Die Bucht der Stille
Ichuapec, Reich der Xecopho
Der Kapitän hätte niemals erwartet, dass es stimmt. Aber tatsächlich – das einzige Geräusch an diesem Götterverlassenen Ort ist das des Wassers, wenn es vom Bug des Schiffs verdrängt wird. Die Bucht der Stille ist umgeben von dichtem Urwald und doch hört man nur das Rauschen des Bugs. Kein Wellengang, keine Vögel, nichts.
Unruhig wandert er von der einen Seite zur anderen. Es ist unklug, ihr Reich zu betreten. Den Männern gegenüber hatte er versucht, die Gefahr herunterzuspielen, ihnen doppelten Sold versprochen. Die Geschichten über die Xecopho hatte er als Hirngespinst abgetan und jeglichen Tratsch bestrafen lassen. Aber wenn ihn selbst die Einheimischen Übersetzer vor der Bucht warnen, dann muss etwas an der Sache dran sein. Er hatte sich von den Versprechen der An Rettsbergen Gesellschaft zu dieser Mission verleiten lassen und fühlt sich nun wie eine Ratte, die vom Hausherrn einen Einlass durch die Vordertür erwartet.
Der Kapitän wischt sich den Schweiss von der Stirn und sucht den Himmel nach Urol ab. Man kann sein Licht knapp erkennen, hinter den feuchtwarmen Nebelschwaden. Es lässt die turmhohen Bäume davor wie Wächter erscheinen, die über das winzige Handelsschiff richten.
Ein Turm schält sich aus dem Nebel. Höher noch als der Dschungel. Ein gellender Ruf hallt von seiner Spitze und schreckt einen Schwarm Vögel hoch. Sie haben den Turm gesehen und der Turm hat sie gesehen. Weit ausser Sichtweite erwidert ein weiterer Turm den Ruf.
Das die Xecopho um ihre Anwesenheit wissen, beunruhig den Kapitän nicht. Schliesslich wissen sie es schon, seit sie gestern den Eingang der Bucht passiert haben. Er ist bloss froh darum, etwas Lebendiges zu hören.
Der Erste Maat informiert ihn, dass sie sich Ichuapec nähern. Der Kapitän nickt stumm. Niemandem ist hier nach Reden zumute. Die Stille fühlt sich angebracht an, als ob dieser Ort danach verlangen würde.
Die ersten Hütten erscheinen am Rand der Bucht. Einfache Pfahlbauten erst, Vororte der Hauptstadt. Bald schon sind es Häuser aus Stein, mit begrünten Flachdächern, von denen die Xecopho das Schiff beobachten. Dicke Schutzbauten flankieren beide Seiten der Bucht, als ihr Schiff in den Hafen einläuft wie der Krill in den Rachen des Wals. Die Krieger auf den Mauern beachtet der Kapitän kaum, zu sehr beschäftigt ihn der Anblick vor ihm.
Hundert, vielleicht hundertfünfzig Schritt hoch. Der Basalt schimmert grün, violett und blau im diffusen Licht. Kein einziges Moos scheint auf der glatten Oberfläche zu wuchern, kein Vogeldreck bedeckt seine Flanken.
Gestern noch hatte er einen Matrosen zum Deck schrubben verdonnert, als er ihn dabei erwischt hatte, Märchen über den Pfeiler zu erzählen. Nun, da er ihn mit eigenen Augen sieht, kann der Kapitän nicht anders, als Urols Licht um Beistand zu flehen. Fragen gehen durch seinen Kopf. Fragen, auf die wohl nicht einmal die Übersetzer eine Antwort haben. Der Pfeiler verleiht dem Herrscher der Xecopho magische Kräfte, heisst es. Und ihren Kriegern gibt er Mut und Stärke. Doch gibt es nicht einen anderen Grund für dieses Bollwerk in der Mitte der Stadt? Was ist in seinem Innern und warum sieht es aus, als sei der Pfeiler aus einem einzigen Stück Basalt geschnitten?
Fast wäre dem Kapitän entgangen, wie seine Männer an einem der Piers anlegen.
Er atmet tief durch und sieht sich um.
Der weitläufige Hafen scheint verlassen zu sein, doch so einfach täuschen lässt sich der Kapitän nicht. Die Körbe voller Fisch und Austern, die hektisch abgedeckten Marktstände, der Geruch nach Grillfleisch und Brühe. Die Xecopho haben den Hafen erst vor Minuten abriegeln lassen.
Auf der von Palmen gesäumten Hauptstrasse erwartet ihn eine Gestalt in Sandalen und einem übergrossen Umhang aus bunten Fäden, flankiert von zwei Wächtern mit Schwertlanzen. Hinter dem spärlichen Empfangskomitee führt die Strasse schwindelerregend weit direkt zum Fuss des Pfeilers, dessen Fundament im Nebel verborgen bleibt.
Der Kapitän vermeidet es, den Gesandten des Herrschers direkt anzusehen. Nur Raubtiere sehen sich direkt in die Augen, hatten die Übersetzer ihm gesagt. Und Sie sind hier kein Raubtier.
Er richtet seinen Harnisch, Schärpe und Halstuch und ruft die Übersetzer und seine Begleiter zu sich, dann schickt der Kapitän sich an, das Schiff zu verlassen.
Die Xecopho hatten nicht mit Vodrask verhandelt, sie hatten nicht mit Ardonien verhandelt. Wie kann An Rettsbergen erwarten, sie würden sich auf sein Angebot einlassen? Wie kann er glauben, ein Volk, das mit Tieren spricht und ihren Feinden die Haut abzieht, wäre käuflich? Wie glaubt er, werden seine Botschafter unversehrt aus dieser Sache hervorgehen? Oder ist genau das Gegenteil sein Plan?
Mit einem mulmigen Gefühl betritt der Kapitän den Pier.
Generiert durch Midjourney.
(An dem hat sich die KI die Zähne ausgebissen. Das ist das nächste, das an den Begriff "Stadt" herankommt. Und kein einziger der Vorschläge für den Pfeiler war wirklich zylindrisch oder "glatt".)