Damit gleich niemand verwirrt ist, dies hier ist der letzte Teil. Und er ist etwas länger, denn ich wollte euch nicht auf den letzten Metern mit einer Unterbrechung quälen. Für den leichten Kitsch entschuldige ich mich schon mal im Voraus.
Heiligabend
Um halb acht standen plötzlich Tabea und Jimo Kandrajimo im Raum. Letzterer sah müde aus; er hatte tiefe Ringe unter den Augen.
„Hast du deine Sachen?“, fragte Tabea, während der Kamiraen Maja umarmte und diese zeigte auf ihre grüne Tasche.
„Pass auf dich auf“, sagte Kandrajimo und gab ihr ein Blatt Papier. Eine Nummer stand darauf. „Sei immer vorsichtig, geh nicht alleine durch die Stadt und wenn dir irgendetwas verdächtig vorkommt, dann ruf Vladimir Theobald an. Das ist seine Nummer. Wenn dich irgendjemand angreift, lauf weg und versteck dich.“ Er betrachtete sie besorgt von Kopf bis Fuß. Schließlich seufzte er. „Ach, wird schon schief gehen.“
„Dann los“, sagte Tamor und zog seine Drachenpfeife hervor.
Maja war erleichtert zu erfahren, dass sie fliegen würden. Sie alle folgten Tamor in den Hof des Hauptquartiers, wo er in seine Pfeife blies. Minuten später tauchte Taramos auf, komplett gesattelt. Tabea stieg auf und half Maja hoch. Sie sicherten sich und Taramos schoss in den Nachthimmel.
Maja wurde jetzt furchtbar aufgeregt. Endlich ging es nach Hause. Vielleicht würde sie in wenigen Stunden ankommen. Sie versuchte ihre Reisezeit aus Tabea herauszukitzeln, doch die meinte nur, es würde lange dauern.
Schon der Flug auf Taramos kam Maja wie eine Ewigkeit vor, dabei wollte sie nichts lieber tun, als ihre Beine zu bewegen, zu rennen, zu springen ... Doch sie war auf dem Sattel festgeschnürt und so langweilte sie sich tierisch. Dann, endlich, sanken sie, rauschten auf die Bäume des Dark Forest zu. Direkt vor ihnen konnte Maja eine Lichtung erkennen, einen braungrünen Talkessel, in dessen Zentrum das Weltentor stand. Genauso groß wie das goldene Tor bestand dieses jedoch aus riesigen, grauen Steinen. Taramos landete auf dem Abhang, Maja und Tabea stiegen ab, streichelten ihm noch einmal über den Hals und schickten ihn fort. Dann eilten sie auf das Tor zu.
Maja behielt die Augen auf, während sie hindurch schritt. Ein kalter Luftzug, die Sicht wurde kurz verschwommen, dann sah sie das Innere der riesigen Höhle und atmete zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit die Luft ihrer eigenen Welt. Sie war stickig und ein bisschen feucht, was daran liegen mochte, dass sie sich in einer Höhle tief unter der Erde befand. Auge in Auge mit einem riesigen Wolf.
„Uhow“, sagte sie und machte einen Schritt rückwärts, sodass sie fast wieder in der Welt ohne Namen gelandet wäre.
Tabea hielt sie fest. „Keine Sorge“, sagte sie. „Der tut nichts.“
Maja glaubte, diese Worte schon einmal aus ihrem Mund gehört zu haben und zuckte mit den Schultern. „Und was ist mit denen?“ Mit 'denen' meinte sie vier kräftige Männer, die mit Lanzen und Messern bewaffnet waren und offenbar das Tor bewachten.
„Die auch nicht“, sagte Tabea. „Hallo Thomas.“
Einer der Männer winkte ihr zu und grinste. „Hallo Tabea.“
Maja sah sich um. Außer dem Wolf und den vier Wachen befanden sich noch ein paar eilig die Höhle durchquerende Männer und Frauen hier, ein Schaf, ein paar Fledermäuse sowie ein vierjähriges Kind, das mit ausgestreckten Armen dem Schaf hinterher lief.
Sie blieben nicht lange in der Höhle. Tabea sprach mit einigen wichtigen Leuten und dann liefen sie mit einer Fackel durch einen langen Tunnel ins Freie, wo die Sonne seltsamerweise hoch am Himmel stand.
„Ich dachte es wäre nachts“, sagte Maja.
„Zeitverschiebung“, war die Erklärung.
Sie kämpften sich durch die hohe Wiese bis vor ihnen Tabeas rotes Auto auftauchte, eingequetscht zwischen einem blauen Lieferwagen und einem schwarzen Jeep. Sie stiegen ein und zockelten den Feldweg entlang, räumten zwischendurch den falschen Baum beiseite, der den Weg blockierte, und fuhren dann endlos nach Süden. Die Straße wurde breiter, dann bogen sie auf andere Straßen ab, vereinzelte Häuser tauchten auf und Maja schlief ein. Sie wachte spät am Abend auf, als sie durch eine kleine Stadt fuhren. Tabea parkte das Auto am Straßenrand und sie suchten eine Gaststätte auf, um etwas zu essen. Danach fuhren sie weiter.
Mitten in der Nacht hielt Tabea auf einmal am Straßenrand an und meinte, sie müsse etwas schlafen. Sie stellte ihre Lehne nach hinten und machte die Augen zu. Maja war mittlerweile ausgeschlafen und starrte voller Aufregung in die Finsternis, während sie Tabeas gleichmäßigen Atemzügen lauschte. Nach ein paar Stunden fuhren sie weiter, dieses Mal über die Autobahn. Und dann, als es gerade hell wurde, fuhr Tabea in einer großen Stadt in das Parkhaus eines Flughafens.
„Wir fliegen?“, fragte Maja erstaunt. „Aber ich habe überhaupt keine Papiere.“
Tabea reichte ihr einen Ausweis, auf dem ein Bild von ihr zu sehen war, allerdings mit dem Namen Lili Teicher daneben. Auch das Geburtsdatum war falsch.
„Na dann.“
Ihr Flug hatte drei Stunden Verspätung und Maja langweilte sich wieder einmal zu Tode. Dann durften sie endlich ins Flugzeug steigen. Maja hatte einen Fensterplatz. Sie schaute fast den ganzen Flug über aus dem Fenster, betrachtete die Welt von oben, die Städte und Wälder und freute sich einfach nur, wieder hier zu sein. Ein warmes Gefühl erfasst ihr Herz und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Der Flug dauerte nicht so lange wie der auf Taramos und doch legten sie ein Vielfaches der Strecke zurück. Halbdrachen konnten es an Geschwindigkeit einfach nicht mit Flugzeugen aufnehmen.
Tabea mietete ein Auto und sie brausten auf die Autobahn. Das Auto war schneller als Tabeas Klapperkiste und die weißhaarige Frau drückte mächtig auf die Tube.
Maja kam ihre Umgebung jetzt sehr vertraut vor. Die Verkehrszeichen sagten ihr etwas, die Städtenamen auf den Schildern wirkten bekannt. Und dann, als es gerade wieder dunkel zu werden begann, konnte sie in der Ferne ihre Heimatstadt sehen.
Es war leer auf den Straßen, sowohl auf dem Land, als auch in der Stadt. Erst wunderte Maja sich, doch dann sah sie hinter den erleuchteten Fenstern Familien vor ihren Tannenbäumen stehen.
„Es ist Heiligabend!“, stieß sie überrascht hervor. „Tabea! War das Absicht?“
„Es war Absicht, dich noch vor Weihnachten hier abzusetzen. Eigentlich wollte ich aber etwas früher hier sein.“
Tabea parkte zwei Straßen von Majas Haus entfernt. Sobald das Auto stand, packte Maja ihre Tasche und den Baum und stürzte nach draußen.
„Maja, warte“, rief Tabea.
Nur widerwillig blieb das Mädchen stehen. Sie wollte sich jetzt nicht mehr aufhalten lassen.
Tabea öffnete den Kofferraum und nahm eine schmale, schwarze Kiste heraus. „Gib mir den Baum“, sagte sie, „der wird nur stören. Hör zu“, fügte sie dann hinzu. „Als Kamiraen darfst du wem du willst von der Welt ohne Namen erzählen. Aber du musst sicher gehen, dass sie es nicht weiter verraten. Wenn du es deinen Eltern erzählen willst, rate ich dir, es nicht heute Abend zu tun.“
„Will ich nicht“, sagte Maja.
„Dann rate ich dir, einfach zu schweigen. Versuch bloß nicht, dir irgendeine Lügengeschichte auszudenken. Wie sollte die aussehen? Lass uns gehen.“
Maja ging bestimmt zehn Schritte vor Tabea, bis sie in ihre Straße einbog. Urplötzlich blieb sie stehen, mit einem mulmigen Gefühl in der Brust. Mit sehnsüchtigen Augen starrte sie auf das Haus. Auf ihr Zuhause. Sie fühlte sich plötzlich ein halbes Jahr jünger, als wäre ihre Reise in die Welt ohne Namen nie passiert.
„Komm weiter“, drängte Tabea.
Seelenruhig ging sie auf das Haus zu, versteckte den Baum und den schwarzen Koffer in einem Busch, stieg die zwei Stufen zur Tür hinauf und klingelte. Maja schluckte. Tabea zog sie vor die Tür, sodass sie noch vor der weißhaarigen Frau stand.
Im Flur ging das Licht an und ein Schatten kam auf die Tür zu. Es klackte, als von innen die Klinke herunter gedrückt wurde. Tabea trat einen Schritt zurück. Dann ging die Tür auf und Licht fiel auf Maja. Sie blinzelte gegen das Licht und erkannte die Gestalt ihrer Mutter. Maja schaffte noch ein schnelles Lächeln, dann hörte sie einen kurzen, schluchzenden Aufschrei und wurde in einer Umarmung erstickt.
„Maaja“, schluchzte ihre Mutter. „Maja.“
Auch Maja kamen die Tränen. Erst langsam und dann heulte sie hemmungslos in den Armen ihrer Mutter. Dahinter hörte sie Käses Stimme: „Papa! Maja ist wieder da.“ Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie ihren Vater aus dem Wohnzimmer sprinten. Einen Moment blieb er überrascht stehen, dann stürzte auch er sich in die Umarmung. Käse aber lief an Maja vorbei und starrte in den Vorgarten. Maja schaffte es, den Kopf ein wenig zu drehen und hinter sich zu schauen. Tabea stand an der Straße und lächelte Käse zu. Dann trafen sich ihr und Majas Blick. Maja lächelte und blinzelte. Als sie die Augen wieder öffnete, verdeckte ihr ein großer Arm die Sicht.
Ihre Eltern taten sich schwer, sie loszulassen. Immer wenn sie ihre Umarmung gelockert hatten und sie ansahen, schluchzten sie auf und umarmten sie noch einmal.
„Wir sind so froh, dass du wieder da bist“, sagte ihre Mutter.
„Ich auch“, krähte Käse dazwischen, der ganz aufgeregt durch den Raum sprang.
Majas Vater war es schließlich, der die Frage stellte, vor der Maja sich gefürchtet hatte: „Wo warst du nur?“, fragte er.
„Können wir ein anderes Mal darüber reden?“, fragte Maja, „ich will jetzt nicht darüber nachdenken.“
Und ihre Mutter schloss sie gleich wieder schluchzend in die Arme.
Sie zogen Maja ins Wohnzimmer, wo ein kleiner Weihnachtsbaum in der Ecke stand und ein Adventskranz auf dem Tisch. Der Weihnachtsbaum war karger und schmuckloser als die Jahre zuvor. Maja wurde auf das Sofa gezogen und bekam von ihrem Vater eine Tasse Tee vorgesetzt. Ihre Mutter schien sie gar nicht mehr loslassen zu wollen.
„Jetzt lass doch mal gut sein“, grummelte ihr Vater.
Dann fragten sie doch wieder, wo Maja gewesen war.
„Mama, Papa, bitte“, sagte Maja. „Es ist eine lange Geschichte und ich will sie wirklich nicht heute Abend erzählen. Ich weiß, ihr habt euch große Sorgen gemacht, aber mir geht es gut und ich wollte euch wirklich nicht verletzen. Ich habe alles getan, um hierher zurückzukehren. Und jetzt bin ich einfach nur überglücklich, wieder zu Hause zu sein. Und ich will einfach nur mit euch zusammen Weihnachten feiern.“
Es vergingen zwei Stunden, bis Maja sich endlich loseisen konnte, nachdem sie ihrer Mutter hoch und heilig versprochen hatte, dass sie nicht wieder verschwinden würde. Sie sagte, sie wolle sich etwas anderes anziehen und hatte Mühe, ihre Familie davon abzuhalten, mitzukommen. Sie brauchte einfach einen Moment für sich, um den Kopf freizubekommen.
Sie nahm ihre Tasche, die sie einfach bloß in einer Ecke stehen gelassen hatte und ging die Treppe hinauf. Als sie ihre Zimmertür aufstieß, stellte sie fest, dass es noch genauso aussah, wie sie es verlassen hatte. Mit einer Ausnahme: Auf dem Tisch stand der Baum von Feodor und daneben lehnte Tabea.
„Alles klar mit dir?“, fragte sie.
Maja nickte und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie Tabea in ihr Zimmer gekommen war. Das Fenster war offen, aber warum? Und Tabea war doch wohl kaum in den ersten Stock gesprungen. „Aber ich muss gleich wieder runter“, sagte sie, während sie eine Jogginghose und ihren bequemsten Pullover aus dem Schrank zog.
„Ich wollte mich nur verabschieden“, sagte Tabea. „Und dir noch zwei Dinge geben.“ Sie zog ein kleines Messer in einer ledernen Scheide aus ihrer Jackentasche. Maja starrte es verdattert an und erkannte es als Karims Erbstück – das Messer, das er Tabea verkauft hatte.
„Was soll ich mit einem Messer?“, fragte sie.
„Darauf aufpassen“, sagte Tabea. „Dreizehn will dieses Messer haben und bei dir wird er es ganz bestimmt nicht suchen. Versteck es irgendwo im Haus, wo niemand es findet und sorg dafür, dass es nicht verloren geht.“
„Warum sollte ich das tun?“, fragte Maja misstrauisch. „Ich will keinen Ärger mehr haben.“
„Niemand weiß, dass du es hast. Niemand würde auch nur auf die Idee kommen, dass du es hast.“
Maja seufzte. „Na gut.“ Sie nahm das Messer, zog den Lattenrost ihres Bettes nach oben und warf es in den Stauraum darunter. „Sicher genug?“
„Meinetwegen. Und ich soll dir von Tamor das hier geben.“ Tabea stellte die schmale Kiste auf den Tisch und legte einen kleinen Schlüssel darauf. „Es ist sein Abschiedsgeschenk. Du darfst es behalten.“
Neugierig nahm Maja den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Mit einem leisen Klicken ging der Koffer auf und der Deckel schwang nach oben. Darin lag auf einem schwarzen Tuch das Schwert aus Taroq.
„Gibt's nicht!“, keuchte Maja und ließ den Deckel wieder zu fallen. Mit offenem Mund starrte sie Tabea an.
„Es ist ein Geschenk“, sagte sie. „Tamor meinte offenbar, dass du damit sicherer seist. Und ich schließe mich dem an. Du hast gelernt damit umzugehen, also ...“
„Ich kann kein Schwert in meinem Zimmer aufbewahren“, sagte Maja. „Wenn das jemand findet …“
„Du weißt, wie du es notfalls verstecken kannst, oder?“
Maja griff nach ihrem Amulett. Dem Zeichen von Pheris.
Tabea nickte.
„Du solltest wieder runter gehen, bevor deine Eltern entschließen, nach dir zu sehen“, sagte Tabea.
„Oh, stimmt.“ Maja schloss das Behältnis ab und warf es ebenfalls in den Bettkasten.
„Eine Frage noch“, sagte Tabea und plötzlich klang ihre Stimme so anders als zuvor, leise und rau. Ihre Augen glitzerten seltsam.
„Was?“, fragte Maja ein wenig verwirrt.
Tabea nahm einen kleinen Bilderrahmen vom Nachttisch.
„Was ist das?“, fragte Maja.
„Ein Foto deines Onkels“, sagte Tabea und erst in diesem Moment fiel Maja ein, dass sie das Foto selbst dort hingestellt hatte. „Warum hast du es hier?“, fragte Tabea. „Du kanntest deinen Onkel doch nicht einmal.“
„Ich weiß es nicht mehr“, sagte Maja. „Du hast mir gesagt, das Amulett kommt von ihm und da wollte ich einfach mehr über ihn herausfinden. Das Bild habe ich auf dem Dachboden gefunden.“
„Darf ich es haben?“, fragte Tabea.
„Ähm“, sagte Maja, zu überrascht von der Frage, um einen klaren Gedanken zu fassen. Sie sah Tabea unsicher an und noch nie hatte diese so alt ausgesehen. Maja holte Luft und fasste sich wieder. „Klar“, sagte sie. „Warum nicht?“
„Danke“, sagte Tabea. „Er hat mir wirklich sehr viel bedeutet, dein Onkel, weißt du. Er war ein großer Mann.“
„Nimm es einfach mit“, sagte Maja und zog sich den Pullover über den Kopf. Sie dachte an ein Foto, das sie in Tabeas Zimmer in Miriam gesehen hatte. Ein Foto von Tabea und einem Mann – einem Mann mit nur einem Arm. Und sie fragte sich, was diese beiden verbunden hatte.
„Viel Glück, Maja Sonnfeld“, sagte Tabea leise.
Als Maja den Kopf durch den Kragen ihres Pullovers stieß, sah sie gerade noch, wie die weißhaarige Frau auf die Fensterbank sprang, sich in eine wunderschöne Schleiereule verwandelte und in die Nacht davonflog.