Beiträge von Dinteyra im Thema „Eine Welt ohne Namen - Im Bann von 2 Welten“

    Jetzt sitze ich hier und bin selber traurig, weil ich gerne weiter schreiben würde. Aber dann komme ich in der anderen Geschichte ja nie zu etwas. Vielleicht, wenn ich damit fertig bin. Wenn ich hier noch einen Teil schreibe, sag ich euch auf jeden Fall bescheid.

    @Kyelia: Ja, sie haben natürlich die Polizei rufen, aber ich wollte hier nicht noch ein Fass aufmachen, indem ich das erwähne. Früher oder später wird man einige Antworten von Maja erwarten.
    Matthias ist zu kurz gekommen, das muss ich zugeben (meinte Fuchsi ja auch schon).

    Zuletzt möchte ich mich noch einmal bei allen Lesern bedanken und ganz besonders bei denen, die mir hin und wieder ihren Senf geschrieben haben. Es hat wirklich Spaß gemacht, für euch zu schreiben. :thumbsup:

    Damit gleich niemand verwirrt ist, dies hier ist der letzte Teil. Und er ist etwas länger, denn ich wollte euch nicht auf den letzten Metern mit einer Unterbrechung quälen. Für den leichten Kitsch entschuldige ich mich schon mal im Voraus.


    Heiligabend

    Um halb acht standen plötzlich Tabea und Jimo Kandrajimo im Raum. Letzterer sah müde aus; er hatte tiefe Ringe unter den Augen.
    „Hast du deine Sachen?“, fragte Tabea, während der Kamiraen Maja umarmte und diese zeigte auf ihre grüne Tasche.
    „Pass auf dich auf“, sagte Kandrajimo und gab ihr ein Blatt Papier. Eine Nummer stand darauf. „Sei immer vorsichtig, geh nicht alleine durch die Stadt und wenn dir irgendetwas verdächtig vorkommt, dann ruf Vladimir Theobald an. Das ist seine Nummer. Wenn dich irgendjemand angreift, lauf weg und versteck dich.“ Er betrachtete sie besorgt von Kopf bis Fuß. Schließlich seufzte er. „Ach, wird schon schief gehen.“
    „Dann los“, sagte Tamor und zog seine Drachenpfeife hervor.
    Maja war erleichtert zu erfahren, dass sie fliegen würden. Sie alle folgten Tamor in den Hof des Hauptquartiers, wo er in seine Pfeife blies. Minuten später tauchte Taramos auf, komplett gesattelt. Tabea stieg auf und half Maja hoch. Sie sicherten sich und Taramos schoss in den Nachthimmel.
    Maja wurde jetzt furchtbar aufgeregt. Endlich ging es nach Hause. Vielleicht würde sie in wenigen Stunden ankommen. Sie versuchte ihre Reisezeit aus Tabea herauszukitzeln, doch die meinte nur, es würde lange dauern.
    Schon der Flug auf Taramos kam Maja wie eine Ewigkeit vor, dabei wollte sie nichts lieber tun, als ihre Beine zu bewegen, zu rennen, zu springen ... Doch sie war auf dem Sattel festgeschnürt und so langweilte sie sich tierisch. Dann, endlich, sanken sie, rauschten auf die Bäume des Dark Forest zu. Direkt vor ihnen konnte Maja eine Lichtung erkennen, einen braungrünen Talkessel, in dessen Zentrum das Weltentor stand. Genauso groß wie das goldene Tor bestand dieses jedoch aus riesigen, grauen Steinen. Taramos landete auf dem Abhang, Maja und Tabea stiegen ab, streichelten ihm noch einmal über den Hals und schickten ihn fort. Dann eilten sie auf das Tor zu.
    Maja behielt die Augen auf, während sie hindurch schritt. Ein kalter Luftzug, die Sicht wurde kurz verschwommen, dann sah sie das Innere der riesigen Höhle und atmete zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit die Luft ihrer eigenen Welt. Sie war stickig und ein bisschen feucht, was daran liegen mochte, dass sie sich in einer Höhle tief unter der Erde befand. Auge in Auge mit einem riesigen Wolf.
    „Uhow“, sagte sie und machte einen Schritt rückwärts, sodass sie fast wieder in der Welt ohne Namen gelandet wäre.
    Tabea hielt sie fest. „Keine Sorge“, sagte sie. „Der tut nichts.“
    Maja glaubte, diese Worte schon einmal aus ihrem Mund gehört zu haben und zuckte mit den Schultern. „Und was ist mit denen?“ Mit 'denen' meinte sie vier kräftige Männer, die mit Lanzen und Messern bewaffnet waren und offenbar das Tor bewachten.
    „Die auch nicht“, sagte Tabea. „Hallo Thomas.“
    Einer der Männer winkte ihr zu und grinste. „Hallo Tabea.“
    Maja sah sich um. Außer dem Wolf und den vier Wachen befanden sich noch ein paar eilig die Höhle durchquerende Männer und Frauen hier, ein Schaf, ein paar Fledermäuse sowie ein vierjähriges Kind, das mit ausgestreckten Armen dem Schaf hinterher lief.


    Sie blieben nicht lange in der Höhle. Tabea sprach mit einigen wichtigen Leuten und dann liefen sie mit einer Fackel durch einen langen Tunnel ins Freie, wo die Sonne seltsamerweise hoch am Himmel stand.
    „Ich dachte es wäre nachts“, sagte Maja.
    „Zeitverschiebung“, war die Erklärung.
    Sie kämpften sich durch die hohe Wiese bis vor ihnen Tabeas rotes Auto auftauchte, eingequetscht zwischen einem blauen Lieferwagen und einem schwarzen Jeep. Sie stiegen ein und zockelten den Feldweg entlang, räumten zwischendurch den falschen Baum beiseite, der den Weg blockierte, und fuhren dann endlos nach Süden. Die Straße wurde breiter, dann bogen sie auf andere Straßen ab, vereinzelte Häuser tauchten auf und Maja schlief ein. Sie wachte spät am Abend auf, als sie durch eine kleine Stadt fuhren. Tabea parkte das Auto am Straßenrand und sie suchten eine Gaststätte auf, um etwas zu essen. Danach fuhren sie weiter.
    Mitten in der Nacht hielt Tabea auf einmal am Straßenrand an und meinte, sie müsse etwas schlafen. Sie stellte ihre Lehne nach hinten und machte die Augen zu. Maja war mittlerweile ausgeschlafen und starrte voller Aufregung in die Finsternis, während sie Tabeas gleichmäßigen Atemzügen lauschte. Nach ein paar Stunden fuhren sie weiter, dieses Mal über die Autobahn. Und dann, als es gerade hell wurde, fuhr Tabea in einer großen Stadt in das Parkhaus eines Flughafens.
    „Wir fliegen?“, fragte Maja erstaunt. „Aber ich habe überhaupt keine Papiere.“
    Tabea reichte ihr einen Ausweis, auf dem ein Bild von ihr zu sehen war, allerdings mit dem Namen Lili Teicher daneben. Auch das Geburtsdatum war falsch.
    „Na dann.“


    Ihr Flug hatte drei Stunden Verspätung und Maja langweilte sich wieder einmal zu Tode. Dann durften sie endlich ins Flugzeug steigen. Maja hatte einen Fensterplatz. Sie schaute fast den ganzen Flug über aus dem Fenster, betrachtete die Welt von oben, die Städte und Wälder und freute sich einfach nur, wieder hier zu sein. Ein warmes Gefühl erfasst ihr Herz und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
    Der Flug dauerte nicht so lange wie der auf Taramos und doch legten sie ein Vielfaches der Strecke zurück. Halbdrachen konnten es an Geschwindigkeit einfach nicht mit Flugzeugen aufnehmen.
    Tabea mietete ein Auto und sie brausten auf die Autobahn. Das Auto war schneller als Tabeas Klapperkiste und die weißhaarige Frau drückte mächtig auf die Tube.
    Maja kam ihre Umgebung jetzt sehr vertraut vor. Die Verkehrszeichen sagten ihr etwas, die Städtenamen auf den Schildern wirkten bekannt. Und dann, als es gerade wieder dunkel zu werden begann, konnte sie in der Ferne ihre Heimatstadt sehen.
    Es war leer auf den Straßen, sowohl auf dem Land, als auch in der Stadt. Erst wunderte Maja sich, doch dann sah sie hinter den erleuchteten Fenstern Familien vor ihren Tannenbäumen stehen.
    „Es ist Heiligabend!“, stieß sie überrascht hervor. „Tabea! War das Absicht?“
    „Es war Absicht, dich noch vor Weihnachten hier abzusetzen. Eigentlich wollte ich aber etwas früher hier sein.“
    Tabea parkte zwei Straßen von Majas Haus entfernt. Sobald das Auto stand, packte Maja ihre Tasche und den Baum und stürzte nach draußen.
    „Maja, warte“, rief Tabea.
    Nur widerwillig blieb das Mädchen stehen. Sie wollte sich jetzt nicht mehr aufhalten lassen.
    Tabea öffnete den Kofferraum und nahm eine schmale, schwarze Kiste heraus. „Gib mir den Baum“, sagte sie, „der wird nur stören. Hör zu“, fügte sie dann hinzu. „Als Kamiraen darfst du wem du willst von der Welt ohne Namen erzählen. Aber du musst sicher gehen, dass sie es nicht weiter verraten. Wenn du es deinen Eltern erzählen willst, rate ich dir, es nicht heute Abend zu tun.“
    „Will ich nicht“, sagte Maja.
    „Dann rate ich dir, einfach zu schweigen. Versuch bloß nicht, dir irgendeine Lügengeschichte auszudenken. Wie sollte die aussehen? Lass uns gehen.“
    Maja ging bestimmt zehn Schritte vor Tabea, bis sie in ihre Straße einbog. Urplötzlich blieb sie stehen, mit einem mulmigen Gefühl in der Brust. Mit sehnsüchtigen Augen starrte sie auf das Haus. Auf ihr Zuhause. Sie fühlte sich plötzlich ein halbes Jahr jünger, als wäre ihre Reise in die Welt ohne Namen nie passiert.
    „Komm weiter“, drängte Tabea.
    Seelenruhig ging sie auf das Haus zu, versteckte den Baum und den schwarzen Koffer in einem Busch, stieg die zwei Stufen zur Tür hinauf und klingelte. Maja schluckte. Tabea zog sie vor die Tür, sodass sie noch vor der weißhaarigen Frau stand.


    Im Flur ging das Licht an und ein Schatten kam auf die Tür zu. Es klackte, als von innen die Klinke herunter gedrückt wurde. Tabea trat einen Schritt zurück. Dann ging die Tür auf und Licht fiel auf Maja. Sie blinzelte gegen das Licht und erkannte die Gestalt ihrer Mutter. Maja schaffte noch ein schnelles Lächeln, dann hörte sie einen kurzen, schluchzenden Aufschrei und wurde in einer Umarmung erstickt.
    „Maaja“, schluchzte ihre Mutter. „Maja.“
    Auch Maja kamen die Tränen. Erst langsam und dann heulte sie hemmungslos in den Armen ihrer Mutter. Dahinter hörte sie Käses Stimme: „Papa! Maja ist wieder da.“ Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie ihren Vater aus dem Wohnzimmer sprinten. Einen Moment blieb er überrascht stehen, dann stürzte auch er sich in die Umarmung. Käse aber lief an Maja vorbei und starrte in den Vorgarten. Maja schaffte es, den Kopf ein wenig zu drehen und hinter sich zu schauen. Tabea stand an der Straße und lächelte Käse zu. Dann trafen sich ihr und Majas Blick. Maja lächelte und blinzelte. Als sie die Augen wieder öffnete, verdeckte ihr ein großer Arm die Sicht.
    Ihre Eltern taten sich schwer, sie loszulassen. Immer wenn sie ihre Umarmung gelockert hatten und sie ansahen, schluchzten sie auf und umarmten sie noch einmal.
    „Wir sind so froh, dass du wieder da bist“, sagte ihre Mutter.
    „Ich auch“, krähte Käse dazwischen, der ganz aufgeregt durch den Raum sprang.
    Majas Vater war es schließlich, der die Frage stellte, vor der Maja sich gefürchtet hatte: „Wo warst du nur?“, fragte er.
    „Können wir ein anderes Mal darüber reden?“, fragte Maja, „ich will jetzt nicht darüber nachdenken.“
    Und ihre Mutter schloss sie gleich wieder schluchzend in die Arme.
    Sie zogen Maja ins Wohnzimmer, wo ein kleiner Weihnachtsbaum in der Ecke stand und ein Adventskranz auf dem Tisch. Der Weihnachtsbaum war karger und schmuckloser als die Jahre zuvor. Maja wurde auf das Sofa gezogen und bekam von ihrem Vater eine Tasse Tee vorgesetzt. Ihre Mutter schien sie gar nicht mehr loslassen zu wollen.
    „Jetzt lass doch mal gut sein“, grummelte ihr Vater.
    Dann fragten sie doch wieder, wo Maja gewesen war.
    „Mama, Papa, bitte“, sagte Maja. „Es ist eine lange Geschichte und ich will sie wirklich nicht heute Abend erzählen. Ich weiß, ihr habt euch große Sorgen gemacht, aber mir geht es gut und ich wollte euch wirklich nicht verletzen. Ich habe alles getan, um hierher zurückzukehren. Und jetzt bin ich einfach nur überglücklich, wieder zu Hause zu sein. Und ich will einfach nur mit euch zusammen Weihnachten feiern.“


    Es vergingen zwei Stunden, bis Maja sich endlich loseisen konnte, nachdem sie ihrer Mutter hoch und heilig versprochen hatte, dass sie nicht wieder verschwinden würde. Sie sagte, sie wolle sich etwas anderes anziehen und hatte Mühe, ihre Familie davon abzuhalten, mitzukommen. Sie brauchte einfach einen Moment für sich, um den Kopf freizubekommen.
    Sie nahm ihre Tasche, die sie einfach bloß in einer Ecke stehen gelassen hatte und ging die Treppe hinauf. Als sie ihre Zimmertür aufstieß, stellte sie fest, dass es noch genauso aussah, wie sie es verlassen hatte. Mit einer Ausnahme: Auf dem Tisch stand der Baum von Feodor und daneben lehnte Tabea.
    „Alles klar mit dir?“, fragte sie.
    Maja nickte und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie Tabea in ihr Zimmer gekommen war. Das Fenster war offen, aber warum? Und Tabea war doch wohl kaum in den ersten Stock gesprungen. „Aber ich muss gleich wieder runter“, sagte sie, während sie eine Jogginghose und ihren bequemsten Pullover aus dem Schrank zog.
    „Ich wollte mich nur verabschieden“, sagte Tabea. „Und dir noch zwei Dinge geben.“ Sie zog ein kleines Messer in einer ledernen Scheide aus ihrer Jackentasche. Maja starrte es verdattert an und erkannte es als Karims Erbstück – das Messer, das er Tabea verkauft hatte.
    „Was soll ich mit einem Messer?“, fragte sie.
    „Darauf aufpassen“, sagte Tabea. „Dreizehn will dieses Messer haben und bei dir wird er es ganz bestimmt nicht suchen. Versteck es irgendwo im Haus, wo niemand es findet und sorg dafür, dass es nicht verloren geht.“
    „Warum sollte ich das tun?“, fragte Maja misstrauisch. „Ich will keinen Ärger mehr haben.“
    „Niemand weiß, dass du es hast. Niemand würde auch nur auf die Idee kommen, dass du es hast.“
    Maja seufzte. „Na gut.“ Sie nahm das Messer, zog den Lattenrost ihres Bettes nach oben und warf es in den Stauraum darunter. „Sicher genug?“
    „Meinetwegen. Und ich soll dir von Tamor das hier geben.“ Tabea stellte die schmale Kiste auf den Tisch und legte einen kleinen Schlüssel darauf. „Es ist sein Abschiedsgeschenk. Du darfst es behalten.“
    Neugierig nahm Maja den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Mit einem leisen Klicken ging der Koffer auf und der Deckel schwang nach oben. Darin lag auf einem schwarzen Tuch das Schwert aus Taroq.
    „Gibt's nicht!“, keuchte Maja und ließ den Deckel wieder zu fallen. Mit offenem Mund starrte sie Tabea an.
    „Es ist ein Geschenk“, sagte sie. „Tamor meinte offenbar, dass du damit sicherer seist. Und ich schließe mich dem an. Du hast gelernt damit umzugehen, also ...“
    „Ich kann kein Schwert in meinem Zimmer aufbewahren“, sagte Maja. „Wenn das jemand findet …“
    „Du weißt, wie du es notfalls verstecken kannst, oder?“
    Maja griff nach ihrem Amulett. Dem Zeichen von Pheris.
    Tabea nickte.
    „Du solltest wieder runter gehen, bevor deine Eltern entschließen, nach dir zu sehen“, sagte Tabea.
    „Oh, stimmt.“ Maja schloss das Behältnis ab und warf es ebenfalls in den Bettkasten.
    „Eine Frage noch“, sagte Tabea und plötzlich klang ihre Stimme so anders als zuvor, leise und rau. Ihre Augen glitzerten seltsam.
    „Was?“, fragte Maja ein wenig verwirrt.
    Tabea nahm einen kleinen Bilderrahmen vom Nachttisch.
    „Was ist das?“, fragte Maja.
    „Ein Foto deines Onkels“, sagte Tabea und erst in diesem Moment fiel Maja ein, dass sie das Foto selbst dort hingestellt hatte. „Warum hast du es hier?“, fragte Tabea. „Du kanntest deinen Onkel doch nicht einmal.“
    „Ich weiß es nicht mehr“, sagte Maja. „Du hast mir gesagt, das Amulett kommt von ihm und da wollte ich einfach mehr über ihn herausfinden. Das Bild habe ich auf dem Dachboden gefunden.“
    „Darf ich es haben?“, fragte Tabea.
    „Ähm“, sagte Maja, zu überrascht von der Frage, um einen klaren Gedanken zu fassen. Sie sah Tabea unsicher an und noch nie hatte diese so alt ausgesehen. Maja holte Luft und fasste sich wieder. „Klar“, sagte sie. „Warum nicht?“
    „Danke“, sagte Tabea. „Er hat mir wirklich sehr viel bedeutet, dein Onkel, weißt du. Er war ein großer Mann.“
    „Nimm es einfach mit“, sagte Maja und zog sich den Pullover über den Kopf. Sie dachte an ein Foto, das sie in Tabeas Zimmer in Miriam gesehen hatte. Ein Foto von Tabea und einem Mann – einem Mann mit nur einem Arm. Und sie fragte sich, was diese beiden verbunden hatte.
    „Viel Glück, Maja Sonnfeld“, sagte Tabea leise.
    Als Maja den Kopf durch den Kragen ihres Pullovers stieß, sah sie gerade noch, wie die weißhaarige Frau auf die Fensterbank sprang, sich in eine wunderschöne Schleiereule verwandelte und in die Nacht davonflog.

    Am besten bzw. verwirrensten fand ich, dass Jinna auf einmal mit diesem Erbstück kam, das sich als geheimes Portal entpuppte. Hätte sie das Maja nicht schon einmal früher geben können?

    Das hätte ihr ja auch nichts gebracht. Das Tor funktioniert, wie Jinna auch erklärt, nur in eine Richtung, nämlich von Majas Welt in die Welt ohne Namen. (Genau wie das Tor in der Eiswüste. Insgesamt sind nur fünf Tore in beide Richtungen nutzbar. Zwei davon sind den Kamiraen bekannt.)

    @Kyelia und @Kisa:
    Ich wäre selbst dafür, dass Maja bleibt und versucht, die Welt zu verbessern, aber da ist bis zu diesem Punkt auch einiges schief gelaufen und ich kann auch gut verstehen, dass sie es nicht will. Von daher gebe ich euch beiden vollkommen recht ^^


    Es war die Wahrheit. Maja besaß nicht viel, das sie mitnehmen wollte. Als sie ihre grüne Tasche auf den Kopf stellte, fiel ein Haufen Krempel heraus: Haarbänder, einzelne Socken, zerknülltes Papier, ein paar Federn, ein Tintenfass, einige kleine Bücher, zwei sorgfältig gefaltete Zettel und ein altes, bekritzeltes Taschentuch. Maja fischte die beiden Zettel, beschrieben von Matthias und Jillian heraus und steckte sie seufzend zurück in die Tasche. Das Taschentuch aber warf sie zusammen mit dem Papiermüll weg. Alles andere stapelte sie auf ihrem Tisch. Dann ging sie durch den Raum und sammelte ihr übriges Hab und Gut ein. Sie fand noch den Kompass, den Selran ihr gegeben hatte, und den Sattel von Tjepitjas, außerdem die Uhr, die sie von Ryan Morgenstern gestohlen hatte. Den Kompass und den Sattel steckte sie ein, an Tjepitjas und Selran wollte sie sich gerne erinnern, die Uhr aber ließ sie liegen. Dann legte sie die letzten beiden Nüsse von ihrem Adventskalender in die Tasche. Sie kam ihr überflüssig groß für ihre wenigen Sachen vor, bis ihr einfiel, dass sie noch ein bisschen Kleidung – wenigstens für die Fahrt – mitnehmen sollte. Sie suchte sich Sachen heraus, die einigermaßen zur anderen Welt passten, zog ein paar davon gleich an und als sie dann in den Spiegel schaute, sah sie schon beinahe die alte Maja darin – das Mädchen, dass damals auf der Flucht vor Einbrechern aus dem Fenster geklettert war. Allerdings nur beinahe. Sie war älter geworden und all die Sorgen und Ängste, die sie im vergangenen halben Jahr gequält hatten, waren nicht spurlos an ihr vorbeigezogen.
    Kurz nachdem sie fertig war, kam Tabea vorbei und half Maja, die Kleidung, die sie nicht mitnehmen würde, in Kisten zu packen. Außerdem nahm sie alles mit, was nicht dem Mädchen gehörte, zum Beispiel die Bücher aus der Bibliothek.
    „Vielleicht solltest du noch ein wenig schlafen“, schlug sie dann vor. „Wir haben eine lange Reise vor uns und außerdem müssen wir uns auf ein paar Stunden Zeitverschiebung einstellen.“
    Doch Maja hatte nicht vor zu schlafen. Sie wollte die Zeit nutzen, um sich von all denen zu verabschieden, die sie vermutlich nie wieder sehen würde.

    Sie besuchte zuerst Dorin, den Bücherwurm aus Jakarestadt.
    „Lange her, dass du dich bei mir hast blicken lassen“, grüßte er etwas mürrisch, doch dann freute er sich für sie, als sie erzählte sie dürfe endlich nach Hause. Er servierte ihr ein Stück Kuchen und ließ sich die Abenteuer der letzten Wochen erzählen, dann berichtete er Maja von seiner Arbeit in der Bibliothek und bestand schließlich darauf, ihr einen seiner Schätze zu schenken.
    „Als Andenken“, meinte er, „an mich und an diese Welt.“
    Aber Maja schüttelte den Kopf. „Deine Bücher sind viel zu wertvoll für mich“, sagte sie. „Und dir sind sie viel zu wichtig, du könntest mir doch nie eines davon geben. Du würdest es nie wieder sehen und du hast schon so viele davon der Bibliothek geschenkt.“
    „Nicht alle. Die richtig wertvollen sind leider drüben, aber ein paar von meinen Lieblingen habe ich behalten. Aber du hast recht, ein Buch ist wohl nicht das richtige Abschiedsgeschenk – Warte! Ich weiß, was ich dir geben kann. Ich hab mehrere davon und sie wird dich garantiert an diese Welt erinnern.“
    Er zog eine alte Kiste hinter dem Sofa hervor und kramte darin, bis er triumphierend ein zusammengefaltetes Blatt Papier herauszog. Feierlich überreichte er es Maja. Sie entfaltete es – es war eine Karte. Eine ziemlich grobe zwar, aber wenn sie es richtig erkannte, zeigte sie den gesamten bewohnten Teil der Welt ohne Namen.
    „Ich weiß nicht“, sagte sie. „Muss das sein? Ich will mich gar nicht so genau an diese Welt erinnern.“
    „Komm schon, Maja“, sagte Dorin. „Irgendetwas möchte ich dir mitgeben.“
    „Aber du brauchst sie doch bestimmt.“
    „Ich habe größere und genauere Karten und davon eine ganze Menge. Diese hier wollten sie nicht einmal in der Bibliothek haben, weil es so viel detailreichere Exemplare gibt. Aber falls du mal wissen möchtest, ob Tamurin im Norden oder im Süden von Raktahahe liegt, kann dir diese Karte bestimmt weiterhelfen. Außerdem sieht sie ganz dekorativ aus, oder? Rahm sie ein und häng sie an die Wand, dann kannst du immer, wenn du sie siehst, an uns denken.“
    Maja steckte die Karte seufzend ein, auch wenn sie sie bestimmt nicht aufhängen würde. Dann verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg zu Alma.
    Karim und Jinna waren nicht da, aber Alma schloss sie zum Abschied fest in die Arme und dankte ihr für alles. Dann wollte sie Maja ebenfalls ein Stück Kuchen servieren, was diese dankend ablehnte. Sie blieb eine Weile, dann ging sie mit dem Gefühl, dass diese Umarmung ihr mehr wert war als Dorins Karte.
    Jetzt wäre sie gerne zu Meister Wolf und Feodor gegangen, aber sie wusste irgendwie nicht genau, wo die beiden wohnten. In einem Hotel – aber davon gab es viele in der Stadt. Also machte sie sich auf den Weg zu Tamor. Und traf dort zu ihrer großen Überraschung auf Meister Wolf, Feodor, Karim und Jinna.
    Insofern fand die Abschiedsparty also dennoch statt, wenn auch nur in sehr kleinem Rahmen und mit betrübter Stimmung. Sie tranken Tee, zündeten eine Kerze für Sahara an und knabberten ein paar Kekse, die Tamor wieder einmal aus dem Nichts herbeizuzaubern schien.
    Irgendwann fragte Feodor Maja, ob er sie alleine sprechen könne und sie gingen nach draußen auf den Flur.
    „Sie ist heute morgen aufgebrochen“, sagte er und Maja wusste, dass er von Sahara sprach. „Und sie hat gesagt, du hast ihr etwas geschenkt, mit dem sie ihre Schwester vielleicht finden kann. Ich frage mich, was das wohl war.“
    Maja antwortete nicht.
    Er sah sie neugierig an, drängte aber nicht weiter nach. „Ich möchte dir auch etwas schenken. Wenn man eine gute Freundin zum letzten Mal sieht, dann möchte man ihr etwas mitgeben. Ich habe ehrlich gesagt nicht lange nachdenken müssen dafür. Du kennst ja die Tradition, sich zur Wintersonnenwende Bäume zu schenken, oder?“ Und mit diesen Worten zog er einen weißen Blumentopf hervor, in dem ein kleines Bäumchen wuchs, etwa so groß wie eine kleine Zimmerpflanze. Es war völlig kahl.“
    „Ich habe Tabea gefragt, ob du ihn überhaupt mitnehmen darfst. Es ist zwar eigentlich verboten, fremde Arten durch die Tore zu tragen, aber er wird nie Samen tragen, also hat sie eine Ausnahme gemacht.“
    „Aha“, sagte Maja und nahm den Topf entgegen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
    „Wenn du willst, dass er größer wird, pflanz ihn in einen größeren Topf, aber du solltest ihn nicht nach draußen in die Erde pflanzen. Dann wird er richtig groß und er könnte ein bisschen auffallen. Gefällt er dir?“
    Maja betrachtete den Baum. Er sah ein wenig seltsam aus: nicht wie ein junger Baum, sondern eher als hätte jemand einen ausgewachsenen Baum geschrumpft. „Was ist das für eine Art?“, fragte sie.
    „Elzara“, sagte Feodor. „Aber du wirst niemals einen Elzara finden, der aussieht, wie dieser. Ich habe ihn ein bisschen verzaubert.“
    „Aha“, sagte Maja wieder. Sie fand das Geschenk sehr merkwürdig, aber es gefiel ihr. „Wenn Tabea damit einverstanden ist, kann ich ihn wohl mitnehmen“, sagte sie. „Danke.“
    In dem Moment ging Tamors Tür auf und Karim und Jinna kamen heraus.
    „Ich wusste, er schenkt dir etwas“, sagte Karim triumphierend. „Wir haben auch etwas für dich.“ Er kam näher und drückte Maja einen runden Stein in die Hand. Als Maja sie ein wenig öffnete, stellte sie fest, dass der Stein hell wie der Tag strahlte. „Das ist der Stein, den wir damals gefunden haben, als wir mit dir und Tabea unterwegs waren. Den wir benutzt haben, um in Dreizehns Kerker Licht zu haben. Wir dachten, er ist dir eine gute Erinnerung an uns. Und wenn du mal keine Kerze hast, kann er sehr praktisch sein.“
    „Oder keine Taschenlampe.“ Maja grinste bei dem Gedanken, bald endlich wieder auf bequeme Technik zurückgreifen zu können. „Danke“, sagte sie und schloss die Hände um den Stein. Dass die beiden ihn abgeben wollten überraschte sie, bisher hatten sie ihn nicht aus der Hand gegeben. „Ich wünschte, ich hätte irgendetwas für euch“, sagte sie.
    „Du brauchst uns nichts schenken“, sagte Karim.
    „Darf ich den Stein mal sehen?“, fragte Feodor.
    Maja hielt ihn ihm hin und er betrachtete ihn einen Moment neugierig, dann zuckte er mit den Schultern. „Nichts besonderes, davon könnte ich dir hunderte machen.“
    „Ja, danke auch, aber ich will diesen“, sagte Maja und scheuchte ihn ein paar Meter weg. Dann umarmte sie Karim und Jinna.
    „Lass uns wieder rein gehen“, sagte Karim, packte Feodor munter am Arm und zog ihn zurück in Tamors Zimmer. Maja wollte hinterher, doch Jinna hielt sie am Arm zurück.
    „Der Stein war von Karim, ich möchte dir etwas anderes geben“, flüsterte sie und drückte ihr eine Kette in die Hand. Maja blickte hinab und sah einen grünen Steinring und ein winziges, goldenes Blatt.
    „Nein“, sagte sie. „Jinna, das ist dein Erbstück. Ich weiß noch, wie Alma es dir gegeben hat.“
    „Und ich kann damit nichts anfangen“, zischte sie, „du aber schon. Das ist ein Weltentor – das dritte Tor. Das Einzige, das nicht riesig groß ist, aber es funktioniert nur in eine Richtung: von deiner Welt in meine. Vier Wörter öffnen es: Sundaterais elthe ekyaku Amaouén. Ich habe sie dir aufgeschrieben.“ Und sie gab Maja einen kleinen, schmalen Zettel. „Wenn du aus irgendeinem Grund wieder in diese Welt musst, dann kannst du es benutzen.“
    „Nein“, sagte Maja. „Jinna, ich werde es nicht benutzen, nimm es zurück.“
    Jinna schüttelte den Kopf. „Ich werde es bestimmt nicht brauchen, du aber vielleicht. Sag niemandem, dass du es hast und sorg dafür, dass es sicher aufgehoben ist. Meine Familie bewahrt dieses Tor seit langer Zeit auf und hält es geheim. Du solltest dasselbe tun.“
    Und sie stolperte rückwärts durch Tamors Tür. Maja blieb auf dem Flur zurück und starrte auf die Kette in ihren Händen. Sie hatte keinen Grund, an Jinnas Worten zu zweifeln. Das hier war ein Weltentor. Warum es ausgerechnet in Jinnas Besitz war, das konnte sie nicht sagen. Und warum Jinna wollte, dass sie es bekam, verstand sie auch nicht. Verärgert steckte sie das Tor in die Hosentasche, den Zettel dazu. Am liebsten wäre sie in Tamors Zimmer gestürzt und hätte Jinna beides vor die Füße geworfen, aber dafür mochte sie ihre Freundin viel zu sehr.

    @Alopex Lagopus, das ist eigentlich ein guter Gedanke von dir. Es würde schon Sinn machen, wenn Matthias im Verlauf des Buches das Gespräch mit Maja sucht. Vielleicht baue ich das noch irgendwo ein, ich muss nur schauen, wo es passt.
    Immer sauer war er jetzt nicht, das waren nur die letzten Begegnungen, aber schon sehr verschlossen. Bei den vielen anderen Charakteren ist er auch ein wenig untergegangen, in diesem Teil hat er einfach keine große Rolle gespielt. Ich wollte ihn aber zum Abschluss auf jeden Fall noch mal reinbringen.

    Hoffentlich findet Sahara ihre Schwester. Das werden wir ja wohl leider nie erfahren.

    Ich würde es dir ja sagen, aber über dieses Detail habe ich mir dann doch noch keine Gedanken gemacht. ^^ Prinzipiell wäre es schön, wenn sie ihre Schwester wieder findet, aber dann müsste ich mir auch überlegen, wie.




    Abschiedsgeschenke

    Maja träumte zu Hause zu sein und wachte erst auf, als es laut und vernehmlich an ihre Tür klopfte. Verwirrt befreite sie sich aus ihren Decken und schlurfte durch das Zimmer. Sie zog die Tür auf und erkannte Feodor.
    „Morgen“, sagte er.
    „Hi.“ Sie gähnte ungeniert.
    „Da die Abschiedsparty ausfällt, dachte ich, dass wir vielleicht zusammen frühstücken könnten.“
    Maja wollte nichts lieber tun und so betraten sie zehn Minuten später gemeinsam den Speisesaal. Der Zauberlehrling führte sie in eine der privaten Ecken, wo Karim, Jinna und sogar Matthias saßen und auf sie warteten.
    „Stimmt es?“, fragte Karim sofort, als sie näher kamen. „Du darfst nach Hause?“
    Maja nickte und Karim und Jinna begannen breit zu lächeln. „Das freut uns für dich“, sagte Jinna. Karim drehte sich zu Matthias um, der Maja wütend anstarrte.
    „Du könntest dich auch ein bisschen für sie freuen“, sagte er. „Sie hat es verdient.“
    Matthias sah weder Maja noch Karim noch sonst jemanden an, sondern starrte missmutig auf seine Tasse. Doch Maja reichte es jetzt. Wütend schlug sie mit der Faust auf den Tisch.
    „Kannst du mir vielleicht mal verraten, was mit dir los ist?“
    „Was soll mit mir los sein?“, fragte Matthias.
    „Du bist schlecht gelaunt und das schon seit Ewigkeiten. Dazu noch deine ewige Geheimniskrämerei und das alles. Merkst du nicht, dass wir uns Sorgen um dich machen? Und was ist eigentlich dein Problem mit mir?“
    Matthias sprang auf die Füße und seine Augen blitzten zornig. „Was mein Problem mit dir ist?“, rief er so laut, dass sich im ganzen Saal Köpfe zu ihnen umwandten. „Du bist die egoistischste Person, der ich je begegnet bin. Du redest die ganze Zeit nur davon, dass du unbedingt nach Hause willst und denkst gar nicht an die anderen Menschen hier. Du bist eine Kamiraen. Du hast eine Gabe, aber davon willst du nichts wissen. Wenn du wolltest, könntest du die Welt verändern, stattdessen bist du dauernd nur mit deinen eigenen Sorgen beschäftigt! Hast du alles vergessen, was wir auf unserer Reise erlebt haben? Die Grünen Ritter, die sich hier überall herumtummeln? Die Genêpas, die ihre eigenen Kinder zu Dreizehn schicken, damit sie in seine Armee eintreten? Die Gefangenen, die er in seiner Burg hält, die Leute die er im Taumelberg arbeiten lässt? Bist du blind für all das Leid, dass in dieser Welt geschieht? Aber du willst nur nach Hause! Dich interessiert das ja alles gar nicht. Siehst du nicht, dass er einen Krieg anfangen wird? Wir haben es doch gesehen, in Andraya. Das Land ist eine Festung, er baut sich dort eine Armee auf und über den Schwarzen Weg kann diese in wenigen Wochen – vielleicht nur Tagen – jeden Ort auf dieser Welt erreichen.“
    „Und was habe ICH damit zu tun?“, brüllte Maja zurück. „Es tut mir ja Leid, dass er das macht, aber ich kann es nicht ändern.“
    „Du bist eine Kamiraen“, sagte Matthias.
    „NA UND? Falls du es nicht mitgekriegt hast, Dreizehns Leute haben in den letzten Monaten ei... zwei davon getötet. Glaubst du wirklich, ICH könnte irgendetwas verändern.“
    „Du könntest es wenigstens versuchen.“
    „Weißt du was?“, zischte Maja und beugte sich zu ihm vor, bis ihr Gesicht vor seinem schwebte. „Versuch du es doch, wenn du willst, dass jemand etwas tut. Du warst es schließlich auch, der Alma gerettet hat, oder? Du hast Dreizehn ins Auge geblickt.“
    „Ins Auge geblickt?“, sagte Matthias tonlos. „So nennst du das? Ich bin ihm einfach hinterhergegangen und dann hat mir diese schräge Frau ein Glas Wasser serviert.“
    „Oh, dann weißt du ja, was du tun kannst. Lad ihn doch zum Abendessen ein, dann kannst du ihm sagen, er soll damit aufhören, seine Armee zu bauen und Leute zu entführen! Und wenn er nicht hören will, erstichst du ihn einfach mit einer Gabel.“
    „Damit du wieder den ganzen Ruhm erntest?“, fragte er.
    „Ach, das ist also dein Problem? Glaub mir, ich habe nicht darum gebeten, dass die mir das alles zuschreiben. Und ich bilde mir auch nichts darauf ein. Aber ich weiß nicht, was du zu klagen hast. Solange du nicht weiter bekannt bist, hast du auch keine Feinde, die dich umbringen wollen. Wenigstens kannst du dein ganz normales Leben weiter führen.“
    „Im Gegensatz zu dir pfeife ich auf mein ganz normales Leben. Ich werde die Leute, die unter Dreizehn leiden, sicher nicht vergessen. Ich werde …“ Er verstummte und senkte trotzig die Augenbrauen. „Leb wohl, Maja Sonnfeld“, sagte er dann. „Ich glaube nicht, dass wir uns noch einmal wiedersehen werden.“ Und mit diesen Worten packte er sein Tablett und ging davon. Maja, Karim, Jinna und Feodor sahen ihm betroffen hinterher.
    „Hör nicht auf ihn“, sagte Feodor. „Er ist zwölf.“
    „Für einen zwölfjährigen hat er ganz schön seltsame Gedanken“, grummelte Maja.
    „Allerdings“, sagte Karim.
    Feodor seufzte. „Ich habe schon gesagt, dass ich mir Sorgen um ihn mache?“, fragte er und als er aufsah, hatte er eine tiefe Falte auf der Stirn.
    Die anderen nickten.
    „Was soll er schon machen“, murmelte Karim. „Dreizehn zum Duell herausfordern?“
    „Irgendetwas Dummes wird er anstellen.“
    „Nicht solange du und Meister Wolf in seiner Nähe sind.“
    „Lasst uns über was anderes sprechen“, bat Maja. Der Streit mit Matthias hatte ihr gründlich die Stimmung verdorben.
    Es war ein angenehmes Frühstück, aber der Gedanke, dass dies der letzte Tag war, den sie zusammen mit ihren Freunden verbringen würde, machte sie ein kleines bisschen traurig. Hinzu kam, dass in ihr leise Zweifel aufkamen, ob sie tatsächlich nach Hause käme. Was, wenn die Kamiraen es sich doch noch anders überlegten? Doch dann kam Tabea an ihren Tisch und räumte ihre Zweifel zunächst einmal beiseite.
    „Wir werden heute Abend um acht aufbrechen“, sagte sie.
    „Warum so spät?“, fragte Maja.
    „Weil es am besten passt“, sagte Tabea. „Also sorg dafür, dass du bis dahin alles gepackt hast.“
    „Ich nehm nicht viel mit.“

    Nachts auf dem Friedhof


    Maja versteckte sich an diesem Abend sicherheitshalber vor allen Leuten, die ihr möglicherweise ansehen konnten, dass sie nicht mehr um Sahara trauerte. Sie hatte unangemessen gute Laune, die sich stündlich steigerte und wollte es niemanden sehen lassen, denn der oder die hätte sie als äußerst taktlos empfunden.
    Sie schmuggelte ihr Abendessen auf ihr Zimmer, aß sich richtig satt und setzte sich dann wieder auf ihren alten Platz an der Fensterbank, um nach draußen zu sehen. Unter ihr war der Hof, dahinter weitere Gebäude des Hauptquartiers und noch weiter hinten konnte Maja weitere der jetzt dunkelgrauen Dächer der Häuser Miriams sehen. Sie konnte die hohe, weiße Mauer erkennen und die dunklen Wipfel des Waldes. Ob sie diese Welt vermissen würde?
    Es war das erste Mal, dass ihr dieser Gedanke kam und sie brauchte lange, um eine Antwort zu finden. Nein, dachte sie schließlich, vermissen werde ich sie nicht. Vielleicht würde sie sich an ein paar Dinge gerne erinnern. An den Wald, die Tage bei Meister Wolf und an ihre Freunde. Diese würde sie sicher vermissen. Wenn sie wenigstens wüsste, dass sie ihnen ab und an würde schreiben können ...
    Sie stand auf, ließ sich aufs Bett fallen und dachte mit geschlossenen Augen an ihr Zuhause. Endlich würde sie es wieder sehen. Ihre Eltern würden sie in die Arme schließen ... Maja malte es sich in den buntesten Farben aus.
    Dann öffnete sie abrupt die Augen. Sie dachte an Sahara. Das Mädchen hatte keine Eltern mehr, nur eine kleine Schwester und die war verschollen. Ob sie jetzt wohl an sie dachte? Überlegte, wie sie sie finden konnte? Sie war frei sie zu suchen, aber wie hoch standen die Chancen, dass sie Erfolg hatte? Wo sie jetzt wohl war?
    Plötzlich richtete Maja sich auf und schaute aus dem Fenster auf die Uhr am gegenüberliegenden Gebäude. Mitternacht. Sie wusste, wo Sahara war, denn sie wusste, wo sie selbst jetzt sein würde, wenn sie sich in ihrer Situation befände. Und sie wusste, was Sahara brauchte um ihre Schwester zu finden. Maja sprang auf und packte ihre grüne Umhängetasche – die Tasche, die ihr immer noch als Aufbewahrungsort für ihre wichtigsten Gegenstände diente. Dann schnappte sie sich den schwarzen Umhang, mit dem sie damals durch Andraya geirrt war, aus dem Schrank und rannte aus dem Zimmer.
    Maja beeilte sich, denn auch wenn sie glaubte zu wissen, wo Sahara war, wusste sie nicht, wie lange sie dort verweilen würde. Sie stürmte die Treppen des Gebäudes hinunter, bis sie auf den Hof mit dem Krankenhaus kam. Dort verlangsamte sie ihre Schritte um nicht aufzufallen und warf sich den Umhang über. Die Kapuze zog sie tief ins Gesicht. So eingehüllt trat sie durch das schmiedeeiserne Tor auf den Friedhof. Ein leichter Nebel waberte um die Grabsteine und die Büsche, deren Äste kahl und skelettartig aussahen. Es war eine unheimliche Szenerie, doch Maja fürchtete sich nicht. Auf Friedhöfen hatte sie sich noch nie gefürchtet, sie fand sie eher schön als erschreckend. Langsam wanderte sie zwischen den Gräbern hindurch. Die dunkle Gestalt, die vor Saharas Grab stand, entdeckte sie schon von weitem. Sie ging näher heran und stellte sich neben sie – zwei in Kapuzenumhänge gehüllte, etwa gleich große Schatten. Das Grab war übersäht von roten Laternen, die die Schrift auf dem Stein geisterhaft glühen ließen.

    SAHARA

    * 13.01.3790 † 18.12.3803

    Darunter war das Wappen der Kamiraen eingraviert.
    „Es muss seltsam sein, vor seinem eigenen Grabstein zu stehen“, sagte Maja.
    Sahara sah sie an. Die Grablichter spiegelten sich in ihren Augen. „Ich musste einfach herkommen.“
    „Ich weiß“, sagte Maja.
    „Heute ist Wintersonnenwende“, sagte Sahara. „Das hier hätte eigentlich ein Feiertag sein sollen.“
    „Ja, ich habe gehört, dass man sich an diesem Tag Bäume schenkt.“
    „Bäume?“ Sahara lachte. „Mag sein, dass man das hier tut. Da, wo ich herkomme, gibt es nicht besonders viele Bäume. Wir schenken uns andere Dinge. Was ich sagen wollte: das hier sollte ein freudiger Tag sein. Stattdessen waren alle auf meiner Beerdigung. Auf meiner falschen Beerdigung. Sie haben geweint.“
    „Na und?“, sagte Maja. „Ich habe auch darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass sie es verdient haben. Die Kamiraen meine ich. Sie hätten uns gehen lassen sollen. Jetzt kannst du nach deiner Schwester suchen.“
    „Ja“, sagte Sahara. „Tabea sagte, ich soll noch ein paar Tage warten, bis ich aufbreche, aber ich habe keine Lust zu warten. Im Morgengrauen bin ich weg.“
    „Kommst du alleine zurecht?“, fragte Maja.
    „Klar. Bin ich mein Leben lang. Mein einziges Problem ist, dass ich keine Ahnung habe, wo ich nach Kalahari suchen soll.“
    „Ich hätte da eine Idee“, sagte Maja. „Mach die Hand auf, ich habe ein Geschenk für dich.“
    Sahara sah verwirrt aus aber sie hielt Maja ihre Handfläche hin. „Bei uns feiert man Weihnachten. In drei Tagen erst, aber naja ...“ Sie kramte in ihrer grünen Tasche. „Frohe Weihnachten oder Frohe Wintersonnenwende oder was immer du gerne hättest“, sagte sie und legte Sahara den Wasserstein in die Hand.
    „Was ist das?“, fragte das blonde Mädchen verwundert.
    „Ein Wasserstein. Ich habe versprochen, nie wieder einen zu benutzen, aber das gilt nicht für dich. Wirf ihn ins Wasser und es wird dir eine Frage beantworten. Es weiß alles. Frag es, wo deine Schwester ist. Aber erschrick nicht. Wenn du den Stein ins Wasser wirfst, taucht so ein großes, ungeheuerartiges Monstrum auf. Es tut aber nichts.“ Sahara sah sie an, als wäre sie verrückt geworden. „Wenn du mir nicht glaubst, frag Feodor.“
    Sahara schloss die Finger um den Stein. „Ich glaube dir“, sagte sie. „Danke.“
    Maja zögerte einen Moment, dann hielt sie Sahara auch noch den Feuerstein hin.
    „Du hast noch einen von denen?“, fragte Sahara überrascht.
    „Sei vorsichtig, wenn du den benutzt. Wirf ihn ins Feuer, wenn du in Gefahr gerätst, aber sag ihm genau, was du willst, okay?“
    Sahara nickte. „Es wird für mich kämpfen, oder?“
    „Das wird es. Aber gebrauche ihn klug, du hast nur einen einzigen.“
    „Das wird reichen, um Kalahari da raus zu holen, egal wo sie ist.“
    Maja hoffte, dass sie Recht behalten würde. Sahara steckte die beiden Steine ein, dann starrten sie schweigend auf den Grabstein.
    „Du hast mir wieder Hoffnung gegeben“, sagte Sahara schließlich. „Du bist schwer in Ordnung. Und du bist … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll … mächtig. Irgendwie.“
    „Mächtig?“ Maja kicherte.
    „Ja. Du strahlst eine Kraft aus, wie ich sie noch nie gesehen habe. Ich habe dich gegen Kandrajimo kämpfen sehen. Es war unheimlich, aber auch beeindrucken. Und außerdem: Wie lange warst du in dieser Welt? Ein halbes Jahr? Und die Leute erzählen sich schon Legenden über dich.“
    „Die Leute spinnen ja auch.“
    „Die Sache mit Kock. Ich gebe zu, wir haben wohl alle unseren Senf dazu getan aber trotzdem … und wie man hört ist Fürst Dreizehn um einiges gefährlicher und du warst trotzdem in seinem Schloss.“
    „Burg“, sagte Maja. „Das Ding hatte mit einem Schloss nichts zu tun. Es war unheimlich und kalt. Und ich habe Dreizehn nie gesehen; was das angeht musst du Matthias fragen.“
    Ein Vogel landete in ihrer Nähe im Baum. Maja betrachtete ihn, wie er von Ast zu Ast hüpfte. Er hatte grau-silbernes Gefieder und große Augen.
    „Du wärst eine gute Kamiraen geworden“, sagte Sahara. „Eine bessere als ich.“
    „Komisch“, sagte Maja, „vor ein paar Tagen habe ich dasselbe von dir gedacht.“
    „Ach ehrlich? Warum?“
    „Du verlierst nicht so schnell die Beherrschung wie ich. Wahrscheinlich bist du auch schlauer.“
    „Ganz bestimmt.“
    Maja knuffte sie.
    „Wir werden unseren eigenen Weg finden“, sagte sie nach einer Weile. „Ohne die Kamiraen.“

    Hoch Achtung davor, dass du so viel Kreativität besitzt dir das alles auszudenken inklusive der anderen Sprachen.

    Danke, wobei ich mir keine anderen Sprachen ausgedacht habe. Paratak besteht aus einer Liste von vielleicht vierzig Wörtern. Für die andere Sprache nehme ich einfach irgendwelche Wörter, aber die kommt selten vor.
    Ich habe großen Respekt vor Leuten, die es schaffen, sich eine ganze Sprache auszudenken, aber mit wem sollte ich sie dann sprechen? ^^

    Allerdings muss ich auch zugeben, dass dein aktuelles Projekt irgendwie vollkommen an mir vorbei gegangen ist, um ehrlich zu sein. Hoffentlich bist du mir da nicht böse, aber ich werde es nachholen

    Warum sollte ich dir böse sein? Es gibt hier keine Pflicht, meine Geschichten zu lesen. Aber jetzt ist noch ein guter Zeitpunkt um einzusteigen ;)

    Allerdings würde mich einmal interessieren, ob es noch einen Teil von Maja geben wird, oder ob du schon ein neues Projekt geplant hast ?

    Dann versuche ich mal, diese Frage zu beantworten. Das wird etwas länger dauern, also zunächst einmal die Kurzfassung:
    Ich hatte mehr Teile geplant, werde diesen Plan aber wohl nicht umsetzen. Ich behalte mir jedoch vor, irgendwann vielleicht doch noch den ein oder anderen Teil zu schreiben. Wenn das hier fertig ist, werde ich mich aber erst mal vollends auf meine aktuelle Geschichte konzentrieren, die übrigens auch hier im Forum zu finden ist. Nämlich hier.
    Beide gleichzeitig klappt leider nicht, zumindest nicht gleichzeitig mit meinen anderen Aufgaben.

    Diese andere Geschichte ist also der eine Grund, warum ich hier nicht weiterschreiben werde. Der andere ist, dass es eine Lebensaufgabe wäre. Als ich (in meiner schwungvollen Jugend) diese Geschichte geplant und tagelang in Gedanken versunken die Welt ohne Namen erschaffen habe, habe ich es ein bisschen übertrieben und sie zu umfangreich geplant.
    In meinem Übermut hatte ich mir tatsächlich vorgenommen (festhalten!) dreizehn Bücher zu schreiben. Deren Plot hatte ich sogar ausgearbeitet (von Kleinigkeiten abgesehen).
    Jetzt hat es mich aber schon über zehn Jahre gekostet, diese zwei Teile zu schreiben und zu überarbeiten (wenn ich richtig loslege, bin ich zwar schneller, aber wann lege ich schon mal richtig los?). Ich halte es also für recht unwahrscheinlich, dass ich den Rest meiner Pläne umsetzen kann, oder dass ich dabei alle Plotfäden behalte, oder dass das überhaupt jemand lesen will. Ich bin auch ein bisschen aus der Geschichte herausgewachsen.
    Ich habe also die Möglichkeit, das ganze zu kürzen und in weniger Bänden zum Abschluss zu bringen (was ich nur ungerne täte, denn irgendwie mag ich den geplanten Verlauf), oder ich behalte es, so wie es ist, in meinem Kopf und meinen Notizblättern. Vielleicht schreibe ich im Laufe meines Lebens noch ein oder zwei Bände (die aber kürzer werden sollen), wenn ich mal Zeit und Lust habe, denn dieses Ende gefällt mir noch nicht. (Maja ist hier einfach nicht die Person, die sie sein sollte. Ich möchte sie über sich hinauswachsen und Verantwortung übernehmen lassen.) Aber erst mal möchte ich mich anderen Projekten widmen (besseren).

    Und jetzt, falls es jemanden interessiert, die Titel der geplanten Reihe, auf die ich ehrlich gesagt mächtig stolz bin (dann seht ihr auch, dass das mit den dreizehn Teilen kein Scherz war :D):

    Spoiler anzeigen

    Die 1. Reise
    Im Bann von 2 Welten
    Das 3. Tor
    Die 4 Messer von Telaor
    Zu zweit gegen 5
    Der 6. Krieg
    Die magische 7
    Die 8 Prophezeiungen des Schwarzen Einhorns
    Die 9 Diener Ela-Olins
    Das Vermächtnis des 10. Königreichs
    Die 11 Berge von Kerin
    Das Geheimnis der 12
    13

    Tja. Was soll ich noch sagen? Jetzt wisst ihr bescheid :rofl: . (Änderungen vorbehalten)

    Ein Strauß Blumen für @Dinteyra weil sie momentan so mega fleißig an ihrer Geschichte schreibt und man mit dem lesen gar nicht mehr schnell genug hinterher kommt

    Ich weiß jetzt nicht, ob das gut oder schlecht ist. Ich versuche mal, mich etwas zurückzuhalten und langsamer zu posten. Das Ende ist jetzt allerdings schon geschrieben, daher wäre es bloß eine künstliche Verlängerung. Deshalb gibt es auch heute noch einen kleinen Teil. Wer nicht mitkommt, kann es ja später lesen. Aber bis zum Ende der Woche möchte ich fertig sein ^^

    Maja kann nach Hause, aber mich würde viel mehr interessieren, was Tabea damit bezweckt, dass muss noch einen tieferen Hintergrund haben.
    Ich bin jetzt mal sehr gespannt wie es weiter geht und vor allem wie sich Maja entscheiden wird, denn nun hat sie ja die freie Wahl zu gehen oder dazubleiben.... ich wüsste was ich machen würde, aber ob das dasselbe wäre wie Maja....

    Vielleicht reicht dir die Erklärung, die Tabea im nächsten Teil abgibt.
    Jetzt wüsste ich gerne, wie du dich entscheiden würdest. Bei Maja ist es ja relativ klar. Sie würde nicht so einen Aufstand machen und dann plötzlich sagen, dass sie doch bleibt. In dem Fall würde ich mir an Tabeas Stelle übrigens auch veralbert vorkommen :D

    Aber irgendwas sagt mir, dass es das noch nicht war. Da kommt doch noch etwas.

    Öh :blush:
    Also ich kann dir sagen, dass es noch genau zehn DinA4-Seiten Text sind. So unfassbar viel kann also gar nicht mehr passieren. Ich hab ja schon mal gesagt, dass der Handlungsbogen dieser Geschichte etwas gaga ist. Wenn ich irgendwann mal weiterschreibe, sollte ich das im nächsten Teil besser machen :rofl:


    Tabea nickte. „Es wird wohl das Beste sein, wenn ich ganz vorne anfange. Ich habe vor Wochen schon entschieden, dass es richtig wäre, wenn dir und Sahara erlaubt wird, eurer Wege zu gehen. Hier ist jetzt nicht von Bedeutung, was mich zu dieser Entscheidung gebracht hat, mehrere Dinge spielten zusammen. Wichtig ist nur, dass ich sie getroffen hatte und bereit war sie umzusetzen. Die Kamiraen wollten nicht auf mich hören, aber ich glaubte, dass sie ihre Meinung vielleicht ändern würden, sollte einer von euch beiden ums Leben kommen. Es wäre der endgültige Beweis, dass es im Hauptquartier nicht sicher genug für euch ist. Nun ja, den Rest habe ich dir vorhin erklärt.“ Sie warf Maja einen verschwörerischen Blick zu, der eindeutig besagte, dass sie es Feodor und Sahara nicht erklären wollte. „Die Kamiraen wanken schon lange in ihrer Überzeugung. Es brauchte bloß noch den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.“
    „Und das war Saharas Tod“, schloss Feodor.
    „In ihrer Verzweiflung waren sie viel eher bereit, auf mich zu hören. Schau sie dir doch an“, sagte Tabea und plötzlich huschte ein gemeines Grinsen über ihr Gesicht. „Wie die aufgescheuchten Hühner.“
    Maja erinnerte sich an die Gesichter der Kamiraen bei der Beerdigung und musste schlucken.
    „Die Entscheidung, wessen Tod ich vortäuschen sollte, war schnell getroffen“, fuhr Tabea fort. „Sahara kann sich dort, wo sie hingeht, viel besser verstecken als du.“
    „Wie konntest du ihnen das nur antun?“, murmelte Maja, in Gedanken immer noch bei den Kamiraen. „Hast du gesehen, wie entsetzt sie waren? Wie schrecklich schuldig sie sich fühlten? Das ist alles deine Schuld.“
    „Ich wollte verhindern, dass sie dir weiterhin antun, was sie taten“, entgegnete Tabea. „Du hättest dich in letzter Zeit mal sehen sollen. Du standest kurz davor, verrückt zu werden und die Kamiraen haben es in ihrem Egoismus nicht wahrhaben wollen. Sahara war genauso unglücklich. Sie will ihre Schwester suchen. Ich bereue nicht eine Sekunde, was ich getan habe. Ich diene den Kamiraen jetzt seit Jahrtausenden – allen Kamiraen. Und wenn ihr mich braucht, bin ich auch für euch beide da. Ich habe erkannt, dass die einzige Möglichkeit für euch, glücklich zu werden, ist, dass ihr eurer eigenen Wege geht. Und ihr habt beide bewiesen, dass ihr auf euch selbst aufpassen könnt, wie alle Kamiraen vor euch es konnten. Vielleicht geht die Sache schlecht aus, aber das können wir nicht wissen, wenn wir es nicht ausprobieren.“
    „Was ist mit Dreizehn? Was ist, wenn er seine Leute wieder zu mir nach Hause schickt?“
    „Ich werde dich dort nicht völlig ungeschützt lassen. Wir haben jetzt schon Wachen in der Stadt postiert, falls Dreizehn auf dumme Gedanken kommt, und wir werden sie da behalten. Ich kann dir natürlich keine hundertprozentige Sicherheit bieten. Aber wenn Sahara tot ist, hat Dreizehn sein Ziel erreicht und ich habe dafür gesorgt, dass er von ihrem Tod erfährt.“
    „Aber wenn er ein wenig nachforscht, wird er wissen, dass von seinen Leuten niemand sie umgebracht hat.“
    „In dem Fall hätten die Kamiraen noch andere Feinde, die das erledigt haben könnten. Ich habe angefangen, die richtigen Gerüchte zu streuen. Bald wird niemand mehr nachvollziehen können, wer oder was Saharas Tod herbeigerufen hat. Es ging hierbei auch darum, Fürst Dreizehn zu täuschen.“
    Majas Augen wanderten von Tabea über Sahara zu Feodor.
    „Und du hast dieses Schauspiel inszeniert?“
    „Tabea hat es inszeniert. Ich war nur für das Bühnenbild zuständig.“
    Die weißhaarige Frau nickte. „Er war brillant. Er hat es geschafft sämtliche Kamiraen, mehrere Ärzte und Heiler und einen Zauberer zu täuschen.“
    „Es war eine Menge Arbeit“, sagte Feodor. „Ich hatte in den letzten Tagen kaum Zeit zum Schlafen. An den Vorbereitungen sitze ich schon seit Wochen.“
    In Majas Kopf begannen die Dinge langsam, sich zusammenzufügen. Nur zwei Dinge machten noch keinen Sinn: „Wie kommt es, dass keiner der Kamiraen dahinter gekommen ist? Wir waren zu elft. Heißt es nicht, dass es schwer ist, die Kamiraen anzulügen? Aber du“, sie sah Tabea an, „hast doch das Blaue vom Himmel gelogen.“
    „Du vergisst mit wem du sprichst“, entgegnete Tabea schlicht. „Ich kenne die Kamiraen seit einer Ewigkeit, besser als sonst jemand. Ich weiß wie man sie anlügt.“
    „Wie?“
    „Ihr mögt manche Lügen erkennen, aber im Großen und Ganzen ist dieser Sinn doch sehr unsicher. Und sobald ihr starke Emotionen verspürt, wird er unbrauchbar. Die Kamiraen waren so entsetzt über Saharas Tod, dass sie völlig durch den Wind waren. Ich hätte ihnen in diesem Moment alles weismachen können. Es gab natürlich ein gewisses Risiko, aber das bin ich eingegangen. Allgemein ist diese Fähigkeit bei den Kamiraen nicht besonders gut ausgeprägt. Sie lassen sich so leicht von Vorurteilen, Wünschen und Emotionen lenken. Lass dir das eine Warnung sein ...“ Sie verstummte langsam.
    „Okay“, sagte Maja. „Dann noch etwas: Warum erzählst du es mir? Du hättest mich weiterhin denken lassen können, Sahara wäre tot. Welchen Unterschied hätte es gemacht? Immerhin hätte ich mich dann nicht verplappern können.“
    „Ich habe dich bis jetzt im Unklaren gelassen, weil ich bis zur Beerdigung so wenig Mitwisser wie möglich haben wollte. Aber du musst es wissen. Du gehörst zu Saharas Generation. Was mich zu diesem einen letzten Punkt bringt – ein Versprechen, das ihr beide mir geben müsst.“ Sie sah Sahara an. „Wenn Maja jemals deine Hilfe brauchen wird, wirst du für sie da sein?“, fragte sie.
    „Was?“, fragte Sahara.
    „Das ist echt extrem unwahrscheinlich“, meinte Maja.
    „Ich möchte, dass du ihr dieses Versprechen gibst“, sagte Tabea.
    „Meinetwegen.“ Sahara sah gelangweilt aus, doch Tabea nickte zufrieden.
    „Und du, Maja? Wirst du ihr helfen, wenn sie jemals deine Hilfe braucht?“
    „Nein, das werde ich nicht“, antwortete Maja und ignorierte den giftigen Blick, den die andere Kamiraen ihr zu warf. „Ich kann endlich nach Hause und ich werde ganz bestimmt niemals wiederkommen. Für nichts.“
    „Maja, bitte“, sagte Tabea. „Nur für den absoluten Notfall, wenn Sahara ohne dich nicht überleben kann. Vielleicht wird es nie passieren und selbst wenn es in zwanzig oder dreißig oder auch fünfzig Jahren mal passiert ... du bist ohnehin eine Kamiraen, du kommst da nicht mehr ganz raus.“ Maja ahnte, worauf das hinaus lief. „Du schuldest es mir“, sagte Tabea. Damit hatte das Mädchen dann doch nicht gerechnet. „Ich habe alles getan, damit du wieder nach Hause kommst. Ich habe fast jeden Menschen angelogen, der mir etwas bedeutet.“
    „Na gut“, gab Maja schließlich nach. „Aber nur, wenn es wirklich wichtig ist.“
    „Danke“, sagte Tabea und auch Sahara sagte aus irgendeinem seltsamen Grund „Danke“.
    „Und wer bedankt sich bei mir?“, fragte Feodor. „Ich hatte schließlich die meisten Scherereien damit, außerdem habe ich riskiert, dass mein Meister mich umbringt, was er bestimmt macht, wenn er herausfindet, was ich getan habe. Also ...“
    „Danke“, sagte Sahara ehrlich.
    „Ich bedanke mich nicht“, meinte Tabea, „aber bei Gelegenheit lege ich beim Rat der Magier ein gutes Wort für dich ein.“
    Feodor grinste.
    Maja sah ihm in die Augen und wusste, dass sie ihre Dankbarkeit niemals in Worte fassen konnte.
    „Schon okay.“ Feodor winkte ab, bevor sie es versuchte.
    „Erinnerst du dich, wie wir durch den Wald gegangen sind und ich dich unheimlich fand?“, fragte sie dann.
    „Klar.“
    „Ich nehme es zurück. Unheimlich trifft es überhaupt nicht. Es gibt einfach keinen Ausdruck, um dich zu beschreiben.“
    „Hmm.“ Er machte ein nachdenkliches Gesicht. „Ich würde sagen: ernsthaft gruselig und angsteinflößend. Das trifft es ganz gut, oder?“
    Lachend fiel Maja ihm um den Hals und in dem Moment packte sie mit Wucht die Erkenntnis, dass sie nach Hause durfte. Endlich würde alles gut werden. Sie ließ Feodor los und sprang juchzend in die Luft.
    „Okay“, sagte Feodor, „Abschiedsfeier – morgen früh bei Tamor.“
    „Bloß nicht“, herrschte Tabea dazwischen. „Habt ihr vergessen, dass wir Sahara eben erst unter die Erde gebracht haben? Ihr dürft euch verabschieden, aber gefeiert wird nicht, verstanden? Und bevor du diesen Raum verlässt, Feodor, würde ich mir an deiner Stelle das Grinsen aus dem Gesicht wischen. Das gilt auch für dich, Maja. Ich werde mich jetzt auf den Weg machen, bevor mich jemand vermisst. Ihr zwei sorgt dafür, dass niemand Sahara sieht.“ Und mit diesen Worten ging sie.
    Maja sah ihr nachdenklich hinterher. Dieser Tag hatte nicht ein Stück dazu beigetragen, dass sie Tabea besser verstand, er hatte sie eher noch unbegreiflicher erscheinen lassen. Maja begriff immer noch nicht ganz, warum sie das alles getan hatte und vor allem, warum es funktioniert hatte. Was sie aber am meisten beunruhigte war die Erkenntnis, dass Tabea in der Lage war, ein derart falsches Spiel zu spielen.

    Ich bin immer noch im Endspurt-Fieber. Jetzt kommt wohl eines meiner Lieblings-Kapitel. Mehr sag ich gar nicht. Lasst euch überraschen und viel Spaß. Bin wirklich sehr gespannt, was ihr davon haltet.


    Tabeas falsches Spiel

    „Maja!“ Es war Jonathan Nibers Stimme, deshalb drehte sie sich verwundert um. Er kam vom Grab auf sie zugeeilt und zog die Blicke fast aller Leute auf sich. „Du solltest nicht allein unterwegs sein.“
    „Das hat in den letzten Tagen auch niemanden gestört“, erwiderte sie.
    Niber lächelte verlegen. „Nun, wir hatten alle unsere eigenen Sorgen, schätze ich. Aber gerade hier, wo dich alle gesehen haben und jetzt allein über den Hof ... besser ich begleite dich. Ich muss ohnehin mit dir sprechen.“
    Maja ging schweigend neben ihm her zum Hauptquartier, wo er sie nach kurzer Zeit in einen kleinen Raum führte. Es war eine Abstellkammer und das kam ihr dann schon etwas seltsam vor.
    „Also Maja“, begann er mit einem unsicheren Lächeln, das so überhaupt nicht zu ihm passen wollte, „wir haben in letzter Zeit ein bisschen über dich geredet und ... beschlossen, dass du – wenn du möchtest – nach Hause kannst.“
    Sie starrte ihn nur mit offenem Mund an. Kein Ton wollte ihre Lippen verlassen.
    Niber blinzelte und fuhr fort: „Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass du – naja, man hat ja gesehen, was mit Sahara passiert ist – jedenfalls bist du hier wohl nicht sicherer als zuhause. Und natürlich kannst du bleiben, wenn du dich hier wohler fühlst, wir werden dich nicht rausschmeißen, aber ... du wolltest immer so dringend nach Hause und nun ja ... du darfst. Wir haben Tabea schon Bescheid gesagt und wenn du möchtest, kannst du morgen Abend aufbre-“
    „Was soll das denn jetzt?“, schrie Maja ihn an und er verstummte augenblicklich. „Monatelang darf ich nicht! Ich habe gekämpft und ihr sagt immer nur, es sei zu gefährlich! Ihr habt mir nicht einmal richtig zugehört, ihr habt mir keine Chance gegeben, ihr habt sogar eure eigenen Schwüre gebrochen und jetzt sagt ihr mir hier in dieser BESENKAMMER, dass ich doch nach Hause darf?“ Sie war so verwirrt, so wütend, dass sie ganz vergaß, sich zu freuen. „Warum?“, fragte sie und trat auf Niber zu, die Augen auf sein Gesicht fixiert. „Warum jetzt? Ihr habt euch die ganze Zeit geweigert. Ich habe gedacht, ich darf nie zurück und jetzt kommt ihr damit um die Ecke? Warum?“
    „Wie ich schon sagte, wir haben leider feststellen müssen, dass du hier nicht sicherer bist, als bei dir zuhause. Es sind schon drei mal Dreizehns Leute hier eingedrungen und wir können nicht ausschließen, dass es ein viertes Mal gibt, also –“
    „Ja, und wenn die Mauern dieser Stadt sie nicht aufhalten können, dann können die meines Hauses es erst recht nicht!“ Maja brüllte jetzt regelrecht. „Ich bin zu Hause in noch größerer Gefahr und damit kann ich leben, aber IHR konntet es nicht. Warum JETZT? Sahara ist gerade gestorben, WARUM JETZT?“ Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben so laut geschrieen zu haben. Panik überkam sie. Irgendetwas stimmte nicht. Niber verheimlichte etwas vor ihr, etwas Wichtiges.
    Er wich zurück. „Du wolltest doch immer nach Hause! Jetzt beklag dich nicht.“
    „WAS HAT DAS MIT SAHARAS TOD ZU TUN?“
    In dem Moment ging die Tür auf und Tabea kam hereingerauscht. „Was ist los?“ Sie schaute von Maja zu Niber. „Hast du es ihr gesagt?“
    „Ja. Ich dachte, sie würde sich freuen, aber stattdessen brüllt sie mich zusammen. Sie ist übergeschnappt!“
    „Alles klar, Maja?“, fragte Tabea freundlich.
    „Nein“, sagte diese sauer. „Warum jetzt?“
    Tabea seufzte. „Du darfst nach Hause, freu dich. Komm, wir müssen deine Sachen packen und du musst dich von deinen Freunden verabschieden, oder willst du einfach so verschwinden?“
    Sie ging hinaus und Maja entschied, dass sie von Tabea vielleicht eher Antworten bekommen würde, also ließ sie Niber stehen und folgte ihr. Sie war völlig verwirrt.
    „Tabea, das macht überhaupt keinen Sinn“, sagte sie. „Warum lassen sie mich jetzt plötzlich nach Hause?“
    „Weil ich ihnen dazu geraten habe.“
    „Was?“
    „Ich habe ihnen gesagt, dass du zu Hause nicht in größerer Gefahr bist als hier. Dreizehn hat zum dritten Mal bewiesen, dass Miriam Mauern seine Gefolgsleute nicht aufhalten.“
    „Aber das ist nicht wahr“, sagte Maja, „hier bin ich viel schwerer zu finden; hier sind viel mehr Leute.“
    „Aber wenn du dich sichtbar von den Kamiraen abkehrst, welchen Grund hat Dreizehn, dich noch zu jagen? Er hat sein Ziel erreicht; er hat die dreizehnte Generation zerschlagen.“
    „Aber du hast mir gesagt, dass die anderen Kamiraen glauben, ich gehöre zur zwölften Generation.“
    „Exakt“, sagte Tabea.
    „Ich verstehe das nicht.“
    Tabea drehte sich um. „Wenn ich dir sage, du musst es nicht verstehen, würdest du dich damit zufrieden geben?“, fragte sie. „Dieses eine Mal? Du darfst nach Hause, du wirst deine Eltern und deinen Bruder wieder sehen und du kannst dein Leben weiter führen. Du hast alles, was du je wolltest, also bitte hör auf mich mit Fragen zu löchern. Vertrau mir dieses eine Mal. Und dann komm mit, ich muss dir etwas zeigen.“
    Maja blieb stehen. „Nein! Ich will die Wahrheit wissen.“
    Tabea musterte sie missbilligend. „Na schön“, sagte sie schließlich, „aber behaupte später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Die Wahrheit ist in diesem Fall alles andere als nett.“ Sie holte tief Luft. „Du erinnerst dich vielleicht, dass ich dir gesagt habe, die Kamiraen seien am stärksten, wenn eine Generation vereint ist. Daraus folgt, dass sie immer das Ziel haben, eine Generation zu vervollständigen, sodass alle Kamiraen dieser Generation gleichzeitig ihr Amt ausfüllen. Jetzt, da Sahara tot ist, kann dieses Ziel nicht mehr erreicht werden. Der Verlust einer weiteren Kamiraen deiner Generation wäre daher verschmerzbar.“
    Maja klappte bei Tabeas Worten der Mund auf. „Soll das heißen, weil Sahara tot ist, ist es egal, wenn auch ich sterbe?“
    „Überspitzt ausgedrückt. Ich habe dir gesagt, die Wahrheit ist nicht nett. Aber natürlich ist es niemandem egal, wenn du stirbst. Du bist immer noch eine Kamiraen und eine vollständige Generation werden wir ohne Saharas Amulett ohnehin nicht mehr erreichen. Die anderen Kamiraen sind jetzt allerdings bereit, ein größeres Risiko einzugehen. Nun komm endlich.“
    Maja war so verwirrt, dass sie Tabea widerspruchslos folgte. Und langsam begann sie zu realisieren, dass sie es geschafft hatte. Sie durfte nach Hause. Widersprüchliche Gefühle kämpften in ihr um die Vorherrschaft. Wie konnte sie sich freuen, wenn sie dieses Glück Saharas Tod zu verdanken hatte? Sie konnte nicht lächeln und so blieb sie schließlich stehen und brach in Tränen aus.
    Tabea wirbelte zu ihr herum und beobachtete sie verwirrt und hilflos. Dann schnalzte sie verärgert mit der Zunge. „Wir sind gleich da. Reiß dich noch einen Moment zusammen.“
    Mühevoll schluckte Maja die Tränen herunter und konzentrierte sich ganz auf die positiven Gedanken. Sie würde zurückkehren. Nach Hause. In ihre eigene Welt, zu ihren Eltern und ihrem Bruder. Schließlich schaffte sie es, ein zuversichtliches, wenn auch schwaches Lächeln aufzusetzen.
    „Geht doch.“ Tabea grinste breit und schritt voran.
    Dann stieß sie eine Tür am Ende des Korridors auf. Sie gelangten in einem Raum, der aussah wie ein Klassenzimmer, vollgestopft mit schmalen Tischen und Stühlen. Auf einem der Tische saß Feodor und grinste Maja an.
    Am Fenster stand eine Gestalt in einem schwarzen Kapuzenumhang. Als Maja sie ansah hob sie die schmalen Hände und streifte die Kapuze nach hinten. Ungepflegtes, stohblondes Haar fiel ihr über die Schultern, die braunen Augen funkelten Maja selbstbewusst an.
    Und dieser fiel die Kinnlade herunter.
    „So sieht man sich wieder“, sagte Sahara und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
    Maja war geschockt. Hätte sie einen Geist gesehen, sie wäre es nicht weniger gewesen. „Sahaha…hara“, stotterte sie, „aber, du … du ...“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Verwirrt blinzelte sie und rieb sich die Augen, doch Sahara stand immer noch da. Hatte sie sich gerade den Kopf gestoßen und träumte das alles nur? Wie konnte Sahara hier stehen und grinsen, wenn sie doch gerade eben beerdigt worden war? „A...aber du bist tot.“ Wieder blinzelte sie. War es jetzt endlich so weit? Hatte sie den Verstand verloren? Sie hatte geglaubt, Sahara sei tot und doch stand sie hier? War das hier ein Traum? Oder hatte sie andersherum nur geträumt, dass Sahara gestorben war? Beides schien real aber es passte überhaupt nicht mehr zusammen. War sie doch verrückt geworden? Bildete sie sich das alles nur ein? Lag sie vielleicht in irgendeinem Krankenbett in fibrigen Fantasien versunken?
    „Kipp uns bloß nicht um, ja?“, sagte Tabea besorgt.
    Maja achtete nicht auf sie. Sie hatte nur Augen für Sahara. „Ich habe dich gesehen“, sagte sie. „Ich habe deinen toten Körper am Boden liegen sehen, wir alle haben es gesehen. Es gab keinen Zweifel, dass du tot warst. Du hattest keinen Puls, du hast nicht geatmet und du hattest ein Loch in deiner Brust. Wie kannst du hier stehen und am Leben sein?“
    „Was du gesehen hast, war nicht ich“, sagte Sahara.
    „Traue niemals deinen Augen, wenn du weißt, dass ein Zauberer seine Finger im Spiel haben könnte“, fügte Feodor hinzu.
    Maja wirbelte zu ihm herum. „Du?“
    „Ich.“ Er lächelte breit.
    „Du ... du hast sie verhext, damit sie wie tot aussieht? Ich ... das ist ...“
    „Auch eine gute Idee, aber das habe ich nicht getan. Ich glaube Sahara wäre sehr unglücklich darüber gewesen, wenn sie sich die ganze Zeit hätte tot stellen müssen. Und nach der Beerdigung? Hätten wir sie wieder ausgraben müssen? Ich habe nicht Sahara verzaubert, sondern etwas anderes, damit es wie Sahara aussieht. Das hat außerdem den Vorteil, dass Gegenstände genauso wenig lügen können wie Tote.“
    Maja hatte Feodor noch nie so selbstbewusst erlebt. Er wirkte mehrere Zentimeter größer als sonst und schien geradezu begeistert von seiner Tat. Einer Tat, die zu begreifen Maja sich schwer tat. „Lügen?“
    „Jaaa ... ich fürchte, die Kamiraen hätten es bemerkt, wenn sich jemand einfach nur tot gestellt hätte. Und Meister Wolf sowieso, der erkennt Leben, da kannst du dir sicher sein.“
    „Moment“, sagte Maja. „Ihr habt also Saharas Tod nur vorgetäuscht?“
    „Genau“, rief Feodor enthusiastisch in einem Ton, als wäre Maja ein kleines Kind, das gerade seinen ersten Schritt gemacht hatte.
    „Warum?“
    Feodor zuckte mit den Schultern. „Es war Tabeas Idee. Sie meinte, dann würden dich die Kamiraen nach Hause lassen. Ich kann mir das zwar nicht vorstellen, aber –“
    „Es hat funktioniert“, unterbrach Tabea ihn.
    „Das war deine Idee?“ Maja drehte sich jetzt auch zu Tabea um. Die zuckte nur mit den Schultern. „Ich muss mich erst mal setzen“, sagte Maja und ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Erzählt mir alles“, verlangte sie.

    Aber selbst, wenn es Dreizehns Leute waren, das Resultat ist das gleiche: er muss jetzt nicht mehr Maja umbringen lassen - deren Kamiraen Generation ist ja nun nicht mehr vollständig Heißt er hat gewonnen? Irgendwie? Bizarr xD

    Mmh. "Bizarr" ist irgendwie nicht die Reaktion, die ich mir erhofft hatte. @Kisas Reaktion, die erst mal schlucken musste, gefällt mir da schon besser ^^.
    Aber du hast recht, es ist schon irgendwie bizarr. Und deine Schlussfolgerungen sind schon logisch.
    Und ja, Tuma Alladrinek ist im Moment etwas überflüssig, aber ich kann ja jetzt nicht von einem wichtigen Ereignis direkt zum nächsten Springen, die Lücken müssen mit Leben gefüllt werden. Und ich fand ihn ganz lustig.
    Ich hab noch einen Teil. Befinde mich gerade ein bisschen im Endspurt - das motiviert.


    Die nächsten zwei Tage waren trostlos und das lag nicht nur an dem grauen, regnerischen Wetter. Im ganzen Hauptquartier herrschte eine gedrückte Stimmung. Wo immer Maja hinkam, überall begegneten ihr besorgte und angespannte, sogar trauernde Libellen. Die Fahnen hingen auf Halbmast. Wer nicht gerade das weiß der Libellen trug, gewandete sich in Schwarz, sodass jede Ansammlung von Menschen von oben an ein Schachbrett erinnerte. Auf den Fluren gab es kaum ein anderes Thema als Sahara, doch die allgemeine Stimmung war nichts verglichen mit jener der Kamiraen. Wann immer Maja sie sah, wirkten sie regelrecht verzweifelt. Soweit sie in Erfahrung bringen konnte, gab es keine Versammlung mehr. Alles was besprochen werden musste, wurde in kleinen Gruppen auf den Fluren oder den Zimmern der Kamiraen ausgemacht. Und das, obwohl Tuma Alladrinek im Krankenhaus lag. Er war, als er am Abend von Saharas Tod Tabea und den Kamiraen gefolgt war, offenbar auf einer Treppe gestolpert und in einen Wagen mit Wäsche gestürzt. Man hatte ihn erst Stunden später entdeckt, mit einer dicken Beule am Kopf und vollkommen orientierungslos. Er schien nicht mehr zu wissen, wer und wo er war und was er überhaupt wollte. Für die Ärzte war es ein Rätsel und Meister Wolf, der einen Blick auf ihn geworfen hatte, meinte, er würde sich schon wieder erholen. Ansonsten sagte er nichts dazu.
    Maja verbrachte die Tage alleine. Die meiste Zeit ging sie in Miriam spazieren und kümmerte sich nicht darum, dass sie nass wurde, schaute allerdings alle paar Stunden im Hauptquartier vorbei, damit die Kamiraen sich keine Sorgen machten. Die nahmen jedoch kaum Notiz davon, so sehr waren sie in ihre eigenen Gedanken verstrickt. Einzig Kandrajimo sagte Maja, sie solle vorsichtig sein und dunkle Gassen meiden, ansonsten war er aber der Ansicht, dass sie sicherer war, wenn sie sich möglichst wenig am selben Ort aufhielt. Maja sagte es niemandem, aber das Schwert hatte sie immer bei sich. Nicht ein einziges Mal wurde es von jemandem bemerkt.
    Ihre Verabredung mit Karim hatte sie nicht vergessen, aber sie lief genauso trostlos ab, wie alles andere in diesen Tagen. Karim begleitete sie eine Zeit lang bei ihren rastlosen Wanderungen durch die Stadt, dann gingen sie beide zu Alma, wo sie auf Jinna trafen. Zum ersten Mal seit langem fühlte Maja sich den beiden Geschwistern wieder wirklich nahe und so ging sie auch am nächsten Tag zu ihnen und verbrachte fast den ganzen Abend dort.
    Saharas Beerdigung fand am einundzwanzigsten Dezember um vier Uhr nachmittags statt. Es war schon dunkel und die hunderte von roten Lichtern in den Händen der dunklen Gestalten wirkten besonders feierlich. Der Regen der letzten Tage hatte endlich aufgehört, doch es war bewölkt. Maja stand zum allerersten Mal öffentlich in den Reihen der Kamiraen. Nicht wenigen von ihnen liefen Tränen aus den Augen. Ihr kam der Gedanke, dass die Kamiraen sich wohl schuldig fühlten. Aber das waren sie ja auch, oder? Sie hatten Sahara doch erst hierher gebracht. Maja sah zu Tabea hin, doch ihr Gesicht zeigte keine Regung. Es war wie versteinert. Neben ihr stand Feodor, die schwarze Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ohne sein leuchtend weißes Haar war er kaum zu erkennen. Meister Wolf stand bei Tamor und ein wenig weiter rechts senkten Alma und Dorin die Köpfe. Karim und Jinna waren bei den Libellen. Unter ihren schwarzen Umhängen konnte man weiße Gewänder sehen. Bei den Libellen erkannte Maja auch noch andere vertraute Gesichter: Euen, Belana und Olgar. Alle drei starrten Maja ungläubig an. Bei Olgar und Belana verstand sie das ja, aber Euen hatte sie gesagt, dass sie eine Kamiraen war, oder? Maja schnaubte und ließ den Blick über die Menge schweifen, in der Hoffnung, das letzte Gesicht zu sehen, das sie noch vermisste. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie es entdeckte. Matthias stand hinter Meister Wolf, halb verdeckt von dessen Umhang. Als Maja ihn anstarrte, warf er ihr wütende Blicke zu. Maja verschluckte sich an ihrer eigenen Spucke. Was sollte das denn? So wie er sie ansah hätte man fast meinen können, er gäbe ihr die Schuld an Saharas Tod. Sie blickte giftig zurück und sah dann in eine andere Richtung.
    Es war eine schöne Beerdigungszeremonie aber Maja bezweifelte, dass sie Sahara gefallen hätte. Wer war denn hier, der sie richtig gekannt hatte? Wer dieser Menschen trauerte um sie, weil er sie als Mensch gekannt hatte und nicht, weil er sich schuldig an ihrem Tod fühlte oder weil sie eine Kamiraen war?
    Maja rief die Erinnerungen herauf, die sie an Sahara hatte. Ihre ersten Begegnungen waren stets im Streit geendet, in der Sporthalle war ein Übungskampf zwischen ihnen sogar zu einer Prügelei ausgeufert. Aber sie hatten auch ruhige Gespräche geführt. Und dann war da die Reise nach Gegos gewesen, ihr Abenteuer auf Burg Schattenschrei. Ihr kam der Gedanke, dass Sahara eine gute Kamiraen hätte werden können, mit Sicherheit eine viel bessere als Maja. Aber es war anders gekommen. Maja überlegte, wer wohl Saharas Nachfolge antreten würde, doch dann fiel ihr ein, dass es keinen Nachfolger geben würde. Saharas Amulett war spurlos verschwunden. Das war mit Sicherheit auch ein Grund, warum die Kamiraen so verzweifelt aussahen. Maja dagegen erleichterte es, dass nicht noch ein Kind von seinen Eltern getrennt werden würde, um danach fortwährend in Lebensgefahr zu schweben. Sie dachte daran, dass Tabea gesagt hatte, die dreizehnte Generation würde die letzte sein. So wie es jetzt aussah, hatte sie Recht gehabt. Aber was sollte schon schlimmes daran sein? Wer brauchte die Kamiraen schon? Sie selbst jedenfalls nicht.
    Die Beerdigung ging zu Ende, das Grab wurde zugeschaufelt und viele der Anwesenden gingen davon. Einige blieben noch stehen, um ein paar letzte Worte am Grab zu sprechen, aber Maja wandte sich um und ging schweigend auf die Tore am Friedhof zu. Es gab nichts, was sie Sahara hätte sagen können.

    Katastrophe

    „Was ist geschehen?“, fragte Fiona, doch Tabea antwortete nicht. Sie war schon wieder nach draußen auf den Flur geeilt.
    Die Kamiraen standen auf und folgten ihr unter dem irritierten Blick von Tuma Alladrinek, der völlig ignoriert wurde. Maja folgte als letzte, mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Die Szene hatte etwas Seltsames und schwer greifbares an sich.
    Tabea beantwortete keine Fragen, egal wie sehr die Kamiraen auch drängten. Sie sah starr nach vorne, schien sich zusammenreißen zu müssen. Sie durchquerten mehrere Korridore und zogen in jedem mehr Aufmerksamkeit auf sich. Libellen und andere Menschen blickten ihnen erstaunt hinterher, manche folgten der Gruppe sogar. Dann erklommen sie eine breite Treppe und kamen in einen von Fackeln erleuchteten Korridor.
    „Nein!“, rief Keiph entsetzt und die anderen stimmten in seine Schreie mit ein, stolperten vorwärts, rannten durch den Korridor und blieben an einer Stelle stehen, an der schon andere Menschen standen. Stille breitete sich aus. Totenstille.
    Maja stand ganz hinten in der Reihe der Kamiraen und sie waren alle so viel größer als sie. Sie versuchte, sich zwischen ihnen hindurch zu quetschen, als sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Tabea stand mit besorgtem Gesicht neben ihr.
    „Lass es, Maja. Das willst du nicht sehen.“
    Doch Maja riss sich los und stolperte vorwärts. Die Kamiraen wichen zur Seite, als sie gegen sie rempelte. Dann stand sie vor ihnen und sah genau, was dort war:
    Sahara lag auf dem Boden, in einer Lache aus Blut, das Gesicht weiß und die Augen geschlossen als würde sie schlafen. Und doch war sie tot.
    Maja blinzelte einmal, doch das Bild wollte nicht verschwinden. Sie holte zitternd Luft und blickte die anderen Kamiraen an. Sie spiegelten ihr eigenes Entsetzen wieder. Maja wich unsicher zurück. Ihr Körper schien ihr nicht richtig zu gehorchen. Sie starrte eine der Fackeln an. Jetzt, wo sie einmal weggeschaut hatte, war es ihr unmöglich, Sahara noch einmal anzusehen. Dann spürte sie, wie ihr jemand schützend den Arm um die Schultern legte. Es war Tabea und jetzt sprach sie zu den Kamiraen:
    „Ich habe sie eben hier gefunden. Ich ... ich wusste nur, ich muss es euch sagen, bevor sie jemand anderes entdeckt.“
    In dem Moment ergriff Ryan Morgentau das Wort. „Sie wurde ermordet“, sagte er. „Wir müssen den Täter finden bevor er noch jemanden verletzt.“ Er sah Maja an. „Jimo, bring Maja auf ihr Zimmer. Jonathan, wir –“ Er unterbrach sich, als Deborah nach vorne stolperte, neben Sahara niederkniete und nach ihrem Hals tastete.
    „Wo ist ihr Amulett?“, fragte sie.
    „Das Amulett?“, krächzte Niber. „Das wird Tabea haben.“
    Alle sahen die weißhaarige Frau erwartungsvoll an, doch sie schüttelte den Kopf.
    „Es war nicht da.“
    Betroffenes Schweigen breitete sich aus.
    „Komm“, sagte Kandrajimo leise, zog Maja aus Tabeas Armen und führte sie weg von den anderen.
    Majas Gedanken rasten. Sie nahm kaum wahr, wo sie lang gingen, bekam nur am Rande ihres Bewusstseins mit, dass er sie nicht in ihr Zimmer brachte. Dann betraten sie einen Raum, den Maja noch nie gesehen hatte, und doch wusste sie in dem Moment, da Kandrajimo sein Schwert aus einer Halterung neben der Kommode zog, dass es sein Zimmer war. Er legte das Schwert auf den Tisch und setzte sich auf einen Stuhl. Maja ließ sich auf ein Sofa fallen und sah aus dem Fenster.
    Niemand sagte etwas und das war ihr nur recht. Sie lauschte ihren Gedanken. Sahara … tot … Sahara! , schrien sie immer wieder. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Sie hatte Sahara nie besonders leiden können, doch ihr Tod schockte sie mehr als irgendetwas zuvor. Ohne Vorwarnung hatte er sie ereilt und er schien so falsch. Wie Andrea vor wenigen Wochen, war Sahara in einem bedeutungslosen Korridor gestorben. Wie konnten die Kamiraen, die ein solches Ansehen genossen und über die man sich die fantastischsten Legenden erzählte, nur auf diese Art enden?
    Maja sah Sahara vor sich, wie sie sie zuletzt gesehen hatte, an dem Tag, als sie aus der Eiswüste zurückgekehrt war. Gelangweilt hatte sie zwischen den Kamiraen gesessen. Sie war Maja immer rätselhaft erschienen, schwer durchschaubar, doch sie und Maja waren in derselben Situation gewesen. Beide Kamiraen, beide an einem Ort, an dem sie nicht sein sollten, beide getrennt von ihren Familien. Und jetzt war Sahara tot. Getötet von Dreizehns Leuten. Mit Sicherheit waren es Dreizehns Leute gewesen.
    Und plötzlich kam Maja ein Gedanke, der sich nicht mehr beiseite schieben ließ: Sie würde die nächste sein. Das erklärte warum Kandrajimo mit angespannter Miene den Griff seines Schwertes auf dem Tisch umklammert hielt. Eine fürchterliche Angst packte sie. War ihr jemals der Gedanke gekommen, sie könnte sterben? Jedenfalls nicht so wie jetzt. Der Tod war ihr immer unwirklich erschienen, doch er hatte Sahara geholt und er konnte auch sie holen. Unruhig sah sie zur Tür, stellte sich vor, dunkel gekleidete Gestalten würden mit erhobenen Waffen herein kommen. Aus dem Augenwinkel sah sie etwas aufblitzen. An der seltsamen Halterung, aus der Kandrajimo sein Schwert genommen hatte, hing noch ein zweites. Maja stand auf und nahm es heraus. Kandrajimo sah sie kurz an, doch er sagte nichts, sondern verfiel sofort wieder in seine angespannte Grüblerei. Maja setzte sich wieder auf das Sofa, das Schwert auf den Knien. Es war schwer und einfach gestaltet, die einzige Zierde waren ein paar grüne Linien auf dem Griff. Es zu halten half Maja, sich ein wenig besser zu fühlen. Nicht auf die Art, wie sie erwartet hatte. Mit dem Schwert fühlte sie sich nicht einen Hauch sicherer.
    Aber es half, etwas in der Hand zu halten – etwas, an das sie sich klammern konnte.

    Es wurde eine lange Nacht. Kandrajimo sagte nichts und auch Maja hatte nicht den geringsten Wunsch, zu sprechen. Sie war froh nicht allein zu sein, trotzdem wollte sie mit niemandem reden. Irgendwann am frühen Morgen nickte sie ein. Als sie die Augen wieder öffnete, war es draußen hell, aber noch genauso regnerisch wie am Vortag. Sie war auf dem Sofa zur Seite gesunken. Das Schwert lag daneben auf dem Boden. Als sie sich aufrichtete, merkte sie, dass ihr alle Knochen weh taten. Kandrajimo hatte den Kopf auf den Tisch gelegt und war am Schnarchen.
    Maja stand auf und begann das Zimmer zu erkunden. Es war groß und sehr gemütlich eingerichtet. Ein Tisch mit Stühlen, eine gemütliche Ecke mit Sofas und Sesseln, ein Kamin, ein flauschiger Teppich. Auf der rechten Seite führte eine Tür in einen zweiten Raum, in dem Kandrajimos Bett und ein alter Kleiderschrank standen. Maja zog ihn auf, trotz eines schlechten Gewissens. Sie fand sofort was sie suchte: einen zerschlissenen Ledergürtel. Sie band ihn sich um und steckte das Schwert hinein. Es war nicht besonders bequem, aber wenn sie sich vorsichtig bewegte, würde es gehen. Sie dachte einen Moment nach, dann nahm sie ihr Amulett und wickelte es um den Schwertgriff, wie sie es einst bei Kandrajimo gesehen hatte. Sie war gespannt, ob es jetzt wirklich niemand sehen würde. Das Tragen von Waffen war im Hauptquartier verboten, obwohl es Ausnahmen gab, beispielsweise für Wachen und für Kamiraen. Trotzdem hätte sie mit diesem Schwert sicher unnötige Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
    Sie sah sich noch einmal im Raum mit den Stühlen und Sesseln um und entdeckte gegenüber der Schlafzimmertür ein kleines Schreibpult. Papier und eine lange Feder lagen darauf. Sie riss etwas von dem Papier ab und kritzelte eine kurze Nachricht für Kandrajimo darauf, dass sie zum Essen gehen würde und er sich keine Sorgen machen solle. Dann schlich sie aus dem Raum. Sie hatte beschlossen, dass es keinen Sinn machte, sich zu verstecken. Hatte sie den Kamiraen nicht immer wieder gesagt, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte? Hatte sie nicht sogar Kandrajimo besiegt? Ja, es war diese seltsame Kraft gewesen, die ihr die Fähigkeit dazu verliehen hatte. Aber Maja glaubte, den Schlüssel zu dieser Kraft zu kennen. Angst und Wut. Eiskalte Wut. Und sie glaubte, diese Wut jetzt in sich zu spüren, jedes Mal, wenn sie an Sahara dachte. Wer auch immer sie jetzt angreifen würde, würde sein blaues Wunder erleben, da war sie sich sicher.

    Aber mir ist (siehe Zitat) ein Fehler aufgefallen. Du verwendest hier ein andere Erzähler-Perspektive, was den gesamten Abschnitt. aber vor allem diese paar Sätze im Zitat betrifft

    Hi @Schreibfeder, ich habe nicht vergessen, was du geschrieben hast, und werde versuchen, es zu verbessern. Leider ist mir nicht ganz klar, inwiefern ich hier eine andere Erzähler-Perspektive benutzt habe. Manchmal macht man es ja absichtlich, aber das war hier nicht der Fall. Ich habe weiterhin versucht, aus Majas Perspektive in der dritten Person zu schreiben. Es geht hier ja um Informationen, die sie erhalten hat und in Gedanken gerade noch mal revue passieren lässt. Aber vielleicht kann ich das noch besser machen, ich werde mich also noch mal daran setzen. Danke für den Hinweis. :)


    „Setz dich“, sagte Niber ungeduldig, setzte dann jedoch ein freundliches, wenn auch etwas gezwungenes Lächeln auf. „Ich nehme an, du bist heute hier, weil du uns deine Entscheidung zu unserem Angebot mitteilen willst.“
    „Ja“, antwortete Maja. Sie sah in die Gesichter der Kamiraen. Alle blickten sie erwartungsvoll und doch selbstsicher an. Ein wenig Missmut konnte sie auch erkennen. Sie glaubte zu ahnen, was sie dachten: Sie glaubten, Maja nähme das Angebot an. Einen Moment zögerte sie noch. Sollte sie ausgerechnet in dieser Situation auf Tabea hören? Auf Tabea, die ihr immer gesagt hatte, sie solle sich nicht so anstellen? Sollte sie nicht die Chance ergreifen, die sie jetzt hatte? Doch dann wurde ihr klar, was es bedeuteten würde. Was es für ihre Eltern und für ihren Bruder bedeuten würde. Für sie selbst. „Ich lehne euer Angebot ab“, sagte sie. „Ich will weiterhin, dass ihr mich nach Hause lasst.“ Sie zögerte einen Moment, sollte sie noch etwas sagen? Doch der plötzliche Stimmungsumschwung im Raum von erwartungsvoll zu verärgert ließ sie verstummen. Sie hatte keine Lust auf anstrengende Diskussionen, deshalb hielt sie den Mund und schaute auf den Tisch vor sich.
    Langes Schweigen folgte, bis Kandrajimo es brach. „Es ist Majas Entscheidung, also sollten wir sie akzeptieren.“
    „Nun gut“, sagte Jonathan Niber. „Aber du solltest wissen, Maja, dass das Angebot immer noch besteht. Solltest du später doch noch darauf zurückgreifen wollen, sag es nur.“
    Maja nickte und atmete tief durch. Dass die Kamiraen ihr nicht wieder Vorwürfe machten, erleichterte sie ungemein.
    „Wir machen jetzt also weiter mit der Versammlung. Wenn du gehen möchtest, Maja, dann kannst du das gerne tun.“
    Maja überlegte einen Moment, ob sie bleiben sollte, nur um des guten Friedens willen. Dann entschied sie jedoch, dass sie noch mehr Langeweile nicht aushalten würde und stand auf. Doch bevor sie sich auch nur zur Tür umdrehen konnte, ging sie von selbst auf und offenbarte einen hochgewachsenen Mann, der Maja an den Schwertkämpfer Xyleen erinnerte, obwohl sie auf den ersten Blick erkannte, dass dieser Mann älter war. Wie Xyleen hatte er flammend orangerotes Haar und seine Haut schimmerte in einem blassen Goldton. Er fixierte Maja mit einem kalten, berechnenden Blick, der so gar nicht zu seinen goldbraunen Augen passen wollte, dann ließ er sie durch den Raum schweifen, in dem plötzlich Schweigen ausgebrochen war.
    Es dauerte einige Sekunden an, ehe der gerade Eingetretene mit tiefer und völlig humorloser Stimme sagte: „Ich nehme an, es handelt sich hier um ein rein zufälliges Zusammentreten und dass das der Grund ist, warum mir niemand etwas von einer Versammlung gesagt hat.“ Ein verärgertes Raunen ging durch den Raum, aber laut sagte niemand etwas. Der rothaarige Mann sah wieder Maja an. „Maja Sonnfeld, nehme ich an.“ Er hielt ihr eine Hand hin. „Es freut mich außerordentlich, dich kennen zu lernen. Mein Name ist Tuma Alladrinek.“
    Maja gab ihm die Hand. Er hatte einen überraschend festen Händedruck, so fest, dass es fast schmerzte. Das war also der Spitzel des Großkönigs – hier um die Handlungen der Kamiraen zu beobachten. Tuma Alladrinek. Maja beobachtete ihn genau, als er erhobenen Hauptes an ihr vorbei in die Mitte des Raumes trat. Sie konnte ihn auf den ersten Blick nicht leiden, obwohl ihr nicht ganz klar war, was an ihm diese Abneigung auslöste. Vielleicht war sein Auftreten ein wenig zu selbstbewusst. So wie er die Kamiraen ansah, hätte man meinen können, der Großkönig höchstpersönlich hätte den Raum betreten.
    „Der Großkönig hat bestimmt, dass ich an allen Versammlungen teilnehme“, sagte er und die Wut in seiner Stimme war deutlich zu hören.
    „Dann weise ich Euch darauf hin, dass es sich hierbei nicht um eine offizielle Versammlung handelt“, sagte Jonathan Niber ruhig.
    „Und ich weise Euch darauf hin, dass ich auch bei den inoffiziellen Versammlungen anwesend zu sein habe.“
    „Wir besprechen nur ein paar interne Dinge“, erklärte Niber.
    „Ihr wisst schon, wer den Hof fegt und wer die Betten macht“, fügte Lukas Temero mit einem breiten Grinsen hinzu. „Mit Sicherheit sehr langweilig für Außenstehende.
    „Spart Euch die Lügen! Ich weiß genau, dass Ihr jede Gelegenheit nutzt, mich im Unklaren über Eure Handlungen zu lassen. Aber ich warne Euch: sollte das nicht unverzüglich aufhören, muss ich dem Großkönig von Eurer mangelhaften Kooperation berichten. Er wird gar nicht erfreut sein. Und natürlich werde ich den weiteren Verlauf dieses Treffens mit Freuden verfolgen. Auch wenn der Zeitpunkt etwas ungünstig gewählt ist.“ Sein langer, meerblauer Umhang flatterte, als er sich umdrehte und wieder Maja ansah. „Ich hoffe doch, dass wir uns bei allen zukünftigen Versammlungen sehen werden.“
    „Ich hatte nicht die Absicht, noch einmal zu einer zu kommen“, antwortete Maja.
    Alladrineks Augen verengten sich. „Im Namen des Großkönigs befehle ich dir, zu allen Versammlungen zu kommen. Und du tätest gut daran, zu gehorchen.“
    Maja funkelte ihn wütend an, schwieg aber. Sie hatte nicht die Absicht, auf ihn zu hören, hielt es aber für unklug, ihm dies ins Gesicht zu sagen. Sie setzte sich wieder und spürte seinen Blick auf sich.
    Die Kamiraen redeten nun tatsächlich über die Dienste im Hauptquartier, obwohl sie das zuvor sicher nicht vorgehabt hatten. Alladrinek musste das auch klar sein, jedenfalls machte er schon nach kurzer Zeit ein Gesicht wie Sauerteig, das minütlich verächtlicher wurde. Und nicht eine Sekunde ließ er Maja aus den Augen. Sie schienen an ihr zu kleben, wie die Zunge eines Frosches an einer Fliege. Nach einer Weile wollte Maja ihn nur noch loswerden und begann darüber zu fantasieren, wie sie es anstellen konnte. Ob Feodor ihn verhexen würde, wenn sie ihn darum bat? Einen Versuch war es vielleicht wert.
    Maja versuchte angestrengt, nicht in Alladrineks Richtung zu schauen. Ihr Blick wanderte zum Fenster. Sie befanden sich im Erdgeschoss; die Fenster gingen auf den Hof hinaus. Direkt davor lag ein großes Blumenbeet, das jetzt im Winter kahl und braun aussah. Dahinter prasselten dicke Regentropfen auf das Kopfsteinpflaster.
    In dem Moment ging die Tür auf. Alle Köpfe ruckten in die Richtung. Maja brauchte einen Moment, um die Person im Türrahmen zu erkennen. Noch nie hatte sie Tabea so aufgelöst gesehen. Ihr Gesicht war bleich wie ihr Haar, blankes Entsetzen stand darin. Ihre Hände schienen zu zittern. Als Maja sie ansah, wusste sie sofort, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.
    „Kommt mit“, sagte Tabea mit brüchiger Stimme. „Schnell, ich muss euch etwas zeigen.“


    Spoiler anzeigen

    Falls euch der Cliffhanger stört: Es könnte viel schlimmer sein. Ich mache so bald wie möglich weiter.


    Den Kompromiss sehe ich zwar als Sprung in die richtige Richtung aber von einer dauerhaften Lösung immer noch weit entfernt.

    Das sehe ich genauso. Eine Zeit lang habe ich ja tatsächlich überlegt, ob ich es so enden lasse, mit diesem Kompromiss. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Lasst euch überraschen. Ich führe jetzt erst mal ein paar Fäden zusammen, denn Majas Abenteuer hatte Konsequenzen.


    Alladrinek

    Maja verbrachte den nächsten Tag damit, ziellos durch das Hauptquartier zu wandeln. Ihr Pech war nur, dass sich unter den Libellen, mit denen sie zuvor zusammen gearbeitet hatte, herumgesprochen hatte, dass Lilia in Wirklichkeit eine Kamiraen war. Ständig wurde sie von irgendjemandem erkannt und musste sich dann notgedrungen mit ihm oder ihr unterhalten. Außerdem war sie mittlerweile tatsächlich zu mittelschwerer Berühmtheit gelangt. Es waren so einige Geschichten über sie im Umlauf, von denen nicht einmal die Hälfte stimmte. Das Phänomen hatte sie schon früher beobachtet. Die Leute erzählten spannende Geschichten und weil sie irgendeinen griffigen Titelhelden brauchten, schnappten sie sich einen Kamiraen. In dieser Welt kamen noch schneller Gerüchte auf als in der anderen. Vielleicht, weil die wenigsten auf die Schnelle entlarft werden konnten. Aber Maja kannte sich mittlerweile ganz gut im Hauptquartier aus und wenn sie Leuten aus dem Weg gehen wollte, fand sie ihre Möglichkeiten.
    Gegen vier ging sie zum Speisesaal und holte sich ein Gemüse-Omelett. In einer der abgegrenzten Ecken verspeiste sie es und warf jedem, der ihr zu nahe kam, böse Blicke zu. Bis plötzlich Karim mit einer Gruppe von Jungen, die allesamt etwas jünger waren als er, den Speisesaal betrat. Maja winkte ihm zu und zu ihrer großen Erleichterung setzte er sich zu ihr. Mitsamt der ganzen Truppe.
    „Gut, dich zu sehen“, sagte er zu Maja. „Wir haben uns große Sorgen gemacht.“
    „Es tut mir Leid“, antwortete sie ehrlich. „Bist du sehr sauer auf mich?“
    Karim schüttelte den Kopf. „Guckt woanders hin“, fuhr er dann seine Begleiter an, die Maja alle mit offenem Mund anstarrten.
    „Ist sie deine Freundin?“, fragte einer von ihnen.
    Karim wurde knallrot. „Nein“, fauchte er und Maja musste lachen. „Hast du übrigens heute Abend Zeit?“, fragte er sie dann, was seine Begleiter ziemlich erheiterte.
    „Tut mir Leid, ich wollte zu einer Versammlung der Kamiraen.“
    „Du wolltest?“, fragte Karim überrascht. Den anderen Jungen klappte derweil der Mund noch weiter auf.
    „Nicht direkt“, sagte Maja. „Aber vielleicht habe ich danach ja noch Zeit.“
    „Ist schon gut, wir können uns auch morgen noch treffen. Sechs Uhr bei mir, wie wär's?“
    „OK. Wer sind eigentlich die?“, fragte Maja neugierig, und bedachte die Truppe, die jetzt flüsternd darüber spekulierte, ob Maja eine Kamiraen war. Wenigstens hatte es sich bei denen noch nicht herumgesprochen.
    „Das ist unsere zukünftige Schwertkampfelite“, antwortete Karim. „Traurig, oder?“
    Daraufhin brach die zukünftige Elite in Protestgeschrei aus und Maja prustete in ihr Omelett.

    Als sie später zu ihrem Zimmer kam, stand die jetzige Schwertkampfelite in Form von Tabea ungeduldig wartend vor der Tür. Sie machten sich gleich auf den Weg.
    „Du wirst dich heute ein wenig geduldiger zeigen müssen, als gewöhnlich“, sagte sie. „Die Kamiraen haben wichtigen Besuch und du solltest mit deiner Antwort warten, bis er gegangen ist. Unterbrich sie ja nicht vorher.“
    Maja nickte. Ihr Abenteuer in der Eiswüste hatte ihr Gemüt ohnehin ziemlich abgekühlt. Wenn es eine Zeit gab, in der sie geduldig sein konnte, dann jetzt. Sie war so erleichtert wieder im Warmen zu sein, dass sie fürs Erste nicht vorhatte, irgendeine Art von Aufstand zu beginnen.
    „Was für Besuch denn?“
    „Sarian ist hier.“
    „Der Obermagier?“, fragte Maja, die sich beim Klang dieses Namens an schwarzgraues Haar und stechend grüne Augen erinnerte.
    „Ja. Die Kamiraen haben viel mit ihm zu besprechen. Allgemein haben sie im Moment viel zu besprechen.“
    „Tabea“, sagte Maja plötzlich, als sie merkte, dass ihr die Umgebung nicht so bekannt vorkam, wie sie sollte. „Warum gehen wir nicht in den Ratssaal?“
    „Der Rat tagt heute woanders.“
    „Warum?“
    Tabea seufzte. „Wir haben Ärger mit dem Großkönig, mächtig Ärger.“
    „Wegen mir?“, fragte Maja erschrocken. Sie hatte nicht vergessen, dass der Großkönig ihr den Feldzug gegen Kock übel genommen hatte.
    „Irgendwie schon, aber der Großkönig sucht seit längerem nach einem Grund, die Kamiraen in die Schranken zu weisen. Er kann es nicht leiden, dass wir ihm den Zugang zur anderen Welt verweigern und die Kontakte dorthin selbst in die Hand nehmen. Er versteht einfach nicht, dass sich das Leben in der anderen Welt völlig anders gestaltet, als hier, ganz abgesehen vom Politikverständnis. Ich sage es mal so: wir trauen ihm nicht das nötige Feingefühl zu. Und er fühlt sich von uns hintergangen und will uns aus dem Weg haben. Jetzt hat er endlich einen Grund.“
    „Greift er uns an?“, fragte Maja. Sie konnte es nicht glauben.
    Tabea verneinte. „Ich würde sagen, er war kurz davor, aber dann haben sich die Magier plötzlich geschlossen auf unsere Seite gestellt. Außerdem hat der Großkönig schon genug Scherereien mit Fürst Dreizehn, zumindest hätte er sie, wenn er Dreizehn endlich mal ernst nehmen würde. Aber er hat uns haufenweise Einschränkungen auferlegt und uns einen Spitzel auf den Hals gehetzt: Tuma Alladrinek. Er verlangt bei allen Sitzungen des Rates anwesend zu sein, aber das kommt überhaupt nicht in Frage, deshalb tricksen wir ihn ein wenig aus. Wir lassen ihn nur bei jedem zweiten oder dritten Treffen dabei sein, ansonsten treffen wir uns zu Zeiten, die wir ihm nicht mitteilen, oder an anderen Orten, die er nicht kennt.“
    Maja dachte über das Gehörte nach, während sie Tabea eine schmale, gewundene Treppe hinab folgte. „Warum haben sich die Magier auf die Seite der Kamiraen gestellt?“, fragte sie, als sie durch einen breiten Korridor mit hohen Fenstern auf der rechten Seite eilten.
    „Nun, sie waren recht beeindruckt, wie du den Wald gerettet hast.“
    „Ehrlich?“, fragte Maja verblüfft. „Ich dachte, alle seien furchtbar wütend.“
    „Furchtbar wütend würde ich nicht sagen. Die Meinungen über dich gehen seitdem ziemlich weit auseinander. Was die Einstellung der Magier angeht: die waren schon immer schwer berechenbar.“ Tabea verstummte, als sie eine unscheinbare Tür erreichten. Sie klopfte kurz und die beiden traten ein.
    Elf Frauen und Männer sahen ihnen entgegen. Sie hatten mehrere nicht zusammen passende Tische aneinander gestellt und sich auf kleine Stühle um das Gebilde herum gesetzt. Sahara war nicht dabei, stattdessen saß der grün gewandete Zauberer Sarian unter den Kamiraen. Noch schien die Versammlung nicht begonnen zu haben. Alle redeten wild durcheinander und warfen Tabea und Maja freundliche oder missmutige Blicke zu, als sie eintraten.
    Maja fragte Tabea, wo Sahara sei.
    „Sie ist müde“, kam die Antwort. „Sie war schon bei den letzten drei Sitzungen dabei.“
    Maja seufzte. Der Anblick von Sahara hätte sie zwischen all den ernsten Gesichtern sicherlich aufgeheitert.
    Die Sitzung begann und Tabea machte sich aus dem Staub. Maja befolgte ihren Rat und wartete ab, bis man sie sprechen ließ, doch die Zeit bis dahin kam ihr fürchterlich lang vor und sie langweilte sich zu Tode. Die Kamiraen und Sarian sprachen darüber, dass sie ein paar Magier dauerhaft in Miriam stationieren sollten, sie redeten über den Großkönig, über die Ernennung eines neuen Despriten für das achte Königreich, die sich hinauszögerte, und über Tuma Alladrinek, der sie alle offenbar so unvorstellbar nervte, dass Fiona vorschlug, Sarian solle ihn verhexen. Der Obermagier fand das überhaupt nicht komisch und bat mit grimmiger Miene um mehr Ernsthaftigkeit.
    Maja hatte nicht den Eindruck, dass die Kamiraen besonders viel beschlossen, doch als Sarian schließlich als erster aufstand, wirkte er zufrieden. „Ich werde mich nun auf den Weg machen. Termine, Termine, Termine“, sagte er entschuldigend. „Um eines würde ich aber noch bitten und zwar um eine Unterredung mit Maja Sonnfeld.“
    Maja horchte auf. Jonathan Niber wechselte einen Blick mit Kandrajimo.
    „Nun, wenn sie nichts dagegen hat“, sagte Niber, sah jedoch skeptisch aus.
    Maja zuckte mit den Schultern und nachdem der Obermagier sich von allen verabschiedet hatte, folgte sie ihm vor die Tür.
    „Ich wollte dir danken, Maja“, sagte er, nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Sie starrte ihn mit großen Augen an. „Dafür, dass du den Wald geschützt hast. Ich glaube kaum, dass es Sinn hat zu fragen, wie du das alles zuwege gebracht hast, oder?“
    „Weiß ich selbst nicht so genau“, musste sie zugeben.
    „Aber du hattest Hilfe? Oder warst du die Hilfe?“ Er lächelte plötzlich als kenne er ein Geheimnis, dass sie selbst nicht kannte. „Der Dark Forest ist ein höchst eigenartiger Ort. Einige behaupten sogar, dass er das Zentrum der Magie auf dieser Seite des Gebirges sei. Das mag stimmen oder nicht, fest steht, dass er diese Welt im Gleichgewicht hält und dass in ihm ein ganzes Stück Magie verborgen ist, von der wir nicht die leiseste Ahnung haben. Deshalb ist er für uns Magier schützenswert und wir würden ihn mit unserem Leben, vielleicht sogar mit unseren Seelen verteidigen.“
    „Ach ja?“, sagte Maja, „da seid ihr aber reichlich spät gekommen.“
    „Zugegeben“, sagte Sarian und sah ihr scharf in die Augen. Und wie sich herausstellte, hat die Natur selbst sich aufgemacht, sich zu wehren. Offenbar hat sie dich als Werkzeug benutzt.“
    Maja schwieg dazu. Sie glaubte nicht, dass Sarian vollkommen begriff, was geschehen war. Obwohl er es im Ansatz vielleicht sogar richtig sah. So ganz verstand sie es ja selbst nicht.
    „Jedenfalls möchte ich dir danken“, seufzte der Obermagier, „und dir im Namen aller Magier alles Gute wünschen. Und ich möchte dir das hier geben.“ Mit diesen Worten löste er den roten Stein aus der Halterung seines Stabes und reichte ihn Maja. Maja nahm den Feuerstein wortlos entgegen und starrte auf die glänzende Oberfläche, in der sie ihr eigenes Gesicht gespiegelt sah. „Nach dem, was du getan hast, hast du ihn dir verdient“, sagte er.
    Maja bedankte sich.
    „Bedank dich nicht“, sagte Sarian, „ich hätte ihn dir schon viel früher geben sollen. Außerdem ist es kein großer Verlust für mich. Ich muss mir bloß einen neuen Schmuck für meinen Stab besorgen. Magisch gesehen hat er keinen Wert für mich.“ Er zwinkerte ihr zu und ging dann davon.
    Maja sah ihm verwirrt nach. Entweder hatte Sarian gelogen, oder er war ziemlich dumm. Feodor hätte für diesen Stein alles gegeben, schon allein aus Neugierde. Sie dachte einen Moment darüber nach, dann steckte sie ihn in ihre Tasche und schob sich durch die Tür wieder in den Raum, in dem die Kamiraen bereits auf sie warteten.
    „Alles in Ordnung, Maja?“, fragte Kandrajimo.
    Sie nickte.

    Als Maja ihr Zimmer betrat, stellte sie fest, dass jemand den Adventskalender auf ihren Tisch gestellt hatte. Sie hatte noch neun Tage an Nüssen aufzuholen. Sie wollte schon nach einer davon greifen, als ihr klar wurde, dass sie keinen Hunger hatte. Stattdessen hockte sie sich ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Sie musste nachdenken … das Pro und Kontra abwägen.
    Ihre Eltern und Käse hier in dieser Welt. Mit ihr. So ganz konnte sie sich mit diesem Gedanken immer noch nicht anfreunden. Es hatte seinen Reiz, ja. Sie würde sich damit abfinden müssen, in dieser Welt zu sein, aber wenigstens hätte sie dann die Menschen, die sie liebte, an ihrer Seite. Sie hätte ein Zuhause, könnte wieder morgens von ihrer Mutter geweckt werden und danach über das lustige Gesicht ihres Vaters am Frühstückstisch lachen. Und dann? Wie würde der weitere Tagesablauf aussehen? Maja wurde mit einem Schlag klar, dass er sich vollkommen verändern würde. Ihre Eltern müssten ihre Berufe aufgeben, in dieser Welt gab es keinen Bedarf an Informatikern und Chemielehrerinnen. Käse würde nicht mehr zur Schule gehen können, oder wenn doch, würde es eine komplett andere Schule sein. Sie würden all ihre Freunde zurücklassen und den Kontakt zu ihnen abbrechen müssen. Maja wurde klar, dass es überhaupt nicht das war, was sie gewollt hatte. Anstatt endlich diese Welt verlassen zu können, würde sie ihre Eltern in ihre vertrackte Situation mit hineinziehen. Und was würden sie davon halten? Maja war sich fast sicher, dass sie diese Welt nicht mögen würden. Und was würden sie zu den Kamiraen sagen, die ihre Tochter entführt und in diese riesige Gefahr gebracht hatten? Begeistert wären sie sicher nicht, eher stinksauer. Es würde Streit geben, viel Streit, Maja konnte ihn schon förmlich riechen.
    Sie dachte lange darüber nach, versuchte, sich das Leben vorzustellen, dass sie hier mit ihrer Familie haben konnte, und es mit dem Leben, das sie Zuhause haben konnte und mit dem, das sie jetzt hatte zu vergleichen. Sie wusste, welches Leben sie haben wollte, aber wie hoch waren die Chancen, es zu erreichen? War es Zeit für einen Kompromiss?
    Als es später am Tag an der Tür klopfte, saß Maja auf ihrer Fensterbank, sah in den grauen Regen hinaus und dachte immer noch nach.
    „Ja bitte?“, sagte sie und den Kopf zur Tür herein streckte Tabea. Als sie Maja sah, kam sie ganz in den Raum und schloss die Tür hinter sich.
    „Was gibt’s?“, fragte Maja, während Tabea das Gepäck von dem Stuhl räumte, auf den die junge Kamiraen es einfach fallen gelassen hatte, und sich setzte.
    „Du solltest dich umziehen“, sagte sie mit Blick auf Majas Pelze, von denen sie nur einige auf dem Bett zurück gelassen hatte.
    „Mir ist nicht zu warm“, gab Maja zurück.
    „Du trägst seit Tagen nichts anderes. Und irgendetwas hier riecht ziemlich eklig.“
    „Oh“, sagte Maja und sprang von der Fensterbank. „Aber das bin ich nicht, das ist das Knutiz.“ Sie zog den Beutel aus ihrer Tasche. Tabea rümpfte die Nase und nahm ihn Maja aus der Hand.
    „Du hast nichts dagegen, wenn ich das entsorge?“, fragte sie. „Wasch dich solange und zieh dich um. Hast du sonst noch irgendetwas Verderbliches dadrin?“
    Sobald Tabea mit einem Stapel altem Proviant von Maja verschwunden war, huschte diese in den nächsten Waschraum. Eine halbe Stunde später saß sie sauber in frischen Kleidern auf dem Bett und Tabea nahm wieder Platz auf dem Stuhl.
    „Hast du über das Angebot der Kamiraen nachgedacht?“, fragte sie ernst.
    Maja nickte. „Ja, aber ich kann mich nicht entscheiden.“
    „Warum nicht?“
    „Mir gefällt der Gedanke nicht. Aber wenn das meine letzte Chance ist …“
    „Das ist es nicht“, sagte Tabea überzeugt. Maja verstummte erstaunt. „Ich rate dir, das Angebot abzulehnen.“
    „Was?“
    „Ich habe dieses Jahr die eine oder andere Gelegenheit bekommen, deine Eltern zu beobachten. Ich habe aufgepasst, dass Dreizehn nicht versucht, ihnen etwas anzutun, aber aus irgendeinem Grund schien er nicht einmal daran zu denken. Was ich sagen will ist, dass deine Eltern nicht in diese Welt passen. Sie würden hier nicht glücklich werden – niemals. Und auch du würdest nicht glücklich werden. Du hast gesagt, du willst nach Hause und das hat sich nicht geändert. Wenn du jetzt aufgibst und deine Eltern herholst, wirst du vielleicht eine Weile zufrieden sein, aber was ist im nächsten Sommer? Du wirst dich fragen, wie es gewesen wäre, das Angebot nicht anzunehmen – weiterzukämpfen. Ich denke, du wirst nur glücklich, wenn du zurück nach Hause kehrst, egal wie riskant es ist. Ich habe lange gebraucht, um das zu akzeptieren, das gebe ich zu. Aber ich habe es schlussendlich getan und die Kamiraen werden es vielleicht auch tun. Also denk darüber nach, ob du dieses Angebot annehmen kannst, oder nicht. Ich bin sicher, es wird nicht deine letzte Chance sein.“
    Maja hatte ihr schweigend zugehört. „Ich werde darüber nachdenken“, sagte sie. „Wann ist die nächste Sitzung des Rates der Kamiraen?“
    „Morgen Abend. Soll ich dich abholen?“
    Maja nickte.
    Nachdem Tabea gegangen war, blieb sie in nachdenklicher Stimmung zurück. Tabea war immer der Meinung gewesen, sie solle sich nicht so anstellen. Warum hatte sie ihre Meinung jetzt geändert? Warum war sie überhaupt in letzter Zeit so nett zu Maja? Sie konnte es nicht verstehen, aber irgendwie schien Tabea plötzlich auf ihrer Seite zu sein. Oder spielte sie ihr nur etwas vor?

    Und weil's so schön war, geht es gleich weiter. Ich kann mich gerade nur auf diese Geschichte konzentrieren, also mache ich damit weiter, obwohl ich mir eigentlich vorgenommen hatte, an der anderen zu schreiben. Was mache ich nur, wenn ich mit dieser fertig bin?
    Die nächsten Entwicklungen könnten euch überraschen, vielleicht aber auch nicht. Bestimmt aber stimmen sie euch nachdenklich.
    Und eine fette Überraschung habe ich auf jeden Fall noch in meinem Hut versteckt, aber das dauert noch ein paar Seiten. Und mehr verrate ich nicht. :diablo:



    Ein Friedensangebot

    Sie brauchten lange für die Rückreise, wie lange genau, konnte Maja später nicht sagen. Kandrajimo und Tamor planten jede Menge Pausen ein, mit der Begründung, Maja müsse sich ausruhen. Diese aber fühlte sich überhaupt nicht müde, nur Langeweile hatte sie tierisch. Während der allerersten Pause, kurz nachdem sie das Große Gebirge erreicht hatten, verschwand Kandrajimo ins Blaue hinein und tauchte erst mehrere Stunden später wieder auf. Er berichtete, dass er dem Rat der Kamiraen Bericht erstattet hatte, dass es Maja gut ging. Dann wollte er von Maja genau wissen, was sie erlebt hatte. Sie berichtete von dem Tor und dem Dorf im Schnee, von Tokru, Selran und Kemanon und von Tjepitjas. Sie ließ nicht eine Einzelheit aus.
    „Schneepferde sagst du?“, warf Tamor ein, als sie geendet hatte. „Und sie hatten Flügel?“
    Maja nickte.
    „Hast du je davon gehört?“, fragte Kandrajimo den Zauberer.
    „Von geflügelten Pferden hört man hier und da“, antwortete Tamor. „Ich kenne allerdings niemanden, der eines besitzt.“
    „Kemanon sagte, man darf nicht versuchen, sie festzuhalten. Sie gehen, wohin sie wollen.“
    „Genau wie Taramos und Penelope“, meinte Tamor. „Meistens kommen sie, wenn ich sie rufe, doch sie haben auch ihren eigenen Willen. Und vielleicht kommen sie eines Tages nicht mehr. Sie brauchen ihre Freiheit.“
    Bei dem Wort Freiheit verdüsterte sich Majas Stimmung. „Wenn die Kamiraen mich noch einmal einsperren, dann haue ich für immer ab“, sagte sie zu Kandrajimo. „Ich bin jetzt schon zwei Mal aus Miriam raus gekommen, ohne dass sie es wollten. Ich schaffe es auch ein drittes Mal.“
    „Alles wird gut“, antwortete Kandrajimo darauf nur, allerdings mit einer sehr unglücklichen Miene. Maja beschloss, seinen Gesichtsausdruck fürs Erste zu ignorieren.
    „Apropos“, sagte Tamor plötzlich. „Der nächste, der ohne meine Erlaubnis meine Halbdrachen ruft, bekommt von mir mächtig Ärger. Sag das auch deinen Freunden, ja?“

    Sie machten einen Zwischenstopp bei Tamor, wo sie sich den Bauch mit Keksen vollschlugen und die Nacht in gemütlich warmen Betten verbrachten. Erst spät am nächsten Tag flogen sie weiter. Maja dachte darüber nach, dass sie in letzter Zeit so oft auf Halbdrachen geritten war, dass es irgendwie seinen Reiz verloren hatte. Es war einfach nur ungemütlich. Sogar auf Tjepitjas zu reiten war angenehmer gewesen, denn der hatte ein flauschiges Fell gehabt, in das man seine eisigen Finger vergraben konnte und er war außerdem nicht so halsbrecherisch schnell unterwegs gewesen.
    Sie landeten am 17. Dezember im Innenhof des Hauptquartiers der Kamiraen in Miriam. Der Schnee war geschmolzen und hatte den Hof nass und grau zurückgelassen. Maja erfuhr das Datum deshalb, weil Feodor, der die Landung aus einem Säulengang heraus beobachtete, ihr kopfschüttelnd berichtete, dass sie eine ganze Menge Türchen an ihrem Adventskalender zu öffnen habe. Dann umarmte er sie und erklärte ihr, dass er sie besser in einen Hund verwandeln und an einer Leine mit sich führen solle, damit sie nicht mehr abhauen und ihm einen solchen Schrecken einjagen könne.
    „Aber Respekt“, sagte er dann. „Du bist einem Kamiraen und einem Zauberer eine ganze Weile entwischt. So mancher Gauner könnte sich bei dir eine Scheibe abschneiden.“
    Maja hatte nur ein müdes Lächeln dafür übrig. Ihr war nicht nach Scherzen zumute. Vor allem als sie feststellte, dass nicht nur Matthias, sondern auch Karim und Jinna sich nicht blicken ließen. Sie fragte Feodor, wo sie waren.
    „Matthias macht seinen üblichen Kram“, gab der Zauberlehrling zurück. „Ich mache mir langsam wirklich Sorgen um ihn. Was Karim und Jinna betrifft, die wollen dich nicht sehen. Sie sind wohl ein wenig sauer auf dich. Wir haben uns wirklich Sorgen um dich gemacht, wir dachten, du stellst irgendetwas richtig dummes an und gehst drauf.“
    „Das wäre ich fast“, gab Maja zu.
    „Versprich mir bitte, dass du das nie wieder machst“, sagte Feodor.
    Maja sah ihm in die Augen. Sie waren voll von ehrlicher Sorge, doch sie musste ihn enttäuschen. „Das kann ich nicht.“
    „Na dann“, sagte Feodor und es klang beleidigt.
    Er wollte sich schon abwenden. Maja schluckte schwer. Sie war allen auf den Fuß getreten und jetzt waren sie sauer. Matthias schon lange, die Kamiraen und Tabea auch, und jetzt auch noch Tamor, Karim, Jinna und Feodor. Euen sowieso. Hatte sie irgendjemanden nicht verletzt? Dabei wollte sie doch nur nach Hause. Ihr traten Tränen in die Augen.
    „Warte!“, rief sie. „Weißt du, was die Kamiraen sagen?“
    Feodor drehte sich noch einmal zu ihr um. Sein Gesicht war völlig undurchschaubar. „Woher soll ich das wissen?“, fragte er. Dann ging er ins Hauptquartier und ließ Maja mit hängendem Kopf stehen.
    Jemand legte ihr die Hand auf die Schulter. Es war Kandrajimo.
    „Lass uns rein gehen, der Rat hat dir etwas mitzuteilen.“
    Seine Worte trugen nicht dazu bei, Maja aufzuheitern. Sie hatte jetzt nicht auch noch Nerven, um sich eine Standpauke des Rates der Kamiraen anzuhören. Aber was blieb ihr schon anderes übrig?

    Die Standpauke fiel ziemlich lang aus. An Einzelheiten konnte Maja sich später nicht erinnern, da sie die meiste Zeit nicht zuhörte, sondern eigenen Gedanken nachhing. Doch zum Ende hin sagte Jonathan Niber etwas, das Maja aufmerken ließ. Sie sah auf in die versteinerten Mienen der Kamiraen am Tisch. Einzig Kandrajimo und Sahara ließen sich anmerken, was sie dachten. Kandrajimo drehte Däumchen und machte ein Gesicht, als hielte er zwei Drittel von Nibers Rede für absolut überflüssig. Sahara fläzte sich gelangweilt auf ihrem Stuhl und lachte ab und an geheimnisvoll in sich hinein, als wisse sie mehr als alle im Raum. Sie ging Maja damit gewaltig auf die Nerven.
    „Wir haben lange darüber gesprochen und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir uns für unser Verhalten bei unserer letzten Begegnung entschuldigen sollten“, gab Niber zu und Maja ruckte erstaunt den Kopf nach oben. „Wir bitten dich, uns zu verzeihen und sind bereit, einen Kompromiss einzugehen. Wir werden dich nicht mehr einsperren. Du brauchst nicht zu den Sitzungen unseres Rates kommen und darfst in Miriam gehen, wohin du willst. Wenn du irgendetwas brauchst, wende dich an uns und wir werden sehen, was wir für dich tun können. Was deine Bitte, in die andere Welt zurückzukehren, angeht, so hat sich unsere Meinung nicht geändert. Es ist zu gefährlich, du solltest besser in Miriam bleiben, wo du in Sicherheit bist. Doch warte!“, sagte er als Maja den Kopf senkte. „Urteile nicht vorschnell. Ich habe gesagt, wir sind zu einem Kompromiss bereit. Wir bieten dir Folgendes an: Wir holen deine Familie hierher, besorgen ihr ein Haus in Miriam und du kannst dort mit ihnen leben. Es wird euch an nichts mangeln.“
    Maja sah ihn an. Vor ein paar Monaten hätte sie dieses Angebot sofort abgelehnt. Ihre Eltern hier in der Welt ohne Namen? Der Gedanke war einfach lächerlich. Doch jetzt zögerte sie. Vielleicht war es ihre einzige Möglichkeit, sie wieder zu sehen. Nachdenklich leckte sie sich die Lippen. Es war nicht das, was sie wollte und alles in ihr sträubte sich gegen einen solchen Kompromiss. Doch es war besser als nichts. Besser als alles, was sie sich je erhofft hatte. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie brauchte Zeit, um darüber nachzudenken. Doch Moment! Sie konnte um Zeit bitten.
    „Kann ich bitte etwas länger darüber nachdenken?“, fragte sie.
    Jonathan Nibers Gesicht hellte sich auf. „Aber natürlich. Du kannst uns deine Entscheidung jederzeit mitteilen. Dieses Angebot bleibt bestehen, egal was passiert.“
    „Gut“, sagte Maja und stand eine Weile verloren im Raum herum, bis Kandrajimo aufstand.
    „Ich bringe dich in dein Zimmer“, sagte er.

    Hallo zusammen. Noch hat mich mein Fleiß nicht verlassen und ich habe einen neuen Teil für euch. So langsam geht es wirklich auf das Ende zu :)

    Eine Stunde später befestigte sie eine Tasche und eine dicke Decke an Tjepitjas Sattel und stieg anschließend selbst hinauf. Während Kemanon für sie gepackt hatte, hatte sie sich bei Tokru bedankt und war danach kurz bei Tehara vorbei gegangen, um sich auch bei ihr und der älteren Frau, die – wie Maja jetzt erfuhr – Teharas Großmutter war, zu bedanken. Nur den alten Selran, mit dem sie gerne noch ein paar Worte gewechselt hätte, konnte sie nirgends auftreiben.
    Kemanon erklärte ihr noch ein paar letzte Dinge, unter anderem, welche Gebiete in der Eiswüste sie besser meiden sollte: „Flieg auf keinen Fall durch Stürme und lande nicht in der Nähe von Wasser. Man weiß nie, wie dick die Eisdecke dort ist. Wenn du Berge siehst, lande auch dort nicht, denn darin befinden sich oft die Höhlen von Eiswölfen. Sobald du in Sicherheit bist, lass Tjepitjas frei, er kommt allein zurecht.“
    „Findet er den Weg zurück?“, fragte Maja.
    „Wenn er will, findet er zurück.“
    „Und wenn nicht?“
    „Dann wird er wohl eine kleine Weltreise machen. Alle Schneepferde sind Weltenbummler. Sie gehen wo der Wind sie hinbläst, man kann sie nicht an einem Ort halten. Adenaras beispielsweise ist manchmal monatelang auf Reisen. Aber er kommt immer wieder hierher zurück. Treu sind sie, aber man darf niemals versuchen, sie festzuhalten. Wenn sie gehen wollen, dann gehen sie. So...“
    Er sah aus, als wolle er noch etwas sagen, aber in dem Moment sahen sie von weitem Selran auf sich zu kommen. Er kämpfte sich langsam durch den Schnee. Kemanon schwang sich auf Adenaras Rücken und er und Maja ritten dem alten Mann entgegen. Schon von weitem sahen sie, dass er etwas metallenes in der Hand hielt.
    „Soso, auf dem guten Tjepitjas davonfliegen“, krächzte er, als sie ihn erreichten. „Clever, aber was machst du, wenn du dich verfliegst?“ Und mit diesen Worten drückte er Maja einen alten, schweren Kompass in die Hand. „Den hatte ich bei mir, als ich aus der anderen Welt hier rüber gekommen bin. Er gehörte meinem Großvater. Ich brauche ihn nicht mehr. Die Sterne verraten mir genauso viel wie jeder Kompass, aber du wirst ihn brauchen, wenn du nicht unnötig Zeit vergeuden willst. Halte dich nach Südosten. Und verlier mir das gute Stück nicht, ich könnte ihn eines Tages zurück verlangen. Und bloß keine großen Dankesreden, ich hatte nicht vor hier zu erfrieren.“ Und mit diesen Worten drehte er sich um und ging wieder von dannen.
    „Danke!“, rief Maja ihm hinterher und betrachtete den Kompass genauer. Er war sehr alt, groß und einfach, ohne überflüssigen Zierrat. Sie vergewisserte sich, wo Südwesten war und verstaute den Kompass in ihrer Jackentasche. Er würde ihr sicher von großem Nutzen sein. Dann bedankte sie sich ausführlich bei Kemanon, bis dieser sie abwürgte, mit der Begründung, auch er habe nicht vor hier zu erfrieren und müsse sich außerdem um den Fisch kümmern. Daraufhin gab Maja Tjepitjas einen Klaps auf den Hals und ritt los. Sie nahmen schnell Tempo auf und schwangen sich dann in den Himmel. Kalter Wind wehte Maja ins Gesicht und sie seufzte vernehmlich. Schon wieder war sie auf einem geflügelten Tier unterwegs durch diese Welt.
    Ihre Reise war sinnlos und gefährlich gewesen und hatte sie fast das Leben gekostet. Jetzt, wo sie wieder unterwegs war, musste sie sich außerdem eine Frage stellen: Sollte sie zurück nach Miriam fliegen, oder weiter nach einem Weltentor suchen? Sie war sich sicher, dass ihr niemand mehr folgte, doch wollte sie nicht noch einmal in eine solch gefährliche Situation gelangen. Und es gab keinerlei Anhaltspunkte, wo sie noch suchen konnte. Im Hinterkopf hatte sie auch ihre Überlegungen der vergangenen Woche. Den wagen Plan, sich in dieser Welt ein Zuhause zu suchen, wenn sie es nicht in ihre Heimat schaffen würde. Doch sie war sich nicht sicher, ob sie das wirklich konnte. Außerdem kam es ihr noch mehr wie aufgeben vor als alles andere. Und sie wäre ganz allein. In Miriam, das wusste sie, hatte sie wenigstens noch Freunde.

    Die Entscheidung wurde Maja abgenommen.
    Sie flog vierzehn Stunden nach Südosten, zwischendurch immer wieder landend, damit Tjepitjas verschnaufen und etwas von den seltsamen, matschigen Früchten essen konnte, die Maja mithatte und die ihre Hände verklebten. Tjepitjas flog langsamer als ein Halbdrache, wenn auch immer noch schnell und er brauchte immer wieder Pausen. Einmal schien er so erschöpft, dass er sich sofort nach der Landung in den Schnee legte und lange Zeit nicht mehr aufstand. Nach einer Weile schlief er sogar ein. Maja blieb wach und schaute unermüdlich zum Horizont, immer in angstvoller Erwartung, einen Eiswolf oder eines der anderen wilden Tiere zu erblicken, von denen Kemanon ihr erzählt hatte. Irgendwann dann packte sie eine kleine Schale aus und schmolz mit den Händen (etwas anderes hatte sie nicht) Schnee, in den sie einen Stärkungstrank tat. Sie weckte Tjepitjas und ließ ihn davon trinken, dann schlürfte sie die Reste auf. Schließlich reisten sie weiter. Maja hatte sich über Tjepitjas Hals gelehnt, die Augen halb geschlossen, und plauderte unentwegt auf das Schneepferd ein. Sie hatte ihm schon ihre halbe Lebensgeschichte erzählt, als sie am Horizont vor dem Sternenhimmel zwei dunkle Schatten ausmachte. Sofort schwenkte Tjepitjas nach rechts, um ihnen auszuweichen. Doch Maja glaubte, die fledermausartigen Gestalten zu erkennen. Sie versuchte, das Schneepferd zu beruhigen und nach Osten zu lenken. Es gelang ihr auch erst, doch als die Silhouetten der Halbdrachen größer wurden, wurde Tjepitjas wieder nervös und wollte die Richtung ändern. Maja lenkte ihn zu Boden und sah von dort aus zu den Halbdrachen hinauf. Als sie näher kamen, fing sie an zu winken und zu rufen und rannte auf sie zu. Tjepitjas dagegen trabte verängstigt in die andere Richtung.
    Maja hatte Glück. Entweder hatten die Halbdrachen oder ihre Reiter sie gesehen. Als die Raubtiere zu Boden schwebten, durchlebte Maja einen Moment des Zweifelns, in dem sie überlegte, ob sie nicht zufällig auf zwei der wilden Artgenossen von Taramos und Penelope gestoßen war, doch dann sprang Kandrajimo vom Rücken eines der beiden, stürzte auf Maja zu und umarmte sie stürmisch.
    „Bei allen Sternen, Maja, ein Glück, dass wir dich gefunden haben. Wir dachten, du bist tot. Ich kann es gar nicht glauben, ich kann es einfach nicht glauben.“ Er drückte sie noch einmal an sich.
    Auch Tamor umarmte sie, dann schloss Kandrajimo sie noch einmal in die Arme. Genervt machte Maja sich los und entdeckte erstaunt eine Träne auf Kandrajimos Wange. Ein schlechtes Gewissen überkam sie.
    „Es tut mir Leid, dass ich weggelaufen bin“, sagte sie ehrlich.
    „Ach was“, murmelte Kandrajimo und wischte die Träne beiseite. „Mir tut es Leid; es war alles meine Schuld. Ich hätte niemals gegen dich kämpfen dürfen. Ich hätte mich nicht dazu überreden lassen dürfen und ich hätte mehr tun müssen, um dir zu helfen. Aber jetzt wird alles anders, das verspreche ich dir. Komm rauf auf Taramos. Es wird Zeit, dass du aus dieser Eiswüste rauskommst.“ Plötzlich trat tiefe Verwunderung auf sein Gesicht. „Wo hast du diese Kleidung her.“
    „Das ist eine lange Geschichte“, sagte Maja. „Ich erzähle sie euch später. Aber vorher muss ich noch etwas erledigen. Wartet kurz hier.“
    Sie hatte Tjepitjas einige Meter entfernt hinter einem Schneehaufen entdeckt. Er war bei der Landung der Halbdrachen zuerst panisch davongerannt, war dann jedoch neugierig wieder näher gekommen. Weiter heran traute er sich aber wohl nicht. Maja ging vorsichtig auf ihn zu. Doch Kandrajimo wollte sie offenbar nicht mehr alleine lassen. Er stolperte hinterher, wartete aber in gebührendem Abstand.
    „Wo hast du nur dieses Pferd her?“, war das Einzige, was er noch sagte.
    Maja nahm Tjepitjas die Tasche und die Decke ab, doch dann wusste sie nicht, was sie mit dem Sattel tun sollte. Schließlich entschied sie, ihn auch abzunehmen, denn Kemanon hatte ja gesagt, Tjepitjas würde möglicherweise nicht sofort zurückkehren und sie wollte ihn nicht mit dem Sattel belasten. Als sie ihn zusammenrollte und in die Tasche stopfte, stellte sie fest, dass er überraschend leicht und platzsparend zu verstauen war. Dann strich sie Tjepitjas noch einmal über die Nase und verabschiedete sich leise von ihm. Als sie ihm den Rücken zukehrte und in Kandrajimos Begleitung zu Taramos ging, spürte sie einen schmerzhaften Stich im Herz. Sie hatte Tjepitjas in den letzten Stunden ins Herz geschlossen und vermisste ihn jetzt schon.

    @Kyelia: Du wirst sehen, Kemanon hat etwas ganz besonders im Sinn. Deine Frage, wie lange Maja schon in der Welt ohne Namen ist, kann ich übrigens leicht beantworten. Ich habe nämlich mal, um nicht durcheinander zu geraten, die Ereignisse in einen Kalender eingetragen (ursprünglich deshalb, weil ich festgestellt habe, dass ständig Vollmond war, was ja schlecht sein konnte. Seitdem passen die Mondphasen zum Jahr 2006 ^^). Maja ist seit Mitte Juni in der Welt ohne Namen und jetzt ist es laut dem Kalender der zwölfte Dezember. Also ist sie seit ziemlich genau einem halben Jahr in dieser Welt.


    Ich entschuldige mich übrigens schon mal im Voraus. Im nächsten Teil ist leider mein inneres kleines Mädchen mit mir durchgegangen :rofl:
    Und mein inneres etwas größere Mädchen, dass es toll fand, sich fremde Sprachen auszudenken.


    Tjepitjas


    Maja ging wie besessen im Dorf hin und her. Sie hatte es in der letzten Stunde bestimmt achtzig mal durchquert und jetzt kannte sie wirklich jeden Quadratmeter, doch Tokru, Kemanon und Selran kamen nicht wieder aus dem Schneehaus, in das sie sich zur Beratung zurückgezogen hatten. Kemanon wollte den anderen einen Vorschlag unterbreiten. Es sollte um sie gehen, doch wie genau dieser Vorschlag aussah wusste sie nicht.
    Kurz zuvor war Tehara zu ihr gestoßen und hatte sie auf ihrer Wanderschaft durch das Dorf begleitet. Sie hatte Maja über die Kamiraen ausgefragt, von denen ihre Großmutter ein paar Geschichten kannte und über die sie gerne mehr erfahren hätte. Als sie merkte, dass Maja überhaupt nicht in der Stimmung war, darüber zu reden, hatte sie versucht, sie für irgendwelche Aktivitäten zu begeistern, die allesamt langweilig oder nach Arbeit klangen. Schließlich hatte sie Maja gebeten, mit ihrem merkwürdigen Verhalten aufzuhören. Damit meinte sie ihr ständiges Hin- und Hergehen. Einige Dorfbewohner bekämen es mit der Angst zu tun, weil sie Maja für besessen von einem Dämon hielten. Doch auch hierauf hatte Maja nur mit einem Schulterzucken reagiert und schlussendlich hatte Tehara sie enttäuscht allein gelassen.

    Plötzlich nahm Maja eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr, an dem Ort, zu dem sie die ganze Zeit mehr Blicke geworfen hatte, als zu irgendeinem anderen. Es war das große Eishaus in der Mitte des Dorfes und jetzt kam Kemanon heraus und ging auf sie zu. Maja ging ihm langsam und beherrscht entgegen, auch wenn sie am liebsten gerannt wäre.
    Kemanon sprach sehr bedacht: „Wir haben lange darüber nachgedacht, aber wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir dich gehen lassen, wenn du es möchtest. Und wir bieten dir etwas an, womit du den Weg möglicherweise schaffen kannst. Auch wenn es trotzdem gefährlich bleibt.“
    „Was bietet ihr mir an?“
    „Komm mit“, sagte Kemanon knapp und ging an ihr vorbei auf die weite Fläche der Eiswüste zu.
    Es dauerte nicht lange, bis sie eine Kante im Eis erreichten, hinter der es fünf Meter weit in die Tiefe ging.
    „Vorsicht hier“, sagte Kemanon und hielt Maja am Ärmel ihrer Pelzjacke fest. „Da vorne ist ein Weg.“ Er zog sie ein paar Meter nach rechts, wo ein Vorsprung den Steilhang hinab führte. Doch noch ehe Maja einen Fuß darauf setzen konnte, sah sie was sich fünf Meter unter ihr befand und vor Erstaunen rutschte sie aus und kullerte den schmalen Weg hinunter bis sie vor einen Schneeberg prallte und mit dem Gesicht in der kalten Masse liegen blieb. Etwas zupfte an ihrer Kapuze. Maja befreite sich aus dem Schnee und sah hinauf in das wundervollste Gesicht, das sie je gesehen hatte. Es war weiß und zottelig mit großen Nüstern aus denen heißer Atem quoll und riesigen, hellblauen Augen, die neugierig auf sie hinab sahen. Das Gesicht mochte zu einem Pferd gehören, aber vielleicht war es auch ein zotteliger Hund. Nein, Hunde hatten andere Nasen.
    Maja rollte sich zurück und stand auf, um festzustellen, dass sie tatsächlich vor einem riesigen Pferd stand. Nur dass es anders aussah als jedes Pferd, das Maja kannte. Es war kräftig und stämmig und dabei riesengroß, größer als die meisten seiner Art, die Maja bisher gesehen hatte. Sein schneeweißes Fell war so zottelig, dass es wie ein Kuscheltier oder eine Langhaarkatze aussah. Maja musste unwillkürlich grinsen, als sie es ansah. Das Tier wirkte, obwohl es so riesig war, doch irgendwie witzig.
    „Darf ich dir Tjepitjas vorstellen?“, sagte Kemanon, als er vorsichtig den schmalen Pfad hinunter gegangen war und sich mit einem Blick vergewissert hatte, dass es ihr gut ging.
    „Tjepitjas?“, fragte Maja und verhaspelte sich dabei.
    „Der Name bedeutet Schneesturm in einer sehr alten Sprache. Und er passt zu ihm, der Junge ist wirklich sehr stürmisch. Doch mindestens genauso gutmütig. Und hier kommt Adenaras. Das bedeutet unwegsam. Er ist ein wenig stur.“
    Ein zweites Pferd war zu ihnen getreten und schnupperte an Kemanons Jacke.
    „Ja, ich hab dir auch was mitgebracht“, meinte dieser und reichte Adenaras eine schrumpelige Frucht. „Die beiden sind Schneepferde“, erklärte er Maja. „Hier in der Nähe des Dorfes lebt eine ganze Herde von ihnen, von denen die meisten zahm sind und sich reiten lassen. Wollen wir doch mal versuchen, ob sie dich auch lassen. Schau, da kommt Eloita. Tjepitjas, Adenaras und Eloita sind von allen Schneepferden hier die Umgänglichsten. Wenn du es versuchen willst, dann mit einem von den dreien. Am besten mit Tjepitjas oder Eloita. Adenaras ist wirklich eigensinnig.“ Er schob Adenaras Kopf beiseite, der begonnen hatte, an seiner Kapuze zu kauen. Maja musste lachen als Tjepitjas ihr ins Gesicht schnaubte. Sie hatte ihre Entscheidung schon längst getroffen. „Ich würde es mit Tjepitjas versuchen.“
    „Eine gute Wahl“, sagte Kemanon. „Er scheint dich zu mögen.“ Er ließ den großen Sack, den er dabei hatte, zu Boden fallen und er öffnete sich, eine karierte Decke und eine Art Sattel offenbarend. „Jetzt musst du nur noch lernen, wie man sie reitet.“
    „Ich kann reiten“, sagte Maja.
    „Gewöhnliche Pferde vielleicht. Aber diese sind ganz und gar außergewöhnlich.“
    Außergewöhnlich war auch der Sattel. Er war sehr schmal, dafür aber lang, hatte sehr leichte, lederne Steigbügel, die eher an etwas festere Schlaufen erinnerten und keinen Gurt um den Bauch des Pferdes. Kemanon hob zuerst die Decke auf Tjepitjas Rücken und legte dann den Sattel darauf. Er befestigte ihn mit einem langen Gurt zwischen seinem Hals und Schweif. Eine Trense legte er Tjepitjas nicht an. Dann zeigte er Maja einige Schlaufen an der seltsam geformten Decke.
    „Du kannst die Decke länger und kürzer machen.“ Er zeigte es Maja. „Für gewöhnliche Ausritte lässt du sie lang. Seine Seiten sind sehr empfindlich und wie du siehst, deckt der Sattel sie nicht ab. Komm her, ich helfe dir hoch.“
    Er hob Maja auf Tjepitjas Rücken. Es war hoch, sehr hoch und Maja fühlte sich hier oben ganz klein. Tjepitjas schien es überhaupt nicht zu stören, dass gerade ein paar Kilo Lebendgewicht auf seinem Rücken Platz genommen hatten. Er wühlte seelenruhig mit der Nase im Schnee herum. Maja tätschelte ihm vorsichtig den Hals. Auf Tjepitjas zu sitzen war ganz anders als ein Ritt auf ihrem Pferd in Miriam, Penelope. Schon allein der Sattel. Er war nicht unbedingt unbequem und er bot ihr auch genügend Halt, doch er war anders. Vor sich entdeckte sie zwei Gurte, die aussahen, als könne man sich gut an ihnen festhalten und sie klammerte sich daran. Dabei gruben ihre Hände sich tief in Tjepitjas Fell und sie stellte erneut fest, wie dick es war.
    „So“, begann Kemanon. „Zuerst die Grundlagen: Du gibst niemals mit den Beinen Kommandos. Das können Schneepferde überhaupt nicht ab. Wie ich schon sagte, sie sind da sehr empfindlich. Sei sehr vorsichtig, was du mit deinen Beinen machst. Kommandos gibst du mündlich, mit deinem Oberkörper und mit deinen Händen und mit denen hältst du dich auch fest. Und zwar genau da, wo du sie jetzt schon hast. Grundsätzlich eines: Schneepferde verstehen Kyunak und in dieser Sprache musst du ihnen Kommandos geben.“
    „Kyunak?“, fragte Maja dazwischen.
    „Eine uralte magische Sprache, die in dieser Welt gesprochen wurde, bevor es Paratak hier überhaupt gab. Rant'ari heißt geh. Kashnata heißt schneller, nuelni heißt langsamer und jitan Stopp. Mit Sch'tai sagst du ihm, dass er so schnell rennen soll, wie er kann. Die Richtung gibst du an, indem du ihm seitlich an den Hals klopfst und dein Gewicht verlagerst. So kannst du ihn auch antreiben. Klopf dafür mit beiden Händen auf seinen Hals, langsam streichelnd und dicht bei dir um langsam zu gehen, weiter vorne am Hals und schneller damit er rennt. Hinter dich legst du die Hand, wenn er rückwärts gehen soll, aber nur wenn er steht. Und frag mich nicht, wie das Kommando dafür lautet, wir kennen das Wort nicht. Willst du dass er anhält, führ beide Hände von vorne nach hinten an seinem Hals entlang. Und jetzt los. Sorg dafür, dass du deine Kommandos deutlich machst, durch das dicke Fell spürt man nicht besonders viel. Wenn er mal ein Kommando nicht mitkriegt, zupf ihm ein bisschen an der Mähne, das stört ihn nicht. Und du kannst dein Gewicht verlagern, um dich verständlicher zu machen.“
    Maja schwirrte der Kopf von den ganzen fremden Worten, doch die Handzeichen hatte sie sich merken können. Sie übten eine Stunde lang, wobei Kemanon darauf bestand, dass Maja alle Feinheiten bedachte. Sie selbst hatte das Gefühl, dass es hervorragend klappte, was besonders an Tjepitjas lag. Das Schneepferd war aufmerksam und reagierte auf Majas Kommandos, als hätte es ihre Gedanken gehört. Bald schon galoppierten die beiden über den festen Schnee und Kemanon, der ohne Sattel auf Adenaras ritt, kam kaum hinterher.
    „Okay, stopp, stopp, ich sehe, du hast es verstanden“, rief er und Maja bremste Tjepitjas mit geröteten Wangen. Sie konnte sich jetzt sogar die Kommandos merken, beschloss aber, sie bei der erstbesten Gelegenheit aufzuschreiben. „Es gibt nur noch ein letztes zu lernen“, fuhr Kemanon fort. „Zieh die Satteldecke hoch, du brauchst dafür nicht abzusteigen. Und jetzt hol auch die Steigbügel nach oben und mach sie dort an den Haken fest.“ Maja tat, wie ihr geheißen, obwohl sie sich sehr darüber wunderte. „Jetzt musst du ohne Steigbügel reiten.“ Er deutete nach Osten, wo das Schneefeld weit und frei war. „Reite in diese Richtung und nimm so viel Tempo auf, wie möglich ist. Dann machst du das hier.“ Und er stützte sich mit den Händen am Sattel ab, drückte sich nach oben und saß plötzlich auf Knien im Sattel. Adenaras drehte ihm den Kopf zu und sah ihn aus seinen grünblauen Augen verwundert an.
    „Hä, wie?“, machte Maja und versuchte sich hochzustemmen.
    Kemanon machte es ihr noch einmal vor und als Maja es dieses Mal machte, klappte es. Sie stellte fest, dass der Sattel wie geschaffen für eine kniende Sitzhaltung war, sie fand viel besseren Halt als im Sitzen.
    „Gut gemacht“, sagte Kemanon. „Und wenn du das gemacht hast, aber erst dann, rufst du ihm zu: Anitjassé jinjineia Eln'aruk.“
    „Bitte was?“, fragte Maja.
    Er wiederholte es.

    „Und was soll dann passieren?“, fragte Maja, die es zu nerven begann, dass Kemanon so geheimnisvoll tat. „Schwingt er sich dann in die Luft?“
    „Du wirst sehen“, zwinkerte Kemanon.
    Maja seufzte und wiederholte die Worte im Geiste. Anitjassè jinjineia Eln'aruk. „Rant'ari“, sagte sie dann und Tjepitas setzte sich in Bewegung.
    Maja trieg ihn an bis ihr der Wind in den Ohren pfiff und sie sich kaum noch fest halten konnte. Dann drückte sie sich nach oben und landete auf Knien im Sattel. Wenn Tjepitjas galoppierte war es viel einfacher, sich danach dort oben festzuhalten aber viel schwieriger. Es war ungewohnt und sie drohte die ganze Zeit nach vorne über dessen Hals zu rutschen. Kurz bevor sie die Kraft verließ schrie sie die Worte in den Wind, in Erwartung, dass etwas Spektakuläres passierte.
    Anitjassè jinjineia Eln'aruk!
    Sie wurde nicht enttäuscht. Augenblicklich stieß Tjepitjas ein begeistert klingendes Wiehern aus und offenbarte dann, was er unter seinem dichten Fell verbarg. Mit einem Schlag breitete er zwei riesige, weiß gefiederte Flügel aus. Maja erschrak so heftig, dass sie beinahe vergaß, sich festzuhalten. Obwohl sie eben gefragt hatte, ob Tjepitjas sich in die Luft schwingen würde, hätte sie nie im Leben damit gerechnet. Zu gut versteckt waren die Flügel gewesen. Und das, obwohl sie wirklich riesig waren. Die Spannweite war fast so groß wie die eines Halbdrachen und einige der Federn waren lang wie Majas Arme. Tjepitjas schlug drei, vier mal mit seinen Flügeln und hob dann vom Boden ab. Augenblicklich konnte Maja sich wieder gut festhalten, doch sie zitterte immer noch vor Schreck. Vorsichtig lugte sie über Tjepitjas Hals hinweg und sah den Schnee direkt unter ihnen dahinziehen. Sie beugte sich vor und berührte Tjepitjas sacht an einer Stelle unterhalb seiner Ohren und sofort schlug er mit den Flügel und stieg steil nach oben. Schnell griff Maja nach ihrem Sattel, suchte nach einem Halt um nicht nach hinten abzurutschen. Sie begriff jetzt auch, wozu dieser seltsame Sattel gut war, Tjepitjas Flügel waren so riesig, dass weder ein Sattel noch Majas Beine an seine Seiten gepasst hätte, während er flog.
    Maja legte ihre Hand seitlich auf den Hals des Schneepferdes und lehnte sich nach rechts. Sie flogen einen weiten Bogen und kehrten zu Kemanon zurück. Maja strich ihm von oben nach unten über den Hals und Tjepitjas reagierte sofort, segelte zu Boden und kam unsanft auf. Ein Stück musste er noch laufen, dann hielt er an und Maja sprang mit unsicheren Beinen ab und rannte strahlend auf Kemanon zu.
    „Das ist unglaublich!“, rief sie. „Mit Tjepitjas komme ich bestimmt aus dieser Wüste raus.“
    „Lob den Tag nicht vor dem Abend“, meinte Kemanon nur. „Du musst nicht nur die Eiswüste verlassen, sondern auch das Gebirge überqueren. Wir werden dir Decken, Proviant und warme Kleidung mitgeben.“
    „Warme Kleidung habe ich schon“, sagte Maja und deutete auf die dicken Pelze, die sie trug.
    „Oh, wir haben noch viel wärmere. Und wir lassen dich nicht gehen, bevor wir sichergestellt haben, dass du nicht erfrierst. Und du musst uns versprechen, dass du Knutiz essen wirst, wenn dir zu kalt wird.“
    Maja verzog als Antwort das Gesicht zu einer ekelerfüllten Grimasse.

    Es dauerte eine ganze Weile bis Maja den dreien erklärt hatte, wie sie hier herkam, auch wenn sie ihnen mit Sicherheit nicht jedes Detail erzählte. Sie wollte zum Beispiel lieber nicht erwähnen, dass sie eine Kamiraen war. Doch das hatte sie schnell vergessen können. Als Maja den Männern ihren Namen genannt hatte, hatten diese außergewöhnliches Erstaunen ausgedrückt. Es stellte sich heraus, dass sie schon von ihr gehört hatten. Unglaublich, aber wahr – sie standen in regem Kontakt mit den Genêpas, jenem Volk, das Maja auf ihrer letzten Reise hinter das Gebirge kennengelernt hatte, und diese hatten von Maja erzählt.
    Als Maja geendet hatte, sagten Tokru, Selran und Kemanon ihr, dass sie in Sicherheit war. Sie solle sich erst einmal richtig ausruhen. Doch Maja fühlte sich ausgeruht und die einzige Frage, die sie interessierte, war wie sie hier weg kam.
    „Von weggehen kann keine Rede sein“, knurrte Selran sie mit seiner merkwürdig krächzenden Stimme an, „du bist gerade erst fast erfroren.“
    „Erhol dich erst mal“, meinte auch Tokru.

    Die kleine Stadt aus Eis wurde in fahles Licht getaucht, während am Horizont eine blasse Sonne aufging. Maja stand etwas abseits der Iglus und sah auf das weite, weiße Land vor ihr. Sie war kurz nach ihrem Gespräch mit den drei Obersten des Dorfes wieder ins Bett gegangen und hatte bis früh morgens geschlafen. Nach einem kurzen Frühstück war sie hinausgegangen, um zu beobachten wie das Dorf erwachte. Immer mehr Menschen kamen jetzt aus den kleinen Iglus gekrochen. Frauen und Männer gingen zwischen den Schneehäusern und Mauern umher und führten kurze Gespräche, wenn sie sich begegneten. Am Rand des Dorfes machten sich ein paar Männer für die Jagd bereit. Sie hatten Pfeil und Bogen und ein paar lange Netze dabei. Als Maja auf der anderen Seite des Dorfes ankam, sah sie Kemanon ein paar ungewöhnliche tote Tiere an eine Leine hängen. Er war so klein und die Leine hing so hoch, dass er sich auf die Zehenspitzen stellen und bis aufs äußerste strecken musste. Als er sie sah, winkte er sie zu sich.
    „Was sind das?“, fragte Maja, als sie näher kam, und zeigte auf die Tiere.
    „Mein Abendessen“, antwortete Kemanon. „Fisch.“
    „Fische haben keine Beine“, widersprach Maja. Diese Tiere hatten vier davon, kurz und dünn mit Häuten zwischen den Zehen, und sie hatten einen seltsam breiter werdenden Schwanz, einen schuppigen Körper und Spitze Zacken am Hals. Alles in allem hatten sie eine Form, die auch einem Dinosaurier gestanden hätte, waren aber nur fünfzig Zentimeter lang und sehr schlank.
    Kemanon lachte. „Diese Fische schon“, sagte er und zeigte ihr einige lange Schlitze unterhalb der Zacken. „Sie haben Kiemen und außerdem schmecken sie genau wie Fisch.“
    Maja runzelte zweifelnd die Stirn, was Kemanon noch ein Lachen entlockte. „Du hast doch sicher von Walen gehört, oder? Sie leben im Wasser, aber sie brauchen Luft zum atmen. Bei diesen Kelninen, wie wir sie nennen, ist es umgekehrt. Sie verbringen die meiste Zeit ihres Lebens an Land, müssen, um zu überleben, aber wieder ins Wasser zurückkehren. Kelninen sind unsere zweithäufigste Jagdbeute und sie schmecken mit Sicherheit besser als Knutiz.“
    „Knutiz?“, fragte Maja.
    „Das Zeug, das wir dir gegeben haben, nachdem wir dich gefunden hatten. Es ist sehr nahrhaft und wärmt einen richtig schön durch, aber schmackhaft ist es leider nicht. Hast du Lust, mit reinzukommen?“
    Maja folgte ihm dankbar in sein Iglu. Obwohl die Temperatur hier drin nur knapp über Null Grad lag, kam es ihr angenehm warm vor. Die dicken Handschuhe behielt sie trotzdem an.
    „Und, hast du dich gut erholt?“, fragte Kemanon.
    „Mir geht es wieder so gut wie eh und je“, meinte Maja. „Wirklich“, fügte sie hinzu, als sie seinen ungläubigen Blick bemerkte. „Deshalb würde ich gerne noch einmal mit Tokru sprechen. Ich bin sehr dankbar, dass ihr mich gerettet habt und alles, aber ich kann hier nicht bleiben.“
    Kemanon zog die Augenbrauen hoch. „Was meinst du damit?“
    „Gibt es irgendeinen Weg, wie ich diese Eiswüste verlassen kann? Ich kann hier nicht bleiben.“
    „Warum nicht?“
    Maja antwortete nicht. Wie sollte sie Kemanon erklären, dass die halbe Stunde, die sie heute morgen auf das Dorf hinabgeschaut hatte, gereicht hatte, um ihr klar zu machen, dass sie sich hier noch viel eingesperrter fühlte, als jemals in Miriam? Bereits jetzt hatte sie das Gefühl, jeden Eisblock zu kennen. Das grelle Weiß um sie herum bereitete ihr Kopfschmerzen und die Kälte ging ihr einfach nur gewaltig auf die Nerven. Wenn sie die Handschuhe auszog, erfroren ihre Finger, behielt sie sie an, konnte sie nichts vernünftig greifen; verdeckte sie ihr Gesicht, konnte sie kaum sehen, tat sie es nicht, schmerzten ihre Wangen und Augen vor Kälte und ihre Nase wurde taub. Sowohl draußen, als auch in den Iglus war es kalt. Draußen eindeutig eisig, aber dafür war es in den Iglus dunkel und eng, Maja hatte das Gefühl, darin zu ersticken.
    Kemanon seufzte. „Nun, wir können dich schließlich nicht alleine durch die Eiswüste schicken, von daher würde ich sagen wird es schwierig, eine Lösung zu finden.“
    „Wenn es sein muss gehe ich auch alleine“, sagte Maja, „das macht mir nichts aus. Sagt mir einfach, wie ich den richtigen Weg finden kann.“
    Er sah ziemlich ungläubig aus. „Du bist gerade erst fast erfroren. Außerdem ist die Eiswüste voller wilder Tiere. Es gibt hier Eiswölfe und Finsterlinge.“
    „Ich habe keinen Eiswolf gesehen“, entgegnete Maja.
    „Nun, der Anblick eines Halbdrachens treibt meilenweit jeden Eiswolf in sein Versteck. Aber sie sind sehr gefährlich und man sollte ihnen auf keinen Fall alleine begegnen. Die Finsterlinge sind noch schlimmer.“
    Maja sah ihn flehend an. „Gibt es denn gar keine Möglichkeit?“
    Kemanon runzelte die Stirn. „Natürlich, es gibt immer eine Möglichkeit. In zwei Monaten wird eine Delegation von uns zu unserem Schwesterstamm, den Genêpas, reisen. Vielleicht könntest du sie begleiten.“
    Maja klappte entsetzt der Mund auf. „Zwei Monate?“, keuchte sie. „Warum können sie nicht schon früher gehen?“
    „In zwei Monaten wird die Jagd einfacher sein, vorher können wir niemanden entbehren.“ Seine Stimme klang nun viel verärgerter als zuvor. Maja biss sich auf die Lippe. Sie hatte nicht vorlaut werden wollen.
    „Woher kennt ihr eigentlich die Genêpas?“, fragte sie, um das Thema in unverfänglichere Gebiete zu locken.
    „Wir gehören zum selben Stamm.“
    „Wirklich?“ Maja war überrascht.
    „Ja.“ Er lächelte, schob sie auf einen Stuhl und setzte sich selbst auf seine Schlafstätte. Offenbar hatte er das Interesse in Majas Stimme gehört und er schien selbst ganz wild darauf zu sein, die Geschichte zu erzählen: „Unser Stamm hat seinen Ursprung in der anderen Welt. Ich selbst bin natürlich hier geboren, außer Selran ist seit Jahren niemand mehr aus der anderen Welt gekommen.“
    „Selran kommt aus der anderen Welt?“, fragte Maja verblüfft.
    „Ja“, sagte Kemanon. „Er gelangte durch einen Unfall in diese Welt, aber in fast fünfzig Jahren war er der Einzige. Mit unseren Vorfahren aus der anderen Welt hat er allerdings nur wenig gemeinsam. Er erklärte uns, sie leben nicht mehr dort, wo sie einst waren. Aber wir haben sie nicht vergessen. Ihre Geschichte wird unter uns immer weiter erzählt. Unsere Vorfahren waren Mitglieder eines Stammes namens Cuchupee in der anderen Welt. Sie lebten sehr zurückgezogen in den Bergen und blieben meistens unter sich. Die Cuchupee bestanden aus mehreren Untergruppen, die sich einander immer sehr verbunden fühlten, denn sie waren die gemeinsamen Hüter eines Geheimnisses. In einem unwegsamen Tal, mitten im Gebirge, stand ein riesiges Tor und wer hindurchschritt kam nie wieder zurück.“ Kemanon zupfte gedankenverloren an seinem Handschuh herum. „Die Cuchupee hatten viele Legenden über dieses Tor. Sie glaubten, es wäre ein Tor zum Reich der Toten, von dem es kein zurück gab. Manchmal, wenn jemand beispielsweise einen geliebten Menschen verloren hatte, schritt er oder sie hindurch, um diesem zu folgen und landete hier. Die meisten unserer Vorfahren waren jedoch Verbrecher, die man zur Strafe gezwungen hatte, das Tor zu durchqueren. Viele waren in dieser Eiswüste dem Tode geweiht, doch einige wenige überlebten. Sie halfen denen, die nach ihnen kamen und über die Jahrhunderte entwickelte sich hier ein Parallelstamm. Einige dieser Leute blieben nicht in der Eiswüste, die meisten machten sich auf den Weg nach Süden, wo sie unseren Schwesterstamm gründeten. Heute nennen sie sich Genêpas.“
    „Und wie nennt ihr euch?“
    „Oh – wir brauchen keinen Namen und wir wollen auch keinen.“
    „Ach so“, meinte Maja, „ich dachte nur, vielleicht würdet ihr euch Cuchupee nennen.“
    „Nein. Wir haben mit unseren Vorfahren nichts mehr gemeinsam. Unsere Lebensweise, alles ist so anders. Außerdem haben sie uns verbannt und es wäre nicht richtig, ihren Namen zu tragen.“ Eine Weile sah Kemanon schweigend vor sich hin. Maja starrte zu Boden. Sie hatte die Geschichte sehr spannend gefunden und hätte gerne mehr erfahren, doch konnte sie sich nicht dazu aufraffen, zu fragen. Als sie schließlich aufsah, merkte sie, dass Kemanon sie nachdenklich betrachtete.
    „Was ist?“, fragte sie verwundert.
    „Ich überlege gerade, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, wie du zurück kannst. Weißt du, wir alle waren ziemlich beeindruckt davon, wie lange du durchgehalten hast, bevor wir dich gefunden haben. Du warst meilenweit von dem Tor entfernt. Wenn wir dir die richtigen Hilfsmittel an die Hand geben, kannst du vielleicht doch allein gehen. Schließlich hast du es auch hierher geschafft. Und zwar, wenn ich das richtig verstanden habe, von der –“
    „–anderen Seite des Gebirges, ja“, sagte Maja. Sie sah ihn hoffnungsvoll an.
    „Aber ich muss es mit Tokru und Selran besprechen.“ Er stand auf. „Wie fühlst du dich?“
    „Körperlich hervorragend“, antwortete Maja.
    Dann geh zu Tehara und iss noch etwas. Ich werde dich bald aufsuchen. Aber ich kann nichts versprechen, hörst du? Nichts.“


    Schreibfeder, du hattest schon recht, wie du jetzt sicherlich gelesen hast :thumbup: . Sie kommen ursprünglich aus unserer Welt. Paratak sprechen sie, weil diese Sprache jedem verliehen wird, der das Tor durchschreitet (auf magische Art und Weise). So hat Maja es ja auch gelernt. Ich habe es mir da natürlich etwas einfach gemacht, aber ich hatte keine Lust, dass Maja erst noch eine andere Sprache lernen muss. Außerdem soll sie sich mit allen Menschen in der Welt ohne Namen verständigen können. Also habe ich beschlossen, dass seit 2930 Jahren alle Menschen in jener Welt Paratak sprechen. Es gibt allerdings noch einige wenige Sprachen daneben und es gibt auch noch eine Sprache, die vor dieser Zeit gesprochen wurde. Das ist allerdings alles nicht besonders wichtig ^^