Daß Du Erhardts Gedicht nach Silben ordnest, ist völlig legitim.
Ich bezweifele jedoch sehr, daß Erhardt das beim Schreiben auch getan hat. Weshalb auch hätte er sollen?
Ob Erhardt das getan hat, können wir natürlich nur herausfinden, indem wir ihn fragen - und er ist tot. Ansonsten bleibt mir da nur zu sagen, dass er eben etwas von seinem Handwerk verstand, dein Beispielgedicht einen deutlichen Rhythmus hat (vierhebiger Jambus, also auf eine unbetonte Silbe folgt eine betonte, das viermal je Vers) und ein deutliches Muster, was die Kadenzen angeht (also das Versende, das mal betont oder unbetont ausfällt) und das dadurch einfach fließt wie Wasser. Das halte ich jedenfalls nicht für Zufall. Wenn man das ein paarmal gemacht hat, ist das auch nicht so schwierig. In meinem Gedicht hier waren manche Verse echte Selbstläufer, andere waren richtig Arbeit.
Dass Dichter wie Erhardt ihre Werke unbewusst in Rhythmen verfassen, halte ich für naiv. Schreiben ist ein Handwerk, das mal besser und mal weniger gut von der Hand geht. Homer wird seine Odyssee und seine Ilias nicht versehentlich in einem Hexameter verfasst haben; Goethe und Schiller sind ihre strengeren Gedichte sicher auch nicht einfach plötzlich in den Kopf geschossen. Schweiß gehört schon auch dazu.
Es gibt natürlich auch freie Formen, hab ja auch schon sowas geschrieben, da ist der Improvisationsfaktor wahrscheinlich etwas höher. Aber auch das entschuldigt keinen Text, der über seine Füße stolpert, und darum braucht man auch da Handwerk ...
Da hatte er eine Idee. Und die hat er aufgeschrieben.
Kann man analysieren auf Metrik etc.
Kann man auf entsprechende Betonung analysieren.
Kann man alles machen...
Nur bitte nicht, bevor man ein Gedicht schreibt.
Also, erstmal sollte jeder so arbeiten, wie er gute Ergebnisse liefern kann. Ich denke, da sind wir uns sicher einig.
Und dann denke ich, dass es hier vielleicht ein Missverständnis gibt. Es gibt beim Schreiben natürlich ein Davor, ein Währenddessen und ein Danach.
Davor habe ich beispielsweise folgende Vision gehabt:
- ein Gedicht in einer strengen Form
- Paarreime
- die Verbindung vom Schreiben mit einer Segelreise
- ein balladenartiger Erzählansatz
Währenddessen ergab sich dann:
- Alexandriner als Form, nachdem andere Formen nicht so richtig gelingen wollten (hab ich also durchaus ausgejamt, wenn man so will)
- 4 statt 3 Strophen, die ich erst geplant hatte
- natürlich die Verse an sich, da ging es in penibler Arbeit von Zeile zu Zeile
Spätestens ab da würde wahrscheinlich auch ein Heinz Erhardt sehen, auf was für eine Form sein Gedicht hinausläuft.
Und danach wurde nochmal die Feile angesetzt, denn ich hatte in der ersten Strophe behauptet, eine Tintenspur zu radieren.
Hat ja keiner behauptet, dass die Leute ihre Texte vorher fertigplanen sollen, aber Pläne mit Metaphern, Reimwörtern und Versmaßen zu machen - was ist daran abwegig?
Sorry. Wenn Du was mit deinem Gedicht "möchtest" bist Du auf dem besten Wege, nichts mehr draus zu machen. Was ich sehr schade fände.
Es ist nämlich ein gutes Gedicht, an dem man nichts mehr zu ändern braucht.
Ich bin nicht sicher, was genau du damit meinst, aber ich sehe bisher nichts, wofür du dich entschuldigen musst.
Von Anfang an war dies ein Gedicht, von dem ich viel wollte und mit dem ich viel gemacht habe, was für mich neu war. Deinem Urteil nach wurde es gut, und das freut mich. Ich bin der letzte, der etwas zu Tode korrigieren würde, nur um zu gefallen. Hier geht es eher um den Anspruch vor mir selbst, und der war hier ein leichtgängiges Gedicht mit festem Versmaß etc. zu machen. Dem gilt es gerecht zu werden. Daran sehe ich nichts, was etwas verhunzen könnte.
"Leichtgängig" heißt nur nicht, dass es für mich einfach wird.