie das Kinn in die Hand und musterte die Platzwunde an seinem Kopf.
    „Das ist nicht das erste Mal, dass ich mir etwas breche oder irgendwas über mir zusammenbricht. Darf ich aufstehen?“
    Nelli legte den Kopf schief, betrachtete ihn noch eine Weile, ehe sie sich erhob. „Das musst du Esther fragen...“
    Esther legte ebenfalls den Kopf schief und erst glaubte er, er müsste sie wirklich anflehen, damit sie ihn freiließ, dann spürte er aber wie der Bann von ihm abfiel. Esther senkte den Zauberstab.
    Ehe die Frauen wieder auf die Idee kamen, ihn zu bannen, erhob sich Edmund.
    Toll, jetzt klebt mir noch mehr Sand am Körper! Vermischt mit Schweiß!
    Dass ihm schwindlig wurde, ignorierte er die Blöße würde er sich nicht geben!

    Auf dem Rückweg von der Quelle hielt Edmund nach Kräutern Ausschau, mit denen der Fisch nicht zu fad schmecken würde. Viel Auswahl gab es auf der Insel dafür nicht. Zwar kannte er sich etwas mit dem Gestrüpp aus, aber die meisten Kräuter, die seine Mutter beim Kochen verwendet hatte, waren getrocknet und keiner von ihnen hatte sie vorher aus der Erde rupfen müssen. Dennoch sammelte er ein paar zusammen, deren Aussehen er glaubte zu erkennen. Beinahe bedauerte er es, dass Nelli bewusstlos war und ihm daher nicht sagen konnte, was davon genießbar war und was man lieber meiden sollte, wenn man nicht vorhatte, sich selbst umzubringen. Auf der anderen Seite konnte er auf ihre Belehrungen auch gut verzichten.
    Sein Weg führte vorerst zum Wrack. Dort hatten sie die auf dem Schiff gefundenen Sachen deponiert und auch, wenn er nicht wusste, wie man einen Fisch ausnahm, ein Messer war sicherlich erstmal ein guter Anfang. Er meinte irgendwo in dem Durcheinander eines gesehen zu haben.
    Er stellte den Eimer ab und begann in dem Chaos zu suchen – was ihn nebenbei wahnsinnig machte, konnte man das nicht aufräumen?
    In der ersten Kiste wurde er nicht fündig und in der zweiten fand er lediglich ein verrostetes Messer.
    Das Knirschen von Sand ließ ihn innehalten.
    „Brauchst du Hilfe?“
    Edmund wandte sich um. Trevor kam auf ihn zu, bewaffnet mit einem Tuch und einem Dolch.
    „Ähm …“, machte Edmund geistreich, zögerte dann aber, „hast du eine Idee, was man gegen Rost machen kann?“ Er zeigte Trevor das Messer.
    „Ein neues Messer besorgen!“ Trevor lachte. „Ansonsten Essig und Öl.“
    Edmund spürte wie sein Auge zu zucken begann. Wollte der Kerl ihn zum Narren, oder was?
    „Leider mangelt es mir auf der Insel ein wenig an Möglichkeiten“, stieß er durch die zusammengepressten Zähne hervor.
    Trevor lächelte nachgiebig und reichte ihm den Dolch, von dem Edmund meinte, dass diesen bisher Esther bei sich getragen hatte.
    „Ich habe ihn eben gereinigt. Versuch es mal damit.“
    Edmund hob die Augenbraue. Das klang selbst für ihn nach keiner guten Idee.
    „Und ich schau mal, was ich mit dem Messer machen kann, vielleicht finde ich in den spärlichen Vorräten eine Drahtbürste.“
    Sie tauschten Dolch gegen Messer.
    „Was hast du damit eigentlich vor?“
    Edmund wog den Dolch in den Händen.
    „Einen Fisch ausnehmen.“
    Trevor runzelte die Stirn und wollte scheinbar etwas sagen, schwieg dann aber breit grinsend. Besser war es. Irgendwelche Klugscheißerkommentare konnte er wirklich nicht gebrauchen. Ehe es sich Trevor anders überlegen konnte, packte Edmund den Eimer und machte sich mit Dolch und Wasser wieder auf den Weg zum Lager. Sie würden schon sehen!

    Als Edmund zum Lager zurückkam, schlief Nelli noch immer. Esther stand am Strand etwas vom Lager entfernt und hantierte mit ihrem Zauberstab herum. Eine Weile beobachtete er sie stirnrunzelnd. Langsam war er sich sicher, dass sie alle zu viel Zeit in der Sonne verbrachten.

    Etwas unschlüssig hockte er sich vor den Fisch, reinigte ihn mit dem Wasser und brachte den Rest davon in einem verbeulten Topf zum Köcheln. Vielleicht ließ sich daraus noch etwas machen. Davon abgesehen, vertraute er der Quelle auch nicht.

    Dann wusste er aber nicht, wie er weiter verfahren sollte. Zwar hatte ihm seine Mutter einiges beigebracht, einen Fisch auszunehmen hatte aber nie dazu gehört. Zum einen, weil der Fisch meist schon ausgenommen war und zum anderen weil seine Mutter nicht wollte, dass er sich mit dem Blut beschmutzte. Aber so weit er wusste, musste man den Fisch ausnehmen.
    Nachdenklich drehte er den Fisch einige Male hin und her. Hinter ihm brannte sich langsam die Sonne in seinen Rücken und machte ihm klar, dass er sich nicht mehr ewig Zeit lassen konnte, wenn er nicht wollte, dass der Fisch vorher zu laufen begann. Tatsächlich überlegte er einen Moment, ob Bananen und Kokosnüsse nicht doch die bessere Alternative waren.
    „Du musst hinten anfangen“, erklang Nellis Stimme hinter ihm und erschreckte ihn derart, dass er beinahe Fisch und Dolch von sich geworfen hätte.
    Die Luft einziehend wandte er sich um. Die Alte hatte leicht den Kopf auf ihrem Lager gedreht und betrachtete ihn müde.
    „Das weiß ich selbst!“, zischte er zurück, ließ dann aber den Dolch sinken. „Du bist wach.“ Es erleichterte ihn ungemein, dass die Alte ihre dumme Aktion im Wald überstanden und dabei nicht den letzten muffigen Atem ausgehaucht hatte.
    „Mhm, offensichtlich. Klingt so, als würde dich das wundern...“
    Natürlich wunderte ihn das! Immerhin hatte Nelli ihre eigene Gesundheit für Trevor geopfert! Er hatte angenommen, dass sie starb!
    „Ich habe eher gedacht, dass wir dich auch begraben müssen.“
    „Da hast du dich wohl zu früh gefreut.“

    Edmund unterdrückte ein Seufzen. Das Letzte worüber er sich gefreut hätte, wäre gewesen, die Alte zu begraben. Er hatte schließlich nicht gewollt, dass sie ihr Leben für das von Trevor gab. Aber Nelli musste auch nicht wissen, dass er froh war, dass sie noch lebte.
    „Mach sowas nochmal und ich sorge eigenhändig dafür, dass du in einem finsteren Erdloch verschwindest, Hexe.“
    Nelli startete einen Versuch, sich aufzurichten, lehnte sich aber schwer seufzend zurück.
    „Was willst du eigentlich von mir? War es jetzt wieder falsch, dass ich geholfen habe?“
    Edmund wollte sie anbrüllen, dass sie dumm gehandelt hatte, dass es völliger Schwachsinn gewesen war und dass sie sich alle Sorgen um sie gemacht hatten. Und er das nicht gemeint hatte, als er fragte, ob sie etwas wüsste, um Trevor zu helfen. Stattdessen schwieg er und starrte die Alte nur sauer an. Nelli lag noch immer auf ihrem Lager, eine zerpflückte Decke als Stütze unter ihrem Kopf. Sie wirkte schwach und als konnte sie sich nur mit Mühe überhaupt wachhalten. Seine Standpauke würde er also auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.
    „Wenn du das nächste Mal vorhast, irgendwo bewusstlos im Wald herumzuliegen, dann gib vorher Bescheid.“ Er legte den Dolch beiseite, um die Arme verschränke zu können. „Das gibt uns die Möglichkeit dich selbst bewusstlos zu schlagen. Das hätte den beiden anderen die Sorgen erspart.“
    Nelli biss die Zähne zusammen und stemmte sich auf ihrem Lager in einem weiteren Versuch hoch. Edmund wäre beinahe aufgestanden und hätte ihr geholfen. Stattdessen beobachtete er Nelli skeptisch bei ihren Versuchen. War das eine gute Idee? Sollte sie nicht doch lieber weiterschlafen? Andererseits war sie die Heilerin und wusste es wohl am besten.
    Gerade als er doch aufstand, um das sture Weib zumindest zu stützen, hatte sie es allein geschafft, weshalb er sich ein wenig blödsinnig vorkam, wie er nun mitten im Lager stand. Um davon abzulenken streckte er die Glieder, als wäre dies sein Plan gewesen und tauchte einen der gefundenen Becher ins Trinkwasser, um diesen Nelli zu reichen. Wenn sie mit Trinken beschäftigt war, konnte sie ihm nicht auf die Nerven gehen.
    „Danke.“ Nelli schaute ihn ruhig an und nickte ihm leicht zu, ohne auf seine Worte einzugehen.
    Edmund hob die Augenbraue. „Für was bedankst du dich denn, Hexe?!“
    „Das ihr mich gerettet und euch um mich gekümmert habt.“
    Edmund stieß ein Zischen aus.
    „Die anderen haben sich um dich gekümmert.“
    „Aber weder Esther noch Trevor werden mich aus dem Wald getragen haben.“

    Edmund verzog den Mund. Als würde er ihr das auch noch auf die Nase binden! Sollte sie glauben, was sie wollte.
    Knurrend wandte er sich ab und wieder an den Fisch.
    Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, wie Nelli selbstgefällig vor sich hingrinste.
    „Du bist schon merkwürdig. Ich tue das, was du sagst und es ist nicht richtig. Ich bedanke mich und es ist nicht richtig.“
    Dann halt doch die Klappe! Ich werde dir garantiert nicht sagen, dass ich mir Sorgen um dich gemacht habe!
    Er versuchte Nelli zu ignorieren und drehte stattdessen den Fisch noch zweimal hin und her und setzte den Dolch erneut an.
    „Die Klinge nach außen, und am After anfangen.“
    „Ich sagte doch, ich weiß das selbst!“,
    keifte Edmund zurück. Hätte die Hexe nicht ohnmächtig bleiben können, bis er mit dem Fisch fertig war? Oder einfach bis sie das Schiff repariert hatten? Es war ja nicht so, als konnte die Hexe dabei helfen. „Trink lieber, der Tag wird warm!“
    Er rümpfte die Nase, drehte dann aber den Dolch und setzte ihn am After an.
    „Nur flach schneiden, die Klinge immer nach außen, und nur die Haut durchtrennen.“
    Edmund hielt in der Bewegung inne und sah Nelli über die Schulter finster an. Diese lächelte unschuldig, schwach aber unschuldig. Der Schalk klebte ihr dennoch in den müden Augen.
    „Glaubst du, es ist ratsam mich zu reizen, während ich ein Messer in der Hand habe, Alte?!“
    Zurück beim Fisch, folgte er dennoch der Anweisung und rümpfte angeekelt die Nase.
    Denk einfach daran, dass du keine Kokosnüsse essen musst, wenn du das jetzt machst!
    „Soll ich dir das abnehmen?“
    „Nein.“
    „Gut"
    , Nelli grinste selbstgefällig, „dann pass auf, dass du die Gallenblase nicht erwischst.“ Edmund spürte, wie sein Auge erneut zu zucken begann. Wollten ihn die Leute heute alle für blöd verkaufen?
    Er war aber zu sehr mit dem Ekel beschäftigt, um sich über die Worte der Hexe zu beschweren. Stumm und widerwillig folgte er ihren Anweisungen, verfluchte innerlich alles. Er war froh, dass die Hexe in seinem Rücken saß und das Gesicht nicht sehen konnte, dass er zweifelsfrei zog. Der Fisch war von außen schon schleimig, eklig und widerlich gewesen. Aber von Innen …
    „Und jetzt mit den Fingern die Innereien herausziehen.“
    Gerade wollte Edmund sich umdrehen und die Hexe fragen, ob sie nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Als würde er dieses … Zeug wirklich mit den Händen anfassen. Allerdings trat im selben Moment Esther wieder an das Lager heran.
    „Nelli, du bist wieder wach“, meinte die Magierin sichtlich erleichtert. „Das freut mich.“ Sie ging sachte lächelnd neben ihr in die Hocke. „Wie geht es dir?“
    „Unkraut vergeht nicht.“
    Die Alte lächelte und nickte dann in Edmunds Richtung. „Außerdem werde ich gut unterhalten. So etwas verpasst man nur ungern.“
    Beide Frauen blickten nun in seine Richtung, weshalb Edmund verschlossen zurückstarrte. Warum grinste nun auch noch Esther? Hatten die beiden nichts Besseres zu tun?!
    „Halt die Klappe“, zischte er und wandte sich zurück an den Fisch. Warum hatte Esther ausgerechnet in diesem Moment zurückkommen müssen? Sich vor Nelli lächerlich zu machen, war das Eine. Aber vor Esther war keine Option! Fehlte nur noch, dass auch Trevor vom Wrack zurückkam und sich über ihn lustig machte!
    In seinem Rücken kicherte Nelli.
    „Der feine Herr versucht einen Fisch auszunehmen und ich bin gespannt, ob er die Innereien mit seinen zarten Fingerchen auch berühren kann, ohne ohnmächtig zu werden.“
    Dass Esthers Grinsen durch die Worte noch breiter wurde und sie sich nun genau neben ihn stellte, machte die Situation nicht besser.
    Edmund biss sich auf die Zunge, um die Beleidigungen für sich zu behalten.
    „Ich bin zuversichtlich, dass er es schafft“, sprach Esther, das Grinsen aber immer noch im Gesicht, was ihre Aussage für ihn nur unglaubwürdiger machte.
    Denen würde er es schon zeigen!
    Er unterdrückte das Wimmern, das ihm schon auf der Zunge lag und kam dann Nellis Erklärung nach, wie genau er das eklige Zeug anfassen musste, um es dem Vieh aus dem Rachen und Bauch zu ziehen. Hätten die beiden Frauen nicht neben ihm gehockt, er hätte das Vieh mit spitzen Fingern zurück ins Meer geworfen und sich die nächste Kokosnuss gegriffen. Nun konnte er sich die Blöße nicht geben.
    Es war blutig, glibbrig und zu gern hätte er alles vor Nellis Füße geworfen. Stattdessen biss er die Zähne zusammen. Die Erinnerung an das Gefühl würde er nie wieder aus dem Kopf bekommen! Wie konnte etwas so eklig sein?
    Mit einem Schmatzen lösten sich die Organe vom restlichen Fisch und eilig warf Edmund die Innereien in den leeren Eimer. Angewidert wischte er dann seine Hände an der Hose ab.
    Ihm entfuhr ein Fluch, als er merkte, dass es sich nicht gehörte, den Schleim von Fischinnereien an die Hose zu schmieren … und er nun den Schleim von Fischinnereien an den Hosen spazieren trug!
    Nelli stieß ein Geräusch aus, das Anerkennung hätte sein können, in Edmunds Ohren aber eher nach Belustigung klang.
    „Er hat es geschafft.“
    Genervt sah er die alte Frau an.
    „Anstatt dich über mich lustig zu machen“, er deutete auf das Tuch, in dem er die Kräuter gesammelt hatte, „sag mir lieber, was man davon nutzen kann und was nicht. Auf der Insel gibt es nicht viel." Dann war die Alte zumindest zu irgendwas gut! Und er konnte Esther ignorieren! Ihre Reaktion auf diese Lächerlichkeit wollte er gar nicht sehen.
    „Mich über dich lustig machen? Nichts liegt mir ferner“, schmunzelte sie und angelte nach dem Tuch. Mit zwischen den runzeligen Lippen geklemmter Zunge begann sie zu sortieren. „Das hier hat keine sonderliche Heilwirkung, schmeckt aber im Essen. Das hier hilft gegen Durchfall. Das hier ist gut, um Schmerzen zu stillen. Das ist Unkraut. Das hier giftig.“ Sie legte die einzelnen Pflanzen vor sich aus, so dass Edmund sie gut sehen konnte.
    Edmund beäugte die Gewächse und versuchte sich das Aussehen und Nellis Gesagtes zu merken. Aber am Ende sah alles davon recht ähnlich aus. Davon abgesehen: Waren nicht alle Kräuter Unkraut?
    „Und was davon passt zu Fisch?“, fragte er genervt.
    „Das da.“ Sie deutete mit ihrem knorrigen Zeigefinger auf das erste Kraut. „Du musst schon zuhören.“
    Ich habe zugehört, du alte Vettel!
    Beleidigt rümpfte er die Nase. „Gut, dann also das erste“, er griff danach. „Und du schluckst am besten das letzte.“ Stumm wandte er sich anschließend wieder an den Fisch, den er mit dem Dolch teilte und auf Stöcken über das Feuer hing. Er wurde gerade fertig, als Trevor vom Wrack zurückkehrte.

    Stunden später hockte Edmund im Schneidersitz neben dem Feuer, das langsam herunterbrannte.
    Nachts kamen die Erinnerungen an die Geschehnisse auf der Eleftheria blutig zurück, auch, wenn er sie tagsüber mittlerweile gut verdrängen konnte. Es hinderte ihn am Schlafen. Das, und der Hunger.
    Hiernach werde ich nie wieder eine Kokosnuss auch nur anschauen …
    Die anderen schliefen vergleichsweise ruhig, Nelli wirkte sogar beinahe tot. Zweimal schon war er aufgestanden, um ihren Puls zu fühlen. Aber die Hexe lebte noch. Was hatte sie nur dazu gebracht, derart überzureagieren? DAS hatte er sicherlich nicht gemeint, als er gefragt hatte, ob sie Trevor helfen konnte. Wer rechnete denn auch damit, dass diese Bekloppte ihre eigene Gesundheit aufopferte … ? Was hatte sie sich dabei gedacht? Nun machten sie sich keine Sorgen mehr um Trevor, sondern um sie! Dadurch hatte sich doch nichts geändert!
    Edmund schüttelte genervt den Kopf, dann wandte er sich wieder an das Logbuch, das er in seinem Schoß ausgebreitet hatte. Trevor und er hatten es am Nachmittag in dem Durcheinander auf Deck gefunden. Das kleine Büchlein war angefressen und vom Wetter in Mitleidenschaft gezogen worden. Aber vielleicht konnten sie dem Buch entnehmen, was der Mannschaft zuletzt zugestoßen war und wo genau sie sich befanden. Bisher hatte Edmund jedoch lediglich eine Seekarte zwischen den Seiten hervorgefischt. Der Schein von Feuer und Mond reichten nicht aus, das schreckliche Gekrakel, das der Verfasser wohl fälschlicherweise für Schrift gehalten hatte, entziffern zu können. Aber die Seekarte war zweifellos sehr viel älter als das Schiff. Offenbar hatte der frühere Kapitän daran gehangen.
    Nach einiger Zeit gab es Edmund auf und legte das Logbuch vorerst beiseite. Ihm würden noch genug Tage bleiben, das Buch genauer anzuschauen.

    Die anderen schliefen weiterhin und ein erneuter prüfender Blick verriet, dass auch die Alte immer noch lebte. Die halbe Nacht herumzusitzen, war langweilig. Aber irgendwer musste doch aufpassen, dass sich die Drei nicht auch noch ins Feuer warfen, um damit vielleicht die Pocken auf der Welt zu heilen! Oder wer konnte schon sagen, was ihnen Neues in den Kopf schoss!
    Edmund fischte Stiev’s Würfel aus der Hosentasche und rollte sie in der Hand hin und her. Diese dummen Dinger schleppte er nun seit der Prügelei mit sich herum. Er hatte nicht einmal mehr gewusst, dass er sie bei sich trug. Erst als sie ihn beim Schlafen ständig in die Seite gepiekt hatten, waren sie ihm eingefallen. Was sollte er damit anfangen? Er hätte besser das Fernrohr mitnehmen sollen oder irgendwas Anderes, das ihnen nun hilfreich war. Ordentliche Decken, Kleidung, Nahrung oder gleich ein ganzes Schiff.
    Idiot, schimpfte Edmund in seinen Gedanken und wusste nicht, ob er damit sich oder Stiev meinte.
    Edmund unterdrückte ein Gähnen. Er war langsam zu müde, um sich noch darüber zu beschweren, dass er Sand an Stellen hatte, an die definitiv kein Sand gehörte. Oder über Idioten, die ständig ihr Leben hinblätterten, als hätten sie einen Handel mit den Göttern persönlich abgeschlossen! Sein Blick glitt zu den anderen. Idioten! Alles Idioten!
    Edmund erhob sich vom Lager, nahm nach kurzer Überlegung seinen Degen an sich und entfernte sich leise. Er brauchte etwas Bewegung und Ruhe. Allmählich schlief ihm der Hintern ein.

    Ein schmaler heller Streifen am Horizont kündigte den neuen Tag an und beleuchtete gerade genug, damit er nicht über seine Füße stolperte.
    Trevor hatte die Stelle, an der er die sterblichen Überreste der Mannschaft vom Schiff vergraben hatte, mit einem Steinhaufen markiert, damit sie bei der Arbeit am Strand nicht versehentlich über das frische Grab fielen. Warum er dabei gerade ihn gemustert hatte, war Edmund nicht recht klar.
    Ein mulmiges Gefühl überkam ihn, als er an der Stelle vorbeilief. Irgendwie erinnerte es an das Werk eines verwirrten Gärtners mit einem seltsamen Sinn für Ästhetik.
    Notiz an mich: Trevor nie als Gärtner einstellen. Vorausgesetzt der Formwandler lebte überhaupt lang genug, und brachte sich nicht vorher um.
    Edmund zögerte und blieb schließlich stehen. Der Griff um seinen Degen wurde fester, während er mit den Fingern über die Würfel in seiner Hosentasche strich. Er fasste einen Entschluss. Er musste damit abschließen, oder?
    Auf dem Weg sammelte Edmund Steine und Äste zusammen. Dann ließ er sich unweit des Grabes in den Sand fallen.
    Einen der Stöcke steckte er in den Boden. Er kam sich dumm dabei vor. Noch konnte er abbrechen und so tun, als hätte er nichts gemacht. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass er nach wie vor allein war.
    Edmund sog die noch kühle Luft ein und schichtete die wenigen Steine um den Ast. Dann hockte er eine Weile davor und zog die Würfel wieder aus seiner Tasche. Musste man etwas sagen? Bei seinem Großvater hatten sie es getan. Oder besser gesagt, seine Mutter hatte das. Aber er wusste über Stiev nicht genug, um etwas über ihn sagen zu können, und in Anbetracht dessen, dass das Grab leer war und nicht mal ein richtiges Grab, sondern nur ein Stock mit Steinen, machte es noch weniger Sinn. Die Symbolik eines Grabes diente doch lediglich dazu, dass sich die Hinterbliebenen besser fühlten. Bei seinem Großvater war es ihm herzlich egal gewesen. Der Kerl war eine ähnlich … herausstechende Persönlichkeit gewesen, wie sein Vater. Danach gab es für ihn eine Person weniger, der er es nicht recht machen konnte.
    Zögerlich legte er die Würfel auf den obersten Stein.
    „Im Übrigen, deine Würfel sind gezinkt, Schwachkopf. Vielleicht interessiert es dich ja noch, dass ich es wusste.“
    Prima! Jetzt unterhalte ich mich tatsächlich mit einem Stein.
    Schweigend blieb er sitzen.
    Er hatte gewusst, dass Stiev‘s Würfel gezinkt waren und er damit im Spiel betrogen hatte. Die eine Seite war schwerer, was auffiel, wenn man sie lange genug in den Händen hielt. Warum hatte er es verschwiegen? Weil er nicht wollte, dass die Strafe härter ausfiel als nur ein paar Schläge? Egal, wie oft er sich das einreden wollte, es klappte nicht. Im Grunde hatte er den Kerl mit den dummen Randbemerkungen nicht für eine unnütze Keilerei und ein verlorenes Ego bloßstellen wollen. Der Mann hatte schon lange zu der Mannschaft seines Vaters gehört und die restliche Besatzung hatte ihn respektiert. Wenn er nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre, hätte er vielleicht bemerkt, dass sich niemals jemand aus der bestehenden Mannschaft gegen Stiev gewandt hätte.
    Edmund erhob sich und schob mit dem Fuß den Sand an die Steine.
    „Vielleicht kannst du die Würfel ja noch gebrauchen“, murmelte er. Dann schichtete er einen zweiten Haufen auf und klemmte den anderen Ast dazwischen. Der Koch hatte ihnen auch geholfen und war dafür gestorben. Zum Glück aber schleppte Edmund von dem Kerl nicht auch noch irgendwelchen Plunder mit sich herum. Nur ein Name wäre nett gewesen.
    „Tja.“ Er erhob sich und betrachtete dann den hellen Streifen am Himmel. Das Wrack zeichnete sich als dunkle Silhouette ab und die Wellen schoben sich an den Strand. „Es gibt sicherlich schlimmere Orte für ein Grab, oder was meint ihr?“
    Er war sich sicher, dass Stiev seinen Spaß daran hätte, wenn er die Chance bekäme, dabei zuzuschauen, wie Trevor ihm erklärte,

    wie man ein Schiff reparierte. Der Gedanke ließ ihn schmunzeln.

    Dann glitt sein Blick zum Degen. Seine Mutter hatte ihm diesen vor der Abreise geschenkt. Nun löste allein die Klinge Brechreiz in ihm aus - oder besser gesagt das Blut, das für ihn auch nach dem Abwaschen immer noch daran klebte. Und das wohl auch immer tun würde. Kurzerhand rammte er den Degen in den Boden zwischen den beiden aufgeschichteten Steinhaufen.
    Entschuldige Mutter, aber so nützt er mir nichts mehr. Sollten sie von der Insel herunterkommen, würde er sich einen neuen besorgen. Vielleicht. Der passt jetzt auf die beiden auf.


    Edmund konnte nicht behaupten, dass er sich nun besser fühlte, aber er hatte dennoch den Eindruck als wäre ein Teil der Last abgefallen.
    Er holte tief Luft. Dann knurrte sein Magen und erinnerte ihn daran, dass er seit Tagen nichts Vernünftiges gegessen hatte.
    Um den Hunger und die trüben Gedanken zu vergessen, entledigte er sich den Großteil seiner Kleidung und entschloss sich eine Runde im Meer zu schwimmen.
    Mit der Wäsche in der Hand, blieb er unschlüssig stehen. Etwas in ihm weigerte sich, die Kleidung der verstorbenen Mannschaft anzuziehen, auch wenn Esther diese gewaschen hatte. Seine eigene musste daher noch halten. Deshalb faltete er alles ordentlich zusammen und stapelte es im Sand. Den Kompass von Trevor legte er oben auf. Warum schleppte er DAS Ding eigentlich mit sich herum? Er hätte lieber einen anderen Kompass einstecken sollen. Den seines Vaters zum Beispiel. Der war deutlich hochwertiger. Nun schipperte der auf der Eleftheria irgendwo über das Meer. Und seltsamerweise kümmerte Edmund dieser Umstand gar nicht. Soll doch irgendein Trottel damit glücklich werden.
    Der Gedanke beschäftigte ihn noch genauso lange, bis er bis zur Hüfte im Wasser stand und zu schwimmen begann. Die Gedanken verschwanden im Meer. Und wenn es nach Edmund ging, konnten sie dort auch bleiben.
    Den Gefallen werden sie mir wohl nicht tun.


    Die Sterne verschwanden und machten der Hitze des Tages Platz. Diese unerträgliche Hitze, in der man ihn zwang mitten in der Sonne an einem Schiff herumzuarbeiten – und zu schwitzen. Normalerweise gab es Leute für sowas! Sah er aus wie ein Schiffsbauer? Nein! Und dennoch hatte er sich irgendwelche dummen Sprüche von Trevor anhören müssen! Nur weil er keine Ahnung hatte, wie genau man einen Hammer richtig anwandte. Oder wie herum man ihn hielt! Das war doch völlig egal! Und weil er es seltsam fand, dass Esther freiwillig(!) helfen wollte. Davon einmal abgesehen, dass in seiner Welt Frauen keine Hosen trugen! Durfte man sich da nicht wundern? Und das Schlimmste an der Sache war, dass er nun helfen musste, um nicht doof dazustehen.
    Edmund tat einige lange Züge, dann tauchte er unter.
    Nein, das eigentlich schlimme war, dass er nicht mal die Zeit bekommen hatte, Esther zu sagen, dass ihr diese saublöden Hosen von einem saublöden und vor allem sehr toten Seemann gut standen. Stattdessen hatte die Hexe ihr Leben für den Formwandler gegeben! Scheinbar litt jeder von ihnen an Selbstmordgedanken!

    Eine gute Armlänger unter ihm erstreckten sich Felsen mit Korallen, die im wenigen Licht noch nicht recht zu erkennen waren. Vermutlich gab es weiter draußen auf dem Meer noch mehr davon. Und ein Riff bedeutete Fische. Und Fisch wäre definitiv etwas Anderes als Obst. Allein bei dem Gedanken knurrte sein Magen erneut. Nur wie sollte er an die rankommen? Brauchte man dafür nicht Angel und Netz? Und jemanden, der wusste, wie man solche Dinge benutzte? Ehe er sie wieder falschherum hielt ...
    Es würde zumindest nicht schaden, nachzuschauen, ob er recht hatte.
    Edmund wollte auftauchen, da stach ihm ein gräulicher Schatten ins Auge, der zu seiner Linken durchs Wasser strich und sich zu seinem Leidwesen als Hai von etwa zwei Metern Länge entpuppte. Der Hai umkreiste ihn großräumig, als wusste er nicht so recht, was er mit ihm anfangen sollte.
    Mit einem Mal fühlte sich Edmund noch schutzloser als er es auf der Insel sowieso schon tat. So offen im Meer treibend … Panik stieg in ihm auf. Und die innerliche Ruhe von eben war weggeblasen. Warum passierte ihm das immer? Konnte es nicht einmal jemanden anderen treffen?
    Der Hai war zwar in etwa genauso groß wie er, womit Edmund nicht in das bevorzugte Beuteschema des Viehs gehörte. Allerdings hatte der Hai die schärferen Argumente. Weshalb er langsam und gepflegt den Rückzug antrat. Ob ein Haibiss schmerzte?
    „Verschwinde!“, zischte Edmund.
    Das Vieh verschwand – oh Wunder – nicht. Es kamen sogar noch zwei weitere dazu! Hatten die Viecher nichts Besseres zu tun?

    Der Strand rückte näher und als Edmund den Boden unter seinen Füßen spürte, sprang er auf die Beine. Schritt für Schritt wich er weiter zurück. Die Haie zogen in knapper Entfernung Kreise, als würden sie auf etwas warten.
    „Tja, freiwillig komme ich nicht zurück! Und jetzt haut endlich a-!“ Seine weiteren Worte vergingen in einem unmännlichen Quietschen, als ihn etwas Glitschiges am Bein streifte. Erschrocken fuhr er herum und machte einen Satz zurück, was ihn allerdings rücklings ins Wasser platschen ließ. Er schluckte Wasser und ruderte mit den Armen, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Dass er dabei mit dem Kopf nicht einmal unter Wasser war, bemerkte er erst, als sein Hirn wieder zu arbeiten begann.

    Als nichts passierte, holte er prustend Luft. Er sah sich nach den Haien um, doch entgegen seiner Erwartung waren sie weit und breit nicht mehr zu sehen. Entweder hatten sie die Lust und das Interesse an ihm verloren, oder sie waren über sein wildes Herumgepaddel erschrocken. Oder sie hatten seinen Worten doch Folge geleistet! Daran konnte man sich doch gewöhnen!

    Etwas, wovon sich ein armlanger Fisch nicht beeindrucken ließ. Der zog einen engen Kreis um ihn. Was war nur los mit dem Viehzeug dieser Insel? Normalerweise suchten nur Menschen seine Nähe.
    Edmund versuchte sich zu beruhigen und streifte sich die Haare aus dem Gesicht. Ein Blick zum Strand verriet, dass diese Peinlichkeit niemand mitbekommen hatte. Dann wandte er sich an den Fisch. Er würde doch nicht so einfach sein?
    Sein knurrender Magen nahm Edmund die Entscheidung ab und bevor er sich auf seinen Stand zurückbesinnen konnte, warf er sich auf den Fisch. Zu seiner eigenen Überraschung erwischte er ihn sogar. Das Vieh war jedoch schlüpfrig und stärker, als es aussah, weshalb Edmund der Länge nach im Wasser landete und ihm der Fisch entglitt. Blind hechtete er hinter ihm eher und bekam ihn wieder zu packen. Beinahe kam es ihm vor, als würde ihm der Fisch freiwillig in die Arme schwimmen. Gut für Edmund, schlecht für den Fisch. Er klammerte sich an das zappelnde Tier, wurde durchgeschüttelt und zweimal unter Wasser gezogen.
    Fisch fühlte sich wirklich widerlich an! Und sowas konnte man essen? Er haderte mit sich und war bereits im Begriff seinen Händen nicht länger dieses glitschige, schleimige, schuppige Etwas zuzumuten. Schließlich siegte aber der Hunger.

    Kaum, dass Edmund wieder wusste, wo oben und unten war, bugsierte er das windende Vieh in Richtung Strand. Dort angekommen, warf er es erschöpft in den Sand und stützte sich auf den Beinen ab. Das Wasser tropfte vor ihm auf den Boden, während der Fisch seine letzten Bewegungen machte.
    Die anderen dürfen hiervon nie erfahren! Dann musste er sich allerdings ein Lachen verkneifen. Wenn sein Vater das gesehen hätte, dürfte er sich nun eine Standpauke anhören, wie kindisch dieses Verhalten gewesen war. Und diverse andere Sachen …
    Tatsächlich wurde ihm in diesem Moment erst bewusst, dass sein Vater meilenweit entfernt war und ihn weder für das verlorene Schiff, noch für die toten Matrosen oder die gestohlene Ladung bestrafen konnte.
    Vielleicht ist nicht alles schlecht daran…
    Edmund krallte sich den Fisch und warf sich Hemd und Hose über. Am Ende würde er tagsüber sowieso weder Weste noch Stiefel benötigen, was das schäbige Gefühl jedoch nicht minderte. Nur mit Hemd und Hose kam er sich nackt vor. Wie hatte es Esther geschafft, in dem Aufzug auch noch gut auszusehen? Und sich darin wohlzufühlen? In Stoffen, die nicht ihrem Stand entsprachen! Ihn kratzte der bloße Gedanke.
    Seufzend schleppte er den Rest der Kleidung samt Essen zurück zum Lager.
    Der Seewind trieb ihm die Haare ins Gesicht und kitzelten an seiner Nase, als er einen letzten Blick zurück aufs Meer warf. Die Haie waren weg.
    Merkwürdig… Er würde die anderen darüber informieren müssen, nicht, dass einer von ihnen noch von einem der Tiere angegriffen wurde. Noch einen Verletzten und/oder bewusstlosen Mitgestrandeten, um den er sich Sorgen machen musste, konnte er nicht gebrauchen. Von der Insel wegschwimmen geht jedenfalls nicht.

    Am Lagerfeuer angekommen, hantierte Trevor bereits damit, das Feuer wieder zum Brennen zu bringen, indem er Holz nachlegte. Bereits jetzt verzichtete der Kerl offenbar auf Oberbekleidung. Und trug seine Narben damit zur Schau als wären es Trophäen! Was war los mit ihm? Das sollte der Kerl mal in der Gegenwart seines Vaters oder der Oberschicht generell versuchen. Das war nichts, womit man angab.
    Wobei die entsetzten Gesichter wären sicherlich lustig.
    Edmund wandte den Blick ab. Und es gab deutlich schlimmere Anblicke. Und es tat gut Trevor wieder fit zu sehen.
    Esther faltete gerade eine Decke und legte sie Nelli unter den Kopf. Bei ihr hätte er sicherlich nichts dagegen gehabt, wenn sie auf Korsage und Oberbekleidung verzichtet hätte. Obwohl die Hosen im Grunde perfekt waren. Sie formten deutlich mehr, ließen aber auch genug Raum für eigene Interpretationen.
    Die Hexe war noch nicht erwacht. Was auch immer die Alte für eine Hexerei gewirkt hatte, es würde sie wohl noch etwas aus dem Rennen nehmen. Und bei ihr war er froh, dass sie auf keine Kleidungsstücke verzichtete!  

    Und du solltest definitiv weniger Zeit in der Sonne verbringen …
    Edmund balancierte seine Kleidung bis zu seinem Lager, dann ließ er die Wäsche fallen und legte den Fisch in eine Schale. Schnell strich er sich die Haare wieder zurück und fingerte das Haarband aus seiner Hosentasche. Dann fiel ihm ein, dass er nun Fischgeruch in den Haaren hatte! Er verzog das Gesicht. Also doch noch ein Bad in der Quelle?
    „Ich habe Fisch mitgebracht“, verkündete er dann nicht wenig stolz auf sich. „Ich würde Frühstück machen.“ Damit konnte er auch gleich die Sorge überspielen. Von den anderen musste schließlich keiner wissen, dass er die halbe Nacht nur herumgesessen, anstatt geschlafen hatte.
    „Besser als weiteres Obst“, gab Trevor von sich und betrachtete den Fisch.
    „Ihr habt geangelt?“, fragte Esther freudig. Wie erwartet hatten auch die beiden genug von Bananen und Kokosnüssen. Das Zeug kam einem irgendwann aus den Ohren heraus! Und war keine vollwertige Mahlzeit! Maximal ein Dessert oder die Vorspeise!
    „Also eigentlich war ich nur schwimmen.“ Er hatte vom Angeln keine Ahnung, und wusste lediglich, dass Leute mit zu viel Langeweile Fäden an Stöcke banden und damit auf Fische einprügelte. Oder so ähnlich.
    „Und wie kamt Ihr an den Fisch?“
    Edmund hielt in seinem Tun inne.
    „Der ist mir … zugeschwommen“, drückte er herum, dann zuckte er eilig die Schultern. Er konnte wohl kaum zugeben, wie es wirklich gewesen war. „Ich werde mal Wasser zum Kochen holen.“ Suchend sah er sich im Lager um. Irgendwo hatten sie doch auch einen Eimer abgestellt. Man musste einen Fisch doch putzen und ausnehmen, oder? Wie genau ging das eigentlich? Sein Blick blieb an dem Gesuchten hängen. Egal, es konnte doch nicht so schwer sein! Es war nur ein Fisch! „Im Übrigen gibt es im Wasser Haie, also passt auf, wenn ihr schwimmen geht.“ Er griff nach dem Eimer. „Sie scheinen sich aber nicht allzu weit an den Strand zu trauen.“

    Ob das Bad, sein Triumph über die Flucht vor den Haien, sein Fang oder doch die kleine Beerdigung Schuld waren, Edmund musste zugeben, dass sich seine Laune tatsächlich gebessert hatte. Zumindest hatte er nicht mehr das Gefühl, jeden Moment an den letzten Tagen zu ersticken.

    Am Lager angekommen, fiel Edmund hinter Esther zurück. Irgendwie fühlte es sich seltsam an, nach zwei Tagen einsamen Herumsitzen und Löcher in die Luft starren, wieder zu den anderen zurückzukommen.
    Zum einen wollte er noch immer nicht reden, zum anderen aber doch. Und sei es nur, um die Bilder in seinem Kopf endlich verdrängen zu können. Allein bei dem Gedanken nicht mehr allein herumzusitzen und die anderen um sich herum zu haben, wurde ihm wärmer. Und das obwohl seine Kleidung völlig durchweicht und sein Körper dementsprechend ausgekühlt war! Wahrscheinlich wurde er krank und bekam eine von diesen Erkältungen! Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Nur weil er mit Esther auf dieses dumme Wrack geklettert war!
    Er warf einen Blick über die Schulter. Vielleicht sollte er doch wieder zu seinem Stein gehen. Er verwarf den Gedanken noch während er ihn hatte. Irgendwie vermisste er die anderen ja doch ein wenig. Aber nur ein wenig!
    Genervt seufzte er. Da musste er wohl durch.
    Er folgte Esther, ließ sich aber deutlich mehr Zeit als sie.


    Schon von weitem sah er, dass Trevor noch immer schwächlich wirkte und seine Gesichtsfarbe war alles andere als gesund, aber er atmete, war bei Bewusstsein und nicht tot. Der bleiche Anblick hätte ihn in jedem anderen Fall beunruhigt, nun war er einfach froh. Er versuchte es sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
    Esther setzte sich neben Trevor, während er etwas unschlüssig stehenblieb.
    „Ach schau an, wer sich da wieder zu uns traut“, schnorchelte Nelli mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
    Ja, mach es noch schwerer, Alte!
    Er ignorierte sie und wandte sich stattdessen an Trevor, betrachtete ihn nochmals von oben bis unten.
    „Du lebst also noch“, stellte er geistreich fest.
    Er konnte gar nicht in Worte fassen, wie froh er darüber war. Also ließ er es bleiben. Den Dicken umgebracht zu haben, damit konnte er leben. Vielleicht. Irgendwann. Aber eventuell Trevor in den Tod geschickt zu haben, hätte er sich niemals verziehen.
    „Offensichtlich“, lachte Trevor, ließ es aber sofort wieder bleiben. Er verzog schmerzvoll das Gesicht. „Oder so ähnlich.“
    Edmund kämpfte den Drang nieder, noch einen Schritt nach vorn zu machen, um ihn irgendwie zu stützen. Konnte er überhaupt irgendwas machen? Er kannte sich mit der Heilung von Wunden nicht aus. Nur, wie man sie bekam.
    Mit Erschrecken musste er feststellen, dass sie froh sein konnten, Nelli zu haben. Ohne sie wäre Trevor sicherlich gestorben. Was wäre gewesen, wenn sie nicht mit von Bord gegangen wäre oder wenn der Dicke sie erwischt hätte?
    Edmund schallte sich innerlich selbst. Dafür wäre ihm ein Gespräch mit der Alten erspart geblieben!
    Sie hat sich auch nur Sorgen gemacht …
    Das hatte sie vielleicht.

    Edmund musterte Trevor eine Weile, ehe er sich einen Ruck gab.
    „Du hast dich auf meine“, er blickte zu Nelli und Esther, „auf unsere Seite gestellt. Das hättest du nicht machen müssen. Dann wärst du vielleicht jetzt nicht so schwer verletzt.“ Warum war das nur so entsetzlich schwer? War es bereits zu spät, um zum Stein zurückgehen und sich vor dem Gespräch zu verstecken? „Ich … danke dir dafür.“ Die letzten Worte nuschelte er nur noch weg, in der Hoffnung, dass sie keiner mehr hörte. Es fühlte sich befreiend an.
    Er wollte noch hinzufügen, dass Trevor nie wieder für ihn kämpfen sollte, aber irgendwas sagte ihm, dass dich der Kerl immer wieder in einen Kampf werfen würde, wenn es sein musste. Egal für wen. Also behielt er es für sich.
    Trevor nickte und lächelte.
    „In den nächsten Tagen aber bitte keine Meuterer oder Idioten mit Schusswaffen. Ich brauche noch etwas, bis ich wieder geradeaus laufen kann“, brachte er amüsiert hervor. Edmund war sich nicht sicher, ob Trevor nur einen Witz machen, oder ihm einen Seitenhieb verpassen wollte.
    „Ich … werde es versuchen...“, murmelte er deshalb lediglich. Und verschränkte schützend die Arme vor dem Körper.
    „Hat er sich gerade bedankt?“, hörte er Nelli zu Esther flüstern.
    „Ja“, hauchte diese zurück.
    „Du musst mir unbedingt sagen, was du gemacht hast.“
    Edmund warf den beiden Frauen einen wütenden Blick zu. Noch ein Wort und er würde seine Jacke zurückfordern!
    Sie hat sich auch Sorgen gemacht!

    Mag sein, aber das ist mir egal!

    Ist es nicht ...
    Edmund biss sich auf die Innenseite der Wange. Das war eindeutig keine gute Woche für sein Ego.
    „Im Übrigen, danke für deine Sorge Nelli“, murrte er schließlich, ohne die Hexe anzuschauen. Egal, wie sehr ihn die Alte genervt hatte. Sie war hier, hockte auf der Insel und sie hatte ihre Zeit investiert, ihm zu helfen. Aber das hatte er nicht gewollt, oder? Er hatte ihr nicht gesagt, dass er ihre Gesellschaft wollte. Im Gegenteil: Er hatte mehr als deutlich gemacht, dass er allein sein wollte. „Aber niemand braucht die Sorge einer Hexe!", setzte er deshalb nach.

    Nelli nickte langsam, dann schlug sie ihn mit dem Stock genau auf den Kopf.
    „Was soll das denn?", blaffte Edmund zurück. Die Schläge mit ihrem Stock schmerzten nicht, aber angenehm war ja wohl auch etwas anderes! Vor allem, wenn man die letzten Stunden in der Sonne verbracht hatte!
    „Ich habe mein Bestes gegeben, du sturer Esel. Aber da muss natürlich erst das junge Gemüse kommen, ehe der feine Herr zu sprechen beginnt!“
    „Ich hab mich doch eben bedankt, du Hexe!“
    Die Alte musste ja nicht wissen, dass er bereits nach dem Gespräch mit ihr kurz davor gewesen war, zu der Gruppe zurück zu kommen. Lediglich dass Trevor noch nicht wieder wach gewesen war, hatte ihn daran gehindert. Außerdem hatte sie ihm das Gespräch doch ans Ohr gebastelt!
    „Pah! Bedankt nennt der das!“ Nelli schlug nochmal mit dem Stock nach ihm, diesmal lag jedoch ein leichtes Grinsen auf ihren Lippen. „Trevor bekommt eine Bekundung über seine Leistungen, und ich?“
    Was wollte sie denn bitte noch hören? Reichte ein „Danke für deine Sorge“ nicht aus?
    Danke, dass du mir auf die Nerven gegangen bist?
    Danke, dass ich wegen dir einen Menschen töten durfte?

    Danke, dass ich wegen dir vermutlich bald Angst vor Stöcken habe?
    „Wie würdest du es denn nennen, du alte Schachtel?!“ Edmund hielt sich die Stelle, an der Nelli ihn mit dem Stock getroffen hatte.
    „Ich bin mir nicht sicher. Eine Beleidigung? Die Aussage eines bockigen Kindes?“
    Bockiges Kind? Er war doch kein Kind mehr!
    „Na hör mal …“
    „…ich bin trotzdem froh, dass du wieder der Alte bist“
    , nahm ihm Nelli den Wind aus den Segeln und ließ ihren Stock sinken.
    Der Alte? Was meinte sie denn nun damit? Und warum war die Hexe wieder dazu übergegangen, ihn zu duzen? Erlaubt hatte er es ihr sicherlich nicht. Daran würde er sich erinnern. Oder doch nicht?

    Während er nachgrübelte und ehe eine neue Diskussion begann, mischte sich Esther ein.
    „Wir haben übrigens ein Wrack gefunden.“
    Edmund beließ es bei einem bösen Blick in Nellis Richtung. Vorerst. Vielleicht sollte sie ihn auch einfach weiterhin duzen dürfen. Auf der Insel machte das sowieso keinen Unterschied mehr. Außerdem flüsterte ihm sein Gewissen ein, dass es so richtig war.
    „Ein Wrack?“, fragte Trevor.
    Edmund nickte. „Es wirkt noch … intakt.“
    „Vielleicht können wir es anrichten und kommen damit von der Insel runter?“, warf Esther ein. Ihre Augen leuchteten wieder ebenso wie zuvor, als sie das Wrack entdeckt hatte. „Besser als ein Ruderboot.“
    Trevor hob skeptisch die Augenbrauen und wog nachdenklich den Kopf. Er wirkte in etwa so zuversichtlich wie Edmund sich im ersten Moment gefühlt hatte, als er die Nussschale das erste Mal gesehen hatte.
    „Ist der Kiel noch in Ordnung?“, wollte er wissen und sah zwischen Esther und Edmund hin und her. Esther neigte fragend den Kopf. Edmund nickte.
    „Der scheint auf den ersten Blick unbeschädigt. Das Schiff ist höchstwahrscheinlich gegen eine Untiefe gestoßen. Ein Loch im Rumpf.“
    „Ist es morsch?“

    Edmund schüttelte den Kopf. Und ließ sich auf den Boden fallen. Zum einen weil es an Stühlen mangelte, zum anderen weil er nicht wollte, dass irgendwer sein Zittern bemerkte. Mit der Erinnerung an das Schiff war auch das Bild der Toten zurückgekehrt.
    „Können wir ein Schiff denn reparieren?“, fragte Esther.
    „Ich denke, wir haben genug Zeit, es herausfinden", entgegnete Nelli.
    „Ich würde es mir gerne ansehen.“
    „Du solltest dich noch etwas ausruhen"
    , meinte Esther zu Trevor. Seit wann duzten die sich? „Es dauert eine Weile dahin zu laufen.“
    „Und ich trag dich bestimmt nicht“, knurrte Edmund. Es war schon schwer genug gewesen, Trevor aus dem Boot zu hieven.

    „Das könntest du wohl sowieso nicht“, lachte Nelli, was Edmund dazu veranlasste die Wangen aufzublasen. Frechheit! Er wollte doch nur, dass Trevor die Verletzungen kurierte!

    Edmund sah Esther mit erhobener Augenbraue nach. Ihm gefiel das nicht. Ein Wrack war doch kein Spielplatz auf dem man herumklettern sollte. Auf der anderen Seite hatten ihre Augen gestrahlt und die Trauer, die bis dato darin gelegen hatte, war mit einem Mal verschwunden. Das wollte er nicht kaputt machen.
    Auch die anderen hatten Sorgen und Probleme. Er war nicht allein. Dieser Gedanke beruhigte ihn mehr als er sollte. Dennoch tat es gut, das zu wissen. Wenngleich es ihn doch nervte, dass von ihm Offenheit verlangt wurde, aber auch niemand anderes bereit war zu reden.
    Edmund sah wie Esther eine Strickleiter empor kletterte, die den Namen nicht einmal verdient hatte. Was sollte sie auf dem Schiff erreichen? So wie das Ding von weiten ansah, lag es bereits seit einigen Monaten am Strand. Wenn nicht noch länger. Die Wahrscheinlichkeit, dass es noch seetauglich war, wurde auch nicht durch den abgeknickten Mast erhöht. Oder diese lächerliche Strickleiter.
    „Jetzt kommt wieder runter!“, rief er deshalb. Doch Esther quälte sich weiter die Leiter hinauf. Sie torkelte dabei hin und her und verhedderte sich zweimal in den Seilen, auf zwei der Sprossen rutschte sie ab, fing sich aber immer wieder. Seltsamerweise hielt die Leiter und ließ Esthers Gestrauchel auch noch elegant wirken.
    Während er Esther bei ihrem Akrobatikakt beobachtete, überlegte er einfach kehrt zu machen und seinen Platz auf dem Stein wieder einzunehmen. Allerdings würde er dann wohl erst recht nicht mehr schlafen. Wenn Esther etwas zustieß. Noch mehr Schuld musste er sich auch nicht aufladen. Nicht, wenn er es verhindern konnte.
    Sein Blick streifte einige Steine, die zu seinen Füßen im Wasser lagen. Er trat einen Schritt zur Seite, als er einen der Steine als Schädel identifizierte.
    Ja, von der Besatzung ist nicht mehr so viel übrig... Das Zittern kehrte zurück. Er verdrängte es, indem er sich in Bewegung setzte.
    „Die Leiter hält!“, rief Esther, als sie oben angekommen war.
    Edmund wehrte sich gegen die Zuversicht, die in ihren Worten mitschwang, streifte sich letztendlich aber doch die Jacke ab und warf sie an den Strand zurück. Dann folgte er der Gräfin. Allerdings weigerte er sich vorerst, dieses fälschlicherweise als Leiter betitelte Etwas ebenfalls zu erklimmen und umrundete stattdessen das Schiff. Der Verdacht, dass ein Sturm das Schiff angeschwemmt hatte, verstärkte sich, als er einmal um das Schiff herumgestapft war und dennoch nur bis zum Bauch im lauwarmen Wasser stand. Das Schiff hatte sich zwischen zwei größeren Steinen verkeilt, lag ansonsten aber auf Kies.
    Das Schiff war nicht sonderlich groß, die Besatzung musste dementsprechend klein gewesen sein. Was hatte ein Einmaster in diesem Seegebiet verloren? Vielleicht ein Handelsschiff? Warum ein so kleines? Für den Aufwand der Reise erschien das nicht ganz passend.
    Das Schiff hatte leichte Schräglage, aber das letzte Drittel lag dennoch unter dem Wasser, weshalb er den kompletten Kiel nicht erkennen konnte. Das, was er sah, wirkte auf den ersten Blick aber intakt. Risse könnte er zwar lediglich bei genauerer Betrachtung identifizieren (wobei er sich dabei nicht einmal sicher war, so weit reichte sein Wissen um Schiff auch nicht – Vielleicht konnte Trevor drüber schauen, wenn es ihm wieder gut ging?), aber immerhin etwas am Schiff, das nicht völlig abgekämpft aussah. Jedenfalls schien nicht der Kiel, sondern das große Loch in der Seitenwand für das Sinken verantwortlich zu sein.
    Zurück bei der Leiter begutachtete Edmund diese kritisch. Aber sie hatte Esther getragen, oder? Dann vielleicht auch eine zweite Person!
    Außerdem bist du eh schon nass!
    Das hektisch zusammengeschusterte Provisorium, das vom Wetter bereits benachteiligt war, hielt es sein Gewicht tatsächlich, als er hinaufkletterte.
    Edmund blieb an der Reling stehen. Er unterdrückte den Drang zurückzuspringen, als sich die Bilder an den Kampf in seinem Kopf gruben. An der Meuterei war das Schiff nicht schuld gewesen, sondern die Menschen, die es segelten!
    Es gibt keinen Grund für Panik!
    Die Planken knarrten leicht unter Esthers Schritten, hielten aber stand und bei genauerem Hinsehen, waren diese zwar mit Schlick überzogen und es stank nach Algen, aber sie waren nicht so morsch, wie erwartet. Was man von dem traurigen Rest des Masts nicht sagen konnte.
    „Jetzt steht dort nicht so herum, schauen wir uns um.“ Esther begutachtete einige Schutthaufen, dann öffnete sie die Tür zum Unterdeck. Die Scharniere quietschten und es wirkte fast, als würde Esther die Tür aus den Angeln reißen. Kein vertrauenswürdiger Anblick.
    „Esther, ich finde …“ … und da ist sie weg. Er warf genervt die Arme in die Luft und fuhr sich durch die Haare. Was war falsch mit ihr? Dieses Schiff konnte jeder Zeit kippen oder sie brach irgendwo durch den Boden!
    Er trat von einem Fuß auf den anderen, dann folgte er ihr erneut schlitternd über das Deck. Es war eigentlich nicht seine Art, den Frauen nachzurennen. Und dennoch tat er es! Warum? Er versuchte sich einzureden, dass er nicht allein sein wollte – wenn er auch eigentlich seine Ruhe wollte. Aber daran hatten sich die anderen nicht gehalten. Eine miese kleine Stimme in seinem Hinterkopf flüsterte ihm jedoch zu, dass das nicht die ganze Wahrheit war.
    Er wollte nicht, dass sie sich irgendwo das Genick brach! Er hatte ihr gesagt, dass es gefährlich war. Sie wollte nicht hören. Es war nicht seine Schuld!
    Aber die gibst du dir, wenn sie sich verletzt!
    Hinter der Tür lag ein schmaler Gang, mit nichts weiter als einer Tür am Ende, wohl die Kapitänskajüte, und einer schmalen Treppe in den Rumpf des Schiffs. Er musste zugeben, dass das Schiff unter Deck nicht mehr derart angegriffen wirkte und beinahe fahrtauglich. Deutlich in Mitleidenschaft gezogen und alt, aber noch nicht am Ende.
    Der Boden war stabil und noch immer massiv.
    „Esther?“, rief er und hörte ihre Antwort aus der Kajüte.
    Edmund nickte seufzend. Da er nicht genauso überführsorglich nerven wollte wie die anderen es bei ihm getan hatten, entschloss er, dass Esther auch allein zurechtkommen würde. Der Boden trug ihn, also sollte er auch Esther ohne Probleme tragen können.
    Er sah zur Treppe, die in den untersten Lagerraum führte. Probehalber prüfte er, ob die Stufen auch hier das Gewicht hielten, dann blickte er nach unten. Der Raum war bis auf wenige Kisten leer. Offenbar war die Besatzung wirklich von Bord gegangen und hatte dabei mitgenommen, was sie tragen konnten. Es roch jedoch nach abgestandener Luft, Medizin und … Verwesung. Er rümpfte die Nase und hielt sie sich letztendlich zu. Vermutlich rochen auch die Toten der Meuterei bald genauso …
    Edmund drängt die Gänsehaut zurück und zwang sich nach unten zu gehen. Er durfte nur nicht daran denken, was der Geruch bedeutete. Sicher waren es nur Ratten, die verendet waren. Er konnte sich schlecht auf ewig von so etwas abhalten lassen.
    Durch das große Loch in der Seitenwand kamen die Abendsonne und die Gischt. Ließ sich so ein Schaden reparieren? Er hatte keine Ahnung. Er wusste ja scheinbar nicht einmal, wie man die Besatzung eines Schiffs anleitete, woher sollte er dann wissen, wie man ein Schiff baute? Dafür gab es andere Menschen!
    Er umrundete eine einzelne Kiste und kehrte noch im Lauf gleich wieder um.
    Keine Ratten…, stellte er atemlos fest. Mit einem Mal war das Zittern zurück.
    Keine Ratten, nur leere Augenhöhlen, blanke Schädel und Kleidung, die in Fetzen von den Körpern hing. Menschen. Tot. Vergessen.
    Auf die Knie gestützt, rang er den Drang nieder, das Wenige zu würgen, das er die letzten Tage gegessen hatte. Und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Nicht so leicht, wenn sich die Lunge anfühlte, als würde sie von einer Faust zertrümmert. Die Panik der letzten Tage kehrte zurück, ließ ihn den Geruch stärker wahrnehmen, als er nach all der Zeit noch war. Von Stiev und dem Koch wäre sicherlich bald auch nicht mehr übrig, als ein paar Knochen. Und von all den anderen, die gestorben waren? Der Steuermann? Sein Sohn? Von niemandem würde eine Identität bleiben. Aus den aufgerissenen, hasserfüllten Augen des Dicken würden auch nur noch leere Löcher werden. Ohne Namen und ohne Leben. Vermutlich nicht einmal eine Bestattung!
    Seine Schuld. Er war seine Schuld! Alles!
    Und wenn sie auf der Insel starben? Genauso wie die Besatzung? Auch von ihnen würde nichts anderes zurück bleiben als ein Häufchen Knochen. Irgendwo mitten auf dem Meer. Auf einer Insel. Zurückgelassen und vergessen.
    „Edmund?“, hörte er Esthers Stimme von oben nach ihm rufen.
    Durch ihre Stimme aus seinen Überlegungen gerissen, sah er auf. Er hatte nicht gemerkt, dass er in die Hocke gegangen war und sich die Hände auf die Ohren presste. Ebenso wie an dem ersten Abend auf der Insel. Nur, dass er nun noch erschrocken feststellen durfte, dass sein Gesicht nass war. Eilig wischte er die Tränen weg.
    Du bist wirklich erbärmlich!
    Er hörte, wie Esther die Stufen heruntertrat und erhob sich eilig. Schob die Gedanken weg und die zitternden Hände in die Hosentaschen.
    „Ah hier seid Ihr. Habt Ihr etwas gefunden?“, wollte Esther wissen. Er schüttelte den Kopf, schob die Beklemmung beiseite. Und setzte ein falsches Lächeln auf.
    „Nein. Nichts.“ Es war vermutlich besser, wenn sie nichts davon wusste. Auch nicht von den Toten!
    Esther glaubte ihm nicht, das war ihrem Stirnrunzeln und dem besorgten Blick zu entnehmen. Die Frage „Ist alles in Ordnung?“ wäre überhaupt nicht mehr notwendig gewesen. Sie stellte sie dennoch. Überflüssigerweise.
    Nein, ist es nicht.
    „Alles gut“, meinte er, schluckte die Panik hinunter und drückte sich an Esther vorbei.
    Doch sehr zu seinem Missfallen verstellte sie ihm den Weg.
    „Hört auf, mir und vor allem Euch etwas vorzumachen!“, herrschte sie ihn an. Ob sie wirklich lauter wurde, oder er nur den Eindruck hatte, wusste er nicht. Nur, dass die Nervosität zurückkehrte. Das Zucken, das Zittern und die Atemlosigkeit.
    „Nicht hier“, er hasste sich selbst dafür, wie brüchig seine Stimme klang. Aber er wollte dort weg! Raus! Er ertrug die Gedanken, den Geruch und den Anblick nicht.
    Esther sah sich um und nickte dann verständnisvoll. „In Ordnung.

    Sie folgte ihm die schmalen Stufen hinauf, durch den winzigen Flur und auf das Deck. Die untergehende Sonne blendete ihn. Der Wind blies ihm die salzige Luft entgegen. Er vertrieb einen Teil der düsteren Gedanken, nahm aber nicht alles mit.
    An der Reling atmete er einige Male tief durch, bis sich das Zittern in seinen Händen beruhigte. Die Mannschaft war das Problem! Nicht das Schiff! Ein Schiff bereitete ihm keine Panik!
    Du bist echt das schwächste Glied der Gruppe. Stell dich nicht so an. Als hätten die anderen keine Sorgen. Du hattest die Gedanken heute schon mal verdrängt!
    „Also, was beschäftigt Euch?“
    Wollte er wirklich darüber reden? Mit ihr? Aber was verstand sie schon davon? Er verstand es ja selbst nicht.
    Um Zeit zu gewinnen, zupfte er an den dreckigen Ärmeln seines Hemdes herum. Durch das viele Waschen waren seine Hände ganz rau, die dunklen Flecken aus dem weißen Stoff waren aber dennoch nicht verschwunden. Er wusste, es war Blut. Manfreds Blut.
    Er spürte wie sich sein Puls erneut beschleunigte.
    Nein. Nur Dreck! Nichts weiter! Kein Blut! Nur Dreck! Wem wollte er das eigentlich einreden?
    Er sah zum Horizont und holte Luft.
    „Ich hatte noch nicht sehr viel Kontakt mit dem Tod“, plapperte er zu seiner eigenen Überraschung schon wieder drauf los. „Und nun klebt das Blut dieses dummen Piraten an meinen Händen“, und vor allem den Ärmeln, „Was ist, wenn er Familie hatte? Und Stiev und der Koch sind gestorben, weil sie sich auf meine Seite gestellt haben“, wie es auch beinahe Trevor ergangen wäre, „ich habe den Piraten umgebracht, aber auch die anderen gehen auf mein Konto. Ich weiß, dass Stiev eine Frau hatte …“ Wie erklärt man einer Angehörigen, dass ihr Partner gestorben ist? Er ratterte die Worte runter, um nicht wieder den Mut zu verlieren. Was tat er da eigentlich? Eine Gräfin mit seinen Problemen belasten! Sie hatte ihn schon mal so weit gebracht, einen Teil auszusprechen! Dabei wollte er das nicht! Und als hätte die nicht ihre eigenen! Sie war schließlich bei allem dabei gewesen! Nichts, was eine junge Frau sehen sollte! Warum erzählte er ihr das alles dann? Warum ihr? Warum nicht irgendwem anderes? Dem Stein, auf dem er gesessen hatte? Einer Palme, an der er gelehnt hatte? Irgendjemand, der ihm keine Antwort geben oder weitere doofe Fragen stellen konnte! Warum ausgerechnet einer Adligen, die damit genauso viel Kontakt hatte, wie er? Die man mit so etwas nicht belasten sollte! Der Anstand sollte es ihm normalerweise verbieten. Doch den hatte er offenbar auf der Eleftheria zurückgelassen. Andernfalls hätte er nicht gerudert, sich nicht auf einem Stein zusammengerollt wie ein kleines Mädchen, wäre nicht auf irgendein Wrack geklettert und würde in diesem Moment nicht hier stehen. „Naja, nicht so wichtig.“ Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und rang sich wieder zu einem Lächeln durch. „Ich denke, Ihr habt Recht. Das Schiff könnte man vielleicht wieder in Ordnung bringen.“, lenkte er das Thema auf etwas Anderes. Er hatte keine Ahnung, ob das Schiff wieder zur See fahren und auch noch die Stürme in diesem Seegebiet überstehen konnte. Oder ob sie überhaupt in der Lage waren, zu viert ein Schiff zu reparieren. Nelli wirkte nicht als wäre sie körperlich dazu in der Lage, und er zweifelte, dass Esther mehr Ahnung vom Bau hatte, als er. Trevor war – wenn auch am Leben – immer noch verletzt und konnte wohl kaum helfen.
    Esther legte zögerlich ihre Hand auf seine. Er erschrak und wollte sie erst zurückziehen, ließ es dann aber. War das richtig? Wenn immer noch Blut an den Händen war, dann kam sie nun auch damit in Berührung.
    Sehr unwahrscheinlich.
    Wobei das nach dem vielen Waschen nicht der Fall sein sollte. Und ihre Hand war angenehm warm.
    „Es tut mir leid, dass Ihr gezwungen wart, jemanden zu töten. Das sagte ich bereits und ich wiederhole es gerne nochmal.“ Sie lächelte schwach. „Ich ... verstehe, wie Ihr Euch fühlt."
    Edmund runzelte die Stirn. Woher wusste sie, wie er sich fühlte? Hatte sie auch schon mal getötet? Das konnte er sich nicht vorstellen.
    Seine Hand begann wieder zu zittern, weshalb er versuchte, sie zu entziehen, doch Esther gab nicht nach und schloss ihre Finger energisch um seine Hand. Ganz als fürchtete sie, dass er abhauen würde, wenn sie ihn losließ. Kein abwegiger Gedanke. Wenn er vom Schiff verschwand und zurück zum Strand kam, musste er nicht antworten. Denn er wusste nicht, was er sagen sollte.
    Also schluckte er und sah Esther schweigend eine ganze Weile in die Augen. Darin lagen noch immer gut erkennbar ihre eigene Angst und ihre eigene Sorge. Angst vor ihm? Aber dann wäre sie nicht hier, oder? Wusste sie deshalb wie er sich fühlte?
    „Ihr habt auch Angst“, stellte er fest. Natürlich nicht nur, um von seinen eigenen Problemen abzulenken. Sondern um ebenfalls Anteilnahme zu zeigen!
    Esther wich seinem Blick aus und nickte.
    „Ich habe noch nie jemanden ... sterben sehen."
    Edmund nickte. Es überraschte ihn nicht. War es das, was Esther nicht hatte sagen wollen, als er sie gefragt hatte? Vermutlich nicht. Vermutlich steckte mehr dahinter.
    „Das Gefühl und der Gedanke erdrückt einen“, murmelte er, „Man fühlt sich plötzlich so verletzlich, weil alles so schnell enden kann. Man fragt sich, ob man alles richtig gemacht hat, ob man es hätte verhindern können.“
    Esther verkrampfte ihre Hand und drückte etwas fester zu. Sie hatte ihm schließlich gesagt, dass sie sich selbst die Schuld an der Meuterei gab. Blödsinn! Sie hatte schließlich nicht gemeutert und konnte wohl kaum etwas dafür, dass um sie herum alle dumm waren wie trockenes Brot!
    „Ja. Die Gedanken gehen mir auch ständig durch den Kopf. Ich weiß, dass ich nichts hätte tun können, um die Meuterei zu verhindern ... aber dadurch fühle ich mich noch schlechter. Ich war so ... hilflos ...“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    Ein wenig überfordert starrte Edmund Esther an. Was sollte er machen? Er hatte sie nicht zum Weinen bringen wollen. Warum weinte sie nun plötzlich? Das hatte sie zuvor nicht getan! Normalerweise weinten Frauen erst, wenn er das Zimmer verließ. Und dann konnte er die Tür zuschlagen. Tatsächlich musste er nun aufpassen, nicht ebenfalls zu heulen. Was war los? Diese saublöde Insel!
    Nun hatte er mit seinem Gerede Esther wieder an die Bilder der Meuterei erinnert!
    Schwachkopf!
    Als sich bei Esther die erste Träne löste, folgte er einem Impuls und wischte diese sanft mit der freien Hand von ihrer Wange. Danach zuckte er jedoch zurück und nahm die Hand wieder weg.
    „Es war nicht Eure Aufgabe für die Moral der Mannschaft zu sorgen, sondern meine. Die Schuld daran dürft Ihr Euch nicht aufhalsen." Die gehörte allein ihm! „Und ich finde, Ihr wart sehr tapfer."
    Zumindest tapferer als ich. Sie hat den Kopf nicht in den Sand gesteckt, sondern weitergemacht.
    Esther sah ihn verwirrt und überrascht an, weshalb sich Edmund nicht sicher war, ob er etwas Falsches gesagt hatte. Schien wohl ab und an vorzukommen.
    „Ich bin eine Schutzmagierin, Edmund. Meine Aufgabe wäre es gewesen, Euch, Trevor und Nelli zu beschützen. Und nicht, mich in einem Beiboot zu verkriechen." Sie schniefte und blinzelte die Tränen weg, die immer mehr wurden. „Die Moral wurde wegen eines Aberglaubens zerschlagen und nicht Euretwegen."
    Im ersten Moment wünschte sich Edmund weg, als immer mehr Tränen über Esthers Wangen liefen. Dann verfluchte er sich, dass seine Jacke am Strand lag. Dort war sicherlich noch ein Taschentuch, das er ihr hätte anbieten können. So stand er da und wusste nicht, ob er es schlimmer oder besser machte, wenn er mit dem Hemdärmel über ihr Gesicht wischte.
    Hör auf zu heulen, ich habe keine Taschentücher dabei!
    Als Ausgleich dazu, streichelte er mit dem Daumen zögerlich über ihren Handrücken. Irgendwie ging von der Berührung ein tröstlich angenehmes Gefühl aus.
    „Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass dieser Aberglaube um sich schlägt. Ich habe das nicht ernst genommen“, versuchte er es dann nochmal. Hör auf über dich zu reden, Edmund! „Und außerdem habt Ihr uns beschützt!“, fügte er dann mit einem unsicheren Lächeln hinzu und fuhr ihr nun doch mit dem Ärmel leicht über die Wange. Sollte er sich nochmal für die Hilfe bei dem Sturm bedanken? Aber sich bei jemandem bedanken, gehörte nicht zu seinen Stärken. Und er glaubte auch nicht, dass das irgendwas brachte. Hatte es beim ersten Mal offenbar auch nicht. „Aber ich kann mir vorstellen, dass es egal ist, was ich Euch sage, die Schuld werdet Ihr Euch dennoch geben." Machst du immerhin auch so. Sie schniefte. „Ähm ... aber vielleicht hilft es Euch zu wissen, dass auch Euch niemand außer Ihr Euch selbst die Schuld gibt."
    Esther schniefte weiter. „Ich glaube schon. Und hilft es Euch zu wissen, dass Euch niemand die Schuld gibt?“
    „Ein wenig“
    , gab er mit mehr Zuversicht von sich, als er eigentlich verspürte.
    Auf Esthers Lippen bildete sich ein zaghaftes Lächeln, was Edmund erleichtert zur Kenntnis nahm. Sie blickte zu Boden und wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. „Entschuldigt. Ich wollte Euch nicht mit meinen Gedanken belästigen.“
    Von Ihren Gedanken fühlte er sich deutlich weniger belästigt, als von der ständigen Fragerei und Bohrerei. Oder von seinen eigenen Gedanken!
    „Das ist in Ordnung“, meinte er schlicht. „Ich schätze, ich fühle mich dadurch auch besser.“
    Es tat seltsam gut, dass er nicht der einzige war, der mit den Gedanken nur schwer von den Ereignissen auf der Eleftheria wegkam. Und nur schwer darüber sprechen konnte.
    Allerdings fragte er sich, ob es angemessen war nachzufragen, ob sie aufhören konnte, seine Hand zu zerquetschen. Irgendwie wurde ihm erst in diesem Moment klar, dass sie wie zwei Bescheuerte Händchenhielten. Stattdessen schwieg er.
    Esther sah auf das Meer hinaus, räuspert sich und löste sich zu seiner Befreiung schließlich aus dem Griff. Es fühlte sich dennoch seltsam leer an, weshalb er seine Hand kurzerhand zurück in die Tasche steckte.
    „Ich bin erleichtert, dass es Euch etwas bessergeht.“ Sie lächelte sanft, was Edmund nicken ließ. Und ich bin erleichtert, dass Ihr nicht mehr weint! „Wollen wir zurück zu den Anderen, bevor es komplett dunkel wird?“
    Edmund zögerte. Er wusste nicht, ob er zu den anderen zurückwollte. Jetzt schon. Vielleicht morgen?
    „Einverstanden“, seufzte er schließlich. Wenn er ehrlich war, war er froh, dass er von dem Schiff vorerst herunterkam. Vielleicht würden sie sich das Ding nochmal genauer anschauen, aktuell schaffte er das noch nicht. Zumindest von Innen.
    Zurück am Strand fischte er seine Jacke aus dem Sand und klopfte den Dreck ab. Mittlerweile hatte das aber auch keinen Zweck mehr. Zu gern hätte er sich beschwert, aber einen Sinn hätte es auch nicht gemacht. Denn ändern ließ es sich nicht.
    Die Sonne war mittlerweile untergegangen und ein kühler Nachthimmel wölbte sich über der Insel. So warm es am Tag war, so kalt wurde es in der Nacht. Die nasse Kleidung trug außerdem nicht zu einer gemütlichen Atmosphäre bei.
    Hinter ihm kam Esther an Land gestapft. Ihre Robe klebte ihr klatschnass am Körper. Was war passiert? War sie gefallen?
    Sie wrang den Stoff aus und holte dann zu ihm auf. Eigentlich hatte er sich die Jacke selbst überziehen wollen, doch Esther schlang sich bereits die Arme um den Körper. Mit den nassen Sachen war es noch ein gutes Stück kälter, das merkte er an seinen eigenen Kleidern.
    Kommentarlos legte er ihr die Jacke über die Schultern. Besser als nichts. Außerdem hatte sie ihm geholfen. Hauptsache die Hexe bestand später nicht auf das gleiche. Mit Jacken sah es auf der Insel recht knapp aus.
    „Danke“, meinte Esther mit einem Lächeln.
    Edmund nickte schlicht und machte sich auf den Rückweg.

    Edmund half dabei Trevor an Land zu zerren. Was nicht so leicht war, denn der Kerl wog mehr als er selbst, leistete keinerlei Zuarbeit und davon abgesehen schmerzten ihm die Arme vom Rudern. Wie lang hatten sie in dem Boot gesessen? Er konnte nicht sagen, ob er nur wenige Minuten, Stunden oder sogar Tage gerudert hatte. Seine Schultern würden es ihm bald sagen.

    Allerdings war er zu erschöpft, um sich ernsthaft darüber zu beschweren, dass er kein Packesel war. Davon abgesehen, lenkte es ihn von seinen Gedanken ab, die Großteils aus Blut, Tod und den letzten Minuten auf dem Schiff und vor allem einem schlechten Gewissen bestanden.
    Als Nelli und Esther den Eindruck erweckten, allein zurecht zu kommen, ließ er sie mit Trevor hinter sich. Er ertrug den Blutgeruch nicht mehr. Und er wollte ihre Vorwürfe nicht hören, die sie ihm sicherlich machen würden, wenn sich die Sache etwas beruhigt hatte. Es war seine Schuld, dass es zu all dem gekommen war!

    Er schlurfte so weit, bis er die anderen nicht mehr sehen konnte. Dann schleppte er sich sicherheitshalber noch einige Meter voran und ließ sich gegen eine der Palmen in den Schatten sinken. Dass er sich dabei die Hose mit Gras und Sand beschmutzte, war ihm herzlich egal.
    Er zog die Beine an und blickte aufs Meer. Es erstreckte sich endlos vor ihm. Von seinem Schiff war nichts mehr zu sehen. Nur blauer Himmel, der sich im Wasser spiegelte, die Sonne, die erbarmungslos auf den Strand schien. Möwen, die über ihm kreischten. All das kam nur oberflächlich bei ihm an. Es kümmerte ihn nicht. Warum auch?
    Das hatte er nun davon! Er hatte die anderen in die ganze Sache hineingezogen. Wegen ihm hockten sie auf einer Insel mitten im Nirgendwo! Wegen ihm würden sie alle sterben! Und Trevor vermutlich vor ihnen allen! Nur weil er diesen Kampf provoziert hatte. Wäre er nicht gewesen, hätte Trevor nicht kämpfen müssen. Er war sowieso schon verletzt gewesen und das hatte er genau gewusst. Dennoch hatte er ihn kämpfen lassen. Ob Trevor es bereute, sich auf seine Seite gestellt zu haben? Ob er überhaupt noch die Gelegenheit dazu bekommen würde? Die Verletzungen waren schlimm und das viele Blut … Nelli konnte ihm sagen, was sie wollte. Er wusste genau, dass es um Trevor nicht gut stand.
    Edmund blickte in die Richtung, aus der er gekommen war.
    Alles deine Schuld!
    Und Nelli? Die alte Hexe hatte sich sicherlich auch etwas Anderes vorgestellt, als allein auf einer Insel mitten im gefährlichsten Seegebiet der Welt zu sterben! Sie hatte bestimmt Freunde – irgendwo -, die sie nun nie wiedersehen würde. 179 Jahre und dann traf sie auf ihn. Wegen ihm würde sie die 180 Jahre nicht mehr erreichen. Wegen ihm ... Sie hasste ihn sicherlich. Wie sollte es auch anders sein.
    Du bist Schuld!
    Esthers Vater gegenüber hatte er versprochen, auf seine Tochter aufzupassen! Nicht einmal das hatte er geschafft! Nicht nur, dass sie sich in diesem dummen Sturm völlig verausgabt hatte, nun war die Gräfin auch noch wegen eines albernen Aberglaube von Bord geworfen worden. Hätte er eher auf Nelli gehört, hätten sie eher auf den Sturm reagieren können. Esther hätte sich nicht verausgaben müssen. Trevor wäre nicht verletzt worden. Hätte er eher erkannt, dass seine Mannschaft unzufrieden war, und sich Piraten an Bord befanden, hätte er reagieren können. Stiev und der Koch wären nicht gestorben! Von letzterem kannte er ja noch nicht einmal den Namen! Esther wären all diese Eindrücke erspart geblieben!
    Wie konntest du nicht merken, dass Piraten an Bord waren?
    Edmund merkte, wie seine Hände zitterten und vergrub sie in den Hosenbeinen.

    Es ist zu spät! Er konnte nichts mehr machen.
    Er schwor sich, dass er nicht zu den anderen zurückgehen würde. Er wollte nicht dabei sein, wenn Trevor starb. Den Anblick würde er nicht ertragen. Noch mehr Blut, das an seinen Händen klebte. Noch mehr Tod! ... Ein Freund weniger.
    Und sie würden ihn sowieso nicht bei sich haben wollen…

    Warum auch?

    Von wegen Freund! Sollte Trevor es doch überleben, würde dieser das Wort sicherlich nicht in seinem Zusammenhang in den Mund nehmen.
    Edmund rollte sich zitternd zusammen und presste die Hände auf die Ohren.
    Als er die Augen schloss, schossen die Bilder an den Kampf durch seinen Kopf. Das Geschrei der Männer. Metall, das aufeinanderschlug. Stiev, wie er leblos am Boden lag. Die glasigen Augen des Dicken, die ihn hasserfüllt und anklagend ansahen.
    Würden ihn die anderen auch so ansehen?
    Er versuchte, den Gedanken an den Dicken abzuschütteln, presste die Augen fester zusammen und die Hände noch etwas mehr gegen die Ohren. Das wütende Klagen seiner Gedanken ließ nicht nach. Im Gegenteil, es schien immer lauter zu werden. Trat auf ihn ein, bespuckte und beschimpfte ihn. Er war ein Idiot! Ein Versager! Ein Mörder.

    Er hatte den Dicken umgebracht. Manfred. Der Mann hatte einen Namen gehabt. Ob er eine Familie hatte? Irgendwo? Kinder, die ihren Vater nun niemals wieder sehen würden? Eine Frau, die vergeblich wartete?
    Nein!
    Er hatte ihn nicht umbringen wollen. Der Kerl war in seinen Degen gefallen. Es war ein Unfall gewesen. Er hatte die anderen nicht in diese Situation bringen wollen. Er hatte sie beschützen wollen!
    Nein, du wolltest sie nicht beschützen! Nur dich selbst! Du wolltest deinem Vater etwas beweisen!

    Ja, bewiesen hatte er ganz großartig, dass sein Vater Recht hatte und er zu nichts nütze war. Was hatte er erwartet? Es war von Anfang an klar gewesen, dass er niemals in Samira ankommen würde.
    Er hätte sterben sollen, statt Stiev. Er hätte verletzt werden sollen, statt Trevor. Er sollte allein auf dieser Insel sitzen, nicht mit den anderen. Er hatte es verdient! Die anderen nicht!

    Seine Gedanken bewegten sich noch unzählige Male im Kreis, wurden mit jedem mal schlimmer, als würde er sich in einem Strudel befinden, aus dem er einfach nicht freikam.

    Irgendwann holte ihn der Schlaf und die Erschöpfung der letzten Stunden und Tage ein. Doch auch im Schlaf wurde er die Bilder nicht los. Immer wieder sah er die Augen des Dicken. Immer wieder stieß er ihm den Degen in den Hals. Immer wieder spürte er das Blut auf seiner Haut. Wie es ihm die Hände entlangrann - nass und warm. Und immer wieder hörte er das Röcheln. Und mit jedem Mal wurden die Stimmen der anderen lauter, die ihm die Schuld gaben.

    Als er das erste Mal wach wurde, war die Sonne noch nicht untergegangen. Er fror.

    Das zweite Mal erstreckte sich ein klarer Himmel über ihm. Er schwitzte.

    Das dritte, vierte und fünfte Mal spürte er, wie der Boden unter ihm immer mehr auskühlte.

    Bei jedem Erwachen besah er sich panisch die Hände, sah das getrocknete Blut an den Ärmeln seines Hemdes.

    Bei jedem Erwachen versuchte er sich die Schuld im Meer abzuwaschen. Doch das Blut blieb an seinen Händen kleben.
    Nach dem sechsten Mal weigerte er sich dagegen, die Augen nochmals zu schließen und blieb im nassen Sand direkt am Meer sitzen.

    Edmund fixierte den Formwandler aus schmalen Augen. Vermutlich war es keine gute Idee, ihm nach diesem idiotischen Anfall an die Gurgel zu gehen, oder? Wie hatte der Kerl dieses ganze Theater spielen können, ohne ihm zuvor etwas zu sagen?
    Er merkte tatsächlich erst, dass er Trevor hatte vertrauen wollen und sich auch auf ihn verlassen hatte, als dieser ihm vermeintlich in den Rücken gefallen war. Es war ein verdammt einsamer Moment gewesen! Tatsächlich hatte er sich in seinem Leben noch nie so allein gefühlt. Allein zwischen einer stinkwütenden Mannschaft, die ihn tot sehen wollte. Sein Mut war in diesem Moment jedenfalls auf Null gesunken.
    „Die Witzfigur will aber nicht, dass du mir ihm stirbst!“, knurrte er immer noch gekränkt. Und es war eher der Trotz, der ihn noch dazu brachte, auf den Beinen zu stehen.
    „Das ist nicht deine Entscheidung“, gab Trevor zurück, was wiederum die Wut neu beschwor. Weg war der gekränkte Stolz. Warum machte jeder, was er wollte? Warum konnte nicht einmal jemand das machen, was er sagte? Und warum nutzte Trevor exakt die gleichen Worte wie sein Vater vor wenigen Wochen?!
    „Natürlich ist es nicht meine Entscheidung!“ Mit einem Mal brach sich die Anspannung der letzten Tage und vor allem der letzten Minuten Bahn. Edmund warf sauer die Arme in die Luft. „Es ist nie irgendwas meine Entscheidung! Wäre es nach mir gegangen, wären wir überhaupt nicht in diesem dreimal verfluchten Seegebiet mit seinen lächerlichen Stürmen!“
    Trevor sah ihn eine Weile von der Seite an, hielt den Blick aber auf die Piraten gerichtet.
    „Lass uns das später bereden. Das ist dein erster Überfall. Versuch ihn einfach, zu überleben.“
    Ehe Edmund noch etwas sagen konnte, platzten die beiden Männer aus der Tür zum Unterdeck, welche zuvor in sein Zimmer geschickt worden waren. Lautstark verkündeten sie, dass sie nichts gefunden hatten. Natürlich nicht! Er war nicht so blöd und ließ seine Sachen unbeaufsichtigt in der Kabine herumliegen. Am besten noch mit einem Zettelchen „geheim“ und „wertvoll“ - „bitte nicht anfassen“.
    Armod nickte nachdenklich, sah noch ein letztes Mal zu Trevor und seufzte resigniert, als bedauerte er wirklich, dass Trevor seine Wahl gegen ihn getroffen hatte. Dann wandte er sich an Edmund.
    „Nun denn“, setzte der Pirat an, „Wir wissen, dass Ihr etwas noch Wertvolleres mit Euch führt, als die Ladung im Lagerraum.“
    Edmund unterdrückte den Drang, zu Trevor zu schauen. Hatte er den Kerlen etwas verraten? Woher sonst sollten sie wissen, dass sich außer der Ladung noch etwas anderes an Bord befand? Trevor hatte noch am Nachmittag so doof danach gefragt!
    Er schüttelte den Gedanken ab. Nein, er war sich sicher, dass Trevor ihnen nichts verraten hatte. Nur woher wussten sie dann davon? War es nur eine Vermutung von ihm?
    „Keine Ahnung, was ihr glaubt zu wissen“, gab Edmund trotzig von sich. Ob man die Verunsicherung in seiner Stimme hörte?
    Ich habe es meinem Vater versprochen! Ich verrate nichts!
    „Lügt nicht, wir wissen, dass Ihr etwas versteckt.“
    „Von mir aus, nehmt das Schiff auseinander, ihr werdet nichts finden.“
    Sein Vater hatte ihm eingeschärft, nichts zu sagen. Und wenn es ihm das Leben kosten konnte. Die Fracht in den falschen Händen und sie hatten ein Problem. Und das waren definitiv die falschen Hände. Und vor allem dreckige Hände!
    „Er trägt es sicherlich bei sich, deshalb haben wir in seiner Kabine nichts gefunden.“
    Edmund versteifte sich. Bei näherer Betrachtung war es den Tod nicht wert.
    „Nun sag es ihnen schon!“, mischte sich nun auch Trevor ein. Eindringlich sah der Wandler ihn an.
    „Auf dich höre ich erst recht nicht mehr!“ Trevors Theater verletzte ihn immer noch.
    „Meine Fresse!“, stieß Trevor aus.
    „Ah, eure Truppe besitzt zumindest ein Gehirn.“ Armod lachte.
    Eure gar keins …
    „Hör auf deinen kleinen Schoßhund.“
    „Nein“, stieß Edmund aus, ehe er es sich anders überlegen konnte. Er hätte gern gesagt, wo sich die Fracht befand. Er wollte nicht sterben! Zumindest nicht so! Und nicht so jung! Aber sein Vater hatte es ihm verboten! War es das wert? Wäre Trevor nicht an seiner Seite, hätte er wahrscheinlich bereits alles gesagt. Irgendwie gab der Formwandler ihm eine gewisse Stütze. Nur was genau brachte es ihm, dass er zu dem Versprechen hielt?
    „Bursche, nun sagt es ihm halt!“, wandte Nelli ebenfalls ein, „Tod nützt Euer Schweigen auch nichts mehr.“
    „Ich werde nichts sagen!“,
    beharrte Edmund und verschränkte die Arme. Zum einen, um seine Position klar zu machen und zum anderen, um das Zittern zu unterdrücken.
    Was wollte er damit beweisen? Nelli hatte Recht. Was brachte es ihm, wenn er irgendwo auf dem Meeresboden lag, wegen einer blöden Fracht und einem noch blöderen Versprechen? Nur weil er wollte, dass sein Vater einmal stolz auf ihn war? Davon hatte er sicherlich viel, wenn er tot war.
    „Ihr habt es gehört“, bestätigte Trevor.
    „Tja“, machte Armod, „dann platzt auch der Deal. Zerrt die Frau aus dem Boot zurück.“ Der Pirat machte eine wegwerfende Handbewegung.
    Edmund trat einen Schritt zurück.
    Nein, das wollte ich nicht!
    „Moment, haltet die Frau da raus!“
    Die Hand des Dicken schloss sich um seinen Kragen, dann wurde er unsanft zurückgezerrt.
    Armod ignorierte ihn. „Seht zu, dass ihr diesen Wicht auf den Kopf stellt, bis er redet! Und Manfred“, er sah an Edmund vorbei zu dem Dicken. „Du musst nicht zimperlich mit ihm umgehen!“ Das fiese Grinsen auf dessen Gesicht ließ es ihm eiskalt den Rücken hinuntergleiten.
    Zu allem Überfluss machten sich auch die Männer wieder daran zu schaffen, Esther aus dem Bord zu zerren. Sie wehrte sich, hatte gegen die Matrosen aber wenig einzusetzen.
    Was für ein Idiot war er eigentlich? Diese blöde Fracht war keinesfalls wertvoller, als … die anderen? Und nun hatte er es versaut, nur, weil er nicht hatte mit der Sprache herausrücken wollen? Weil er an einem blöden Versprechen hing? Gegenüber einem Mann, der ihn nie für voll genommen hatte?
    Die Worte, die sein Vater immer und immer wieder in seinem Zusammenhang ausgesprochen hatte, schossen ihm durch den Kopf: nichtsnutzig und dumm. Genauso fühlte er sich in diesem Moment auch.
    Der Dicke lachte hinter ihm schallend auf, als er Edmund hochhob und diesem dabei ein jämmerliches Quietschen herausrutschte.
    „Oh, da fängt wohl gleich einer an zu weinen“, brüllte der Dicke vor Lachen. „Wie niedlich. Bisher die dicke Lippe riskiert und nun … Willst du zu Mama, Händlersöhnchen?!“
    „Halt die Fresse, Fettwanst!“
    , stieß Edmund aus.
    Ja, ihm war das ganze Ausmaß seiner Situation erst in diesem Augenblick bewusstgeworden. Er hatte einen Fehler gemacht, der ihnen allen das Leben kosten würde. Es war seine Schuld! Und dafür hatte sich Trevor auf seine Seite gestellt?! Er sollte sich das noch anders überlegen, oder?
    Aber die Genugtuung würde er ihnen nicht geben, heulend um Gnade zu winseln!
    Armod drehte sich mit einem widerlichen Grinsen zu ihm zurück.
    „Oh, habe ich Euren wunden Punkt gefunden?“
    Von wegen wunder Punkt! Er hatte keinen! Nur Angst! Aber davon zumindest eine ganze Menge!
    Der Pirat lachte auf.
    „Da habt Ihr Euch so viel Mühe wegen der beiden Hexen gegeben, um es dann mit dem Arsch einzureißen, weil Ihr plötzlich Angst um Euer eigenes Leben habt.“ Er und einige Umstehende lachten. Nicht alle, aber genug, damit sich Edmund durch die Worte noch mehr gekränkt fühlte, als es die Situation sowieso schon schaffte.
    Ich habe Angst … Aber nicht nur um sein Leben, wie er resigniert feststellen musste.
    Noch vor ein paar Wochen hätte der Kerl mit seinen Worten wohl voll ins Schwarze getroffen. Und vermutlich wäre er nicht in so eine Situation geraten! Nun aber hatte er es versaut. Bisher hatte es wenigstens so ausgesehen, als würden Esther und Nelli heil aus all dem rauskommen. Aber nun?
    „Also ich höre …?“, meinte Armod schließlich.
    „Ich sag es euch, aber lasst dafür die anderen unbeschadet gehen.“
    Armod lachte und aus dem Augenwinkel sah Edmund, wie einige der Männer ihre Waffen zogen. Das sah nicht so aus, als wollte sich noch irgendwer daran halten. Frank lachte, dann versenkte Trevor seinen Säbel bereits in dessen Schulter. „Ich schätze, dafür ist es zu spät!“, meinte er an Edmund gewandt. „Esther, schneidet die Taue los!“, brüllte er anschließend über das Deck. Der Koch zerrte ebenfalls eine Waffe von irgendwoher und machte sich laut brüllend auf den Weg, um Esther zu unterstützen.
    „Wartet …!“, entfuhr es Edmund eher halbherzig. Weiter kam er jedoch nicht, da sich Stiev auf den Dicken warf, der ihn daraufhin freigab. Edmund fiel auf die Füße zurück und zupfte seinen eigenen Degen umständlich aus dem Gürtel.
    Dankend blickte er den Matrosen an. Es waren also nicht alle gegen sie.

    Dann jedoch blieb er wie erstarrt auf dem Deck stehen. Das Chaos, das mit einem Mal losbrach, kam nur langsam in seinem Kopf an. Überall wurden Waffen gezogen, es erklang Gebrüll und Männer gingen aufeinander los.
    Den Degen hatte er zwar in der Hand, aber wirklich spüren tat er ihn nicht. Neben ihm parierte Stiev einen Angriff, der zweifellos Edmund gegolten hatte.
    Edmund trat einen Schritt zurück und unterdrückte das Zittern. Sein Blick streifte die Männer, die mit scharfen Waffen aufeinander einhieben und -stachen. Einige hielten sich zurück, andere kämpften auf Leben und Tod. Das hier war anders als die Schlägerei. Das war viel schlimmer und mindestens drei Nummern zu groß. Die Lage eskalierte deutlich schneller als er sie begreifen konnte. Hatten sie nicht eben noch dagestanden und geredet?
    Sein Blick streifte den Dicken, der hämisch grinsend auf Stiev zulief, der mit verdrehtem Arm am Boden lag.
    Edmund sah sich nach Trevor um, doch dieser war anderweitig beschäftigt.
    Als er das nächste Mal zu Stiev sah, war der schon nicht mehr am Leben. Wie ein Gestörter hämmerte der Dicke auf den ehemaligen Matrosen ein.
    Edmund wandte den Blick ab und trat noch einen Schritt zurück. Ihm würde es genauso gehen. Gegen den Kerl hatte er keine Chance. Warum hatte er nicht einfach gesagt, wo die Fracht war? Warum hatte er geschwiegen? Warum war er so ein verdammter Idiot?! Dann hätten sie nur ihn umgebracht, nun starben sie vermutlich alle!
    Der Dicke sah sich um. Kurz richtete sich sein Blick auf Edmund, er lachte, wandte sich allerdings ab und lief zum Koch, der Esther in ihrem Boot verteidigte.
    Nelli hob in dem Durcheinander gerade ihren Stock auf. Und stand damit dem Dicken genau im Weg.
    Edmund blieb stehen. Er konnte sich nicht einmischen, er konnte nichts ausrichten. Das war keine Schlägerei. Wenn er sich einmischte, würde er sterben. Er blickte zu Stiev…
    Er konnte niemanden verletzen. Nicht ernsthaft! Nicht tödlich! Und erst recht nicht mit Absicht!
    Ohne zu zögern ging der Fette auf die alte Frau los. Diese hob zwar ihren Gehstock, hatte dem Schlag mit dem Säbel aber nichts entgegenzusetzen. Lediglich ablenken konnte sie ihn, landete dabei aber ächzend auf dem Hosenboden.
    Mit dem nächsten Schritt stieß Edmund an die Reling hinter sich. Er musste sich nur noch umdrehen und springen. Schwimmen konnte er und war vermutlich sicherer als weiterhin an Bord zu bleiben.
    Er schluckte, schob den Gedanken an Verrat und die Angst beiseite und umgriff den Degen wieder fester.
    Der Dicke holte bereits erneut aus und Edmund gelang es nur mit Mühe, noch rechtzeitig zwischen die Hexe und den Fetten zu schlittern. Er parierte den Schlag, wurde von der Wucht aber zurückgeschoben wie eine Puppe. Das Klirren des Metalls tat ihm in den Ohren weh.
    „Ah, wen haben wir denn da“, stieß der riesen Kerl aus. „Ist der Knilch fertig mit weinen und will sich nun erneut zwischen mich und eine dieser Huren stellen?“ Er lachte widerlich und stank dabei noch schlimmer – irgendwas zwischen vergammeltem Fisch und dreckigen Füßen. „Mir soll es recht sein. Ich hätte das schon eher zu Ende bringen sollen! Deinen Tod werde ich genießen.“
    Edmund hätte gerne die Zeit gehabt, etwas zu erwidern, da schwenkte der Fette aber bereits den Säbel – schneller als man ihm zugetraut hätte.
    Er wich dem Schlag aus, der darauf neben ihm ein Fass in Stücke drosch und eine ungefähre Ahnung gewährte, wie stark der Kerl war. Dass Trevor ihn vor wenigen Tagen noch zusammengeschlagen hatte, schien ihn nicht sonderlich zu jucken. Nicht mal der Sturm schien ihn erschöpft zu haben.
    Ist es die Alte wert?
    Edmund riskierte einen kurzen Blick über die Schulter. Nelli war bereits dabei, sich wieder auf die Beine zu wuchten. Immerhin schien ihr nichts Ernsthaftes passiert zu sein.
    „Hast du eigentlich auch so einen lächerlichen Piratennamen?“, versuchte Edmund es mit einem Gespräch. Irgendwie beruhigte es ihn, wenn er sprach. Dann musste er nicht die ganze Zeit daran denken, dass um ihn herum Menschen starben. Und das er im Begriff war, es ihnen gleich zu tun.
    Und er musste den Drang zurückdrängen, einfach kreischend wegzurennen!
    Er brachte etwas Abstand zwischen Nelli, sich und den Fetten. Irgendwie musste er ihn von dem Beiboot weglocken.
    Wenn er schon starb, dann für eine gute Sache, oder? Vielleicht würden Esther und Nelli entkommen? Und er hatte den Aufenthaltsort er Fracht nicht verraten!
    Hoffentlich erstickt Vater daran!
    „Nicht?“, bohrte er nach, als er keine Antwort erhielt, „Wie wäre es mit Manfred, der mit dem Schweinegesicht? Manfred, der Stinkende, Manfred, die geballte Dummheit?"
    Weiter kam er nicht, da der Dicke mit zwei langen Schritten wieder zu ihm aufgeholt hatte und mit einer schnellen Abfolge auf ihn einschlug. Zwei der Hiebe konnte Edmund gerade noch abwehren, der dritte ging durch seine Kleidung, verfehlte ihn aber.
    Toll, warum machte er sich eigentlich noch die Mühe, sich etwas Anderes anzuziehen?
    „Klappe, Kleiner", gab der Dicke von sich, „für so einen Schnösel hast du eine ziemlich große Fresse!“
    Jaaaa, keine Ahnung, woher die kommt …
    „Man tut, was man kann.“ Während er sprach, ging er weitere Schritte zurück.
    Der Dicke folgte ihm.
    „Erst du, dann die Alte! Das wird ein lustiger Tag.“
    Mittlerweile war der Abstand zu Nelli groß genug, damit diese nicht mehr in unmittelbarer Gefahr zu dem Fetten schwebte.
    „Fein", knurrte Edmund deshalb, blieb stehen und lockerte das Handgelenk in dem der Degen lag. „Dann eben nicht.“
    Wie groß konnte schon der Unterschied zwischen den unzähligen Übungskämpfen und einem echten Kampf sein?

    Sehr groß, wie sich keine Minute später herausstellte, als er über den Boden rollte, um dem Fuß des Kerls und der Klinge des Säbels auszuweichen und danach wieder auf die Beine zu kommen. Seine Angriffe prallten an dem Dicken ab als würde er mit einem Gummiband nach einem Metallschild schnippen. Während er nun schon zwei Faustschläge hatte einstecken müssen. Glücklicherweise spürte er davon nicht allzu viel.
    „Jetzt blieb schon stehen!“, knurrte der Fettsack und stellte ihm das Bein. Edmund stolperte. Die ganze Zeit schon kämpfte der Mann unfair. Durfte er das?

    Edmund fing sich an der Reling ab. Aus dem Augenwinkel sah er bereits den nächsten Angriff kommen.
    Langsam hatte er keine Lust mehr. Er duckte sich weg und schlug statt auf den Körper des Kerls auf die Hand mit dem Säbel. Die Klinge des Degens bohrte sich ins Fleisch und ließ den Mann aufschreien. Blut spritzt ihm entgegen. Und der Säbel fiel zu Boden.
    Es war die Überraschung darüber, dass er getroffen worden war, die den Dicken kurz verharren und seine Hand mustern ließ. Edmund zögerte nur kurz. Er wollte den Kerl nicht verletzen. Aber wenn er es nicht tat, dann würde dieser ihn töten, so viel stand fest.
    Kurz entschlossen, zerrte er seinen Degen zurück und hackte nun mehr auf den Fetten ein, als dass er sich an seine Ausbildung erinnerte. Dieses ganze Gekämpfe nervte ihn. Er hasste es! Er hasste es andere zu verletzen! Er hasste es Blut zu vergießen! Er hasste es, dass man ihm in den Rücken fiel, immer und immer wieder. Er hasste es vorgeführt zu werden wie ein Idiot! Er hasste den Fetten dafür, dass er Stiev umgebracht hatte! Er hasste ihn dafür, dass er Nelli angegriffen hatte! Er hasste die Piraten dafür, dass sie sein Schiff klauten und sie von Bord warfen! Er hasste die Kerle dafür, dass sie Esther weh getan hatten! Und er hatte sie dafür, dass sie ihn dazu gebracht hatten, Trevor zu misstrauen! Aber vor allem hasste er sich selbst dafür, dass er sie alle in diese Situation gebracht hatte!
    Der Fette wich zurück. Die wütenden Schläge trafen ihn und hinterließen einige Fleischwunden, die ihn aber nicht weiter zu interessieren schienen. Manfred holte mit seiner gesunden Hand aus, als wollte er ihm die Waffe entwenden. Doch diesmal war Edmund schneller und ein Schrei entfuhr dem Fetten und quittierte die drei abgetrennten Finger.
    Edmund zögerte nun doch. Das hatte er nicht gewollt ...
    Wutentbrannt stürzte sich der Mann auf ihn. Edmund hob abwehrend den Degen und trat nun seinerseits das Bein des Dicken weg. Zu seiner Überraschung rutschte Manfred tatsächlich weg und bremste ruckartig ab.
    Edmunds Degen bohrte sich mehr zufällig als beabsichtig in seinen Hals.
    Der Schwung reichte noch aus, um Edmund zurückprallen zu lassen. Als er auf dem Boden aufschlug, knackte etwas, nur war er sich nicht sicher, ob es sein Rücken oder das Schiff war. Der Dicke klatschte röchelnd vor ihm auf den Boden. Der Degen steckte noch in seinem Hals und das Blut tränkte das Schiff.
    Edmund kroch zurück. Den Blick weiterhin auf den Dicken und den qualvollen Todeskampf gerichtet. Hasserfüllte Augen stierten zu ihm zurück, dann wurden sie mit einem Mal seltsam glasig und es kam kein Geräusch mehr von ihm.
    Starr betrachtete Edmund den Fleischberg. Denn mehr war der Kerl nicht mehr. Kein Mensch, der aufstehen und seinem Tagewerk nachgehen würde. Nie mehr. Und er war Schuld…
    Er hatte ihn nicht töten wollen.
    Die Blutlache breitete sich weiter unter ihm aus. Und ruinierte ihm die Schuhe.
    Zitternd kam Edmund auf die Beine und trat einen Schritt zurück. Er hasste den Kerl. Aber er hatte nicht … Er wurde wieder nach vorn geschubst.
    „Komm Junge“, stieß Nelli aus, „der Kerl erwacht auch nicht wieder, wenn Ihr ihn anstarrt. Schnappt Euch Euren Degen und dann schnell weg hier!“
    Edmund bewegte sich nicht. Er wollte den Degen nicht anfassen. Er war voller Blut und steckte noch immer in dem Dicken.
    Ein dumpfer Schlag gegen seine Schläfe riss ihn aus seiner Starre.
    „Bedauern könnt Ihr euch später!“, gab Nelli von sich und schlug ihm ihren Gehstock nochmal gegen den Kopf. „Jetzt beweg dich, du Lappen!“
    Edmund nickte nur mechanisch, ignorierte die Beleidigung. Seine Hände waren voll Blut, als er nach dem Degen griff und ihn mit einem viel zu lauten Schmatzen aus dem Fleisch zog.
    „Ich…“
    „Jaja. Und wenn wir nicht gleich gehen, sehen wir genauso aus!“
    , drängte Nelli.

    Edmund wollte sich gerade auf den Hintern setzen. So langsam machten sich der vergangene Tag und die schlaflose Nacht bemerkbar. Doch er hatte mit dem Hintern noch nicht einmal sein Bett berührt, da ertönten wütende Rufe und energisches Klopfen auf Holz. Sofort schoss er wieder in die Höhe.
    „Wir könnt ihr es wagen, ein Mädchen einfach so anzufassen, ihr dreckiges Pack!“, hörte er Nelli schimpfen, während von der Gräfin nur ein ersticktes Schreien ertönte. „Lasst sie runter!“
    Edmund sprang zur Tür. Im gleichen Zug wurde diese nach innen aufgestoßen und erwischte ihn im Gesicht. Er prallte zurück und riss die Hände mehr einem Reflex folgend zum Gesicht. Blut floss keines.
    Als er aufsah, sah er sich Auge in Auge mit dem Dicken.
    Ach komm schon! Es gab so viele Männer auf dem Schiff, warum stand ausgerechnet der in seinem Zimmer?
    Der Kerl versperrte ihm den Weg, aber Edmund erkannte dennoch, wie im Flur Esther zappelnd über der Schulter des Matrosen hing, der ihn am Abend noch bezüglich der Frauen an Bord angesprochen hatte.
    „Lasst mich sofort runter!“, schrie sie und trommelte mit den Fäusten auf den Rücken des Matrosen ein. Das schien diesen jedoch nur wenig zu interessieren.
    Auch Nelli wurde abtransportiert. Die Matrosen hatten mit der Hexe und vor allem ihrem Gehstock zu kämpfen, den sie den Kerlen fluchend um die Ohren drosch. Bis es gelang, ihn ihr aus den Händen zu reißen.
    Edmund wollte ihnen helfen und machte einen Schritt auf die Tür zu. Wo war eigentlich Trevor?
    „Sofort aufhören, Ihr … - He!“
    Der Dicke packte ihn grob am Arm, hob ihn in die Luft und warf ihn über die Schulter, als wäre er nicht mehr als ein Sack Kartoffeln. Warum geriet er immer wieder an den?“
    „Schnauze Kleiner!“, gab der Dicke mit einem Lachen von sich. Edmund trat nach dem Kerl, doch die Gegenwehr verlor sich irgendwo in dem Haufen Fleisch und Fett und Muskeln. Zwei andere Matrosen drängten sich an ihm vorbei. „Durchsucht die Kabine! Gründlich!“, befahl der Dicke. Dann wurde Edmund davongetragen.
    In seiner Vorstellung war die ganze Sache weniger peinlich für ihn abgelaufen. Um genau zu sein, hatte es in seiner Vorstellung überhaupt kein solches Theater gegeben.
    „Lass mich runter, du Idiot! Weißt du eigentlich, wer ich bin?!“
    Der Fette ignorierte sein Geschimpfe.
    „Oh ja, jetzt sind wir sicher“, gab Nelli neben ihm trocken von sich, „unser Held.“
    Ach halt die Klappe, Hexe.
    Edmund wehrte sich zwar gegen den riesigen Kerl, hatte diesem aber weder an Kraft noch an Größe irgendwas entgegenzusetzen, weshalb er es irgendwann aufgab und sich darauf beschränkte, dem Kerl sowohl laut als auch gedanklich den Tod an den Hals zu wünschen und sich über dessen Respekt- und Anstandslosigkeit und den schlechten Körpergeruch zu beschweren.
    „Bist du in den letzten Jahrzehnten überhaupt mal an einem Stück Seife vorbeigelaufen?!“
    Der Kerl ignorierte ihn weiter. Was Edmund zunehmend auf die Nerven ging. Immerhin hing er wie ein Vollidiot über dessen Schulter, ein wenig Aufmerksamkeit war da doch nicht zu viel verlangt!
    Nicht nur, dass er sich respektlos ihm und den beiden Frauen gegenüber verhielt, er führte ihm auch vor Augen, wie machtlos er eigentlich war.
    Und wo steckte eigentlich dieser faule Sack von einem Formwandler?!

    Sie wurden aufs Deck getragen, wo ein weiterer Teil der Matrosen stand.
    Und damit den letzten Rest Zuversicht, der irgendwo in Edmund noch geschlummert hatte, vertrieb. Die Erkenntnis, dass Trevor recht gehabt hatte, traf ihn. Wie hatte es so weit kommen können? An welchem Punkt hatte er einen Fehler gemacht? Als er die beiden Frauen mit an Bord genommen hatte? Wo lebten sie: im Mittelalter? Der Aberglaube über ein unbekanntes Seegebiet einmal dahingestellt, aber wer glaubte denn wirklich daran, dass Frauen Unglück brachten?
    Hätte er es abwenden können?
    „Was soll das werden?!“, hörte er Trevors Stimme. Der Formwandler kam vom Bug geeilt. Seine Augen zuckten unruhig von einem zum anderen und seine Hand lag bereits auf den beiden Waffen.
    Edmund ließ seinen Blick ebenfalls umhergleiten. Etwas mehr als die halbe Mannschaft hatte sich auf dem Deck versammelt. Einige mit grimmigen Gesichtern, andere verwundert. Einige wenige drückten sich im Hintergrund herum und schienen nicht so recht zu wissen, was sie machen sollten.
    War es das? Das blöde Gefühl in seinem Bauch, dass er nun schon seit einigen Tagen hatte und das seit dem Sturm noch schlimmer geworden war, verschlechterte sich.
    Er schluckte die Panik hinunter.
    Noch stand nichts fest, oder? Noch konnte es sich um einen blöden Scherz handeln. Oder?
    „Nach was sieht es denn aus?“, wollte Frank wissen. „Wir entledigen uns einem Problem.“ Er ließ Esther förmlich von seiner Schulter fallen und setzte sie ruppiger ab, als es hätte sein müssen. Der Gräfin entfuhr ein schmerzhaftes Stöhnen, als sie auf den Planken aufschlug.
    „Mach gefälligst langsam!“, stieß Nelli aus und wurde zeitgleich neben Esther auf den Boden bugsiert.
    Edmunds und Trevors Blicke trafen sich.
    „Und was machst du da?“ Trevors Augenbraue wanderte noch ein Stück weiter nach oben.
    „Nach was sieht es denn aus?“, äffte Edmund Frank gereizt nach. Er war sauer. „Abhängen!“ Was sollte diese bescheuerte Frage? Wahrscheinlich fand Trevor die Situation auch noch lustig!
    Auf einen Wink von Frank stellte der Fette Edmund auf seine Füße zurück. Wobei stellen ein sehr wohlwollender Begriff dafür war, dass er ihn schlicht von der Schulter auf den Boden klatschen ließ.
    Einen Moment überlegte er, ob er einfach liegen bleiben sollte, doch als einige der Matrosen Seile und Säcke hervorholten, entschied er sich dagegen.
    Er erhob sich schwerfälliger, als es hätte sein müssen. Der Sturz hatte seinen Stolz verletzt und die zunehmende Panik der Situation lähmte ihn. Davon abgesehen war es nicht so leicht, aufzustehen, wenn die Beine zitterten und man krampfhaft versuchte, das zu unterdrücken.
    Mit dem Rücken zur Reling und dem Gesicht zur Mannschaft baute er sich schließlich vor dem Dicken auf.
    „Geht das auch etwas sanfter!?“, schnauzte er. Da ihm irgendwie nichts anderes einfiel, um zu unterdrücken, dass ihm den Schweiß über den Rücken jagte.
    Der Dicke grinste von einem Ohr zum anderen und legte ihm eine der wuchtigen Hände auf die Schulter.
    „Natürlich, das nächste Mal sind wir sanfter.“ Er lachte, während Frank seinen Säbel zog und auf ihn richtete.
    „Die Wasseroberfläche wird Euch ganz sanft empfangen.“
    Edmund prallte zurück.
    „Ja, also …“ Er hob abwehrend die Arme. Immerhin hatte man ihm seinen Degen gelassen. Aber Trevor hatte sicherlich recht, gegen alle Männer kamen sie nicht an. Und warum stand der Kerl eigentlich nur herum und machte nichts?! „Ihr müsst das nicht machen!“ Er wich dem Säbel in Franks Hand aus, doch der folgte ihm. Währenddessen schoben sich zwei Matrosen vor, um mit den Seilen die Hände von Esther und Nelli zu fesseln. Beide wehrten sich schimpfend, hatten aber wenig auszusetzen.
    „Und ob! Ihr habt die Plagen angeschleppt! Und nun geht Ihr mir ihnen.“
    „Die beiden können nichts für den Sturm!“
    , fuhr Edmund Frank an. Was ein alberner Depp hatte diesen saublöden Aberglauben eigentlich in die Welt gerufen? Und wie ungebildet konnte ein Mensch sein, dass er auf diesen Schwachsinn auch noch hereinfiel? „Dank Esther lebt ihr Idioten überhaupt noch!“
    „Ich sagte, Schnauze halten, Kleiner!“
    Der Dicke stieß ihm hart in den Rücken, was ihn zwei Schritte nach vorn und fast in Franks Säbel stolpern ließ. Wäre ich doch in meinem Zimmer geblieben … Wobei, ich hatte es ja noch nicht verlassen …
    „Nana, Manfred“, der Kumpel von Frank hob beschwichtigend die Hände und trat an Edmund heran. „Wir wollen doch höflich gegenüber unserem Herrn bleiben.“ Der Kerl legte mit einem widerlichen Grinsen den Kopf schief und musterte ihn. Da alle anderen sich nun zurückhielten, schien er das Sagen zu haben. Irgendwie klebte dem Kerl etwas Unheimliches an. Wirklich intelligent wirkte aber auch er nicht. Konnte er auch nicht sein, wenn er wirklich vorhatte, sie von Bord zu werfen! „Ich habe bereits gemerkt, dass Ihr Euch mit Namen schwer tut, deshalb helfe ich Euch kurz auf die Sprünge. Ich bin Armod, Armod Metallfaust.“ Armod machte eine theatralische Pause und drehte sich unter den zustimmenden Nicken einiger Männer einmal im Kreis. Einige flüsterten ängstlich.
    Edmund hob die Braue.
    „Schön für dich. Sollte mir der Name irgendwas sagen?“
    Armod trat einen Schritt auf ihn zu und betrachtete ihn drohend von oben herab. Was erstaunlich war, da der Kerl nicht größer war als Edmund. Dennoch fühlte er sich deutlich kleiner und wäre zugern noch etwa weiter zusammengeschrumpft, um dem Blick zu entgehen, der ihn traf. Und vermutlich tödlich sein konnte. Stattdessen zog er die Schultern nach hinten und blickte stur zurück.
    „Ich bin ein gefürchteter Piratenkapitän!“
    Hinter ihm jubelten zwei der Männer, Frank und der Dicke nickten freudig zustimmend. Einige andere sahen sich unsicher an.
    Edmund räusperte sich, um die belegte Stimme zu lockern. Und um seinen Gliedern Zeit zu geben, das Zittern einzustellen.
    „Ihr müsst ein toller Kapitän sein, so ohne Schiff, und was … fünf Leuten als Mannschaft?“
    Was machst du denn da? Halt die Klappe!
    Irgendwo lachte jemand verhalten, wurde aber von einem Blick des Piraten zum Schweigen gebracht.
    Armod holte Luft, um etwas zu sagen, wurde aber unterbrochen.
    „Ich bin mir sicher, dass die Hexen den Sturm verursacht haben!“
    Offenbar dauerte es einigen der Leuten zu lang.
    „Du bist gefälligst still“, knurrte Armod den Mann an. Dieser verstummte augenblicklich. Wieder setzte Armod in Edmunds Richtung zu sprechen an.
    „Diese Hexen!“, schrie dann jedoch ein anderer Kerl, „Ihr habt alle gesehen, was die eine gemacht hat! Jeder hat es mitbekommen. Wenn Sie den Sturm vertreiben konnte, konnte sie ihn auch beschwören!“
    Was hieß hier vertreiben? Esther hatte ihnen den Sturm von den Hacken gehalten, aber von „vertreiben“ konnte wohl kaum die Rede sein.
    „Niemand hat diesen verfluchten Sturm beschworen!“, warf Edmund wütend ein. Allerdings wurde er schlichtweg ignoriert. Stattdessen schaukelten sich die Männer gegenseitig hoch.
    „Und die Alte hat uns verflucht!“
    Ein ziemlich hässlicher Kerl, der wirkte, als wäre er die fehlgeschlagene Zeichnung eines Kindes, das noch nie einen Menschen zu Gesicht bekommen hatte, deutete anklagend aus dem Hintergrund auf Nelli.
    Sein Kumpan sah nicht besser aus. Überall vereiterte Beulen im Gesicht, und die Kerle wirkten insgesamt auch abgekämpfter als der Rest.
    „Sie hat uns das angetan!“ Der zweite Kerl trat einen Schritt näher an Nelli heran, welche nur unschuldig die Schultern zuckte.
    „Musste das sein?“, wandte sich Edmund flüsternd über die Schulter an die Hexe.
    „Ich fange an, mich zu wiederholen: Man wird nicht so alt, wenn man sich alles gefallen lässt.“
    Ach was du nicht sagst …
    Edmund fuhr sich über die Nasenwurzel. Was hätte sein Vater gemacht? War er überhaupt schon mal in einer solchen Situation gewesen? Vermutlich nicht. Sein Vater war nicht so doof, Piraten an Bord zu nehmen. Wie hatte er nicht merken können, dass sich offensichtlich Piraten unter die Mannschaft gemischt hatten? Für das nächste Mal würde er die Frage Bist du Pirat? und Wie lächerlich ist dein Piratenname? in den Fragekatalog aufnehmen!
    „Wir können das sicherlich noch irgendwie zivilisiert klären“, wandte er sich dennoch an Armod. „Mit einem netten Gespräch vielleicht?“
    Armod lachte auf und mit ihm einige andere.
    „Einem netten Gespräch? Wir unterhalten uns doch gerade schon nett. Aber wo wir dabei sind.“ Er wandte sich an die Männer, die etwas unentschlossen an Deck standen. „Habt ihr die Ladung des Schiffes schon einmal gesehen? Ich schon! Sie ist wertvoll, Waffen, Schmuck und Gewürze. Man muss nicht nach Samira um das gewinnbringend zu verkaufen. In jedem anderen Handelshafen bekommt man für die Ladung genug, damit sich jeder von uns ein schönes Leben machen kann.“ Er machte eine kunstvolle Pause, in der Edmund nervös die Gesichter der Umstehenden betrachtete. „Was wurde euch für die Reise an Sold geboten? Ich bin mir sicher, dass unter Deck mehr als das Dreifach, was sage ich, vierfache davon für jeden von uns lauert!“
    Einige nickten, andere diskutierten mit ihrem Nebenmann. Wieder andere hielten sich zurück. „Und alles, was wir tun müssen, ist uns diese lästigen Frauen dort vom Leib zu schaffen und aus dem Seegebiet zu verschwinden.“ Er deutete über die Schulter. „Und den lächerlichen Kerl da auch gleich mit.“ Dass einige wegen der Versprechungen mit den Frauen anbeißen würden, war Edmund schon klar gewesen, doch es schockierte ihn, wie viele der Umstehenden tatsächlich zustimmend nickten. Waren diese Männer alle so dumm, oder gierig? Armod wandte sich zurück an Edmund. „Tja, was Schiff und Mannschaft betrifft, scheine ich besser dazustehen, Kapitän.“
    Edmund spürte sein Herz in der Brust gewaltig schlagen. Das Wasser stand ihm bis zum Hals und wenn er nichts unternahm, wäre das in wenigen Minuten wortwörtlich der Fall. Mit Gewalt kam er allerdings nicht weiter. Trevor hatte Recht. Gegen die Masse kamen sie nicht an. Edmund versuchte sich sein Zittern nicht anmerken zu lassen. Mindestens die Hälfte der Mannschaft stand gegen ihn. Hatte er seine Sache so schlecht gemacht? Was erwarteten diese Trottel? Und warum tat Trevor nichts? Stand er allein da? Aber Trevor hatte ihn gewarnt, oder? Er hatte mit ihm darüber gesprochen. Oder war es nur eine Finte gewesen? Damit er verriet, was sich noch an Bord befand? War das von Anfang an ein abgekartetes Spiel gewesen? Sollte Trevor nur sein Vertrauen gewinnen?
    „Ihr wollt mehr Geld? Ich bin mir sicher, dass mein Vater es euch geben wird. Ihr müsst deshalb nicht zu Mördern werden.“
    Armod lachte.
    „Mörder? Auf See gehen immer Menschen verloren.“ Er trat noch einen Schritt an ihn heran, sodass er seinen Atem spüren konnte. Widerlich! „Und wir haben es Euch gesagt, Herr, genauso wie am Vorabend spie Armod das letzte Wort seltsam verachtend aus, „Frauen bringen Unglück. Und Idioten als Kapitän auch.“
    Edmund musterte ihn. Der Kerl mochte nicht überaus intelligent sein, aber er schien genau zu wissen, was er sagen musste.
    „Und was habt ihr jetzt vor?“ Edmund deutete zur Reling und dem Meer. „Ihr werft den Idioten und die Frauen von Bord?" Er lachte verunsichert. „Wenn ihr schon glaubt, dass es Unglück bringt, eine Frau an Bord zu haben, was glaubt ihr passiert, wenn ihr sie einfach ins Meer werft und ersäuft?“ Edmund hoffte, dass seine Stimme fester klang, als sie sich in seinen Ohren anhörte. Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass Trevor immerhin auf seiner Seite stand. Wenngleich er sich auch nicht zuckte. Was war eigentlich mit den Typen, die bereits seit Sonnental an Bord waren? Männer aus der Mannschaft seines Vaters?
    Armod musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen, dann brach er in schallendes Gelächter aus.
    „Eines muss ich Euch lassen, ein Feigling seid Ihr nicht.“
    Das hat auch nie jemand behauptet!
    Musste ja keiner wissen, dass er unter seiner Kleidung genug schwitzte, um ein weiteres Meer zu füllen.
    „Ich werde keine Meile weitersegeln, ehe die Frauen nicht von Bord sind!“, rief Frank lautstark über das Deck. Einige der Umstehenden nickten zustimmend. Andere schüttelten nur die Köpfe. Immerhin schienen nicht alle die Gedanken der Piraten zu teilen. Vielleicht war an ihre Vernunft zu appellieren.
    „Aber was ist, wenn er Recht hat?“, mischte sich einer der beiden Kerle ein, die Nelli zuvor mit Beulen gestraft hatte. „Wenn uns ein Meeresgott auf den Meergrund zieht, wenn wir die beiden einfach ins vom Schiff werfen.“
    Edmund widerstand dem Drang sich die Nasenwurzel zu reiben.
    „Dann könnte eventuell ein Sturm wie der letzte euer kleinstes Problem sein“, sprach er und erinnerte sich an das Gespräch mit dem Steuermann. „Immerhin ist auch von Ungeheuern die Rede, die Schiffe im Schwarzen Fleck in die Tiefe reißen.“ Er kam sich selbst dumm vor, während er diesen Aberglaube aussprach.
    Die Blicke einzelner Männer glitten zu Troy.
    Der nickte nur als Antwort auf das, was Edmund angebracht hatte. Wo stand der Kerl? Gegen ihn? Für ihn? Hielt er sich raus?
    „Und was glaubt ihr passiert mit euch, wenn ihr die Tochter eines Grafen im Meer ertränkt?“, schob er nach und betrachtete Armod dabei.

    Die Männer sahen sich kurz unschlüssig an. „Vielleicht sollten wir sie lieber kidnappen und Lösegeld verlangen?“
    „Und damit einen Grafen hinter uns herhetzen? Ihr habt den Kerl gesehen mit seiner Galeone“,
    mischte sich ein anderer ein. „Da haben wir nichts entgegenzusetzen.“
    Immer mehr Männer mischten sich in die Diskussion ein.
    „Vor allem nicht mit dieser Nussschale.“
    Hey …
    „Ach, ich bin dafür, dass wir uns ihr hier und jetzt entledigen! Woher soll dieser Graf das erfahren?! Ihr habt Armod gehört. Menschen können auf See jederzeit verschwinden.“
    „Und was ist mit den Ungeheuern und den Meeresgöttern?“

    Edmund folgte er Diskussion eher halbherzig, während er sich langsam Schritt für Schritt aus der unmittelbaren Gefahrenzone von Franks Säbel brachte. Näher an Esther und Nelli. Der Dicke drückte ihn jedoch energisch zurück. Als Edmund einen Blick über die Schulter warf und in das bösartige Grinsen sah, wurde ihm irgendwie klar, dass er diesen Abend nicht überleben würde.
    Panisch wollte er einen Schritt nach vorn machen, doch der Dicke hielt ihn am Kragen fest.
    „Die Frauen sollen von Bord gehen! Wir sind nicht auf das Lösegeld eines dummen Grafen angewiesen“, stritten die Piraten weiter.
    „Ihr könnt uns in eines der Beiboote setzen“, warf Edmund ohne groß über seine Worte nachzudenken ein, während er sich aus dem Griff des Dicken wand. So kamen sie nicht weiter. Im Grunde diskutierten diese Schwachköpfe nur darüber, WIE sie sterben sollten. Na und? Der Vorschlag ist dennoch doof! „Dann seid ihr sie los, niemand muss sterben und wir gehen einfach still und heimlich und wir sehen uns nie wieder.“ Und der Vorschlag wird nicht besser, wenn du weiterredest!
    Armod sah ihn lange an, ohne etwas zu sagen. Die giftiggrünen Augen des Mannes schienen ihn förmlich zu durchbohren. Irgendwas an dem Kerl stieß Edmund sauer auf, er konnte jedoch nicht sagen, was es war.
    Dann nickte er.
    „In Ordnung, die Frauen dürfen gehen“, stieß er laut aus. „Setzt sie in eines der Beiboote!“ Erst schien es, als wollten sich die Männer wiedersetzen, doch dann fügten sie sich dem neuen Befehl. Für den Moment stieß Edmund die Luft aus. „Aber das gilt natürlich nicht für Euch, Ihr dürft uns auf unserem Schiff noch etwas Gesellschaft leisten.“ Armod lachte und Edmund spürte, wie sich der Fette in seinem Rücken aufbaute, der Griff um seinen Kragen fester wurde. Was Edmund dazu veranlasste wieder jeden einzelnen seiner Muskeln anzuspannen, und die Angst hinunterzuschlucken.
    „Es ist mein Schiff“, stieß er trotzig aus.
    Armod lachte lediglich und wandte sich an Trevor, der einige Schritte entfernt die Situation im Auge behielt.
    „Was ist mir dir? Du hast bisher noch nichts gesagt. Stehst du auf unserer Seite? Dann teilen wir das Gold mit dir, oder willst du bei der Witzfigur und den Hexen bleiben?“

    Es dauerte noch bis zum Abend, bis sich der Sturm verzogen hatte und auch die letzten Wolken vom Himmel verschwunden waren. So schnell er gekommen war, so quälend langsam verschwand er wieder.
    Nun lehnte Edmund an der Reling und blickte aufs Meer, das sich wieder sanft um die Eleftheria herum wellte, als wäre nie etwas gewesen. Die Stille, die nun über allem lag, schmerzte ihm mehr in den Ohren als das Rauschen des Windes zuvor. Sie sorgte davor, dass Edmund unruhig wurde und sein Blick immer wieder zum sternenklaren Himmel glitt. Immer in der Erwartung erneut Wolken zu sehen, die unheilverkündend über sie hereinbrachen. Und diesmal wäre Esther nicht in der Lage ihnen zu helfen.
    Ohne sie wären wir tot.
    Die Magierin würde die nächsten Tage ausfallen. Was war, wenn sie direkt in den nächsten Sturm gerieten?
    Er war tatsächlich versucht, den Aufforderungen der Mannschaft und den Bedenken des Steuermanns nachzukommen und einfach umzukehren. Was würde im schlimmsten Fall passieren? Sein Vater würde ihn in Grund und Boden stampfen, bis seine Reste in einen Briefumschlag passten.
    Eine Gänsehaut überfuhr seinen Rücken. Aber war das schlimmer, als der Meeresgrund? Zu behaupten, er hätte keine Angst vor diesem beschissenen Schwarzen Fleck, wäre gelogen gewesen. Der Drang, sich in irgendeine Ecke zu verziehen und in die angewinkelten Beine zu heulen, war groß. Er wollte die Verantwortung doch gar nicht! Aber im Gegensatz zur Besatzung durfte er sich seine Angst und Zweifel nicht anmerken lassen.
    Ihm waren die unruhigen und betretenen Gesichter der Besatzung nicht entgangen. Als sich der Sturm gelegt hatte, hatten viele von ihnen Brüche, Schürfwunden und Prellungen von der Hexe versorgen lassen und waren anschließend mit hängenden Schultern in die Hängematten gekrochen.
    Edmund seufzte. Jeder aus der Besatzung hatte das Ziel von Anfang an gekannt. Sie hatten selbst entschieden mitzufahren. Die Visagen waren jedoch mit jeder Seemeile, die sie dem Gebiet näher gerückt waren, ängstlicher geworden. Was würde wohl am nächsten Tag werden? Nachdem sich nun jeder Auge in Auge mit dem befunden hatte, was wirklich hinter diesem Seegebiet auf sie lauerte, würde sich die Stimmung kaum bessern.
    Der Sturm war nur der Anfang gewesen. Sie waren noch keinen Tag in diesem dreimal verfluchten Seegebiet!
    Er blickte in den sternenklaren Himmel. Wie wahrscheinlich war ein weiterer Sturm? Und wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass er sie in den nächsten Stunden überfallen würde?
    Nervös tippte er mit dem Zeigefinger auf das Holz. Der Gedanke hielt ihn wach. Der Gedanke, die Panik und das Herz, das ihm bis zum Hals schlug. Der Druck, der auf seinen Schultern lastete.

    Allerdings war niemandem geholfen, wenn er sich davon den Schlaf nehmen ließ. Er wandte sich um und wollte unter Deck gehen.
    Dort kamen ihm zwei Männer entgegen, die sowohl den Kurs als auch die Umgebung im Auge behalten sollten. Sie diskutierten angeregt miteinander, verstummten aber als sie ihn sahen.
    „Guten Abend, Herr“, meinte der eine übertrieben höflich, was Edmunds Augenbraue in die Höhe schießen ließ. Seit wann war auch nur irgendwer auf diesem Schiff höflich zu ihm?
    „Genießt Ihr das schöne Wetter?“, wollte der andere höhnisch wissen. Das klang eher nach der Mannschaft!
    Ja, bohr in der Wunde, du Schwachkopf!
    „Ich kann für das Wetter auch nichts!“, zischte Edmund zurück und wollte an den beiden vorbei. Doch diese verstellten ihm den Weg. Er setzte zu einem Protest an, nahm aber dann den starken Rumgeruch wahr. Vermutlich hatten sie die Zeit nach dem Sturm auch zum … intensiven Nachdenken genutzt. Eigentlich hätte er sie maßregeln sollen. Immerhin mussten sie die Umgebung im Auge behalten!
    „Ihr vielleicht nicht, aber die beiden Damen, die sich an Bord befinden, vielleicht schon.“
    Edmund runzelte die Stirn. Gerade da beide Verbände trugen, die ihnen wohl Nelli angelegt haben musste, waren sie wohl die letzten, die sich beschweren durften.
    „Das Wetter kümmert sich nicht darum, ob wir Frauen an Bord haben, oder nicht.“ Er drängte sich nun energischer an den beiden vorbei. „Der Sturm wäre so oder so gekommen!“ Nur dank der beiden Frauen lebten sie überhaupt noch.
    „Frauen bringen Unglück.“
    Dumme Sprüche und Aberglaube auch!
    „Ich kann eure Bedenken verstehen“, versuchte Edmund darauf einzugehen. Auch, wenn das nicht der Fall war. Frauen waren auch nur Menschen. Warum sollten sie mehr Unglück oder Glück bringen, als ein Haufen stinkender Kerle, die wegen Frauen an Bord herumheulten, wie kleine Mädchen? „Vorschlag: Ihr teilt den anderen mit, dass jeder den doppelten Sold erhalten wird, wenn wir wieder in Sonnental sind. Als Ausgleich für die Stürme und dass wir Frauen an Bord haben. Mein Wort habt ihr.“
    „Das nützt uns auf dem Meeresgrund auch nichts“, murmelte der Größere von beiden mit belegter Stimme. Der andere stieß seinem Kumpel mit dem Ellenbogen in die Seite.
    „Gib Ruhe, Frank.“ Er nickte Edmund zu. „Wir werden es ausrichten. Vielen Dank.“
    Edmund sah den beiden nach, wie sie in der Dunkelheit des Decks verschwanden, leise mit einander diskutierend. Er würde das im Auge behalten müssen.

    Edmund vergewissert sich noch, ob es Trevor und Esther den Umständen entsprechend gut ging. Trevor schlief. Und bei Esther hatte sich Nelli eingerichtet, was irgendwie kein gutes Zeichen war. Ging es mit ihr zu Ende? Den Gedanken hatte er schon mal gehabt, als sie neben ihm einfach umgekippt war. Was passierte mit Magiern, wenn sie sich zu sehr überanstrengten?
    „Das wird schon“, meinte Nelli leise, als er sie fragend ansah. „Ich will nur sichergehen.“
    Besorgt blieb Edmund in der Tür stehen. Er hätte gerne etwas gemacht, irgendwie geholfen. Aber ihm war klar, dass er kaum etwas machen konnte.
    „Pass auf sie auf“, meinte er nur. „Und auf dich. Die Mannschaft gibt euch wohl zum Teil die Schuld an dem Sturm.“ Er zögerte noch kurz. „Wenn etwas ist, Trevor und ich sind ja nicht weit.“
    Ehe die Hexe etwas sagen konnte, verschwand er schließlich in seinem eigenen Zimmer.

    Schlafen konnte er aber nicht.

    Entsprechend zerknirscht, stand er am nächsten Morgen wieder an Deck und beaufsichtigte die Aufräum- und Reparaturarbeiten. Dabei bemerkte er, dass auch Trevor bereits wieder auf den Beinen stand, und offenbar mit anpacken wollte.
    Was ist falsch mit dem Kerl?
    Mit wenigen Schritten stand er bei ihm.
    „Du bist schon wieder fit?“ Er betrachtete die krumme Haltung seines Gegenübers mit gerunzelter Stirn. An dem Kerl war mehr Bandage als Trevor.
    „Das wäre wohl übertrieben, aber liegen schmerzt mehr, als etwas die Beine zu vertreten.“
    Edmund beobachtete Trevor weiter kritisch.
    „Dann hast du sicherlich auch nicht vor, bei den Reparaturen zu helfen.“
    „Ein paar Nägel bekomme ich schon ins Holz geklopft."
    „Aha.“,
    machte Edmund nur und wog nachdenklich den Kopf. Würde er zulassen, dass der Kerl verletzt wie er war auch noch bei den Reparaturarbeiten half? Von allen hatte er immerhin am meisten abbekommen. Schließlich wurde er von einer Kiste zerquetscht. Auch einige der anderen Matrosen hatte er zurück in die Kombüse geschickt. Es war niemandem genützt, wenn irgendwer nachträglich ins Meer stürzte. Besondern nicht, wenn dieser irgendwer Trevor war.
    Er drückte ihm seinen leeren Becher in die Hand.
    „Die Hexe hat vorhin neuen Tee gemacht, steht in der Kombüse. Ich schlage vor, du holst mir einen neuen und hilfst dann lieber dort. Ehe der Koch doch noch die Mannschaft vergiftet.“ Der Kerl hatte sich in den Kopf gesetzt, der Besatzung etwas "Gutes zu tun".
    Perplex sah Trevor ihn an.
    „In … Ordnung“, murmelte er mit verwirrtem Gesicht und nahm ihm den Becher ab.
    „Jetzt hau ab, und wehe ich seh‘ dich heute beim Arbeiten!“
    Trevor lachte auf und machte kehrt.
    „Geht klar, Vati.“
    Hä?
    Verwirrt sah Edmund ihm nach. Warum sagte er das?

    Das Schiff wurde von den meterhohen Wellen wie ein Spielzeug umhergeworfen. Und alles, was sich auf ihm befand - ebenfalls.
    Der Sturm war scheinbar aus dem Nichts gekommen. Hätte Nelli nichts gesagt, wären sie von diesem Chaos völlig überrascht worden. Innerhalb weniger Minuten hatte sich der Himmel zugezogen und seither war so gut wie Nacht. Und er hatte den Überblick verloren.
    Beim nächsten Mal hörst du gleich auf die Hexe, statt dir noch eine Stunde Zeit zu lassen!
    „Was stimmt nicht mit dir!“, brüllte Edmund gegen das Rauschen der Wellen den Steuermann an. „Dreh das Schiff endlich in den Wind, du Schwachkopf!“ Hinter ihm krachte und knarrte irgendwas. Vermutlich hatte sich erneut eines der Fässer gelöst. Dabei hatten sie den Großteil noch vor dem Sturm unter Deck schaffen können. „Als Tipp“, rief er, „dass ist die Richtung, aus der die riesigen Wellen über das Schiff rollen!“ Edmund gestikulierte nach Backbord.
    „Ich versuche es, ja!“, brüllte der Steuermann zurück. „Aber es lässt sich nicht bewegen! Irgendwas muss sich verklemmt haben, oder die Strömung ist zu stark!“
    Der Steuermann, Troy, so weit er mitbekommen hatte, hing mittlerweile an einer Seite des Steuerrades mit dem kompletten Gewicht – und zog und zerrte.
    „Was ist?“, rief die dunkle Stimme des Kochs hinter ihm. Edmund wandte den Blick nur kurz über die Schulter. Der bärtige Kerl sah ebenso durchweicht aus wie alle anderen. Und mindestens genauso mitgenommen, wie sich Edmund fühlte.
    „Wir müssen das Schiff in den Wind drehen“, brüllte Edmund zurück.
    „Aber das verdammte Steuerrad lässt sich nicht bewegen!“ Troy spuckte aus und strich sich die grauen Haare aus der Stirn, ehe er sich erneut mit aller Kraft gegen das Steuerrad warf. „Und ich habe meine Pfeife verloren!“
    Man kann ja nicht nur Pech haben.
    Der Koch eilte Troy zu Hilfe. Sie zerrten und Schoben an dem Steuerrad und schimpften wild darauf ein. Doch das Steuerrad blieb davon recht unbeeindruckt. Es leistete stur Widerstand, weshalb Edmund seinerseits über die Planken schlitterte, um fast an den beiden Männern vorbei zu rutschen und sein eigenes jämmerliches Gewicht ebenfalls an das Steuerrad zu hängen.
    In dem Moment schwankte die Eleftheria gefährlich zur Seite. Er krallte sich am Steuerrad fest, während von irgendwoher Schreie erklangen und wieder verklangen.
    Neben ihm fluchten Koch und Steuermann.
    Auf der anderen Seite des Schiffes baute sich eine riesige Welle auf, in deren Ausläufern sich die Eleftheria nun zur Seite neigte.
    „Wenn die Welle über dem Schiff zusammenbricht, kentern wir!“, schrie Troy.
    „Das seh‘ ich selbst!“, gab Edmund zurück und versuchte, sich seine Panik nicht anmerken zu lassen. Leichter gesagt als getan.
    „Dann sollen wir aufhören zu quatschen!“, brüllte der Koch.
    Sie drückten sich zu Dritt gegen das Steuerrad und endlich bewegte sich das Schiff ächzend. Ein erleichtertes Aufstöhnen kam vom Steuermann und mit einem Mal ließ sich das Steuerrad wieder drehen, erst langsam dann immer schneller, weshalb sie sich nun in die entgegengesetzte Richtung stützen mussten, um es wieder anzuhalten. Als das Rad zum Stillstand kam, wurde endlich das Heck der Eleftheria angehoben und sie fuhren mit der Welle. Allerdings nicht lang, denn zeitgleich stürzte die Welle auf das Schiff und spülte mit aller Gewalt über das Deck.
    Edmund riss es die Beine weg, er rutsche ab und wurde mitgerissen. Er schlug mit dem Knie irgendwo an, dann mit dem Fuß und dem Kopf. Als er an der Reling zum Stillstand kam, trat ihm kurz schwarz vor die Augen, dann holte er Luft.
    Während er noch hoffte, dass die Mannschaft sich irgendwie an Bord hatte halten können, wurde der Koch an ihm vorbei und über die Reling gespült. Einem Reflex folgend, ergriff Edmund die Kleidung des Mannes, dann riss der Kerl ihn hinter sich her.

    Irgendwie gelang es ihm noch, sich mit dem Fuß in einer Nische zu verkeilen, dann presste sich Holz in seinen Bauch. Das Gewicht des Mannes schmetterte ihn nach unten und mit einem widerlichen Plopp sprang ihm das Gelenk aus der Schulter. Der Schmerz, der ihn daraufhin durchzuckte, ließ selbst ihn nach Luft schnappen und beinahe hätte er den Koch doch noch losgelassen. Er packte mit der anderen Hand ebenfalls zu. Dann sah er nach unten und schloss sofort die Augen.
    Das Bild bekomme ich nie wieder aus meinem Kopf.
    Bei seinem Glück hatte er den Koch natürlich ausgerechnet am Gürtel erwischen müssen, sodass dieser nun wie ein nasser Sack unter ihm baumelte und dabei deutlich mehr Hintern zeigte, als man von dem Kerl sehen wollte.
    Ich muss nur loslassen und kann der Welt den Anblick ersparen. Und sein Essen.
    Er spürte wie sich Hände um seine Hüfte schlossen und an ihm zerrten.
    Chance vertan.
    Edmund stemmte sich zurück und mit dem Fuß gegen die Reling, kaum, dass er selbst wieder fest stand und gemeinsam zerrten sie den Koch zurück an Bord.
    Keuchend ließ er sich auf den Boden fallen, direkt neben Stiev. Der Koch landete auf seiner anderen Seite.
    „Ihr macht es einem aber auch nicht leicht, Herr“, stieß Stiev aus.
    Ich geb‘ mir Mühe.
    „Danke“, keuchte der Koch.
    „Bedankt euch, wenn wir das überstanden haben.“ Edmund verzog das Gesicht, als er sich erhob. Seine linke Schulter und sein Arm wurden taub. Dafür blieb ihm später noch Zeit.
    Um kurz Luft zu holen, sah er über das Deck. Nun, da die Wellen nicht mehr die Längsseiten des Schiffes trafen, war die Fahrt noch immer ungemütlich, aber sie drohten nicht mehr jeden Moment zu kippen. Davon abgesehen, schienen alle noch an Deck zu sein.
    Sein Blick glitt zu Esther, die an ihrem Seil festgebunden, verbissen versuchte, das Gröbste von der Eleftheria abzuhalten. Aber ihre Schutzschilde wurden sichtlich und spürbar schwächer.
    Leider gab auch das Meer sich weiterhin Mühe, möglichst wild zu bleiben. Wellen rissen weiter alles mit sich, während der Himmel von dunklen Wolken verdeckt blieb und unablässig Wassermassen ausspie. Kein Lichtfleck war zu erkennen. Kein Zeichen, dass es bald ein Ende hatte. Ganz im Gegenteil ...

    Edmund schluckte eine Panikattacke hinunter.
    „Hey“, brüllte er über das Schiff, „Bug!“ Er zeigte zum Anfang des Schiffes, wo sich in einiger Entfernung ein unheilvoller Wirbel aus dem Himmel schraubte. Der Strudel wuchs schnell und bugsierte Wassermassen in die Höhe und wenn sie Pech hatten, nicht nur die.
    Die Matrosen erstarrten, ehe wieder Bewegung ihn sie kam. Einige liefen panisch umher, andere machten schneller mit ihren Aufgaben weiter.
    Edmund wandte sich zurück an Troy. „Versucht auf Backbord an dem Ding vorbeizusteuern!“ Der Sturm würde sich im Uhrzeigersinn drehen, sie konnten also den Wind nutzen, um daran vorbeizufahren, statt auf der rechten Seite gegen Wind und Strömung zu kämpfen und vielleicht noch in den Sturm gesogen zu werden.
    Der Steuermann nickte erschöpft und gemeinsam mit dem Koch stemmte er sich wieder gegen das Steuerrad.
    Edmund schlitterte derweil mehr als dass er lief zum Anfang des Schiffes. Esther stand dort nach wie vor allein und er wusste nicht, ob sie ihn über das Rauschen der Wellen gehört hatte. Auch, wenn ihm gerade jeder Muskeln in seinem Körper sagte, er sollte den Hintern gefälligst in die entgegengesetzte Richtung schwingen!
    Das stürmische Meer ließ ihn nach vorn oder nach hinten rutschen, weshalb ein Vorankommen fast unmöglich war. Den anderen ging es aber auch nicht besser. Zweimal rutschte ein alter Kerl an ihm vorbei. Einmal auf dem Hosenboden und auf dem Rückweg mit dem Gesicht.
    Edmund hätte sich nur allzu gern unter Deck versteckt. Dort war es wenigstens trocken. Aber das brachte ihm reichlich wenig, wenn sie auf dem Meeresboden endeten. Dann lieber sehenden Auges in den Sturm. Auch, wenn ihm das Herz gerade in die Schuhe gerutscht war.

    Wir werden hier sterben!
    Völlig erschöpft kam er bei Esther an. Edmund machte sich nichts vor, ohne sie wäre die Eleftheria wohl bereits gesunken. Allerdings war er sich langsam nicht mehr sicher, wer gegen wen kämpfte. Esther gegen das Wetter, das Wetter gegen Esther oder die Erschöpfung gegen die Magierin. Sie war kreidebleich im Gesicht und schien zu zittern. Vor Anstrengung oder vor Angst wusste er nicht. Er jedenfalls zitterte nur vor Anstrengung ...
    „Haltet Ihr noch durch?“, brüllte er ihr zu.
    Sie nickte, wenn auch mit verkniffenem Gesicht.
    Das glaube ich nicht.
    Er sah nach vorn, wo sich aus dem kleinen Wirbel immer schneller ein ausgewachsener Windstrudel in den Himmel schraubte.

    Edmund stand neben dem Steuermann und betrachtete den entfalteten Teil der Seekarte. Mittlerweile hatte er es aufgegeben dem Mann Anweisungen zu geben. Zumindest er schien zu wissen, was er tat. Irgendwie…
    „Südwestlich von hier soll es Riffe dicht unter der Oberfläche geben“, meinte der Steuermann in diesem Moment. Der Kerl lunzte ebenfalls auf die Karte und paffte nebenbei an seiner Pfeife. Hatte der Kerl das Ding eigentlich auch beim Schlafen im Mund? Ein Wunder, dass das Schiff noch nicht in Flammen stand.
    Ärgerlich schüttelte Edmund etwas Asche von dem Pergament.
    „Also sollten wir das Gebiet großzügig auf Steuerbord umfahren.“
    Das konnte sie gut einen Tag kosten. Andererseits hatten sie bereits derart viel Zeit vertrödelt, dass es darauf nicht ankam. Außerdem hätte das bedeutet, dass sich Edmund irgendwas aus den zeitlichen Vorgaben seines Vaters gemacht hätte. Was nicht der Fall war. Selbst wenn er die Reise an einem Tag geschafft hätte, dem alten Herrn wäre es bitter aufgestoßen.
    Der Steuermann nickte nachdenklich und die Sorge im Blick des Kerls machte ihn langsam noch wahnsinnig. Diesen Blick sah er mittlerweile bei etwa zwei Drittel der Besatzung. Was ihn selbst auch nervös machte.
    „Wusstet Ihr, dass das Gebiet, durch das Ihr wollt, im Volksmund auch der Schwarze Fleck genannt wird?“
    Und da haben wir es!
    Edmund verdrehte genervt die Augen. Zum einen konnte von wollen nicht die Rede sein und außerdem: „Die meisten der Geschichten, die man hört, basieren auf dummen Gewäsch und Aberglaube.“
    Das war es also, was die Laune der Leute verschlechtert hatte? Angst? Was waren das denn für Seeleute, die ihm sein Vater da an den Hintern gebastelt hatte? Er wünschte, er hätte irgendein Mitspracherecht gehabt!
    Zwar gab auch er sich nicht der Illusion hin, dass all das, was man sich erzählte nur Blödsinn war, aber wegen ein paar übertriebenen Geschichten, würde er nicht gleich in Panik ausbrechen.
    „Sicher ist viel davon erfunden“, begann der Seemann mit einer Erzählerstimme, die klar machte, dass es länger dauern würde und blies eine Wolke von sich, „aber es ist Fakt, dass alle Seekarten in diesem Gebiet unvollständig oder nicht korrekt sind. Es kommen nicht genug Schiffe zurück, um diese zu vervollständigen. Untiefen, Strömungen und Seeungeheuer.“
    Edmund verkniff sich die bissige Bemerkung, die ihm auf den Lippen lag.

    Seeungeheuer. Klar ... Das einzige Ungeheuer, an das er glaubte, war das Dienstmädchen seiner Mutter, das es wahnsinnig witzig fand, vor Sonnenaufgang mit dem Besen gegen seine Zimmertür zu stoßen. Mehrmals!
    „Dann sind wir eben eines der wenigen Schiffe, die sich von solchen albernen Sachen nicht versenken lassen.“
    Der skeptische Blick, der ihn traf, tat irgendwie weh.
    Was? Ganz so unfähig bin ich auch nicht! Auch … wenn ich mir dank Trevor da selbst nicht mehr so sicher bin. Wegen dessen tollen Ausführungen schlief er seit Tagen nicht mehr richtig! Aber das der Mannschaft jetzt noch zu zeigen, macht die Sache sicherlich nicht besser …
    Der Steuermann lehnte sich zurück.
    „Es heißt, der Schwarze Fleck ist von Strömungen umgeben, die immer wieder mächtige Stürme verursachen.“
    Zumindest diesem Teil der Angaben konnte man wohl glauben. Jedenfalls mehr als deen mit Riesenkraken und Wasserdrachen so groß wie Inseln.
    Edmund sah zu den Segeln empor, die von einigen Matrosen geprüft, erneuert oder frisch versiegelt wurden. Immerhin dahingehend hatte man mal auf ihn gehört! Wenn auch erst NACH der Abfahrt!
    Wenn er so darüber nachdachte, fragte er sich, warum sein Vater ihm kein wehrhafteres Schiff für die Reise gegeben hatte. Irgendwas robusteres, irgendwas, das gegen einen Sturm – oder eine erfundene Riesenkrake - mehr Chancen hatte, als eine schmale Karacke. Damit würde er sich wahrscheinlich auch sicherer fühlen.
    Vielleicht besteht die Möglichkeit, dass sich die Seemonster und Stürme kaputt lachen…
    „Wir sollten den Himmel im Auge behalten“, meinte er dann laut. „Um frühzeitig reagieren zu können.“
    Sein Blick fiel auf Trevor, der behände mit einem Eimer an der Takelage vom Mast zurück an Deck kletterte. Der Anblick des Wandlers rief ihm einen weiteren Gedanken, der ihm seit dem Abend ebenfalls im Kopf herumspukte – neben der Tatsache, dass der Kerl ihm aufgezeigt hatte, dass er absolut überfordert mit der Situation war (was er natürlich niemals zugeben würde) – in Erinnerung.


    Er ließ den Steuermann stehen und holte zu Trevor auf. Dann zögerte er aber, ehe er ihn ansprach. Was tat er eigentlich? Noch konnte er einfach gehen, ohne, dass es peinlich wurde.
    „Ich will mit dir reden“, hörte er sich dann jedoch zum eigenen Verdruss sagen.
    Nein, willst du nicht!
    „Unter vier Augen“, fügte er mit Nachdruck hinzu, als er sich Francis und dessen gespitzten Ohren bewusst wurde. Unweit von ihnen hatte er mit seiner Arbeit aufgehört und betrachtete nun äußerst interessiert seine Bürste.
    Nein, du willst nicht mit ihm reden! Geh einfach!
    „Troll dich!“, stieß Edmund aus. Francis zuckte zusammen, rannte davon und tat nun an einer anderen Stelle des Schiffs so, als würde er arbeiten.
    „Habe ich etwas … falsch gemacht?“, fragte Trevor verunsichert.
    Nein. Obwohl.
    „Wenn es um die Frage in dem Spiel geht…“
    Die Frage war nicht das Problem, du Idiot!
    „Nicht direkt.“ Er wog den Kopf und vergewisserte sich, dass sie allein waren. Er hatte darüber nachgedacht, was Trevor an dem Abend über sich erzählt hatte. Offenbar war er in ein Leben gezwungen worden, das er so nicht hatte führen wollen. Und dann war man ihm auch noch in den Rücken gefallen, weil er ein Formwandler war. Statt aber die Freiheit zu nutzen, nachdem er ihn freigekauft hatte, hatte er sich ihm wegen irgendeines blöden Pflichtgefühls angeschlossen. Nun war er gezwungen, wieder zur See zu fahren. Im Nachhinein hatte es Edmund doch gerne gemacht, oder? Ihm zu helfen? Es gab keinen Grund, ihm nun irgendwas schuldig zu sein. Für was auch?

    „Du bist mir nichts schuldig, das ist dir klar, oder?" Er musterte den Wandler eindringlich. „Du musst das Geld nicht zurückzahlen.“

    Erst sah Trevor ihn verwirrt an, als wusste er gar nicht um was es ging. Zugegeben, kam es wohl auch etwas aus dem Nichts. Aber Edmund wollte es nun geklärt haben.

    „Muss ich nicht?"

    „Irgendwie bekomme ich die Ausgaben schon gegenüber meinem Vater erklärt.“
    Edmund zuckte die Schultern. Er musste es ihm schließlich nicht verraten. Ein >Ich habe mich in Silberberg über den Tisch ziehen lassen, einen Formwandler für 30 Silberschilling gekauft und ihn dann nicht gewinnbringend wieder VERkauft, weil ich ihn aus seiner Pflicht entlassen habe< würde bei dem Alten jedenfalls überhaupt nicht gut wegkommen.
    „Darum geht es mir neben dem Formwandler-Kodex gar nicht. Also, um das Zurückzahlen. Irgendwie finde ich das Reisen an Eurer Seite besser, als das, was ich die letzten Jahre getan habe."
    Edmund blinzelte verwirrt, ehe er sich wieder fing. Da wollte er dem Kerl einen Gefallen tun und er ignorierte es einfach! Am Arsch mit diesem blöden Kodex!
    „Vergiss deinen Kodex. Einigen wir uns darauf, dass du mir nichts schuldest, du wegen meiner Hilfe keine Verpflichtung gegenüber mir hast und ich meine Socken zukünftig selbst wasche?“ Er sah Trevor fragend an. Wo kam das her? Warum um alles in der Welt sollte er seine Socken selbst waschen? Erst kochen, jetzt waschen? Am Ende putzte er auch noch die Schuhe selbst, oder was? „Es gibt keine Schuld, du kannst so lang bleiben, wie du willst. Du bist ein freier Mensch.“ Er zögert kurz. „Wobei, es wäre schon schön ...", er räusperte sich, weiter auf deine Hilfe vertrauen zu können?"
    Trevor musterte ihn mit erhobenen Augenbrauen. Und so langsam kam sich Edmund richtig bescheuert vor. Wahrscheinlich lachte ihn der Formwandler innerlich gerade aus. Er musste immer noch Restalkohol intus haben. Seit vier Tagen!

    Warum sonst plapperte er sonst solchen Schwachsinn?
    „Ihr könnt jederzeit auf meine Hilfe vertrauen."
    Edmund reichte ihm die Hand zum Einschlagen. „Okay."
    „Dann eben nur nicht als Untergebenen, sondern als ... Freund“,
    meinte Trevor.
    „Freund?“ Sie beide? Verwirrt sah Edmund Trevor an. „Ein Händler und ein Pirat?"
    Sehe nur ich die Ironie?
    Davon abgesehen war das ein viel zu großer Standesunterschied. Und man brauchte auch keine Freunde. Wozu sollten die gut sein?
    „Oder Nymphe und Formwandler ...“
    „Das macht es besser?“
    Seine Gedanken dazu als skeptisch zu bezeichnen, war untertrieben. Außerdem tat ihm langsam der Arm weh.
    „Zumindest interessant, oder nicht?“ Trevor schlug endlich ein und beendete damit die Folter, dumm mit erhobener Hand mitten auf dem Schiff herumzustehen. Zwar interessierte sich niemand für ihr Gespräch – was auch gut war, denn wie genau sollte er das erklären? Er verstand es ja selbst nicht. Wie ein Gestörter allerdings die ganze Zeit die Hand zwischen ihnen zu halten, sah dann doch … bescheuert aus.
    „Keine Ahnung, ich hatte noch nie Freunde.“ Hatte er das soeben wirklich zugegeben? Warum?
    Musste man da irgendwas beachten? Irgendwas unterschreiben? Etwas bezahlen?
    „Dann haben wir etwas gemeinsam", lachte Trevor.
    Edmund zögerte.
    „Immerhin etwas.“

    Auch, wenn er ihm nicht recht glauben wollte.
    „Freunde müssen nicht in allem gleich sein“
    , bemerkte Trevor amüsiert.
    Edmund ließ die Hand los und zupfte seinen Ärmel zurecht.
    „Jetzt bin ich aber erleichtert", gab er sarkastisch von sich, „Ich hatte schon befürchtet, jetzt muss ich auch in der Takelage herumklettern und die Segel reparieren.“ Er wies auf die Seile, die zum Großsegel hinaufführten, und an denen Trevor zuvor heruntergeklettert war. Bei seinem Glück würde er noch mit dem Fuß in einem der Seile hängenbleiben.
    „Lieber nicht. Nicht, dass Ihr es nicht könntet, aber ... Ihr werdet gebraucht. Der Wind kann da oben ziemlich rau sein.“
    Edmund blies die Wangen auf. Das war ja wohl die Höhe. Was sollte das Aber? Warum sprach er an der Stelle nicht weiter? Hatte er ihm gerade indirekt sagt, dass er es ihm nicht zutraute? Es nicht machen zu wollen, war ja wohl ein Unterschied zu nicht können.
    „Du glaubst wohl, ich schaff das nicht?!“ Es war eine Feststellung, keine Frage. „Als würde mich ein wenig Wind stören.“
    Was tust du da? Natürlich stört dich Wind!
    „Doch. Nur zu."
    Scheiße!
    Edmund blickte nach oben. Wie peinlich wäre ein Rückzieher?

    Wie peinlich ein Rückzieher sein konnte, wusste er nicht, als er schließlich Jacke und Schuhe an Deck zurückgelassen hatte und stattdessen sein eigenes Körpergewicht über die rauen Seile schleppt. Das würde Schwielen und blutige Wunden geben!

    Wie sich stechende und schadenfrohe Blicke von amüsierten Matrosen anfühlten, wusste er nun aber sehr wohl. Mittlerweile musste wohl jeder seine seltendumme Aktion beobachten. Die beiden Frauen amüsierten sich vermutlich ebenso köstlich.

    Der Wind, der ihm um die Ohren pfiff, entging ihm auch nicht. Wie auch? Er brachte ihm die Friseur durcheinander und tat in den Ohren weh.
    Ich hasse Wind!

    Und ich hasse mich dafür, eine Wette mit dem Kerl eingegangen zu sein!

    Wenn er jetzt fiel, dann konnte er sich sicher sein, jeglichen Respekt verloren zu haben, den er je besessen hatte. Selbst den vor sich selbst.
    Bitte fall nicht runter! Bitte fall nicht runter! Bitte fall nicht runter!

    „Ihr schafft das schon. Nur weiter. Und wenn nicht, ist auch okay, dann werde ich mich zukünftig darüber freuen, dass Ihr meine Socken wascht!“
    Edmund blickte sauer zu Trevor, der neben ihm herkletterte, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Und dabei auch noch lachte!
    „Schnauze!“
    Und hör auf zu wackeln!

    Edmund glich das Gewicht aus, und kletterte weiter. Wann hatte er das eigentlich zuletzt gemacht? Als Kind, wenn er sich recht erinnerte. Bei irgendeinem der älteren Schiffe seines Vaters, als es im Hafen gelegen hatte. Im Hafen war sowas definitiv anders, als auf offener See! Davon abgesehen störte so etwas als Kind wohl einfach weniger. Nun spürte er jedoch Muskeln von denen er nicht einmal wusste, dass er dort Muskeln besaß.

    Vor allem aber erinnerte er sich an die Strafe, die er damit bekommen hatte, als man ihn erwischt hatte.

    Wo ist jetzt dieser Riesenkrake, der das Schiff in die Tiefe zieht?

    Stur kletterte er weiter. Sich weiter still verfluchend, dass er darauf eingegangen war. Vermutlich wollte Trevor ihn nur umbringen! Deshalb kletterte auch neben ihm! Von wegen Absicherung.

    Erschöpft kämpfte er sich schließlich die letzten Zentimeter. Blutige Finger.

    Zweimal wäre er tatsächlich beinahe abgerutscht, konnte sich aber gerade noch festhalten.

    „Ich wusste, Ihr schafft das!“, lachte Trevor, als er sich neben ihm auf das Eselshaupt fallen ließ. Er bot kaum genug Platz für sie beide, reichte aber für eine Verschnaufpause, wenn man sich festhielt.

    Wenn Edmund auch nur daran dachte, den Weg wieder nach unten nehmen zu müssen, war ein Sprung in den Tod vielleicht doch eine Option.
    „Ich überlasse das in Zukunft gerne dir.“ Edmund ließ die Beine baumeln und ignorierte für einen Moment den Wind, die Schmerzen und genoss stattdessen das weite Meer, das sich unter ihm erstreckte. Derjenige, der dem Schiff ihren Namen gegeben hatte, musste in diesem Moment auch von hier oben auf das Meer geblickt haben. Jedenfalls entschädigte der Ausblick die Schinderei. Teilweise. Ein klein wenig.

    Neben ihm lachte Trevor auf.
    „Gebt Ihr etwa auf? Ihr müsstet eigentlich noch über das Bramrah zu den Segelenden, um diese zu prüfen.“
    Edmund blickte über die Querstange, an der das Großsegel befestigt war. Was hatte ihn nochmal geritten, eine Wette einzugehen?
    „Einigen wir uns auf unentschieden?“
    Trevor lachte erneut auf.
    „Ich bin Pirat, da müsst Ihr schon etwas bieten, wenn Ihr wollt, dass ich einen Schatz aufgebe.“
    Edmund blickte nachdenklich zum Deck hinunter, auf dem die Matrosen nun teils wie Insekten wirkten.

    Nelli und Esther standen neben dem Steuermann und sahen sichtlich besorgt zu ihnen beiden hoch.
    „Wie wäre es mit dem Namen? Kein „Ihr“ mehr.“
    Trevor wog den Kopf, als müsste er darüber wirklich nachdenken. Was gab es da nachzudenken!?
    „Einverstanden. Unentschieden.“