Schatten der Vergangenheit
von Alexander2213
„Verneigt euch vor Claudius, dem Großen, Kaiser von Argutera, Bezwinger der neun Königreiche, Zerstörer der...“ Claudius ließ seinen gelangweilten Blick über den gut gefüllten Thronsaal gleiten, während der Zeremonienmeister den endlosen Titel zum wiederholten Male aufsagte.
Von seinem erhöhten Platz aus konnte er die Menge gut überschauen. Der Saal war bereits gut gefüllt, mit Vertretern aus allen Teilen des Reiches. Noch immer kamen neue Adlige, um ihm ihre Ehrerbietung zu erweisen. Da waren die Häupter der Zwerge aus den grünen Bergen oder die gefürchteten Waldmenschen. Sie alle beugten ihr Knie vor ihm.
Eine grimmig wirkende Frau erschien vor dem Thron. Die Großfürstin der Toleras war gekommen und verbeugte sich tief. Claudius dachte zufrieden an die Unterwerfung dieses renitenten Völkchens. Ja, die Toleras waren schon würdige Gegner gewesen, das Reitervolk hatte zu den Letzten gehört, die sich dem Imperium widersetzten.
Claudius wusste, welchen Beinamen er beim Volk hatte: Der Grausame. Doch er war stolz auf seine Taten und seinen Ruf. Seit zehn Jahren hatte es keinen Krieg mehr gegeben, weil keiner so tollkühn war, sich mit ihm anzulegen. Wenn man herrschen wollte, musste man hart sein, keine Gnade kennen.
Dann sah er die Frau in dem rot schimmernden Kleid. Ihr Haar schien fast golden. Sie gehörte zu einem der niederen Provinzfürsten. Einem jungen schlaksigen Kerl, der gerade erst die Regentschaft von seinem Vater übernommen hatte.
„Graf Ferdinand von Krachdorf, nebst Gemahlin“, stellte der Zeremonienmeister die Gäste vor. Die Frau faszinierte Claudius. Sie sprach etwas in ihm an, doch er konnte nicht genau sagen was eigentlich. Sie war jung und schön, das mochte schon sein, aber das waren seine zahlreichen Kurtisanen auch. Dieses Gesicht, es wirkte vertraut. Für die nächsten Gäste hatte er kaum ein Auge, stattdessen folgte er dem roten Punkt in dem rauschenden Meer von Kleidern. Der Rest der Zeremonie fühlte sich wie eine Ewigkeit an.
Wie von Zauberhand öffnete sich in der Mitte des Saals die Menge. Alle warteten darauf, dass er den Tanz eröffnete. Langsam erhob er sich und schritt die Stufen vom Thron herunter, gefolgt von seinem Schatten, dem Leibwächter Cato. Er war der einzige Mann, dem Claudius vertraute und er verkörperte das, was einem Freund am nächsten kam. Der Kaiser schritt an seiner Lieblingskurtisane in ihrem strahlend blauen Kleid vorbei, seiner Lieblingsfarbe und dann an den anderen Hofdamen, die um seine Gunst buhlten.
Die Frau in Rot stand nicht in der ersten Reihe der Schaulustigen, doch als er auf sie zusteuerte, öffnete sich die Menge. Er hielt ihr die Hand hin und ein Raunen ging durch die Menge. Gab es eine neue Favoritin? Sie schien zu zögern, bevor sie ihm schließlich ihre Hand entgegenstreckte. Ihr Mann erbleichte, doch er war klug genug nichts zu sagen.
Claudius fühlte ihre warme Hand, als er sie zur Tanzfläche führte. Die Musiker fingen an zu spielen. Zu leisen Klängen verbeugten sie sich voreinander. Claudius war trotz seiner fast 50 Jahre immer noch in bestechend guter Form. Täglich trainierte er mit Cato den Schwertkampf und auch beim Tanzen hatte er viel Übung.
Die Musik floss ruhig dahin und sie tanzten eng zusammen. Und immer noch war dieses vertraute Gefühl da. „Wie ist euer Name, Madame“, fragte er sie. „Aurelia“, sagte sie mit feiner Stimme. Im Takt der schneller werdenden Musik wirbelte er sie einmal um die eigene Achse.
Ihr blondes Haar wirbelte genauso wie ihr feuriges Kleid und plötzlich wusste er, an wen sie ihn erinnerte. Melina, sie sieht aus wie Melina, dachte er. Fast hätte er den Takt verpasst, doch die Musik wurde wieder ruhiger und so fiel es nicht weiter auf.
„Ihr bewegt euch gut auf der Tanzfläche. Doch sagt, wo kommt ihr her?“, fragte er sie. Er schaute sie genauer an, musterte ihr Gesicht, als sie über die Tanzfläche wogten. Tatsächlich sah sie ihr erstaunlich ähnlich, der einzigen Frau, die er je wirklich geliebt hatte. Vielleicht lag es auch etwas am roten Kleid, Melina hatte diese Farbe geliebt.
Sie lächelte: „Interessiert es euch wirklich, jetzt bin ich doch hier.“ Er musste sie haben, schon weil sie ihn an alte unbeschwerte Zeiten erinnerte! Die Musik schwoll immer stärker an, er wirbelte sie über die Tanzfläche. Er genoss den Tanz, auch wenn er langsam etwas ins Schwitzen kam.
Als die Musik mal wieder etwas ruhiger wurde und sie eng aneinander tanzten, raunte sie ihm zu:
„Ihr könnt wirklich gut tanzen, Euer Majestät. Habt ihr schon immer viel getanzt?“ Er dachte an seine geliebte Melina und ein Anflug von Wehmut überkam ihn. „Früher viel, aber jetzt kaum noch, fast nur zu offiziellen Anlässen“, sagte er. Er dachte daran, wie es damals endete.
„Ihr erinnert mich an jemanden“, sagte er und schaute in ihre unergründlichen Augen.
Melina hatte ihn verraten und sich auf die Seite seiner Feinde gestellt, nur weil er diese läppische Stadt zerstört hatte. Wie hieß sie doch gleich? Damals hatte er zum letzten Mal Gnade gezeigt! Er hatte ihr nicht die Haut abziehen lassen, wie er sonst Verräter bestrafte. Er hatte sie nur in die Sklaverei verkauft und nie wieder etwas von ihr gehört.
„Ich weiß, an wen ich euch erinnere. An meine Mutter.“, sagte sie, gerade als die Musik wieder schneller wurde. Wieder wirbelte er sie herum, doch eigentlich fühlte er sich selber schwindelig. War sie wirklich ihre Tochter? Wie war es Melina ergangen? Lebte sie vielleicht noch. Ein Gefühl kam auf, dass er lange nicht mehr gekannt hatte: Schuldgefühle. So lange hatte er versucht, jeden Gedanken an sie zu verdrängen, alles brach über ihn herein. Ein Gefühl von Übelkeit breitete sich aus.
„Wie kann es sein?“, fragte er, doch die Musik wurde immer schneller und so verzögerte sich die Antwort. Eigentlich hätte der Einführungstanz längst beendet sein sollen, damit auch alle anderen anfangen konnten zu tanzen. Doch solange er keine Anstalten machte, aufzuhören, spielten die Musiker weiter.
„Wie geht es ihr?“, fragte er, obwohl er die Antwort auf die vorherige Frage noch nicht bekommen hatte.
„Sie ist tot... Genau wie du!“, sagte sie mit Genugtuung in der Stimme! Er ließ sie abrupt los. Was hatte sie getan. Er sah die kleine Nadel in ihrer Hand. Der Schweiß lief ihm über die Stirn und er sackte zusammen. Plötzlich war Cato hinter ihm. „Majestät, was ist los?“, fragte er aufrichtig besorgt.
Ein Raunen ging durch die Menge, doch Claudius schaute nur auf Aurelia. Er sah den Zorn in ihren Augen und ihre Stärke. Diesen Blick hatte Melina niemals gehabt. Sie war immer so sanft gewesen. In Aurelias Augen erkannte er sich selber. Was musste sie alles getan haben, um hierher zu kommen? Der Schmerz breitete sich in seinem Körper aus. Er kannte die Symptome des Talingaris-Giftes - unheilbar, schnell wirkend und verdammt schmerzhaft.
„Vergiftet“, sagte er nur. Cato begriff sofort und mit gezücktem Schwert sprang er auf Aurelia zu. Diese ließ die Nadel fallen und machte keine Anstalten zu fliehen oder sich zu wehren, sondern erwartete denn tödlichen Schlag, mit stoischer Gelassenheit.
„Stopp“, sagte Claudius und Cato erstarrte in der Bewegung, mit fragender Miene sah er seinen Kaiser und Freund an. „Du hast den Kaiser von Argutera ermordet. Doch ich selbst werde noch das Urteil über dich verhängen.“
Eine Schmerzwelle ging durch seinen Körper. Er würde sie leiden lassen, auch wenn er damit den letzten Rest von der Erinnerung an Melina zerstören würde.
Immer mehr Wachen der Leibwache strömten herbei und drängten die Schaulustigen zurück, die sich am Anblick des gefallenen Kaisers noch halb ungläubig ergötzten.
Ein Reich hielt man nur mit Stärke zusammen, danach hatte er immer gelebt. Er sah in die Gesichter der Leute um ihn herum - der Könige, Fürsten und Stammesführer, die alle in der Sekunde seines Todes nach der Macht greifen würden. Er begriff, er hatte alles verloren. Durch Unterdrückung aufgebaut, würde das Reich in einer Spirale der Gewalt untergehen.
Für die Macht hatte er seine Liebe geopfert und erst jetzt fühlte er den Verlust. Dafür musste er sie hart bestrafen. Sie mochte sein Fleisch und Blut sein, doch Gnade lag nicht in seinem Wesen.
Claudius konnte nicht mehr klar sehen und auch sein Geist wurde immer mehr vernebelt. Er blickte Aurelia an, doch er sah Melina, mit ihrem sanften Gesicht. Mit letzter Kraft schob er die Illusion beiseite.
„Ich...“ Schmerzen flossen durch seinen Körper. „Ich verurteile dich, Aurelia, dazu, mein Erbe anzutreten. Eine schlimmere Strafe kenne ich nicht.“
Er sah Aurelias fassungsloses Gesicht, das mit Schmerz, Zorn und einem Anflug von Trauer kämpfte. Alles zerrann vor seinen Augen zu einem gleißenden Licht. Dann wurde alles schwarz.