Beiträge von Jennagon im Thema „Auf der Suche nach der Schatulle von Daris“

    Zwei Woche Seefahrt waren schon einiges, aber nun noch die Eiswüste vor sich, überkam Daphne das Gefühl, vollständig Fehl am Platz zu sein. Sie mochte Wärme, nicht Kälte. Seit über einer Woche näherten sie sich unaufhörlich der Hauptstadt. Orra lag wie alles mitten zwischen Eis und Schnee. Nicht einmal Pferde hätten es lange in der Kälte ausgehalten, weswegen eine Kutschfahrt unmöglich war. Daphne trug neben einem aus Wollfell bestehenden Kleid und langer Unterwäsche noch einen gefütterten Mantel, dessen Kapuze und Fellrand ihre Sicht etwas einschränkte. Wenn der Wind blies, konnte sie die Kapute noch zur Hälfte verschließen, aber trotzdem durchdrang die Kälte alles. Zu ihrem Glück waren alle von Delyveih ausreichend ausgestattet worden. Der ewige Winter in Lyc war nichts überraschendes. Auch Tristan schien sich vorab schon auf die Reise ausreichend vorbereitet zu haben.

    Seit Stunden liefen sie bereits auch an diesem Tag über knarzenden Schnee. Daryk kannte die Gegend und sorgte dafür, dass sie nicht abseits der Straße gerieten.
    "Wenn das noch kälter wird, friere ich fest!", hörte Daphne Theical sagen, der etwsa weiter hinter ihr lief. Dem konnte sie nur durch ein Nicken zustimmen. Ihr Gesicht war regelrecht eingefroren und das Formen von Worten tat weh und verkam ohnehin zu einem undeutlichem Genuschel.
    "Man muss sich nur warme Gedanken machen", fügte Thyra hinzu und lief mit Jaris eng nebeneinander.
    Tristan und Aras schien die Kälte weniger auszumachen, da sie strikt geradeaus liefen.
    "In einer Stunde erreichen wir ein Dorf, dort können wir ausruhen", verlautete Daryk von der Spitze des Gespanns.
    Eine Stunde trennte Daphne also noch von einem wärmenden Feuer. Allein der Gedanke daran, machte sie müder, als es gut war.
    Wo die Sonne stand, konnte die Prinzessin nicht einmal sagen, denn sie wurde von dicken Wolken verhangen, die erneuten Schnee ankündigten.
    Vor diesem mussten sie anscheinend im Dorf ankommen, da dadurch die Straße unter einer weiteren, weißen Decke verschwand.

    Aber sie schafften es rechtzeitg und es gab dort sogar ein Gasthaus. Besucher hielten sich in Grenzen, weshalb sie alle einen Schlafplatz fanden und auch der Gastraum war lediglich von Bewohnern des Ortes besetzt und ließ genug Raum, sich an einen Tisch zu setzen und den weiteren Verlauf zu planen.
    "Theicals Mutter", setzte Jaris an und schaute wie der Rest in nachdenkliche Gesichter.
    "Haben wir irgendeine Ahnung, wo sie sein könnte?", wollte Tristan wissen.
    "Anscheinend in einem Verlies, aber wo wissen wir noch nicht", klärte Theical den Soldaten auf und Daphne nickte.
    "Vielleicht sollten wir dem Weg in die Hauptstadt weiter folgen", schlug Daryk vor.
    "Ich denke, Menschen mit gewissen Talenten, werden sie nicht irgendwo einsperren", meinte auch Aras, was Daphne wiederum mit einem Nicken quitierte.
    "Alles in Ordnung?", verlangte dann ihr Verlobte von ihr zu wissen, weshalb Thyra wie so oft mit einem Lächeln bedachte. Gähnend nickte Daphne und legte ihren Kopf auf den Tisch, unterstützt von ihren Armen.
    "Ich habe bloß Hunger und möchte dann schlafen. Wir können den Tod des Königs nicht totschweigen, aber auch Theicals Mutter müssen wir finden. Ich weiß nicht, wo wir anfangen sollen."
    Diesmal nickte Daryk.
    "Vielleicht sind es zu viele Hochzeiten, auf der wir tanzen sollen", sprach Tristan nachdenklich und Daphne richtete sich wieder auf.
    "Wir müssen eins nach dem anderen erledigen oder zwei Sachen gleichzeitig", kam von Jaris Seite.
    Kurz schwiegen alle, aber dann sprach Aras aus, was wohl einige dachten.
    "Sollen wir uns aufteilen?"
    "Ich weiß nicht", gab Daphne nun doch zum Besten, wurde aber kurz vom herangebrachten Essen abgelenkt, was sie bestellt hatten, "wie sollen wir uns dann wiederfinden. Und wenn wsa schiefgeht?"

    "Ein Klabautermann?", fragte Daphne und sah in die ratlosen Gesichter von Thyra, Theical und Tristan. Die drei waren sich auf dem Weg zu ihrer Kajüte begegnet und Theical war seine Skepsis gegenüber der Geschichte anzusehen. Aber wie gewohnt, versuchte er höflich zu bleiben und nach all ihren Begegnungen; wie unwahrscheinlich war da noch ein Klabautermann?! Daphne versicherte ihm, dass damit nicht zu spaßen war, denn sie, als Nordfrau, wusste um die Sagen, aber nicht, wie man denen entgegenwirken konnte. "Den wir mit Süßigkeiten anlocken sollen?", fügte sie hinzu und saß leicht zusammengesunken in ihrem Sessel. Sie war nicht begeistert davon, dass ihr neues Schiff gleich von solch einem Plagegeist heimgesucht wurde. Wobei diese eigentlich die Seemänner warnen sollten, falls Gefahr drohte. Allerdings schienen diese Wesen irgendwann gelangweilt von ihrer Aufgabe und vertrieben sich diese, indem sie Streich spielten, wie kleine Kinder.
    "Und was machen wir mit ihm, wenn wir ihn haben?", verlangte Daryk zu wissen, der zur Rechten von Daphne stand. "Auf einer Insel aussetzen?"

    "Nein, das bringt Unglück", überlegte die Prinzessin laut. "Man kann ihn in einen Käfig sperren und auf einem anderen Schiff aussetzen."

    "Dazu müssen wir ihn aber erstmal einfangen!", stellte der junge Solat vor Daphne richtig fest, dem die anderen beiden nur beipflichteten.

    "Wenn wir ihn haben, könnten wir irgendwo anlegen und ihn so auf einem anderen Schiff aussetzen, aber wie behält man ihn so lange gefangen? Wenn das so einfach wäre, dann ..."

    Thyra hatte recht. Es waren magische Wesen. So einfach konnte man die kleinen Kerle nicht am Hosenboden schnappen und einfach festhalten. Sie waren zudem auch sehr flink.

    "Vielleicht kann ...", erwiderte der Hüne, sprach aber nicht weiter. Es schien ihm immer noch, nach allem was geschehen war, seinen Namen auszusprechen, auch wenn mittlerweile keine Wut mehr mitschwang.

    Daphne verstand, worauf der Hüne hinauswollte und nickte.

    "Vielleicht kann Aras uns helfen. Er kennt nicht Magie aus, wie man einen Bann oder Zauber wirkt. Vielleicht kann er einen Käfig so verzaubern, dass der Klabautermann nicht heraus kann."
    "Fragen kann man ihn ja mal", entgegnete der blonde Soldat erneut.
    "Theical kann vielleicht seinen Schatten ausfindig machen", schlug Daphne erneut vor. "Jaris, Daryk und ich kümmern uns um die Süßigkeiten, ihr versucht diesen Klabautermann zu finden und redet mit Aras. Dann treffen wir uns an Deck und schauen, was wir tun können. Wer doch gelacht, wenn wir diesen kleinen Gnom nicht von Bord bekommen, ehe es wirklich noch Verletzte gibt."

    Am nächsten Morgen wurde Daphne durch einen Kuss auf ihre rechte Schulter geweckt. Noch schläfrig wandte sie sich ihrem Ritter zu, der auf die Glocke aufmerksam machen wollte, welche das fertige Frühstück für die Gäste und Hoheiten ankündigte.
    „Ist es schon so spät?“, nuschelte die Prinzessin in ihr Federkissen und vergrub darin ihr Gesicht.
    „Leider ja“, gestand Daryk und richtete sich bereits angezogen auf.
    „Da draußen bin ich eine Prinzessin. Hier drin bin ich nur ich. Können wir nicht einfach hier in meiner Kajüte bleiben?“
    „Wegen mir gern“, antwortete der Hüne grinsend, „aber ich glaube, die anderen werden nach uns sehen, wenn wir nicht zum Essen kommen.“
    „Vor allem du nicht“, erwiderte Daphne ebenfalls grinsend und drehte ihr Gesicht Daryk zu. Dieser verschränkte schnaubend seine Arme vor sich und tat gespielt beleidigt.
    „Steh´ auf, Prinzessin“, mahnte er sie in einem ebenfalls nicht ernst gemeinten Tonfall, weshalb sich Daphne nun doch erhob. So wie Rhenus sie erneut erschaffen hatte, lief sie zu ihrem kirschhölzernen Kleiderschrank und öffnete diesen. Ohne groß zu suchen, warf sie ein violettes Kleid auf ihr Bett, samt der restlichen Wäsche und einem sandfarbenen Mantel, da der Wind auf See viel kälter war, als an Land.
    „Glaubt nicht, dass ich nicht merke, dass Ihr mich beobachtet, Ser Daryk Hylon“, tadelte Daphne ihren Auserwählten und schaute erst kurz nach ihrem Satz lächelnd an der Tür vorbei. Daryk erwiderte zuerst ihr Lächeln, räusperte dann ins seine rechte Faust und schaute weg. Ihr blieb aber nicht verborgen, dass er sie wieder ansah, nachdem sie sich wieder dem Schrank gewidmet hatte. Seufzend schloss sie die Türen, als sie glaubte alles zu haben und lief auf das Bett zu.
    „Ich sollte wirklich zeigen, dass es mir wieder gut geht. Die anderen so im Ungewissen zu lassen, möchte ich auch nicht. Selbst wenn das halbe Schiff einen Hofknicks macht.“
    „Wenn du länger krank bist, darfst du im Bett bleiben und benötigst Pflege.“
    Noch ein Seufzen folgte, während sich Daphne anzog.
    „Das schon“, erwiderte sie, „aber dann würde auch der Schiffsarzt ständig nach mir schauen und lügen liegt mir nicht in der Natur. Ich habe schon Gewissensbisse, weil ich meinen Bruder und meinen Vater so hinter das Licht geführt habe. Und da log ich nicht, sondern ließ einfach Dinge aus.“
    Als sie ihr Kleid übergestreift hatte, bemerkte sie, wie Daryk zu Boden sah und nur ein: „Verstehe“, herausbrachte.
    „Nein, nein“, warf sie eilig ein und stellte sich vor den Ritter, „verstehe das nicht falsch. Das alles ist jede Lüge wert, aber ich möchte es einfach herausposaunen dürfen wie glücklich ich bin, stattdessen muss ich es verheimlichen. Und das nur, weil irgendjemand sich Stände und Ränge einfallen ließ.“
    Leicht hob sich sein Blick wieder, bevor er sie in den Arm nahm und fest an sich drückte. Leicht betrübt lehnte sie ihren Kopf an seine Brust und atmete tief durch. Nach der vergangenen Nacht wusste sie ohnehin, dass nur noch schwieriger werden würde, ihre Gefühle zu verbergen.
    „Ich meine, wie soll das weitergehen? Sollen wir die nächsten paar Jahre so tun, als seist du nur meine Leibwache?“
    „Nein“, antwortete Daryk schlicht und hob ihr Gesicht leicht an, damit sie ihn ansah. Für einen Moment schwieg er und schaute ihr nur in die Augen, als wollte er aus ihnen lesen, was sie dachte. „Heirate mich!“, fuhr er fort, ohne seinen Blick abzuwenden und Daphne kam es vor, als hatte ihr Herz für einen Moment ausgesetzt.
    „Was?“, hauchte sie kaum hörbar, da ihre Stimme zu zittern begann.
    „Willst du mich heiraten?“, wiederholte er und sie hatte sich nicht verhört. Sie wusste die Antwort, dass hätte ihm die vergangenen Nacht bereits verraten müssen, aber natürlich wollte er eine Antwort auf seine Frage, nur war Daphne so überfordert damit, dass sie beinahe vergaß es über die Lippen zu bringen. Noch immer schaute sie ihn an und meinte, nicht einmal geblinzelt zu haben. Selbst das hatte sie vergessen. Tausende Dinge schossen ihr durch den Kopf.
    „Ja“, antwortete sie schließlich und verwarf durch ein leichtes Kopfschütteln die restlichen Gedanken, denn Zweifel waren keine darunter. „Wen, wenn nicht dich?!“
    Lächelnd packte Daryk sie und hob sie hoch, so dass er zu ihr aufsehen musste. Mit ihren Händen um seinen Hals, küssten sich beide, bevor er sie, nach ein paar Schritten, spielerisch auf das Bett warf.
    „Nein“, sprach Daphne lachend, als Daryk sich ihr näherte und sein Gesicht in ihrem Nacken vergrub. „Wir müssen zum Frühstück.“
    „Sicher?“, murmelte der Ritter an ihrer Schulter und lachend lehnte sie sich so weit zurück, dass Daryk sie ansehen musste.
    „Eine Frage habe ich aber. Wie willst du meinem Bruder erklären, dass du mich heiraten willst, wenn wir ihm nicht einmal etwas über unsere Gefühle zueinander erzählt haben?“
    Der Blick des Hünen wurde ernster.
    „Ich werde es ihm sagen, antwortete Daryk korrigierend und seine Mundwinkel verrieten, dass er trotz des Tonfalls, sich ein Grinsen verkneifen musste. „Wenn er etwas dagegen hat, kann er gern um dich kämpfen.“
    Daphne hätte klar sein müssen, dass der Ritter kein Mann war, der um die Erlaubnis für irgendetwas bat. Desto erleichterter war sie, dass er nun nicht damit anfing. Sie wusste, dass seine letzten Worte bloß scherzhaft gemeint waren, denn niemand hatte wirklich Lust, sich mit seinem Können zu messen, vor allem nicht, nachdem er die restlichen Brüder besiegt hatte. Der Kampf … Auch die anderen waren anwesend gewesen, was ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Frühstück lenkte.
    „Wir sollten zu den anderen gehen“, lenkte sie, zufrieden mit seiner Antwort, vom Thema und der Situation ab.„Deine zukünftige Frau bekommt allmählich doch Hunger.“
    Und als hatte ihr Magen die frohe Botschaft vernommen, begann er zu knurren. Lachend stieg Daryk vom Bett und half Daphne auf, die sich ihren Mantel überstreifte und die Tür zur Kajüte öffnete. Vor dem Gang hinunter in den Bereich des Schiffes, der für alle anderen offenstand, durchquerten sie noch das eigentliche Zimmer der Leibwache, welches sich direkt vor Daphnes befand. So musste jeder, der zu ihr wollte, zunächst an Daryk vorbei. Auch diese Tür hatte der Hüne in der Nacht verschlossen, was ihr ein Lächeln entlockte. Nach einem ausgiebigen Atemzug, schloss sie auch diese Tür auf und verließ die Räumlichkeiten. Noch einmal ertönte die Glocke, was die Prinzessin kurz zusammenzucken ließ, weil sie außerhalb ihres Zimmers viel lauter schien. Es dauerte nicht lange, da betrat sie einen großen Raum, in dem sie alle saßen. All ihre Freunde und der Kapitän, wie auch der Schiffsarzt, welcher sie erstaunt ansah.
    „Daphne ...“, stieß Thyra augenblicklich freudig aus.
    „Mir geht es gut, keine Sorge“, stellte Daphne umgehend für alle klar und setzte sich mit Daryk zusammen an den großen, rechteckigen Tisch.
    „Eure Wunde ist verheilt?“, versicherte sich der Arzt noch einmal und die Prinzessin nickte.
    „Wie das?“, hakte Aras nach, der um die These wusste, dass magische Verletzungen etwas anderes für die junge Frau waren, als Knochenbrüche und Schnittwunden.
    „Ich ...“, setzte die Prinzessin an, aber Daryk fiel ihr ins Wort.
    „Sie brauchte … Ruhe“, antwortete die Leibwache, woraufhin Theical seinen Tee in den angesetzten Becher zurück spuckte. Verwirrt schaute Daphne ihn an, so wie auch der Rest, als er mit roter Miene dasaß und mit dem Ellenbogen die heruntergefallenen Tropfen aufwischte.
    „Ja“, gestand der Taschendieb räuspernd.„Das brauchen wir doch alle mal … Also Ruhe!“
    Da saßen sie alle, wobei Daphne eines einfiel, auch um das seltsame Schweigen am Tisch zu unterbrechen.
    „Was ist eigentlich mit dem Fremden, der uns begleiten wollte?“
    „Dieser ist bei der Mannschaft untergebracht worden, Hoheit“, erklärte der ergraute Kapitän und verstehend nickte die Prinzessin. Wenn es sich ergab, wollte sie sichergehen, dass es dem jungen Mann gut ging. Aber alles nacheinander. Zuerst wollte sie hören, wie es weitergehen sollte und wie es allen auf dem Schiff gefiel. Ob es neue Ideen gab oder jemand etwas zu sagen hatte, was ihren Aufenthalt in Lyc anging.

    Daphne lag im Bett und krallte ihre Hände in die Seidendecke unter sich. Die Schmerzen wurden immer schlimmer, aber sie wollte nicht, dass irgendjemand davon erfuhr. Nur Daryk und der Schiffsarzt waren im Zimmer bei ihr, abgeschottet vom Rest.
    „Diese Hexe hatte einen kräftigen Biss“, presste die Prinzessin zwischen ihre Zähne empor, während Daryk ratlos neben ihr saß.
    „Es verhält sich wie das Gift einer Schlange, aber normalerweise müsstet Ihr dieses heilen können“, gestand der Arzt und fuhr sich nachdenklich über seinen blonden Vollbart. Der Hüne hatte ihn über die Kräfte der jungen Frau unterrichtet, aber das machte alles noch viel schwieriger als leichter.
    Der Arzt hatte vorgeschlagen die Wunde auszubrennen, weil er glaubte, sie habe sich lediglich entzündet, aber Daryk hatte dies abgelehnt. Sie wussten immerhin nicht, was die Schmerzen verursachte, Gift oder die Wunde selbst. Vielleicht dauerte es nur eine Weile wie bei Daryks Fluch.
    Von Wasser umgeben, mitten auf dem Meer, fühlte Daphne, dass sie stark genug war, um sich selbst zu heilen, aber die Bisswunde schien dagegen immun. Vielleicht, weil sie von keinem Menschen oder Tier stammte, sondern von Calypso.
    „Sie braucht etwas Schlaf!“, diagnostizierte der Art vage und stellte einen Becher mit grünen Brei neben Daphnes Bett. „Das wird Euch dabei helfen, Hoheit!“
    „Danke“, zischte die Prinzessin und entließ den Arzt danach.
    Vorsichtig reichte ihr Daryk den Becher, damit sie an diesem etwas Nippen konnte, aber alles auf einmal schaffte sie nicht zu trinken. Gemischt mit Alkohol, beruhigte sich zumindest ihr Herzschlag. Ihre Gedanken kreisten um ihre Freunde, als der Schmerz etwas nachließ. Sie wollte sich nicht vor ihnen verstecken, aber nach dem Kampf gegen Calypso, brauchten auch diese etwas Ruhe und sie wollte sie nicht in Sorge versetzen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Es reichte ihr schon, dass sie Daryk mit ihrem Zustand belastete, nachdem sie nicht gewusst hatten, wie der Kampf gegen die Meereshexe hätte ausgehen können.

    Es wurde dunkel und zu gerne hätte die Prinzessin die Sterne gesehen, denn nirgends waren sie so klar, wie auf dem offenen Meer. Sie träumte davon sogar, als sich schlussendlich doch ihre Augen schlossen und die Erschöpfung über sie hereingebrochen war. Sie wusste, Daryk wachte über sie, so, wie er es immer tat. Am Liebsten wäre sie einfach aufgesprungen und munter auf ihrem Schiff herumgelaufen. Sie hatte kaum etwas davon gesehen und war gleich in ihre Kajüte verschwunden, beziehungsweise getragen worden.
    Tief in der Nacht, mitten in einem nichtssagenden Traum, wandelte sich das Bild in ihren Gedanken und eine ihr bekannte Stimme sprach zu ihr.
    „Es war knapp, aber du hast mich nicht enttäuscht“, sprach eindeutig Rhenus zu ihr.
    „Knapp ist gar kein Ausdruck“, erwiderte Daphne und befand sich plötzlich mitten auf einem endlos scheinenden See oder Meer. Kein Ufer war zu sehen, kein Vogel oder anderes Getier, nichts. Nur unter ihr das schwarze Wasser, auf dem sie stand wie auf festem Untergrund und der indigofarbene Nachthimmel über ihr. Aus der schwarzen See stieg Rhenus empor und lachte.
    „Wenn ich es dir nicht zugetraut hätte, hätte ich dich nicht dorthin geschickt oder ihr ausgeliefert. Dies diente auch dazu, zu testen, wie weit du bist und ob ich es dir zutrauen kann, noch mehr Macht zu geben.“
    „Mehr … Was?“
    „Ich machte einmal den Fehler, die falsche Person damit zu segnen. Ich wollte nicht, dass sich das wiederholt. Der Mensch besteht aus Wasser, seinen Fluss kann du spüren, ihn verändern oder wieder herstellen, aber was ich dir geben will, ist ihn zu lesen.“
    „Lesen?“
    , wiederholte die Prinzessin und Nachfahrin des Gottes unbeeindruckt. „Ist dir entgangen, lieber Urgroßvater, dass ich krank im Bett liege – das erste Mal im Leben?! Ich habe gerade etwas andere Probleme, als den Zugewinn neuer Fähigkeiten.“
    „Eine Kleinigkeit, die sich schnell aus dem Weg räumen lässt. Ich gab Calypso die Fähigkeiten, ich kann diese auch heilen.“
    „Es war mir eine Ehre, deine Fehler zu korrigieren“, antwortete Daphne und klang dabei zynischer als beabsichtigt.
    „Ich hoffe, du verstehst, dass ich sie nicht töten konnte. In erster Linie, weil ich es nicht durfte und auf der anderen Seite, weil ich es nicht konnte. Trotz ihrer Vergehen, war sie mein Fleisch und Blut.“
    „Und auch meines!“, wurde Daphne laut. „Fast über die Hälfte dieser Frauen entsprang meiner Erblinie!“
    „Deswegen habe ich auf dich gewartet. Du tötest nicht leichtfertig, willst helfen und nicht zerstören. So, wie es die Mütter deines … unseres Volkes immer taten. Früher, als sie noch das Zepter hielten und nicht die Väter.“
    „Zepter?“
    „Sie regierten einst über das Volk der Nordfrauen, denn sie schenken das Leben, so wie ich es verkörpere und ich gab meine Kräfte weiter, da eine von ihnen, die Máthair, meine Frau war.“
    Verdutzt blickte Daphne drein. Wobei ihr Blick nach allem, was sie erfahren und erlebt hatte, eher gelangweilt wirkte.
    „Und du erzählst mir das, weil?“
    „Du die nächste Máthair bist.“
    Ein Lachen überkam die Prinzessin.
    „Du vergisst meine Brüder und Tristan. Tristan regiert mein Volk.“
    „Ein Irrtum, wie ich finde“, gestand Rhenus trocken. „Ein Volk, welches das Leben verehrt, himmelt einen Mann als Regent an. Was haben Männer mit einer Geburt zu tun?“
    „Warum bist du dann ein Mann und keine Frau?“
    „Weil ich über das Leben wacheund es nicht zur Welt bringe, das tat meine Frau.“
    Soll ich jetzt noch Streit mit meinem Bruder anfangen? Nein, er kann die Regentschaft gerne behalten“, protestierte Daphne.
    „Das entscheidest nicht du, sondern das Volk.“
    „Dann sage ich nichts!“
    „Die Wahrheit lässt sich nicht verbergen, vor allem deswegen nicht, weil du auf den Ursprung zuhältst. Es ist kein Zufall, dass das Wort „Norden“ im Namen deines Volkes steckt.“
    Mürrisch schaute sie in die blauen Augen ihres Gegenübers.
    „Was genau willst du von mir?“, fragte sie dann.
    „Dass die alte Ordnung wieder hergestellt wird. Der Welt tut es nicht gut, wenn sich Dinge verändern. Einst wollte ich Franziska zur neuen Mutter eines Volkes machen, aber sie hat versagt und es zu ihrem Vorteil genutzt. Aber du ...“
    „Wir werden sehen“, fuhr Daphne Rhenus über den Mund und verschränkte ihre Arme vor sich. „Aber noch bin ich nicht in der Lage dazu, irgendetwas zu tun.“
    „Oh“, merkte Rhenus an, „der Biss. Das ist wahr. Aber glaub mir, dein Denken wird sich alsbald ändern.“
    Rhenus näherte sich ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter, da, wo sich eigentlich der Biss befinden sollte, wenn sie nicht mitten in einem Traum gesteckt hätte.
    „Wissen bedeutet Macht“, gab er ihr noch auf den Weg. „Zu wissen, was andere fühlen, wie sie fühlen, kann durchaus von Vorteil sein, erstrecht, wenn man einem Feind gegenübersteht.“
    Mit einem tiefen Atemzug wachte Daphne auf und schaute sich um. Auch Daryk schreckte auf, der sitzend neben ihr eingeschlafen war. Das Erste, was sie spürte war … Nichts. Die Schmerzen waren fort, ebenso wie die Wunde. Erstaunt schaute sie ihre Leibwache an, dem sie ansehen konnte, was er fragen wollte.
    „Rhenus“, antwortete sie knapp und es war wie der Gott sagte. Als sie Daryk ansah, fühlte sie seine Erleichterung, aber auch Erschöpfung.

    So als hätte sie Tage geschlafen, fühlte sich Daphne, als sie aufwachte und schmerzfrei im Wasser trieb. Blinzelnd nahm sie Licht wahr, das von Fackeln, welche in Wandhalterungen angebracht waren. Über ihr hing der Sternenhimmel, umringt von einer Steinwand, was für sie auf die Grotte der Herzogsfamilie schließen ließ. Ein Ort, den sie fast vergessen hatte. Dort hatte man ihr das Schwimmen beigebracht, so wie jedem innerhalb der Familie.
    Immer noch müde, aber wieder im vollen Besitz ihrer Kräfte, richtete sie sich auf und schaute sich um. Noch immer tat ihr die Stelle des Bisses weh, was wohl bedeutete, dass Calypsos Magie nicht vollständig ihre Wirkung verloren hatte, nur die des Giftes. Unsicher fasste sie sich an die Stelle, wo noch immer die Wunde spürbar war. Wahrscheinlich musste dies auf natürliche Weise verheilen, so wie einst der Fluch von Aras. Magie konnte nicht alles ungeschehen machen, was Daphne deutliche ihre Grenzen aufwies. Als sie sich einmal im Kreis gedreht hatte, offenbarte sich ihr der Blick auf den Hünen, welcher mit dem Rücken zu ihr saß. Im gleichen Moment noch, ereilte sie wieder ihr schlechtes Gewissen. Ob er wütend auf sie war? Warum auch nicht, sie hatte ihn angegriffen und damit beinahe umgebracht. Sie schwamm etwas zurück, um Abstand zum steinigen Rand zu bekommen, ehe er sich ihr leicht zuwandte.
    „Wieder wach?“, fragte er in einem verunsicherten Ton, ohne sie gänzlich anzusehen.
    „Ja“, flüsterte Daphne leise.
    „Geht es dir gut“, folgte auf dem Fuß, sodass sich Daryk doch entschied, sie anzusehen und Daphne auf der Stelle ihren Blick abwandte. Die Kratzspuren waren immer noch in seinem Gesicht, was wohl bedeutete, dass sie ihn nicht geschafft hatte, ganz zu heilen. Es war wie eine erneute Erinnerung an das, was geschehen war.
    „Wie geht es dir?“, fragte die Prinzessin hingegen, die sich weniger um ihren Zustand sorgte.
    „Gut“, antwortete der Hüne gewohnt karg.„Sie … hat dir mein ...“
    „Ich weiß“, unterbrach Daphne Daryk forsch, weil er es nicht aussprechen musste, um dass sie wusste, was er meinte. „Ich konnte Dinge sehen, von denen ich nicht weiß, ob es Trugbilder dieser Hexe waren oder ob sie der Wahrheit entsprechen.“
    Es waren schlimme Begebenheiten gewesen, aber keine, die ihn schlimmer dastehen ließen als sie.
    „Was hast du gesehen?“, wollte er von ihr wissen und sie schluckte einmal fest.
    „Dein Überleben im Krieg!“
    Ein betretenes Nicken folgte von Daryk.
    „Wahrheit!“
    Daphne atmete tief ein und auch wieder aus. Natürlich hätte sie sich etwas anderes für ihn gewünscht, ein anderes Leben, dass er nicht um alles, was er hatte, so hart kämpfen musste. Und sie machte es ihm nicht einmal leichter, im Gegenteil. Sie hatte das Gefühl, seine Situation zu verschlimmern.
    „Das macht dich nicht zu einem Monster“, gestand sie ihm und wiederholte die Worte, die sie leise von Calypso in ihrer Trance vernommen hatte. „Deine Taten geschahen nicht grundlos. Du wolltest überleben, aber ich … ich habe dich und die anderen aus einem Trugbild heraus angegriffen.“
    „Ich weiß“, sprach Daryk vorsichtig und drehte sich ganz zu ihr herum.
    „Nein“, widersprach Daphne und schaute immer noch auf die spiegelnde Oberfläche des Wassers. „Du weißt es nicht. Sie war nicht in deinem Kopf und hat dir ihren Hass eingepflanzt, ihre Verachtung allem Lebens gegenüber und versuchte, dich zum Vergessen zu bewegen! Und es wäre ihr beinahe gelungen!“
    „Aber es ist ihr nicht gelungen. Du hast sie besiegt!“
    „Wir haben … wir alle haben sie besiegt, aber ich wollte mich dem alleine stellen, damit nicht geschieht, was geschehen ist.“
    Hättestdu sie alleine besiegt?“
    Daphne schaute auf und warf ihre Stirn in sorgenvolle Falten. Sie musste sich zum Kopfschütteln überwinden, aber um den letztendlichen Sieg wäre es ihr gar nicht gegangen, sondern darum, eine Gefahr für alle gewesen zu sein.
    „Hilfe von Freunden anzunehmen ist keine Schwäche“, fügte Daryk als Antwort hinzu, aber in einem weit aus weniger lauten Tonfall, als sie es erwartet hatte. Geradezu verständnisvoll.
    „Warum hast du mich nicht einfach getötet, als ich dich angegriffen habe. Du konntest nicht wissen, dass ich wieder zur Besinnung komme und nicht eines dieser Dinger werde.“
    Daryk sah sie unmissverständlich an.
    „Weil ich dich … brauche“, brachte er zögerlich hervor. Kein Zögern, als sei es eine falsche Ausrede, aber Worte waren nicht die Stärke des sonst so unnachgiebigen Mannes, das wusste die Heilerin. Nichtsdestotrotz hörte sie die Worte von Calypso in ihrem Kopf, das, was sie dem Hünen unterstellt hatte. Sie erhob ihren Blick wieder, nachdem sie ihn kurz wieder auf das Wasser gerichtet hatte.
    „Sie sagte mir, du würdest mich nur dazu benutzen, das wieder zu bekommen, was man dir genommen hat.“
    Daryk schreckte leicht zurück und erschrak regelrecht.
    „W-Was?“, begann er zu stottern.
    „Sie sagte, ich sei dein Ersatz für Khyla.“
    „Sie lügt! Ich bin nicht mehr der gleiche Mann wie damals, ich brauche nicht die selbe Frau. Ich brauche dich, Daphne, so wie du bist.“
    Die Prinzessin schaute ihn erschrocken an. Sie hatte es in seinem Blut gesehen, aber es zu hören, war eine andere Sache. Kurz hatte es den Anschein gemacht, als wollte ihr Herz von innen nach außen springen, so deutlich konnte sie es schlagen spüren.
    „Ich weiß ...“, flüsterte sie kurz darauf.„Neben all dem Bösen, was dir widerfahren ist, gab es da auch ein paar gute Momente. Nur musste ich mich zu diesen durchkämpfen, vor allem, was mich anging, das verschleierte diese Hexe besonders.“
    Kurz flackerte ein Lächeln in Daryks auf, bevor er sich fing und auf ihren Arm verwies.
    „Weißt du was die Zeichen auf dem Armreif bedeuten?“, fragte er sie und sie konnte es nur verneinen. Bei allem, was sie gesehen hatte, war das nicht dabei gewesen. Auffordernd hielt er ihr seine Hand vom Rand hin und nach einem kurzen Moment reichte sie ihm ihre linke, jenen, an dem sie den Reif trug. Er zog ihn ihr behutsam aus, um ihn besser drehen und wenden zu können, wollte ihr ihn aber gleich wiedergeben. Daryk hielt Daphne den Armreif so, dass sie sehen konnte, auf welche Zeichen er zeigte.
    „Die ersten drei bedeuten Groß, Unsterblichkeit und Ewigkeit ...“
    Die Prinzessin verfolgte die Runen, aber eines war noch übrig.
    „Und das?“, fragte sie und tippte mit den Zeigefinger darauf, während sie näher an den Rand der Grotte heranschwamm.
    Die Stimme des Hünen klang plötzlich wesentlich leiser und nur leise kam die Antwort: „Liebe“, heraus. Verwirrt schaute Daphne auf. Es war ja nicht so, als hatte sie diesen Armreif erst seit ihres Kusses oder in Delyveih geschenkt bekommen. Sie besaß diesen weit aus länger. In einer Zeit, als sie selbst nicht einmal gewusst hatte, was sie empfindet und bloß vor Verwirrung strotzte.
    „Aber ...“, setzte sie deshalb an, „den hast du mit im Gasthaus geschenkt. Du sagtest das wäre ein Brauch, um einer Frau von Adel zu … Ich verstehe das jetzt nicht.“
    „Esistein Brauch. Nur nicht für adelige Frauen, sondern für jene, für die wir mehr empfinden. Es ist ein Zeichen der Zuneigung“, gab Daryk lächelnd zu und hielt ihr den Armreif wieder hin.
    „Dann hast du mich angelogen!“, warf Daphne ihm gespielt wütend vor und ließ etwas Wasser nach oben spritzen, um ihn nass zu machen. „Du hast mich absichtlich im Dunklen darüber gelassen.“
    „Das habe ich, Prinzessin!“
    „Ich hätte sterben können, ohne es zu wissen. Das ist dir bewusst, oder? Alleine in der Schlacht von Ymilburg. Dreimal, wäre ich da gestorben, wenn ich nicht etwas mehr wäre, als bloß eine Prinzessin.“
    Daryks Lächeln schmolz dahin und er schaute kurz weg, als sie erwähnte in Unwissenheit gestorben sein zu können, allerdings kehrten seine Augen zu ihr zurück, als sie die Häufigkeit erwähnte. In all der Zeit, bei allem was geschehen war, konnte sie ihre Geschichte der Geschehnisse während der Schlacht nicht schildern. Da war die Hochzeit gewesen, der beinahe Kuss und dann seine Erkrankung am Fluch.
    „Naja“, fuhr Daphne fort und schaute selbst nach unten. „Da war der Speer, der … der mich getroffen und meinen Unterleib durchbohrte hatte, dann der Oger … und danach heilte ich mit letzter verbliebener Kraft Zacharas, auch wenn mich bei der Explosion ein Holzsplitter erwischt hatte. Rhenus rettete mich und brachte mich zur Mauer, um mich zu heilen.“
    „Dich kann man wirklich nicht alleine lassen“, antwortete Daryk mit resignierten Blick zu ihr hinunter.
    „Anscheinend nicht“, antwortete sie kleinlaut.
    „Werde ich auch nicht mehr!“
    „Also bist du nicht wütend auf mich?“
    „Nein!“
    Daphne richtete sich etwas auf und umfasste mit ihren Händen vorsichtig Daryks Wangen, um ihn etwas zu sich herunterzuziehen. Der Hüne hielt sich abrupt am Rand fest, um nicht ins Wasser zu fallen, während sie ihn küsste. Im Sinne dessen, dass sie sich erneut beinahe verloren hatten, dauerte der Kuss an, von Seiten Daryks konnte sie das nur vermuten, aber er machte nicht den Eindruck, alsbald aufhören zu wollen. Viel mehr änderte sich die Art dessen und wurde fordernder. Daphne legte ihre Arme um den Hals ihrer „Leibwache“ und diese musste den Armreif aus der Hand legen, um mit der anderen Hand ihre Taille zu umfassen, damit sie ihn nicht runter zog. Als sein Griff um ihre Hüfte begann fester zu werden, verflüssigte sie sich scherzhaft und glitt ein paar Meter von ihm weg. Fast mittig der Grotte, in der Nähe der felsigen Treppe, tauchte sie wieder auf und hielt sich über Wasser. Schon wieder schlug ihr Herz bis zum Hals, aber diesmal nicht, weil sie sich fragte, ob er wütend war, denn es war das erste Mal, dass sie mit einem Mann auf dieser Weise zusammen war. Daryks Blick hingegen schien verwirrt. Zumindest sah er so zu ihr herüber, während sie sich mit ihren Armen über Wasser hielt.
    „Hast du nicht gesagt, du willst mich nicht alleine lassen?“
    Grinsend und mit leicht schüttelnden Kopf, erhob sich Daryk und lief zur Treppe, während er seine Rüstung verschwinden ließ. Somit stieg er samt seiner Alltagsbekleidung ins Wasser. Daphne schwamm etwas auf ihn zu und wartete, bis die Treppe verlassen hatte und nur eine Armlänge vor ihr stand. Ihm reichte das Wasser bis zur Brust, was die Prinzessin näher an ihn heranbrachte als sonst. Der Hüne wartete hingegen nicht lange und ergriff ihre Arme, um sie zu sich heranzuziehen, wodurch Daphne ihre Beine um seine Hüfte schlang, damit sie nicht im Wasser unter ging. Wieder schlug ihr Herz deutlich stärker gegen ihre Brust, was Daryk spüren musste, so nah, wie er sie an sich presste. Wieder folgte ein Kuss, wieder war die Botschaft dessen eine andere als zuvor und angetrieben von der Zweisamkeit, drückte sich Daphne leicht von Daryk weg, um an die Knöpfe seines Hemdes zu gelangen. Kaum offen, streifte es der Hüne über seine Schultern und sie umfasste diese, wo sie nicht umhin kam, auch dort die Narben zu ertasten, die ihre Wasserharpunen hinterlassen hatten. Etwas davon abgelenkt, ließ sie den Kuss ausklingen und betrachtete die etwa Handflächen großen Narben. Bedauern machte sich in ihr breit, dass sie diese Verletzungen nicht gänzlich auf Calypso schieben konnte. Sanft strich sie über die Stellen, die zwar verheilt, aber weiterhin sichtbar waren. Sie schaute Daryk kurz an, der ihr einen beruhigenden Kuss auf die Stirn gab, um sie anscheinend verstehen zu lassen, dass sie sich keine Sorgen machen brauchte. Trotzdem … ganz auf sich beruhen lassen, wollte sie das auch nicht. Daphne wendete Daryks Gesicht etwas zur Seite, um ihm zuflüstern zu können: „Das mache ich wieder gut!“
    Sie fing seinen Blick ein, während ihre Handfläche wieder die Wasseroberfläche berührte und der laszive Tonfall in ihrer Stimme, musste ihm verraten haben, wie sie das gemeint hatte. Ihn bloß zu heilen, darauf wollte die Prinzessin nicht hinaus. Abgesehen davon, hatte sie nicht mehr viel zu verlieren, außer ihrem Leben, nachdem ständig getrachtet wurde, mehr oder minder ging es dabei um sie persönlich. Daryk lächelte und küsste sie erneut.
    Durch seine Berührungen erklommen unbekannte Laute ihr Kehle, die der Hüne durch einen weiteren innigen Kuss belächelte, bevor er sie zum seichteren Gewässer, am Rand der Grotte, trug. Vorsichtig setzte er sie darauf ab, während ihre Hände sanft von der Brust nach unten glitten. Kaum hatte sie den Bund seiner Hose ertastet, drangen bekannte Stimmen an ihr Ohr.

    Ob sich so ertrinken anfühlte? Erinnern … Sie versuchte sich zu erinnern, was überhaupt geschehen war? Gerade noch stand sie am Wasser und plötzlich hatte sie das Gefühl, sich inmitten des Meeres zu befinden. Sie öffnete gefühlt ihre Augen, aber da war nur Schwärze.
    „Wo bin ich?“, fragte sie sich selbst.
    „Kurz in Sicherheit“, antwortete eine Frauenstimme. „Hier kann dir niemand mehr etwas antun.“
    „Antun?“, fragte Daphne erneut. „Wer will mir denn etwas antun?“
    „Erinnerst du dich nicht mehr? Die ganze Welt.“
    Die Prinzessin durchforstete ihre Gedanken, aber da war nur Rauschen. Ähnlich, als stünde man unter einem Wasserfall und würde den Gesang eines einzelnen Vogels hören wollen.
    „Ich ...“, stockte Daphne und bekam keine Erinnerung zu fassen.
    „Erinnerst du dich nicht an dein Leben? Eines, welches du in Gefangenschaft gefristet hast, bis zu dem Tag, an den man dich an diesen Frauenmörder verkauft hatte?“
    Ein tiefer Atemzug ereilte sie und mit diesem erschienen wieder die Bilder vor ihrem inneren Auge. Daphne erinnerte sich an den Namen, Heinrich, und mit ihm an alles Schlechte, was sie mit diesem Mann verbannt. Kerker, Folter, ihre Flucht und die erneute Finsternis eines Verlieses.
    „Die Welt hat es nie gut mit dir gemeint, nicht wahr?“
    „Nicht, dass ich wüsste.“
    „Die Erniedrigungen und Beleidigungen, die dir widerfahren sind. Das alles kann enden. Du kannst Rache an jenen nehmen, die dir all das angetan haben und noch mehr.“
    Ein Licht tauchte vor Daphne auf, welches wie die Sonne aussah, die sich unter Wasser auf der Oberfläche abzeichnete. Aus diesem heraus sah sie den Strand vor sich und wie der Kampf weiter von statten ging.
    Was ist dort los?“, verlangte sie zu wissen. „Warum kämpfen da alle?“
    „Sie kämpfen gegen uns. Sie wollen uns vernichten.“
    „A-Aber warum?“
    „Weil sie glauben, es zu können. Menschen brauchen keine besonderen Gründe.“
    „Ich … Ich kenne diese Personen dort. Die Frau mit dem Bogen, den Magier und ...“
    Daphnes Blick blieb an den Mann mit der schwarzen Rüstung hängen, der einer schwarzhaarigen Frau seine Waffe aus dem Körper riss.
    „Natürlich kennst du sie. Sie alle haben dich betrogen.“
    „Alle?“
    „Und jetzt versuchen sie dich zu töten!“
    „Mich töten?“
    „Verteidige dich, Kind!“
    Die Prinzessin verstand nicht ganz. Irgendetwas hielt sie fest und umschlang ihren Körper. Sie wollte sich bewegen, etwas sagen, aber brachte, außer in Gedanken, kein Wort heraus. Selbst die Stimme der Frau, die zu ihr sprach, klang seltsam verschwommen.
    Daphne beobachtete das Geschehen und sah, wie Frauen abgeschlachtet wurden, die aussahen wie sie. Was sie bis dahin nicht wissen konnte, war, dass das Gift, welches in ihr arbeitete, den Blick trügte. Sie sah diese Sklavinnen nicht als Wasserleichen, sondern als unschuldige Wesen, die sie bei Weitem nicht waren, zumindest nicht unter der Kontrolle der Hexe.
    Plötzlich konnte Daphne einen Fuß vor setzten.
    „So ist gut“, merkte die Stimme an. „Hilf ihnen!“
    Die Prinzessin war sich unsicher, aber als eine weitere Frau unter den Hieben des brünetten Schwertkämpfers zu Boden ging, wurde sie wütend. Ihr Spiegelbild flackerte leicht im Wasser auf und bezeugte die Ähnlichkeit zu diesen Mädchen. Nach dem ersten Schritt folgte ein zweiter und langsam setzte sie sich in Bewegung. Die Schreie der Frauen klangen jämmerlich und Hilferufe mischten sich darunter.
    Ein Schrei entwich entwich ihrer Kehle und von unbekannter Wut umhüllt, raste sie auf die Gruppe zu, die ihresgleichen bekämpfte. Der erste Schlag galt dem Schwertkämpfer und dem Hünen, welcher sie anschaute, als wäre dies das Letzte gewesen, womit er gerechnet hatte.
    „Daphne“, schrie er ihren Name, als sich einem weiteren Schwertkämpfer zuwandte, der ihr weismachen wollte, sie seien nicht ihre Feinde. Aber dann versagte ihre Kontrolle über ihren Körper wieder und die Stimme erklang erneut in ihrem Kopf.
    „Nicht so schnell“, meinte diese, „Wir sollten den Moment des Triumphs genießen.“
    Alles ließ seltsam verzerrt ab, nicht so, wie es sein müsste, wenn Daphne allein agieren hätte dürfen.
    Irgendetwas stimmt hier nicht ...
    Als ihr Körper erneut gegen ihren Willen handelte, sah sie den Hünen vor sich, den ihr die Frau in ihrem Kopf als Menschenjäger verkaufen wollte. Sie war gezwungen dazu sein Blut zu schmecken. Die Prinzessin durchzuckten hunderte von Bildern. Stimmen und Landschaften wurden ihr offenbart, Orte, an denen sie noch nie gewesen war.
    „Er ist ein Mörder, siehst du!“, fauchte die Stimme.
    Ein Schlachtfeld breitete sich vor ihr aus, beherrscht von Schnee und Eis. Die Dinge, die Daphne dort sehen konnte, ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren, ebenso wie den Leichen, die dort in Stücken herumlagen.
    „Warum zeigst du mir das?“, schrie die Prinzessin. „Was hat das mit mir zu tun, wenn ich die Menschen kenne, die ich töten soll? Was hat das für einen Sinn?“
    „Es ist ein Spiel, weil er auch dich umbringen möchte, sieh hin.“
    Als sie wieder ihre Augen nach vorn richtete, tauchte dort der schwarze Ritter auf, den sie zuvor, um einiges jünger, gesehen hatte. Mit seiner Waffe in der Hand, hielt er auf sie zu, blutend und mit direkten Blick in ihre Augen.
    „Er tat so, als würde er mehr für dich empfinden, aber jetzt hat er gemerkt, dass du ihm seine Familie nicht zurückgeben kannst und bist wertlos.“
    „W-Was?“
    „Kannst du es nicht in seinem Blut erkennen?“
    „Ich will es nicht erkennen müssen. Warum quälst du mich mit Teilen von Erinnerungen, die nicht meine sind, aber meine eigenen sind verschwommen?!“
    „Willst du dich wirklich erinnern?“, sprach die Stimme höhnisch. „Dann bitte, erinnere dich.“
    Schmerz ereilte die junge Frau, der ihr den Atem abschnürte. Sie saß ein Zimmer, lehnte gegen eine Tür und weinte. Alles, was sie fühlte, war Einsamkeit, Verwirrung und Wut. Das Gefühl nirgends einen Platz zu haben.
    „Hör auf!“, wimmerte Daphne.
    „Da ist noch mehr … Wie wäre der Pfeil in deiner Brust? Würdest du dich daran gerne erinnern?“
    Ihr Blick wechselte zwischen der Finsternis und der Außenwelt hin und her, wo der Ritter immer noch auf sie zuhielt. Die Prinzessin konnte den dumpfen Schmerz wieder spüren, der ihr das Leben genommen hatte.
    „Jeder versucht dich nur zu verletzten, zu töten oder auszunutzen. Du musst egoistischer werden und dich wehren!“
    Egoistischer werden. Irgendwoher kannte sie diese Worte, aber von wo genau, das konnte sie nicht sagen.
    „Töte sie, bevor er dich töten!“, brüllte die Stimme sie nun an, während sie sich imaginär die Ohren zuhielt. Immer wieder hallte der Befehl in ihrem Kopf wider. Alles Negative prasselte auf sie ein wie ein Platzregen. Trachtete man nach ihrem Leben? Man hatte sie wirklich lange genug für dumm verkauft und in Ketten gelegt.
    Eine Berührung ließ sie aufschrecken und augenscheinlich hatte der Ritter ihre Wange berührt.
    „Töte ihn endlich!“, kreischte die Stimme regelrecht und jene Worte mischten sich mit denen, die der Mann vor ihr flüsterte.
    „Daphne, komm zu mir zurück!“
    „Erlöse ihn vom seinem Leid, das wollte dieser Mann immer, du weißt, dass er sterben wollte. Tue ihm den Gefallen, er sieht in dir nur seine Khyla, mehr ist da nicht. Deine Gefühle sind jedem egal!“
    Ein lauter Schrei entwich der jungen Frau und sie spürte, wie ihr Körper sich wieder bewegte. Ihr ganzer Brustkorb brannte wie Feuer und es breitete sich aus, dabei schlug ihr Herz schneller als die Flügel eines Kolibri. Wieder ereilten sie Bilder, gerade die, wo sie diesen Mann das erste Mal gesehen und wie er sie damals genannt hatte.
    „Haltet alle die Klappe!“, brüllte die Prinzessin schlussendlich. Niemand tötet mich! Niemand erzählt mir Lügen oder nutzt mich aus! Nie mehr! Und mein Name ist nicht Khyla!“
    Daphne riss ihre Augen auf, diesmal richtig und merkte, wie das Wasser aus ihren Armen schoss. Die Wassertentakel formten sich zu Harpunen und durchbohrten den Ritter, an dessen Namen sie sich nicht erinnern konnte. Sie schlugen durch seine Schultern und rissen ihn in die Luft. Noch einmal entwich ihr ein schriller Schrei und diesmal bewegte sich auch ihr Mund dazu, so dass sie wusste, dass dies nicht nur in ihrem Kopf stattfand.
    Plötzlich befand sie sich wieder mitten im Geschehen. Frauen, die aussahen wie sie, wurden getötet und das von Menschen, die sie irgendwie kannte. Ihr Blick huschte zu dem Mann, der weit über dem kniehohen Wasser hing und nur zur ihr hinunter starrte, während seine Arme ihre Wasserstränge umschlossen.
    „Hast du gedacht, sie ersetzt dir deine süße, aber tote Familie? Welch ein Witz ... Eine Tochter des Rhenus mit einem ... Was bist du? Bückling des Todes? Leben und Tod verstanden sich noch nie. Das wirst du alsbald feststellen“, fuhr die Stimme, die sie schon zuvor vernommen hatte, fort und nun bekam auch diese ein Gesicht. Die schwarzhaarige Frau stand direkt neben ihr. Daphnes Blick wechselte von ihr zum Mann in der Luft und sie legte ihren Kopf schief.
    „Wie ist dein Name?“, fragte Daphne mit seltsam verzerrter Stimme, die sie, so glaubte sie zumindest, von sich selbst nicht kannte.
    „Du sollst ihn nicht erneut kennenlernen, sondern töten!“, beschwerte sich die Frau neben ihr. Sie zog eine der Tentakeln aus der Wunde und schleuderte diese der Frau entgegen, die getroffen durch die Wasserwand flog und diese daraufhin zusammenfiel.
    „Ich sagte; Klappe halten! Du hast mir gar nichts zu sagen“, murmelte Daphne und schaute noch einmal hinauf, wo sich der andere Wasserstrang, nachdem er die Schulter durchschlagen hatte, um den Körper des Ritters schlang.
    „Also … Wer bist du?“
    „Du weißt, wer ich bin“, murmelte der Ritter schwach.
    „Was machst du denn da?“, schrie ein anderer Mann aus etwas Entfernung, der das Szenario beobachten konnte. „Lass Daryk runter!“
    Daryk?
    „Hat das Salzwasser dir das Hirn verkalkt?“, maulte die Frau mit dem Boden und schloss zu dem brünetten Mann mit dem Schwert auf, während sie immer noch die anderen Frauen bekämpften. „Du kannst doch dein … Deine Leibwache nicht töten!“
    Leibwache?
    „Ihr könnt sie nicht aufhalten!“, erklang erneut die Stimme von der fremden Frau zwischen den Wellen. „Sie ist da, wo sie hingehört!“
    „Die beiden sind sowas wie ein Paar!“, schimpfte ein kleinerer Mann zwischen zwei Kriegern. „Sie wird ihn nicht töten!“
    „Sieht für mich gerade etwas anders aus“, gestand der Magier und feuerte eine Feuerwelle auf zwei schreiende Frauen ab.
    Daphne bekam Kopfschmerzen. Es fühlte sich an, als stünde sie am falschen Ufer. Von allen Seiten kamen Dinge, die sie tun sollte. Jeder schien mehr zu wissen als sie. Irgendetwas stimmte nicht. Anhand ihrer Erinnerungen lag sie im Recht, aber wenn sie die Finsternis ihrer Gedanken durchforstete, war etwas falsch. Fauchend richtete sich vor den Menschen auf, die sich ihr entgegengestellt hatten.
    „Was willst du, dass ich tue?“, richtete sich immer noch zischend an den Mann, der in der Luft hing.
    Dieser sagte gar nicht, sondern sah sie nur an. Kein Flehen um sein Leben, keine Bitte ihn gehen zu lassen, nichts, während er bereits mit beiden Händen den einen Tentakel festhielt und vor Schmerzen keuchte.
    „Tue es nicht“, wandte sich der Brünette noch einmal an sie, aber Daphne wich mit ihrem Blick nicht von dem Hünen. „Calypso versucht dich hereinzulegen, so, wie sie es mit den anderen auch gemacht hat. Egal, was sie dir erzählt, es ist nicht wahr.“ Die Worte vernahm Daphne sehr wohl, aber die Frau, die Calypso genannt wurde, erzählte genau das Gleiche über sie. Nur der Mann in der Luft sagte gar nichts. Die Prinzessin schaute hinauf und entdeckte, wie sich aus dem einen, noch vorhandenen Auge eine Träne löste, und im Tosen des noch bestehenden Kampfes, ins Meer fiel. Ein weinender Lügner? Das passte nicht zusammen. Wieder spürte sie das Brennen in sich, während Blut an ihrem Wasserstrang hinunterlief. Ähnlich einem Rinnsal, glitt es zu ihren Armen und umhüllte einen hölzernen Armreif, der Daphne aufhorchen ließ.
    „Das war ein Geschenk ...“, erinnerte sie sich vorsichtig und zwar von … Daryk.
    „Hör auf, dich zu erinnern, das bringt dich nicht weiter!“, schrie Calypso und nahm ihre menschliche Form wieder an.
    „Erinnern? Was soll das denn heißen?“, krakeelte die junge Frau mit dem Bogen und schoss umgehend auf die Meeresfrau. Daphne schaute sich um und das vorlaute Mundwerk der Schützin kam ihr umgehend bekannt vor. Sehr bekannt.
    „Leibwächter“, wiederholte die Prinzessin und sofort schossen ihr die Erinnerungen wieder durch den Kopf, während Calypso den Kältepfeilen der Jägerin auswich. „Daryk ist nicht nur meine Leibwache!“
    Erschrocken schrie sie auf, als sie erkannte, was sie tat und das schrille Lachen der Hexe erklang unweit hinter ihr. Daphne schaute zu Daryk auf und konnte nicht glauben, dass sie es war, die ihn dermaßen verletzt hatte. Das musste ein Ende haben!Panisch glitt ihr Blick dabei zum Taschendieb, der sie mindestens genauso perplex anstarrte, wie sie ihn.
    „Theical, der Schatten!“, rief die Prinzessin und als ob er ihre Gedanken lesen konnte, fokussierte er Calypso, die genau mit dem Rücken zur untergehenden Sonne stand.
    „Was soll das?“, schrie die Hexe, die sich für eine Sekunde nicht mehr rühren konnte, aber mehr brauchte Daphne auch nicht. Sie holte mit dem freien Strang aus und bohrte diesen, mit letzter Kraft, Calypso mitten in die Brust. Als Mensch genauso verletzlich wie diese, durchschlug Daphne ihr schlagendes Herz, was sie in ihren Augen ohnehin nicht brauchte. Glucksend starrte die fünfhundert Jahre alte Wasserfrau sie an.
    „Ich bin nicht so wie du“, fuhr die Prinzessin fort. „Weder verbittert noch einsam!“ Sie zog den verlängerten Wasserarm wieder aus deren Brustkorb, während „Franziska“ zu Wasser zerfiel und widmete sich auf der Stelle Daryk, den sie vorsichtig runter ließ. Auf einen Schlag hörten die restlichen Sirenen auf die anderen anzugreifen und gingen auf Abstand.
    „Es tut mir leid, es tut mir leid“, stotterte Daphne und kniete sich erschöpft zu Daryk ins Wasser. Was hatte sie und hätte sie beinahe getan?
    Die junge Frau konnte den Anblick des Mannes, den sie liebte, kaum ertragen. Tiefe Wunden prangten in seinem Gesicht, von denen an seinen Armen abgesehen und Calypso hatte ihm ein Auge herausgerissen.
    „Das bringe ich wieder in Ordnung.“
    Der Hüne lächelte schwach und auf der Stelle begann Daphne hin zu heilen. Viel Energie war nicht übrig, auch wenn sie sich im Wasser befand. Ihre Zauber aufrecht zu erhalten, kostete mehr Kraft, als sie gedacht hatte, abgesehen davon, spürte sie immer noch das Gift in ihrem Körper, welches sich nicht so einfach heilen ließ.
    „Daphne“, erklang Thyras Stimme aufmunternd neben ihr.
    „Lass mich kurz in Ruhe, in Ordnung?!“, wimmerte die Prinzessin und Jaris nahm seine Frau beiseite. Sie musste sich konzentrieren, ihre Tat kurz ausblenden und legte dann ihre Hand auf Daryks Gesicht. Die Wunden zu schließen war eines, aber ein Auge wieder herzustellen, etwas anderes. Daphne spürte, wie all die Kraft aus ihrem Körper wich und als es dem Hünen einigermaßen gut ging, fiel sie neben ihn ins Wasser. Sie war so schwach, dass sie kaum ihre Augen offenhalten konnte. Das Salzwasser umspülte sie, während sich der Hüne erhob. Immer noch konnte sie ihn nicht ansehen. Sie schämte sich, dass sie sich so einfach hatte beeinflussen lassen. Daphne hatte ihre eigenen Freunde angegriffen und sogar Daryk lebensgefährlich verletzt … Womit sollte sie das entschuldigen? Thyra und Theical schauten auf sie hinunter, einem Blick gemischt aus Mitleid und Erleichterung, das konnte sie gerade so erkennen, ebenso einen kurzen Wortwechsel von Aras und Jaris. Daryk hingehen stand mit dem Rücken zu ihr, rief seine Rüstung und Waffe zurück und erhob seinen Spoton. Diesen rammte er ins knöchelhohe Wasser, woraufhin seine Rüstung lichterloh in blutrote Flammen aufging. Auf der Stelle fielen die Sirenen um und lösten sich in schwarzen Rauch auf, welcher in seiner Waffe verschwand. Es war ein seltsamer und unheimlicher Anblick, der alle für einen kurzem Moment zum Schweigen brachte.
    „Sie sind da, wo sie hingehören – bei Xhar!“, klärte Daryk alle nach diesem Vorgang auf und wandte sich wieder Daphne zu. „Ich bringe sie ins Wasser, weg vom Strand“, fuhr er fort, was Thorvid mit einem: „Ich kenne einen passenden Ort! Eine Grotte unweit des Strandes“, beantwortete. Daryk beugte sich zu ihr hinunter und wollte sie hochheben, aber kurz vor der Ohnmacht, versuchte sich die Prinzessin dagegen wehren. Er sollte sie nicht behandeln, als sei nichts passiert, denn gerade noch hatte er in seinem eigenen Blut gelegen. Ihr schlechtes Gewissen trieb sie dazu, seine Hände mit letzter Kraft wegzuschieben und sie brachte nur nuschelnd heraus, dass sie das nicht wollte. Dann wurde alles dunkel um sie herum und sie spürte nur, wie nach hinten ins Wasser glitt.

    Daphne stand in der Brandung und schaute auf das Meer hinaus. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, aber welche Wahl blieb ihr denn, als dort zu sein?! Sie hatte lange Zeit darüber nachgedacht, was sie tun sollte, aber es ließ nur einen Entschluss zu. Sie sollte genau dort sein! Rhenus hatte ihr gesagt, dass sie eine Schlacht zu schlagen hatte, Isidora, dass das Meer eine Gefahr barg, sie aber immer an ihrer Seite sein würde. Sie sollte einen alten Fluch beenden, das war ihre Aufgabe und deswegen hatte man ihr die Kräfte gegeben. Noch mehr, als die Angst vor dem Meer, fürchtete sie jedoch den Moment, wenn Daryk bemerkte, dass sie ihn hereingelegt und den Schlüssel für den Geheimgang entwendet hatte. Betreten schloss sie ihre Augen und warf ihre Stirn in Falten. „Es tut mir leid. Verzeih´mir, aber ich kann nicht zulassen … Das ist meine Bürde!“, konnte sie sich nur gedanklich bei ihm entschuldigen. Auch tat es ihr leid, dass sie ihren anderen Freunden nichts davon gesagt hatte. Aber sie alle hatten gerade erst einen Krieg hinter sich gebracht und wie konnte sie von ihnen verlangen, sich gleich in den nächsten zu stürzen? Diese Frauen hatten ihren Namen gerufen, dass hatte sie deutlich hören können, als sie begannen zu singen. Daphne erinnerte das an die Wale, die sich im Frühjahr immer in der Bucht einfanden und trotz des Mangels an Fischen, unangetastet blieben. Geradezu hypnotisch wirkten die Klänge in jener Zeit auf alle. Man sah in ihnen Glücksboten und je lauter sie sangen, desto reicher würden sich die Gefilde mit Nahrung und Perlen füllen. Die Fischfrauen, die Daphne all die Jahre für Legenden oder Sagengestalten gehalten hatte, wirkten aber nicht wie Boten des Glücks, vielmehr brachten sie den Tod. Und doch … etwas in ihr verriet, dass sie ihnen ähnlicher war, als sie es zuvor vermutet hatte.
    Wie am Abend davor, zog sie ihre Stiefel aus, aber warf sie an den Strand. Die Hose hochzukrempeln ersparte sie sich, denn sie würde viel weiter ins Wasser gehen als zuvor. Noch einmal zog sie sich die Corsage über ihre Bluse fest, tastete nach dem Dolch an ihrer Hüfte und setzte einen Fuß vor den anderen.
    Sie merkte, wie sie von selbst Kraft aus den kleinen Wellen zog, die gegen ihre Beine schwappten und blieb stehen, als ihr das Wasser bis zur Hüfte reichte.
    Die Temperatur des Wassers machte ihr nichts aus zu dieser Jahreszeit, lediglich der kalte Wind peitschte ihr um das Gesicht und löste ihr das Band aus den Haaren, der den geflochtenen Zopf zusammenhielt. Schlingernd flog das rote Band hinfort und verlor sich zwischen den Wellen. Die Prinzessin atmete tief durch, während sie sich dann ein paar Strähnen aus ihrem Gesicht fischte und hinter ihr Ohr klemmte. Die Stille begann ihr die Luft abzuschnüren. Es war eines, einem Feind gegenüberzustehen, aber etwas anderes, auf einen zu warten und nicht zu wissen, wo er lauerte. Wie eine schwarze Oberfläche breitete sich der Wasserteppich vor ihr aus und reflektierte an diesem Tag nicht einmal den Wolken verhangenen Himmel. Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um überhaupt an den Horizont schauen zu können.
    „Ich weiß, dass ihr da seid!“, schrie sie mit zittriger Stimme. „Zeigt euch!“
    Jeder Wimpernschlag dauerte gefühlt ein Leben. Daphne spürte, wie sich in weiter Entfernung etwas im Wasser bewegte. Sie spürte es einfach, als wollte das Meer sie warnen. Und kaum schaute sie erneut auf, durchbrachen die Köpfe die Oberfläche und schauten mit blau leuchtenden Augen in ihre Richtung. Ihr Herz blieb fast stehen und konnte sich nicht entscheiden, ob es stolpern oder rasend schnell schlagen wollte. Es hämmerte gegen ihre Brust und Schwindel überkam sie kurz. Als reichte diese markerschütternde Furcht nicht bereits, durchbrach der Ruf ihres Namens die eiskalte Luft. Die Kreaturen in der Ferne fauchten im Chor und fuhren zum Ursprung der Stimme herum, ebenso wie Daphne.
    „Komm nicht näher!“, antwortete sie Daryk, der über den Rundweg zum Strand gerannt kam.
    Daryk blieb stehen und schaute zwischen ihr und den Gestalten im Wasser hin und her.
    „Komm da raus!“, rief er ihr zu, aber Daphne wusste, dass das nicht möglich war. Wenn sie es nicht versuchte, würde sich in Delyveih nie etwas ändern. Deshalb schaute sie ihn an und schüttelte den Kopf.
    „Deswegen holte man mich zurück“, erklärte sie. „Deswegen bin ich wieder hier. Das ist das, was ich zu erledigen habe. Das, was Rhenus von mir verlangt zu tun.“
    Der Hüne materialisierte seine Waffe und Rüstung, ließ den Helm aber noch aus, um Daphne direkt anschauen zu können, während er furchtlos auf sie zulief.
    „Aber nicht allein!“, bestimmte ihre Leibwache.
    „Du kannst nicht schwimmen“, dementierte die Prinzessin sein Vorhaben. „Mit voller Rüstung erstrecht nicht!“
    „Dann lass zu zu uns kommen!“, widersprach Daryk und verwies auf die Kreaturen, die wieder anfingen sich zu nähern.
    „Rhenus sagte, Calypso würde gegen mich verwenden, was mir wichtig ist. Es ist zu gefährlich und deswegen bin ich alleine gegangen. Du solltest nicht bleiben!“
    Der Ritter lächelte bloß und rief in diesem Moment seinen Helm.
    „Lass sie nicht allein“, murmelte er kaum hörbar, weshalb Daphne ihn leicht fragend ansah. Die seltsamen Frauen kamen immer näher und erhoben sich schlussendlich aus dem Wasser. Teils nackt standen sie da, ihre Haut unnatürlich grün verfärbt und von Muscheln bewachsen, wie der alte Rumpf eines Schiffes. Kiemen an ihren Hälsen zeigten, warum sie sich so lange unter Wasser verbergen konnten. Wieder fauchten sie, was wohl mehr dem Ritter galt, als Daphne und legte somit ihre spitzen Zähne frei.
    „Das sind wohl Frauen, die dir diesmal nicht allzu wohlgesonnen sind wie sonst“, witzelte die Prinzessin verunsichert.
    „Hmm“, brummelte der Hüne und wandte sich den Frauen zu. Er blieb neben Daphne stehen und ergriff seine Waffe mit beiden Händen – bereit zum Angriff oder zur Verteidigung. Aber aus irgendeinem Grund hielten die Frauen inne.
    „Boar, sind die hässlich!“, erklang es urplötzlich hinter ihnen und als sich beide umdrehten, standen die fünf Namenlosen, so wie ihre Freunde, am Strand und sahen die Gestalten ebenfalls aus Wasser ragen. Sören schulterte nach seiner weitreichenden Erkenntnis sein Breitschwert und fügte hinzu: „Zählen die noch als Frauen oder … Ich schlage ungern welche.“
    „Nein, nein“, beruhigte ihn Theical. „Das ist wie mit Vampiren. Auch wenn weiblich, das zählt nicht, sobald sie einen fressen wollen.“
    „K-Könnten wir versuchen eines lebendig zu fangen?“, warf Aras ein. „Ich würde gerne eines dieser … Dinger studieren.“
    „Studieren nennst du das, ja?“, vergewisserte sich Thyra grinsend und auch die fünf Namenlosen schauten den Herzog skeptisch an.
    „Ja, studieren“, bestätigte Aras noch einmal. „Ich schlafe nicht mit allem, was Brüste hat!“
    „Vorrangig wollen wir diese Damen von ihrem Leid erlösen“, ergänzte Jaris und zog sein Schwert. „Sie waren auch mal Menschen.“
    Nun wanderte der fragende Blick zum Söldner.
    „Erkläre ich euch später!“
    „Was macht ihr hier?“, schrie Daphne ihren Freunden und Brüdern zu.
    „Dir helfen! Eine Person gegen über hundert ist reichlich unfair“, stellte Theical klar.
    „Außerdem haben wir doch vorgestern bewiesen, wie stark wir zusammen sind“, fügte Thyra hinzu und rief ihren Bogen.
    Auf einen Schlag tauchten die schwarzhaarigen Frauen aus dem Wasser auf und stürmten auf die Gruppe zu. Daryk schob Daphne hinter sich und schlug der ersten, die ihnen zu nahe kam, den Kopf vom Hals. Schlammiges, altes Blut spritze gegen die schwarze Rüstung und es roch nach modrigem Holz.
    „Zurück zum Strand!“, befahl der Leibwächter und stieß Daphne an. Dort, wo sie standen, waren sie ein zu leichtes Ziel, auch wenn Thyra ihnen mit ihren Pfeilen, etwas Raum verschaffte. Gerade, als Daphne ihren nackten Fuß aus dem Wasser setzen wollte, wurde sie von etwas am anderen festgehalten und zu Fall gebracht. Nicht einmal eine Schrecksekunde ließ man ihr, als sie an Daryk vorbei, ins Meer zurückgezogen wurde. In einem großen Bogen wurde sie in die Luft befördert, wo sie noch kurz ihren Namen hören konnte, aber dann übertönte alles die auftürmenden Wassermassen um sie herum, als sie eintauchte. Dort, wo sie gelandet war, konnte Daryk ihr nicht hin folgen ohne unterzugehen. Überall um sie herum war aufgewirbeltes Wasser und ließ kaum keinen weitreichenden Blick zu. Nur, dass ein Schatten sie umkreiste, konnte sie erkennen. Daphne brauchte einen Moment, um festzustellen, wo oben und wo unten war, aber als sie die Sonne über sich entdeckte, schwamm sie genau darauf zu. Schnell tauchte sie auf und erkannte, dass bereits ein Kampf losgebrochen war. Jeder, ihre Brüder und ihre Freunde, kämpften gegen die Kreaturen, die Calypso auf sie losgelassen hatte. Eilig wollte sie wieder zum Ufer, aber bevor sie auch nur einen Zug darauf zumachen konnte, türmte sich eine Welle vor ihr auf und offenbarte eine schwarzhaarige Frau. Lediglich bekleidet mit einen Fischernetz, so wie sie es aus ihrem Traum kannte.
    „Wo willst du denn hin?“, fauchte sie mit ernster Stimme. Die Ähnlichkeit mit ihr war unverkennbar. Die Gesichtszüge alleine reichten aus, um eine Verwandtschaft zu offenbaren, nur, dass Calypso älter war als sie. Mit großen Augen musterte sie die einstige Herzogin, wobei sie es tunlichst vermied, sich die Furcht anmerken zu lassen.
    „Zurück ans Ufer“, antwortete Daphne und spuckte etwas Wasser aus.
    „Zu deinen Freunden? Nein, nein, du bleibst hier, wo du hingehörst.“
    „Nein, danke!“, maulte Daphne und richtete Wasser vor sich auf, um eine Mauer zwischen ihr und der Hexe zu bauen.
    „Du bleibst hier!“, schrie Calypso nun hinter ihr her und vernichtete mit einer Armbewegung Daphnes Barriere. Blitzschnell konnte sich die Frau durch das Wasser bewegen, verflüssigte sich und gewann wieder an Form. Wesentlich schneller, als Daphne dies beherrschte.
    „Was willst du von ihnen?“, brüllte Calypso. „Sie sind Betrüger und gierig, lebendig und doch sterben sie täglich ein Stück. Mit mir kannst du lernen, ewig zu leben. Du bist wie ich, von Rhenus auserwählt sein Reich wieder herzustellen.“
    Daphne drehte sich um und schaute der Frau in ihre hellblau, fast weiß leuchtenden Augen.
    „Ich glaube nicht, dass Rhenus das hier will. Sonst hätte er mich nicht geschickt, um dir den Garaus zu machen.“
    „Er ist nur ein Mann, falsch wie alle anderen auch.“
    „Und wieder, nein danke!“
    Calypso ließ die Prinzessin nicht gehen und machte einen Satz nach vorn. Die Hände Calypsos veränderten sich auf einmal, das konnte die junge Frau im Augenwinkel sehen. Mit ihren krallenartigen Fingern hielt sie Daphne fest und versenkte diese tief in ihrer Wade. Ein lauter Schrei entwich der Prinzessin und reflexartig trat sie nach hinten und damit der Hexe mitten ins Gesicht. Es brachte nichts wie ein normaler Mensch zu schwimmen und, obwohl ungeübt in ihren Kräften, stieß sich Daphne von der Wasseroberfläche ab. Als sei es fester Untergrund, gewann sie Halt unter sich und richtete sich auf, während die Wunde verheilte.
    „Rhenus hat dich verändert wie mich, wir sind gleich. Verschwende diese Kräfte nicht“, erklärte Calypso und stand direkt vor Daphne, die nur höhnisch lachte.
    „Wir sind ja so überhaupt nicht gleich“, protestierte die Prinzessin. „Du bist geisteskrank und ich vielleicht manchmal etwas von Sinnen. Das ist ein Unterschied.“
    Fauchend schlug Calypso nach Daphne, die den Krallen mit einer leichten Rückwärtsbewegung auswich. Auf dem Wasser zu stehen, war wie auf einem Brett im Wellengang zu balancieren. Das erste Mal seit langem, kamen Daphne ihre alten Fähigkeiten ungemein nützlich vor.
    Immer wieder fuhren die spitzen Fingernägel der totgeglaubten Herzogin an Daphnes Gesicht vorbei oder streifen sie gar, aber die Verletzungen verschwanden, ehe sich die Prinzessin ernsthaft über sie Gedanken machen musste. Zur Gegenwehr ergriff sie den Dolch an ihrer Hüfte und zog ihn aus der Halterung, um ihn schützend vor sich zu halten. Hinzukamen die Wassertentakel, die aus ihren Armbeugen flossen.
    „Wie niedlich“, spottete Calypso. „Glaubst du, du kannst dich mit deiner Unerfahrenheit gegen mich zur Wehr setzen?“
    „Versuchen kann ich es!“
    „Das ist reine Zeitverschwendung. Das Ende ist ohnehin, dass du dich zu uns gesellst. Wir sind deine Familie. Wir alle!“
    Daphne ließ ihren Blick schweifen und erkannte erst jetzt, dass all ihre Sklavinnen vom Aussehen her Parallelen aufwiesen. Das war also aus den verschwundenen Prinzessinnen geworden. Handlanger der Herzogin.
    „Ich werde mich“, prophezeite Daphne trocken, „mit allen Mitteln gegen dich wehren!“
    Eine Herausforderung, aber leider umsonst. Das haben sie alle versucht. Du weißt doch; Blut ist dicker als Wasser!“
    Nach diesen Worten, griff Calypso erneut Daphne an und diese wehrte ihre Krallen mit dem Dolch ab, bevor sie die Wassersträngen versuchte um deren Hals zu wickeln. Auch bei der Herzogin verheilten die Wunden viel zu schnell, als dass sie irgendwelche Auswirkungen zeigen konnten. Schneller noch als bei ihr.
    Auch Calypso rief Wasser herbei, nur dass ihre Arme vollständig daraus bestanden und die Form annahmen, die sie wollte. Es standen Jahrhunderte lange Erfahrung gegen Daphne. Urplötzlich bereute sie, dass sie nicht härter trainiert hatte, um herauszufinden, was sie alles konnte oder ihre vorhandenen Fähigkeiten auszubauen. Darauf hatte sie sich vorbereiten sollen, aber nun war es zu spät. Wirbelsturmartig erhob sich das Nass um Daphne und verbarg sie im Auge.
    „Spielen wir jetzt verstecken?“, moserte die Hexe und umkreiste die Prinzessin. Mit schlagendem Herzen verfolgte Daphne den Schatten und behielt ihre verteidigende Körperhaltung bei. Mit einem lauten, sirenenähnlichen Schrei, durchstieß Calypso den Wassersturm und Daphne wich ihr seitlich aus. Mit ihrer freien, linken Hand hielt sie die rechte von Calypso fest und versenkte den Dolch zwischen deren Rippen. So schnell sie konnte, drehte sie sich vor die aufschreiende Frau und trat sie gezielt gegen den Oberkörper. Die Hexe flog rücklings aus dem Wasserwirbel und Daphne folgte ihr. Mit ihren Tentakeln umschloss sie die Herzogin und schleuderte diese in die Luft, um sie mehrfach auf die Wasseroberfläche zu schlagen. Doch bevor Daphne sich über ihre Gegenwehr freuen konnte, verflüssigte sich Calypso und verschwand in den Wellen. Leicht außer Atem drehte sich Daphne einmal im Kreis, aber nichts war zu sehen. Ohne lange nachzudenken, fokussierte die Prinzessin ihre Freunde am Strand und bewegte sich umgehend auf sie zu. Alle kämpften gegen die vielen, gefallenen Prinzessinnen, deren laute Schreie die Meeresluft erfüllten. Vielleicht hatte sie der Herzogin für einen Moment einen Schlag versetzt und konnte zu allen aufschließen.
    So schnell sie ihren Beine über das Wasser trugen, rannte Daphne auf die Küste zu, ohne den Halt auf dem unebenen Untergrund zu verlieren. Sie schaute nicht zurück und entdeckte Daryk unweit von Jaris und Aras. Wenn Wasser nicht gegen Wasser ankam, dann vielleicht Feuer und Blitz. Alleine konnte sie diese Schlacht nicht gewinnen, das wusste sie nun.
    Gerade, als sie deren Namen schreien wollte, erhob sich etwas aus ihrem Schatten heraus. Wieder türmte sich eine Welle hinter ihr auf und diesmal riss es ihr die Beine weg, so dass sie stürzte und in die Fluten fiel. Das Salzwasser wirbelte sie weiter und kaum spürte sie den sandigen Boden unter ihren Fingern, ergriff eine Hand ihre Kehle und zog sie rauf.
    „Du kannst nicht weglaufen!“, fauchte Calypso und drehte Daphne Richtung Strand.
    „Sieh sie dir noch ein letztes Mal an, Prinzessin. Wie sie kämpfen und sich wehren, wie sie dich verteidigen.“
    Die Herzogin presste Daphne an sich, während ihre Krallen in ihre Wange und in den Hals schnitten.
    Sie werden dir schon zeigen, wer hier stärker ist!“, murmelte Daphne mutig. „Du kannst sie nicht alle besiegen!“
    „Das werde ich auch nicht“, gestand die Hexe. „Das wirst du erledigen!“
    Plötzlich spürte die Prinzessin einen immensen Schmerz zwischen Schulter und Hals. Calypso biss ihr tief in das Fleisch und ließ dann lachend von ihr ab. Daphnes Hand schnellte zur Wunde und die gleiche, stinkende Flüssigkeit befand sich an ihren Fingerspitzen, wie jenes, das Anstelle von Blut aus den Sklavinnen floss.
    „Was ...“, setzte die Prinzessin verwirrt an, bevor ihre Stimme versagte und ihr Körper sich wie gelähmt anfühlte.
    „Versuch dich dagegen zu wehren, meine Tochter. Du wirst sehen, das gleiche Gift wie deine Mutter einst zu spüren bekam, wenn auch nicht vollständig, weil sie nicht unseres Blutes ist, wird auch dein Herz erkalten lassen.“
    „Meine Mutter?“, brachte Daphne kaum noch heraus.
    „Es war ein Fehler dich mir wegzunehmen, wo sie dich doch schon im Meer geboren hatte und hier wirst du auch dein Ende finden, wenn du mir nicht gehorchst.“
    Ein Flüstern machte sich in Daphnes Kopf breit, welches immer lauter wurde, je mehr sich Calypsos Gift in ihr ausbreitete. Sie konnte sich weder bewegen noch irgendwelche Magie wirken. Somit heilte die Wunde auch nicht.
    „Versuche dich nicht dagegen zu wehren, es ist ohnehin zwecklos“, zischte Calypso kalt und drehte ihren wehrlosen Körper ihren Freunden zu. „Es endet immer auf die gleiche Weise und nun kenne ich auch dein Herz, was es mir unlängst leichter macht, sie alle zu vernichten!“
    Nur noch stockend konnte Daphne atmen und es war, als würde sie von Wellen hin und her geschleudert werden. Hunderte Stimmen schreiten in ihrem Inneren und sie schaffte es kaum noch ihre eigene zu hören. Es war ein unerträglicher Lärm, lauter, als alles, was Daphne jemals gehört hat. Sie wollte schreien, aber kein Laut wich über ihre Lippen. Wie ein Stein fühlte sich ihr Körper dabei an und versank gefühlt in den Fluten des Meeres, auch wenn sie im seichteren Wasser stand. Alles, was sie noch wahrnahm war, wie das Gift sich durch ihre Adern arbeitete, unfähig sich gegen die Stimmen, die alle ihre Zweifel und Ängste hervorhoben, zu wehren.

    Daphne freute sich über ihre Galeone, aber die Führung über die verschiedenen Decks konnte sie nicht genießen. Immer wieder fragte sie sich, was ihr Vater von ihr und Daryk wollte. Sie kannte die Gesetze und Traditionen und wusste, man würde sie wegsperren, wenn eine Liebe zu einem Mann bekannt würde oder einem, der nicht in deren Geschmack fiel. Daryks Rang war in Delyveih nicht bekannt, der Adelstatus daher mit nichts vergleichbar. Im militärischen Sinne hätte er vermutlich die höchste Tätowierung, aber zu einem Herzog machte ihn das dennoch nicht.
    Die Gespräche über Aufbau und Namenswahl bei dem Schiff erklangen wie ein Echo in ihren Ohren und immer wieder ergriff sie die Angst, was ihr Vater von ihr wollte. Daryk schaute sie oft an, selbst dem Hünen schien unwohl bei er Sache und dabei dachte sie, ihn könne nie etwas aus der Ruhe bringen. Was sollte sie schon mit ihm machen? Gegen seine Magie war bei ihnen kein Kraut gewachsen. Gegen keiner der Mächte, die die Gruppe besaß. Bei einem Blick über das Meer, vom Bug aus, wurde ihr irgendwie noch unwohler, obwohl sie das Meer ja eigentlich liebte. Es wirkte friedlich, fast zu friedlich. Als wolle es seine eigentlichen Gefahren verstecken. Erst auf dem Rückweg fiel ihr auf, dass keine einzige Möwe mehr am Himmel war.
    „Seltsam ...“, nuschelte sie auf Avalons Rücken, der nickend seinen Kopf auf und ab bewegte, als wollte er ihr zustimmen. Sie sah sich um, aber nicht einmal die Schwalben zeigten sich.
    „Du merkst es auch, oder?“, sprach Jaris, der neben sie ritt.
    „Ja, irgendetwas braut sich zusammen. Vielleicht ein Unwetter?“
    „Vielleicht ...“, erwiderte der Söldner leise. „Vielleicht ...“
    „Schon komisch, dass das Schiff ausgerechnet „Calypso“ heißt, oder nicht?“, lenkte der Halbelf das Gespräch auf etwas anderes. „Wo sie doch eher eine umstrittene Gestalt ist.“
    „Ja, aber wie das immer so ist. Für die einen ist sie eine Figur aus einem Gruselmärchen, für andere eine Schutzheilige. Wenn sie die Meere beeinflusst, wird sich ein Seemann hüten, sie zu verärgern. Deshalb bringen sie ihr die toten Kinder, um die ewige Jungfer zu besänftigen.“
    „Grausam, wenn du mich fragst“, gestand Jaris. „Die Kinder gehören zu ihren Familien.“ Daphne lachte leicht unsicher.
    „Wir huldigen anders unseren Verstorbenen. Wir begraben sie nicht unter der Erde, damit wir sie irgendwie physisch besuchen können.“
    Die Prinzessin zeigte auf eine große Insel an der Küste, zu der man rudern konnte. Einer der wenigen Orte, die von einem dichten Wald umgeben waren.
    „Dort trüben stehen hunderte Statuen und ein Schloss im kleineren Format, was stetig wächst. Wir erschaffen genaue Abbildungen von unseren Ahnen und stellen diese steinernen Zeugnisse ihrer Existenz auf. Die Asche verstreut auf dem Meer, bleibt uns so ein Angesicht, in welches wir blicken können, wenn wir Rat, Trost oder Stille brauchen.“
    „Ich weiß ...“, antwortete Jaris und lächelte kaum erkennbar. Ein leichtes Stöhnen entwich er Prinzessin. Wie konnte sie ihrem „sogenannten“ Vetter nur etwas erzählen, nachdem er erwähnt hatte, mehrere Leben gelebt zu haben? Sie kam sich plötzlich unwahrscheinlich dumm vor.
    „Es tut mir leid“, brachte Daphne lachend hervor. „Ich vergesse manchmal …“
    „Schon gut“, unterbrach sie Jaris. „Ich denke ja auch nicht pausenlos daran.“


    Der Weg zurück zum Schloss zog sich, in Erwartung dessen, was dort lauern würde. Wusste ihr Vater Bescheid? Hatte Thorvid sie in eine Falle gelockt? Nein. Das war unmöglich, als sie sich zu ihrem Halbbruder herumdrehte, der nur nickend ihren Blick erwiderte, ehe er wieder seine Kapuze ins Gesicht zog. Oder doch? Ihrer Pflicht nicht nachzukommen war unlängst ein ebenso schlimmes Verbrechen, wie das, dass Daphne sich verlieben würde, was bereits geschehen war. Sie kannte die alten Vorgehen so etwas zu verhindern, indem de Nordmänner den Prinzessinnen das Augenlicht nahmen, weil sie dachte, die Liebe kam über die Kraft zu sehen. Erst, als sich eine ihrer Vorfahrinnen in eine „Stimme“ verliebt hatte, wurde diese These überdacht und man kam zum Entschluss, die weiblichen Erben grundsätzlich von allem fernzuhalten, anstatt sie zu blenden. Wie konnte man nur so verfahren?
    Der Tag neigte sich dem Ende und sie kam nicht umhin die Blicke ihres Vaters zu bemerken, die ebenfalls auf ihr ruhten. Langsam ritt er neben sie und räusperte sich zunächst einmal kräftig. Anscheinen versuchte er Worte zu finden.
    „Hast du dir schon einmal überlegt, wie es weitergehen soll? Du kamst zurück, um mich zu heilen und ich bin geheilt. Liege ich richtig, wenn ich glaube, dass du nicht bleiben wirst?“ Daphne senkte ihren Blick, was eigentlich Antwort genug war.
    „Mutter wird ...“
    „Überlasse deine Mutter mir. Irgendwo in ihr muss noch die Frau von einst existieren, die all ihre Kinder liebte. Ich verstehe sie selbst nicht und das seit knapp fünfundzwanzig Jahren.“
    „Das heißt, Ihr würdet Eure Tochter gehen lassen?“, warf Jaris überrascht ein und grinste kurz den Ogerschlächter hinter sich an. Bei einem Blick nach hinten, bemerkte sie aber nur den mürrischen Blick es Hünen, den er Jaris zuwarf. Willfred atmete tief durch.
    „Ich wollte sie nie einsperren. Unsere Gesetze und Traditionen sind so alt, dass wir teils gar nicht mehr wissen, warum es sie gibt. Das Einzige, was ich aus alten Überlieferungen und Schriften sagen kann, ist, dass in der Vergangenheit über hundert Prinzessinnen verschwunden sind. Einfach so in den Fluten verschwunden. Man fand keine Leichen, keine Überreste anderer Art. Ich habe eine alte Aufzeichnung eines jungen Mannes, der sich nur erinnert am Strand aufgewacht zu sein. Einer Palastwache, die danach des Mordes angeklagt und zu Tode geprügelt wurde, dabei beteuerte er seine Unschuld. Das blieb anscheinend kein Einzelfall. Irgendwann entschied man so, wie man es von unserer Handhabe her kennt. Die Namenlosen Halbbrüder ersetzen jedoch die kastrierten Wachen.“ Der letzte Satz wurde von einem ironisch klingenden Lachen begleitet. „Gab es mal keine Namenlosen, dann übernahmen dies Vetter oder andere männliche Blutsverwandte. Kein Fremder wurde an die Prinzessinnen herangelassen. Zumindest, bis man sie verheiratet hat.“
    Daphne spürte wieder die Augen ihres Vaters im Nacken, bevor er sich wieder dem Söldner zuwandte.
    „Irgendwann seit Ihr vielleicht selbst Vater und versteht, warum man seine Kinder mit allen Mitteln versucht zu schützen. Von uns bleibt nichts anderes auf dieser Welt zurück als sie. Sie tragen alles von uns weiter. Erfahrungen, Geschichten, die Art wie sie lachen, weinen und ihren Drang nach … Freiheit. Es ist wie bei einem Volk und seinem Herrscher. Man könnte annehmen, wir bilden so strikt militärisch aus, weil wir kriegerisch sind, das ist aber nicht wahr. Wir wollen uns nur verteidigen können, wenn etwas das bedroht, was wir versuchen zu schützen.“
    Ihr Vater sprach von Schutz, dabei fühlte sie sich viel mehr so, als hätte man sie vor ihrer Familie beschützen sollen. Sie trieb Avalon schneller zu laufen. Egal was ihr Vater von ihr wollte, sie wollte es hinter sich bringen, bevor man noch jemanden in Gewahrsam nahm, weil man sie zu „beschützen“ versuchte.


    Die Freunde teilten sich nach der Ankunft auf. Alle waren schmutzig und durchnässt vom Regen. Nur Daryk und Daphne zogen sich nicht umgehend in ihre Zimmer zurück. Sie hatten immerhin eine Einladung erhalten, wenn auch in den Thronsaal. Vor der schweren und riesigen Tür, hielt man sie an noch zu warten, da Willfred noch mit Tristan sprach. Tristan, den einzigen ihrer Brüder, den sie noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Sie trat einige Schritte von der Torwache weg und stellte sich vor Daryk.
    „Was machen wir, wenn sie es wissen?“, flüsterte sie ihm zu und schaute ihn unverwandt an. Daryk schaute nachdenklich zu ihr hinunter. Es gab immerhin mehrere Faktoren, die sie etwas ahnen lassen konnten. Das Abendessen und Thorvid.
    „Laufen? Dich hier herausbringen, bevor sie dich einsperren?“
    „Mich einsperren?“, wiederholte Daphne leise, aber energisch. „Es ist fraglich, wen sie zuerst einsperren.“
    Die Besorgnis in ihrer Stimme war kaum zu überhören.
    „Sie werden dich nicht einsperren, egal was passiert!“
    „Willst du uns etwa den Weg freikämpfen? Soll ich die Waffen gegen mein eigenes Blut erheben? Es muss einen anderen Weg geben.“
    Der Hüne atmete einmal tief durch und ließ dem ein Nicken folgen.
    „Wir werden sehen“, versuchte er sie anscheinend zu beruhigen, was es aber nur minder tat.
    „Ihr könnt nun eintreten“, unterbrach die eine Wache die beiden Flüsternden und öffneten die rechte Tür. Beide gingen gleichzeitig hindurch. Aber kaum hatten sie diese durchschritten … Er hielt sie zurück und im gleichen Moment drehte er sich schützend vor sie. Seine Arme umschlossen dabei ihren Oberkörper, während er seine Rüstung rief. Etwas prallte hörbar an dieser ab, während der Vater lachend in die Hände klatschte.
    „Siehst du, genau das meine ich, das ist großartig!“, gab Willfred grölend von sich, während sein Sohn vom steinernen Thron aufschrak. Für einen Augenblick konnte Daphne die Hitze des Feuers spüren, die von dem Beschwören ausging, aber weder verbrannte es sie, noch war es unangenehm.
    „Seid ihr noch zu retten?“, sprach sie irgendwann und sah den Übungspfeil am Boden liegen, der von Thorvid abgegeben worden war. Dieser stellte seinen Bogen leicht grinsend zu Boden und schaute zu seinem Bruder.
    „Was sollte das?“, hakte auch Daryk nach und drehte sich wieder zu den Herrschaften.
    „Ein Beweis“, gestand Willfred, der links neben Tristan stand. Daphne wusste es nicht genau, aber sie glaubte, ihr blätterte jegliche Farbe aus dem Gesicht. Nicht, dass davon viel da gewesen wäre, aber dennoch. Unsicher blickte sie wieder zu Daryk, mit einem Ausdruck, als hatte man sie wirklich erwischt. Der Hüne ließ den Helm von seiner Rüstung schwinden und fuhr skeptisch herum.
    „Wofür?“, verlangte er zu wissen.
    „Dafür, dass Ihr, … Ritter, das ist doch die Bezeichnung für den Rang, nicht wahr?!“
    Daryk nickte bloß.
    „Er ist ein gefährlicher Mann, der Ser Daryk Hylon!“, lenkte Willfred ein, aber in seinem Tonfall lag kein Vorwurf, mehr Erleichterung. Der Herzog wiederholte die Worte, die zuvor schon mal gefallen waren, aus dem einfachen Grund; sein herrschender Sohn hatte sie noch nicht vernommen.
    „Nur für meine Feinde?!“, wiederholte Daryk leicht skeptisch seine Antwort.
    „Ich verstehe nicht, was du damit bezwecken willst“, mischte sich nun endlich Tristan ein. Ein Mann mittlerweile, der nur geringfügig kleiner war als Daryk. So groß hatte Daphne ihn nicht in Erinnerung gehabt, also hatte noch einmal etwas zugelegt, auch wenn seine Statur nicht der des Ogerschlächters entsprach. Tristan war vorrangig Herrscher, kein Krieger auf dem Schlachtfeld.
    „Daphne wird nicht bleiben, das steht fest und ich kann es ihr nicht verübeln“, wandte sich Willfred an seinen Sohn. „Sieben Jahre lang war sie verschwunden, weil wir sie einsperrten wie ein Tier.“
    „Ein Tier?“, fuhr Tristan wütend zu ihm herum. „Tiere leben im Dreck, sie in einem Schloss. Das lässt sich nicht vergleichen.“
    „Und doch zog ich all die Zeit den Dreck vor!“, widersprach Daphne und wusste gar nicht, woher diese Worte so urplötzlich kamen.
    „Du hast dich deiner Verantwortung entzogen!“, schimpfte Tristan und ging einige Schritte wütend auf sie zu. Er sah immer noch aus, wie die ältere Version von Yorick, nur war der Jüngere von beiden eindeutig auch der sympathischere. Daryks Augen begannen zu glühen, während der Bruder ungehalten auf Daphne zumarschierte, weswegen sie sich an ihm vorbeischob und vor ihn stellte, bevor beide Männer aneinander gerieten.
    „Wie du siehst, lebe ich noch.“ Das Detail über ihr Ableben verschwieg sie lieber an der Stelle.
    „Wie ich hörte, hat das teilweise auch einen Grund“, krakeelte Tristan weiter und schaute nun zum Vater, der immer noch grinste und an der lauten Auseinandersetzung seiner Kinder nichts auszusetzen hatte.
    „Warum sind wir hier?“, schrie Daphne verzweifelt ihren Vater an und konnte sich aus all diesen Argumenten nichts mehr zusammenreimen.
    „Wenn du wieder fortgehst, dann wirst du eine Leibwache brauchen, deswegen seid ihr beiden hier!“, gestand der Vater nun endlich und verdutzt schaute die Prinzessin drein.
    „Eine … Leibwache?!“, fragte sie kleinlaut. Willfred nickte und zeigte auf Daryk. Ihre Blicke wanderten zwischen den beiden Männern hin und her, wobei Daryk nur erstaunt seine Brauen hob.
    „Er ist aber nicht mein … Bruder?!“
    Diese Worte kamen leiser über ihre Lippen, als beabsichtigt.
    „Ja und?“, warf Willfred ein.
    „Ja und?“, wiederholte Tristan wesentlich lauter. „Er soll ein Kopfgeldjäger gewesen sein, der zuvor Jagd auf sie gemacht hat.“
    Dinge verändern sich“, erklärte Willfred trocken.
    „Dinge verändern sich vielleicht, aber Menschen nicht, nicht so.“
    „Und wenn doch?“, wollte Daryk wissen und verschränkte provokant seine Arme vor der Brust.
    „Das stimmt!“, maulte Daphne zurück. „Aber genau das ist der Grund, dass er uns nicht übergeben hat. Er ist nicht die Sorte Mensch, die Unschuldige in ein Messer laufen lässt.“
    „Die Sorte Mensch werden aber auch keine Kopfgeldjäger!“, argumentierte Tristan mit musternden Blick zu Daryk.
    „Vielleicht werden sie es, wenn sie keine Wahl mehr haben.“
    Irgendwie erkannte Tristan an Daryks Blick, dass er damit nicht meinte, eine militärische Prüfung nicht bestanden zu haben. Er hielt inne und wandte sich wieder seinem Vater zu.
    „Und urplötzlich ändert Ihr ...“, Tristan sprach diesmal Daryk selbst an, anstatt nur über ihn zu sprechen, „Eure Meinung. Versteht mich nicht falsch. Es ist gegen Jahrhunderte alte Tradition, einen Fremden zur Leibwache einer unserer Prinzessinnen zu machen.“
    „Es gibt Dinge, die sogar ein ... Kopfgeldjäger mehr schätzt, als Geld“, antwortete Daryk streng und Tristan ließ sich wieder in seinen Thron nieder.
    „Frauen?“, wollte der blonde Mann in Daryks Alter wissen und schaute zu seiner Schwester.
    „Nein! Ich kam als Feind und dennoch haben sie ihr leben riskiert, um meines zu retten“, widersprach Daryk Tristans Anspielung und kurz schien der neue Herzog beschwichtigt.
    „Und geblieben seid Ihr bei diesen Leuten, weil?“, bohrte Tristan dennoch weiter.
    „Weil ich meine ...“
    „Das ist doch alles egal!“, unterbrach Willfred das Ausfragen.„Dieser Mann hat einen Oger getötet und die fünf Namenlosen geschlagen. Es ist klüger, solch eine Person auf seine Seite zu haben, als gegen sich. Wenn deine Schwester wieder geht, dann sollte sie sicher sein. Wenn ein Mann fünf ersetzt, dann haben wir nichts zu befürchten. Also wende dich einmal von den alten Regeln ab, die bei Daphne keine Anwendung mehr finden, den sie war bereits fort. In sieben Jahren hätte so viel passieren können und nichts davon ist eingetreten. Das soll auch weiterhin so bleiben.“
    „Was ist mit ihren restlichen Freunden?“, wollte Tristan wissen.
    „Eine junge Frau, aber diese ist mit dem Söldner verheiratet, was wohl heißt, dass auf Dauer solch eine Aufgabe nicht zumutbare wäre. Ein Söldner wie gesagt und ein junger Mann, der Schatten einer jeweiligen Person kontrollieren kann, allerdings ohne kämpferische Ausbildung.“
    „Dann seid Ihr die einzige Person, die, was? Ungebunden ist?“, wandte sich Tristan nach den Worten seines Vaters wieder an den Hünen.
    „Sieht so aus“, antwortete Daryk nach kurzem Schweigen beider Seiten, weswegen Daphne sich ein Grinsen verkneifen musste. Das Zögern seiner Antwort bedeutete anscheinend, dass er überlegen musste, das zu verneinen.
    „Kennt Ihr Euch etwas damit aus, eine andere Person zu beschützen?“
    „Ja!“, antwortete Daryk erneut.
    „Ihr wisst, was die Aufgabe der Namenlosen ist? Was ihre Rechte, aber auch Pflichten sind? Und warum wir eigentlich nur Blutsverwandte dafür einsetzen?“
    „Ja!“
    Bei Rhenus schwarzem Haar, frag ihn endlich, ob er es machen würde“, wurde Willfred ungeduldig.
    Tristan verdrehte seine Augen und seufzte.
    „Der Sold beträgt hundertfünfzig Goldmünzen in einer Woche, da wir wissen, dass sich ein Leben selten mit so etwas aufwiegen lässt. Meine Schwester kann dies durch Schuldscheine und ihrem Siegel bei jedem besser betuchten Kaufmann einlösen. Diese fordern dies dann von mir zurück. Ebenso, wie sie nie wieder“, der Blick ihres Bruders galt in diesem Moment ihr, „unter falschem Namen reisen wird. Für ihre Sicherheit seid dann Ihr zuständig. Reicht Euch das aus?“
    Daryk verbeugte sich leicht, was Daphne erstaunt dreinblicken ließ. Noch nie hatte er sich bei jemanden verbeugt. Und doch. Man hatte gerade Daryk zu ihrer Leibwache gemacht. Leicht kniff sie sich in diesem Moment selbst in den Arm und rieb sich über die rote Stelle. Sie wollte ganz sichergehen, dass sie nicht gleich aufwachte und auf Avalon eingeschlafen war.
    „Dann schwört Ihr, Ser Daryk Hylon, dass Ihr immer im Sinne der Prinzessin handeln werdet? Dass, egal was geschieht, Ihr niemals von ihrer Seite weicht, ihr Leben vor Eures stellt und ihr niemals zu Nahe treten werdet?“
    „Ja!“, gab Daryk ein letztes Mal von sich und Daphne unterdrückte ein erneutes Lachen. Tristan nickte und atmete tief durch.
    „Reicht Euch der mündliche Eid oder braucht Ihr es schriftlich?“
    „Er wird genügen.“
    „Dann geht vorerst, ich möchte mit meiner Schwester alleine reden!“, forderte Tristan und im Hintergrund verschwand der Vater zufrieden durch eine Tür. Daryk hingegen rührte sich nicht von der Stelle. Er verschränkte seine Arme und wartete die Reaktion von Tristan ab, der nur seine Brauen hob.
    „Damit wäre die letzte Prüfung auch bestanden“, nuschelte er leise, aber noch so, dass die beiden dies hören konnten. „Und dennoch“, wurde der Herzog wieder lauter, „was hast du dir dabei gedacht? Einfach fortzulaufen?“
    Betreten sah Daphne zu Boden. Irgendjemand musste dies ja übernehmen, ihr Vorwürfe zu machen.
    „Ein Bauer hat es auch nicht leicht, ein Seefahrer auch nicht und trotzdem verharren sie an Ort und Stelle. Deine Verantwortung wiegt da noch wesentlich schwerer!“
    „Welche Verantwortung?“, fragte Daphne jedoch mutig. „Mich verkaufen zu lassen? Nicht selbst für mich entscheiden zu dürfen. Euer aller Spielzeug zu sein? Eine Schachfigur, die man gewinnbringend einsetzt?“
    „Jeder hat seine Bürde zu tragen und zu ertragen!“
    „Nein!“, dementierte die Prinzessin kopfschüttelnd. „Ich nicht! Ich muss gar nichts ertragen, was ich nicht bereit bin zu ertragen.“
    „Du bist nun mal kein Mensch, der für sich alleine lebt!“, erwiderte Tristan und stand von seinem Thron wütend auf.
    „Und trotzdem werde ich mich nie, niemals zu einem Mann betten lassen, der mehr als doppelt so alt ist wie ich, nur, weil ihm seine restlichen Frauen keine Kinder schenkten. Das kann wohl kaum an ihnen gelegen haben und an mir dann erstrecht nicht! Und fand es keiner von euch seltsam, dass diese Frauen ohne ein Wort verschwanden? Er hätte mich umgebracht, wenn ich nicht das erfüllt hätte, was er wollte und mehr sage ich dazu nicht. Ich habe mein Leben selbst an diesem Tag gerettet, auch wenn ich später Hilfe hatte. Aber ihr hättet mich damals allesamt zum Tode verurteilt!“
    Tristan riss seine Augen auf und starrte seine Schwester bloß an. „Und wenn ich mit allem, was ich tat, so falsch lag ...“, führte Daphne ihre Rechtfertigung weiter aus. Ihr Herz klopfte dabei bis zum Hals und sie hatte das Gefühl, dass diese Worte schon viel zu lange in ihr gewohnt hatten.
    „Wenn ich mit allem falsch lag, warum hat Rhenus mich gewählt und nicht dich oder einen meiner anderen Brüder?!“
    „Wir konnte nicht wissen, dass Heinrich so eine Art Mensch war, wir waren selbst noch jung“, begann sich nun Tristan zu rechtfertigen und mutierte vom Kläger zum Angeklagte.
    „Und warum wusste ich es dann? Ich, die ihn nur einmal gesehen habe? Warum vertraute Yorick meinem Urteil oder Arthur und Thorvid? Nur du nicht. Weil du Pflicht über dein Bauchgefühl stellst.“
    Daryk hatte keine andere Wahl, als zwischen den beiden hin - und herzublicken. Wenn sie er gewesen wäre, hätte sie sich auch nicht eingemischt.
    „Heinrich hat letzten Endes festgestellt, wie nah Leben und Tod beieinander liegen! Das hat nun mal sieben Jahre gedauert. Und wenn du nichts dagegen hast, dann würde ich es nun vorziehen, mich zurückzuziehen! Es war immerhin ein furchtbar anstrengender Tag und ich sehe aus, als hätte ich mich in einem Kuhstall gewälzt!“
    Anscheinend hatte Daphne alle Argumente, die sich ihr Bruder zurechtgelegt hatte, verworfen, denn er entließ sie mit nachdenklichem Blick und den Worten:
    „Deine Leibwache wird dann wohl die Nachtwache übernehmen. Durch den anstrengenden Tag, sind die Namenlosen nicht allzu … belastbar!“
    Nickenddrehte sich Daphne um und ließ sich die Tür öffnen. Zusammen mit ihrer neuen Leibwache, schritt sie durch diese und schaute den Hünen erst erleichtert an, als sich die Tür hinter ihnen wieder schloss. Daryk erwiderte ihren Blick mit einem Lächeln, aber kurz danach kam schon Erik angelaufen, der bereits Daryks Umbettung im Namen ihres Vaters veranlasst hatte. Ein etwas kleineres, aber dafür eigenes Zimmer neben den der anderen Namenlosen Quartiere. Es war der Leibwache gestattet, sich frische Kleidung anzuziehen, die ihm gestellt wurden. Neben seiner Rüstung eben, die er ohnehin schon von den Nordmänner bekommen hatte – indirekt. Xhar hatte sie schließlich verändert. An diesem Abend fiel das Abendessen für sie aus, wofür sie sich entschuldigen ließ, aber sie musste nach dem Kampf und den Tagen ohne Bad im Wasser, genau dieses nachholen. Es dauerte Stunden, bis sie sich erholt hatte. Das gab aber auch Daryk Gelegenheit sich zu säubern, sich umzuziehen und etwas zu essen. So lange wachte Thorvid noch in dem Vorzimmer. Als sie aus dem Bad kam, war dieser jedoch bereits verschwunden. An seiner Stelle saß Daryk in einer der Sessel und erhob sich, als sie den Raum betrat.
    „Jetzt fang nicht so an“, mahnte sie ihn.
    „Kein Begrüßung?“, fragte Daryk und setzte sich wieder.
    Daphne lächelte und schüttelte ihren Kopf.
    „Nicht so eine. Für eine Begrüßung muss man nicht zwangsläufig aufstehen!“ Kurzerhand setzte sie sich, wie den Abend davor, einfach auf seinen Schoß und schaute ihn an.
    „Das war heute nicht ganz das, was ich … erwartet hatte.“
    „Nicht ganz, aber besser!“, antwortete er lächelnd, was sie auch zu einem Grinsen zwang.
    „Hast du den anderen etwas gesagt? Warum du zum Beispiel umquartiert wurdest? Nicht, dass sie dich suchen und glauben, du wurdest festgenommen!“
    „Noch nicht“, gestand Daryk und zog Daphne näher zu sich. War wahrscheinlich an diesem Abend besser so, bevor sich alle vor der Tür versammelten, anstatt in ihren Zimmern. Nun ließ Daphne die Begrüßung folgen, die sie sich gedacht hatte – in Form eines Kusses, auch wenn es für einen Moment seltsam war, wenn man bedachte, welchen Eid Daryk abgelegt hatte.
    „So viele Kleider im Schrank und du wählst alles in schwarz“, bemerkte die Prinzessin bei einem Blick auf ihre neue Leibwache.
    „Früher, als Königswache, habe ich weiß getragen!“, antwortete Daryk nickend. Daphne verstand worauf er hinauswollte und hakte nicht näher nach. Dies wäre nicht möglich gewesen, ohne die Stimmung zu trüben. Sie zog es vor aufzustehen und ihn an der Hand zu nehmen.
    „Die Prinzessin ist müde ...“, erwiderte sie, um ihn vielleicht mehr aufzumuntern, anstatt zu deprimieren. Daryk stand auf und lächelte.
    „Dann bringen wir sie besser ins Bett!“, antwortete er folgte ihr widerstandslos. Daphne nickte.
    „Und den tapferen Mann auch, der sich heute gegen fünf Namenlose beweisen musste. Wir waren wirklich gut, wir alle. Kaum zu glauben, dass wir alle nicht mehr Schmerzen und Wehwehchen haben, als der Rest.“
    Sie krabbelte wieder in ihr Bett und begann schon die Vorhänge zuzuziehen, während sich Daryk neben sie legte.
    „Ja“, antwortete der Hüne gedehnt, „das waren wir. Vor allem deine … Ablenkung.“Urplötzlich lief Daphne rot an.
    „Ich konnte kaum noch Magie mehr wirken, deshalb. Irgendetwas musste ich machen, damit sie euch näherkommen lassen.“
    Sie kroch umgehend unter die Decke und lehnte sich müde an Daryks Brust, wo sie von Neuem begann die Muster an seinem Arm nachzufahren. Der Hüne nahm sie noch einmal in den Arm und drückte sie, bevor er ihr einen Kuss auf die Stirn gab.
    „Gut gemacht“, flüsterte er. „Schlaf gut,Prinzessin!“
    Gähnend nickte sie und gab selbiges zurück, mit dem Zusatz;„Leibwache-die-eigentlich-nicht-in-meinem-Bett-liegen-sollte-es-aber-dennoch-macht-weil-es-im-Sinne-der-Prinzessin-ist!“
    Dann schlief Daphne seelenruhig ein und verschwendete nur noch wenig Gedanken an die Gegebenheiten des Tages.

    Zusammen betraten sie das angrenzende Übungsgelände vor dem Schloss. Ein riesiges, flaches Areal, auf dem allerhand Gerätschaften standen und Arthur gerade den jüngsten Nachwuchs zurechtwies. Alles junge Männer von zirka fünfzehn oder sechzehn Jahren, die sich für diesen Weg und gegen ein Leben als Bauer oder Fischer entschieden hatten. Diese Gruppe verschrieb sich dem Kampf mit dem Schwert und Schild. Etwas, was Arthurs Aufgabe war zu lehren, wenn er keine Wache hielt.
    Jaris und der Herzog unterhielten sich angeregt über die Übungsweise, während Thyra und Theical die Strohziele für die Bogenschützen begutachteten. An diesem Ort merkte man, wie viel Wert die Nordmänner auf eine kämpferische Ausbildung legten. Die steinernen Gebäude, die sich, von Säulen getragen wie überall, weit nach oben erstreckten, waren die Unterkünfte derer, die vom Inland kamen und deren Familien nicht in der Stadt ansässig waren. In einem großen Kreis, zogen sie sich um den gesamten Platz. Daphne hatte diesen Ort selbst noch nie gesehen. Wie auch? Es war ihr verboten gewesen, alleine das Schloss zu verlassen und bei ihrer Flucht war die Kaserne nicht gerade ein bevorzugtes Ziel.
    Daryk lehnte sich an einen Fahnenmast vor den jungen Männern und verschränkte seine Arme vor der Brust, während Yorick und Daphne neben ihn traten.
    „Warum machen sie das?“, verlangte Daphne zu wissen und zeigte auf die jungen Männer. Was sie meinte, war die immer gleiche Bewegungsabfolge derer. Sie schienen ein und die selbe Bewegung immer und immer wieder gegeneinander auszuführen.
    „Warum was?“, hakte Yorick nach.
    „Ein Gegner macht doch auch nicht immer die gleiche Bewegung. Das hätte ich in Ymilburg gemerkt.“
    „Weil immer gleiche Bewegungen schneller trainiert werden können. Vor allem in Formationen sind sie sehr effektiv“, antwortete Daryk statt Yorick und Daphne verstand, was er meinte. Die Formationen, in denen sich die Nordmänner voran gekämpft hatten, hatte sie ganz vergessen.
    „Wenn es ums Kämpfen geht, bekommt der Schlächter sogar mal Sätze zusammen, ich bin begeistert“, frotzelte der Prinz neben seiner Schwester, die zwischen den beiden Männern stand. Daryk wandte sich Yorick zu und hob nach alter Manier seine Braue.
    „Oweiha“, dachte sich Daphne. „Gleich geht es wieder los. Er hat ein neues Opfer zum Sticheln gefunden.“
    Ich spreche nur, wenn ich etwas zu sagen habe!“, antwortete unterdessen der Ogerschlächter und Yorick lachte kurz.
    „Nicht immer“, erwiderte Daphnes Bruder und schaute ihn mit gleichem Blick an. Daryks hingegen wurde fragend.
    „Nein, was macht ihr denn da?“, brüllte plötzlich Arthur und als Daphne sich zu den jungen Männern herumdrehte, hatten diese sich verbeugt und ihren Blick auf den Boden gerichtet. Einer, der die Anwesenheit der Hoheiten, gerade der Prinzessin, zu spät bemerkte, schlug seinem Übungspartner noch das Holzschwert auf den Kopf, weshalb dieser wütend zu ihm aufblickte und es ihm abnahm.
    „Die Sache mit dem Ansehen, was“, murmelte Theical im Hintergrund und die Heilerin schlug sich hörbar die flache Hand gegen die Stirn. „Ein Wunder, dass sie sich nicht in den Staub werfen.“
    „Das würde noch fehlen … Es ist alles in Ordnung, ihr dürft weitermachen“, rief Daphne aus, was der Herzog Vater bestätigte.
    „Hoher Besuch“, begrüßte Arthur alle anwesenden, deren Taten man sich selbst in Delyveih erzählte. „An dem da hinten“, Arthur verwies auf Jaris, „könnt ihr euch ein Beispiel nehmen, was das Schwert angeht.“
    „Ich bin ihnen auch ein paar Jahre voraus!“, antwortete der Söldner lachend.
    „Nachher kommen die Bogenschützen, wenn Ihr Interesse habt ...“, stellte er Älteste der Namenlosen in den Raum und meinte damit Thyra, aber diese verneinte dankend.
    „Ich erhole mich gerade so gut. Vielleicht ein anderes Mal.“
    Nickend nahm Arthur diesen Beschluss hin. Die Blicke der jungen Männer, die sich getrauten zu erheben, wanderten zu Daryk. Er war einer derjenigen, die mit der schwarzen Rüstung umgehend auffielen, wozu seine Körpergröße noch beitrug.
    „Und das ist der Ogerschlächter“, flötete der Namenlose heraus. „Einen Oger besiegt er, aber euren Meister nicht.“
    Daryk seufzte und brachte nur ein: „Schwätzer!" , auf seiner Muttersprache heraus. Daphne lächelte und schaute zu Boden. Ein paar Sachen kannte sie in dieser Sprache. Nicht unüblich, wenn man nie wusste, wohin man verheiratet wurde.
    „Lügt er etwa?“ , antwortete sie auf Selbiger.
    Der Hüne fuhr zu ihr herum und schaute sie überrascht an.
    Guck nicht so“, entgegnete sie immer noch lachend. „Ich bin eine Prinzessin. Man weiß ja nie, wen man heiratet.“
    „Genau“ , stimmte Yorick auf Daryks Sprache zu. Den Folgesatz allerdings verstand sie nicht mehr. Der Ogerschlächter antwortete gewohnt knapp in seiner Sprache, aber auch das erkannte sie nur als Zustimmung zu etwas. Danach schaute Daryk zu ihr, während Yorick höhnisch auflachte.
    „Nein, er lügt nicht!“, meinte der Hüne schließlich.
    „Was habt ihr geredet?“, verlangte Daphne zu wissen.
    „Nichts“, wandte Yorick ein.
    „Es ging bestimmt um dich“, meinte Theical und trat neben den Bruder. „Sonst würde er nicht so dreckig lachen.“
    Schmollend schaute Daphne zwischen den Männern hin und her, die sich zu dem Thema ausschwiegen, aber selbst Daryk grinste. Noch immer schauten die jungen Krieger zu dem Schlächter, was selbst Daphne nicht verborgen blieb.
    „Ich glaube, du hast neue Freunde“, scherzte Theical, der ebenfalls nicht umhin kam, die Anstöße und Fingerdeutungen zu bemerken.
    „Warum starren die mich so an?“, fragte Daryk irgendwann und nun verschränkte auch Yorick seine Arme vor sich.
    „Ja“, setzte er gedehnt an. „Sie starren nicht Euch an, sondern Eure Rüstung.“
    Wiederholt hob Daryk seine Braue und blickte fragend zum Prinzen.
    „Der rote Jaspis. Die meisten dieser jungen Männer würden ihre Mütter dafür verkaufen, diesen Stein tragen zu dürfen“, erklärte Yorick und in diesem Moment begann Daphne, die Hitze in ihrem Gesicht zu bemerken.
    „Warum?“, bohrte Daryk weiter und die Heilerin hatte gehofft, er würde es damit einfach gut sein lassen.
    „Dieser Stein ist selten und wird grundsätzlich verschenkt, das ist Gesetz. Niemand darf ihn ohne Erlaubnis tragen, denn er wird ausschließlich von der Herzogsfamilie verschenkt. Wie eine Art Auszeichnung und ...“
    Jetzt war es ohnehin zu spät, nachdem Yorick gestoppt hatte.
    „Er soll seinen Träger widerstandsfähiger machen und ihn vor bösen Geistern bewahren, wie Flüche. Abgesehen davon … verkörpert er Zuneigung und Liebe gegenüber dem Träger!“
    „Aha ...“, nuschelte Theical über beide Ohren grinsend.
    „Flüche?“, wandte Daryk ein, was wohl ein versucht in ihren Augen war, von der letzteren Bedeutung abzulenken.
    „Du hast die Rüstung nicht getragen, als du in Ohnmacht gefallen bist.“
    „Verstehe“, antwortete Daryk knapp.
    Er schaute ihr in die Augen und sie versuchte die Röte in ihrem Gesicht, gekonnt durch einen tiefen Atemzug weg zu atmen, aber viel Hoffnung hatte sie nicht, dass ihr das gelungen war. Irgendwann traten auch Willfred, Jaris und Thyra an ihre Seite und der Vater musterte seinen namenlosen Sohn auf dem Feld.
    „Du hast den Hünen hier geschlagen?“, verlangte er zu wissen und Arthur schulterte nickend sein Übungsschwert.
    „War er da betrunken?“, verlangte Willfred weiter zu wissen und schaute den Rest an. Immerhin überragte Daryk Arthur gut um einen halben Kopf. „Was hat Euch abgelenkt?“
    Daryks Blick schweifte zu Daphne, die ihre Brauen hochzog, als sie verstand, dass sie die Ablenkung gewesen war. Der Rest der Gruppe folgte dem Blick des Hünen, wobei manche grinsten und andere, wie der Herzog, erstaunt ihre Stirn in Falten warfen.
    „I-Ich?“, brachte Daphne nur stotternd hervor und zeigte auf sich selbst. Daryk nickte ganz selbstverständlich, während die Prinzessin glaubte, dass er etwas zu mutig wurde.
    „Es sah aus, als hattest du … Schwierigkeiten!“, fügte jedoch hinzu und ihr fiel es wieder ein. Yorick hatte sie wegen des Armreifs ausgefragt, als plötzlich das Rauen über den Platz gegangen war.
    „Dann war es eine Schuld“, fuhr sie zu ihrem Bruder herum. „Du hast mich damals mit deinen albernen Fragen bedrängt.“
    „I-Ich?“, kam es gleichermaßen von Yorick zurück. Der Herzog begann zu lachen und wandte sich wieder Arthur zu.
    „Er war von deiner Schwester abgelenkt!“, rief er und hielt sich gleichauf den Mund zu. „Ich meine von der Prinzessin“, korrigierte er sich selbst. „Verratet das nicht meiner Frau!“
    Grinsend setzte sich der ältere Mann in Bewegung und stieg unter dem Holzgatter hindurch, was den Übungsbereich abgrenzte.
    „Erinnere mich daran, dir demnächst einen Vortrag über Frauen und Schwächen zu halten“, witzelte derweil Jaris, was dem Ritter ein Lächeln entlockte.
    „Und was soll ich jetzt machen?“, verlangte Arthur zu wissen. „Er wird es nicht wiederholen wollen!“
    Daryk stieß sich von dem Holzmast ab und grinste. Daphne ahnte, was das zu bedeuten hatte.
    „Und wenn doch?“, rief der Hüne und der Herzog ließ diesen Worten eine ausladende Handgeste folgen, während er Daryks Worte wiederholte.
    Arthur seufzte hörbar.
    „Dann werde ich der Ehre Willen den Zweikampf wiederholen!“
    „Dann los!“, verkündete der Ritter und Daphne glaubte sich verhört zu haben.
    „Jetzt gleich? Hier? A-Aber lass ihn am Leben, hörst du. Er ist älter als du!“
    „Das hab ich gehört!“, brüllte Arthur aus er Ferne.
    Der Herzog winkte den Rest zu sich und wollte an einer steinernen Tribüne Platz nehmen, während sein unehelicher Sohn auf Daryk wartete. Dieser positionierte sich genau vor den Namenlosen.
    „Wähle deine Waffe! Diesmal brauch auch kein Übungsstab zu sein.“
    „Richtige Waffen?“, verlangte Arthur zu wissen und der Ogerschlächter nickte. Die jungen Männer traten allesamt aus dem Gelände heraus und beobachteten tuschelnd, was da vorging.
    „Versuch ihn nicht wieder abzulenken!“, frotzelte derweil Theical neben Daphne, die ihn nur wütend ansah.
    „Sie kann ja ihren Halbbruder danach wieder zusammensetzen“, pflichtete Thyra bei. Damit hatte ihre Freundin immerhin recht. Arthur zog sein Schwert und schaute Daryk erwartungsvoll an.
    „Jetzt sein Ihr an der Reihe!“
    Urplötzlich beschwörte Daryk seine Waffe und seinen Helm, unter welcher die düstere und leicht verzerrte Stimme sich erhob.
    „So sei es!“, brüllte er regelrecht dem Namenlosen entgegen, der dastand, als hätte ihm ein Pferd gegen den Kopf getreten.
    „Da brat mir einer doch eine Möwe“, maulte Arthur, während auch die jungen Krieger vom Holzzaun wegtraten. „Ich bin doch nicht lebensmüde! Mein Rücken ...“
    Mürrisch warf er sein Schwert vor sich und gab somit freiwillig auf.
    Daryk stand regungslos da, als eine andere Stimme am Fuße der Tribüne erklang.
    „Du wirst wirklich alt!“, schimpfte diese amüsiert und der jüngste, leibliche Bruder von Arthur tauchte, nach seiner Nachtwache vor Daphnes Zimmer, auf. „Machst du dir vor ein bisschen Größe ins Hemd?“
    Der Namenlose band sich seine langen, blonden Haare zusammen und sprang danach, ohne viel Mühe, über den Holzzaun.
    „Du hast leicht reden“, antwortete Arthur. „Kämpfe du doch gegen ihn. Ihr müsstet ein Alter haben!“ Der Ritter ließ seine Waffe offensichtlich stehen und wartete die Situation ab. Daphne ließ hingegen immer mehr ihre Schultern hängen.
    „Wie viele Brüder hast du nochmal?“, fragte Theical.
    „Sieben insgesamt!“
    „Naja, wenn das so weitergeht, bist du bald einige los“, führte Thyra an und lehnte sich an Jaris, was die Prinzessin zum Lachen brachte. Weniger Wachen vor ihrem Zimmer konnten nicht schaden.
    „Kein dummer Gedanke!“, murmelte derweil Willfred und flüsterte Yorick etwas zu, der sich umgehend in Bewegung setzte. Sören schnappte sich Arthurs Schwert und ließ sich einen Schild geben.
    „Alles muss man hier ...“ Er hielt kurz inne und musterte Daryk. „selber machen.“
    Sören ließ sein Schwert rotieren und stabilisierte seinen Stand.
    „Willst du da ewig rumstehen?“, fragte Daryk, der die Auseinandersetzung immerhin nicht gesucht hatte. Umgehend hielt Sören mit dem Schild voran, auf den Hünen zu, der ihn wiederum um einen ganzen Kopf überragte. Er holte mit dem Schwertarm aus, aber Daryk parierte ohne Weiteres den Schlag.
    „Ist das alles?“, spottete der Ogerschlächter. Immer und immer wieder schlug Metall auf Metall, aber für den Namenlosen war da nicht viel zu machen. Entweder wurden seine Hiebe abgeschmettert oder Daryk wich dem Altersgenossen aus. Irgendwann hing Sören gebeugt da, völlig außer Puste und die Schweißperlen auf der Stirn.
    „Willst du aufgeben?“, erwiderte der Schlächter auf die Verfassung seines Gegenübers. Da hatte der Namenlose den Mund wohl zu voll genommen, aber anders kannte Daphne ihren Halbbruder nicht.
    „Wenn du mich so fragst … Nein!“
    Der Blonde richtete sich auf und stieß einen lauten Pfiff aus, woraufhin drei andere Soldaten das Gelände betraten. Thorvid in seiner vollen Montur und Kapuze über den Kopf, der sich seine ledernen Teilhandschuhe festzog. Ole in Rüstung und auch Arnrich in voller Ausstattung mit seinem metallenen Kampfstab.
    „Eine Familienzusammenkunft, wie schön!“, bemerkte Theical amüsiert, während Daphne immer tiefer rutschte.
    „Hast du jetzt vielleicht Lust mitzumachen?“, wandte sich Sören an Arthur.
    „Ist das nicht etwas unfair?“
    „Tut euch keinen Zwang an“, entgegnete Daryk gelassen.
    „Kann mich einer kneifen, das ist ein Albtraum!“, wimmerte Daphne und begann gekünstelt zu weinen.
    „Ist doch lustig“, widersprach Thyra gähnend. „Der andere Kampf war lahm.“
    „Wir wollen doch nicht, dass unsere Gäste sich langweilen“, stellte Willfred klar und faltete in voller Erwartung seine Hände ineinander.
    „Mir ist neu, dass wir Gäste verhauen, aber gut, Daryk scheint ja nichts dagegen zu haben!“, antwortete die Prinzessin ihrem Vater spitzzüngig und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Die fünf Namenlosen stellten sich vor den Ritter und Thorvid fing den Blick seines Gegenübers ein.
    „Entschuldigt, aber Blut ist dicker als …“
    Just in diesem Moment beschwor Daryk seine Magie und stand lichterloh in blutroten Flammen gehüllt da.
    „Feuer …“, beendete der sonst so stumme Krieger seinen Satz.
    „Gibt es noch mehr so Tricks?“, maulte Arthur lautstark. „Denn wenn ja, wüsste ich das gerne, bevor ich mich zu einem Kampf bequatschen lasse!“
    Sie alle stürmten auf den Hünen zu, aber mussten sich vor seinem Feuer in Acht nehmen. Daphne konnte, trotz ihres Moserns, nicht verbergen, dass irgendwie Stolz mitschwang. Immer waren ihre Brüder die Krieger gewesen, an denen sie andere messen konnte, aber diese verzweifelten an der Magie eines einzelnen. Daryk bekam auch Schläge ab, aber die wurden eben fast vollständig von seiner Rüstung abgefangen. Tritte und Schläge wirbelten die jungen Männer über das Feld. Irgendwann wurde Daryk plötzlich von Wasser übergossen und man sah Thorvid mit dem Holzeimer starr neben dem Hünen stehen, der inne hielt und fast schon überrascht zu dem Namenlosen hinunterblickte. Thorvid schmiss den Eimer emotionslos hinter sich und nahm sofort metaphorisch seine Beine in die Hand, als Daryk sich, immer noch brennend, auf ihn zubewegte. Es ergab sich das Bild, dass Thorvid vorwegrannte, Daryk hinter ihm her und im Schlepptau die übrigen vier nacheilten.
    „Hängt da Ole an seinem Bein?“, fragte Theical und zeigte mit dem Finger auf die Person, die vom Hünen über den staubigen Boden gezogen wurde.
    „Nein, nein“, korrigierte Daphne ihren Freund trocken. „Das ist Arnrich.“
    „Wollt ihr Schisser vielleicht mal helfen?“, rief Arthur völlig fertig die jungen Männer herbei, die nur zögerlich das Kampffeld betraten. Ungefähr vierzig zukünftige Krieger sprangen über oder stiegen unter den Holzzaun und ergriffen ihre Übungswaffen, wobei ihnen der Zweifel ins Gesicht geschrieben stand, dass sie mit diesen etwas gegen „Feuer“ ausrichten konnten.
    „Also jetzt wird es unfair“, sprach Jaris und erhob sich von seinem Platz.
    „Was hast du vor?“, fragte Daphne erschrocken. Lässig ließ der Söldner seinen Nacken kreisen.
    „Ich habe lange nicht mehr trainiert. So ein paar Übungen am Morgen können nicht schaden!“
    „Uh ja“, stimmte Thyra zu. „Verhau sie alle!“
    „Sag mal, war irgendetwas in eurem Frühstück?“, japste Daphne mit hoher Fistelstimme und erschrak noch mehr, als auch Theical stöhnend aufstand.
    „Scheiß Gruppenzwang!“, moserte dieser gespielt und grinste Jaris an. „Wenn ich besser werden will, sollte ich wohl jede Möglichkeit nutzen, nicht?!“
    „Wenn das so ist ...“, gab Thyra von sich und stand auch auf.
    „Du auch?“, brachte Daphne nur noch kleinlaut hervor. „Du wolltest dich doch erholen!“
    „Hey ...“, begann die Jägerin sich zu rechtfertigen und zeigte auf einen vollen Köcher am Rand des Übungsfeldes. Dieser war mit Pfeilen gefüllt, die kleine Farbbeutel enthielten, um Ziele nur zu markieren. Das Holz aus einem bestimmten Schilf, damit sich niemand verletzte, samt Bogen. „Der steht da regelrecht absichtlich.“
    Die drei stapften die Tribüne hinunter und betraten das Feld. Schon unterwegs hatte Jaris sein Schwert gezogen und zerrte den ersten jungen Mann an seinem Kragen zu Boden. Theical blieb gelassen am Rand stehen und suchte anscheinend umgehend nach passende Ziele, während sich Thyra den Köcher samt Bogen schnappte und sich an die Seite ihres Ehemannes begab.
    „Das ist nicht zu fassen“, nuschelte Daphne und auch Willfred stand plötzlich neben ihr.
    „Ja, nicht wahr? Mich fragt niemand!“
    „Du bist viel zu alt!“, krakeelte die Tochter, aber Willfred hielt sich nur lachend seinen Bauchansatz.
    „Zu alt für was? Ein paar jungen Männern das Fürchten zu lehren?“ Er drehte sich zu Yorick, der in diesem Moment mit einer Mischung aus Entsetzen und Belustigung zurückkehrte. „Gib mir mal dein Schwert, Sohn.“ Widerstandslos überreichte dieser seinem Vater die Waffe und musste zuschauen, wie sich der alte Mann unter dem Zaun durchbeugte. So mischten sich alle ein und eine Massenprügel fand an diesem Morgen statt, anstelle sich die Stadt anzusehen und umgehend den Hafen zu besuchen.
    Und kaum war Daphne der Meinung, das wäre alles gewesen, stürmten die Bogenschützen, mit ihren Übungsbögen, zum riesigen Tor hinein und überblickten die Situation.
    „Aufstellung beziehen!“, schrie Thorvid mit seiner tiefen Stimme und lenkte die Burschen, die das Alter derer auf dem Feld teilten, um das Gelände herum.
    „Ach verdammt!“, nuschelte die Prinzessin und erhob sich von ihrem Platz. Ein fragender Blick von Yorick folgte, als sie an den Schnüren ihres Kleides zu schaffen machte. „Ich kann sie ja nicht alleine lassen!“, gestand Daphne und streifte das silberne Kleid an ihren Hüften hinunter, was ein weißes Unterkleid mit Rüschen besetzten Hosenbeine offenbarte, die bis zu ihren Knien reichten. Gerade noch schlugen zwei junge Krieger mit ihren Schwertern auf Jaris ein, der ihre Schläge geradezu gelangweilt parierte, da hielten sich die beiden Jungen plötzlich an den Händen und tänzelten kreisend davon. Kopfschüttelnd lachte Daphne und schaute zu Theical, der grinsend mit den Schultern zuckte.
    „Was genau übst du?“, verlangte der Taschendieb höhnisch zu wissen und verwies auf ihren Aufzug.
    „Ablenken“, antwortete Daphne und streckte ihm die Zunge raus. Die Prinzessin stieg auf den Zaun, balancierte darauf und schaute sich um. Thyra stand auf einem gegenüberliegenden Pfosten.
    „Raus, raus und auch raus!“, brüllte die Jägerin, die einen Krieger nach dem anderen mit dem roten Pulver markierte. Daphne atmete tief ein, während ein Pfeilhagel in die Luft stieg. Zuerst vorsichtig, dann immer schneller setzte sie sich in Bewegung, wich den leichten Stöcken aus und rannte auf dem schmalen Holz des Zaunes entlang. Neben ihr zwei Männer, die sich gegenseitig ohrfeigten.
    „Hör auf mich zu schlagen ...“
    „Hör du auf, mich zu schlagen!“
    Daphne materialisierte ihre Wassertentakel und nahm der ersten Reihe der Bogenschützen ihre Bögen ab und schleuderte sie in die Luft. Ihr Vater schaute ihr nach und ließ sein Schwert sinken. Die Prinzessin war sich nicht schlüssig, ob es an ihrem Aufzug lag oder daran, dass sie mehr konnte als nur heilen. Doch lange ließ sie sich nicht vom Blick des Herzogs ablenken, der ihr lediglich ein Grinsen entlockte und ergriff zwei junge Männer an ihren Beinen, die auf Theical zu rannten. Schreiend, wie kleine Mädchen, zerrte Daphne sie über den Boden, wo sie den Sand schluckten.
    Das Feld leerte sich zunehmend, da alle von Pfeilen Getroffenen oder jene, die über den Zaun geworfen wurden, ausgeschieden waren. Diese Regel hatte sich im Getümmel irgendwie ergeben, so wie einige sich freiwillig ergaben und einfach die Flucht ergriffen. Irgendwann kam man wieder zum Ausgangspunkt und die fünf Brüder erhoben sich vom Boden. Anscheinend dachten sie noch immer nicht daran, aufzugeben, vor allem nicht Arthur, der Daphne ständig anschrie, sie sollte sich etwas anziehen. Gerade, als sich die Namenlosen Daryk, Jaris und Thyra zuwenden wollten, stieß Daphne einen lauten, röhrenden Gesangston aus, was ihre Brüder dazu brachte, sich umzudrehen. Kurz pausierte sie, versicherte sich deren Aufmerksamkeit und begann einfach ein Lied zu singen. Egal wie klein sie war, laute Töne konnte sie von sich geben. Ihre Sirenenstimme hallte über den Platz und die Waffen sanken, als sie zusätzlich begann zu tanzen.
    „Was, bei Rhenus, machst du da?“, verlangte Sören zu wissen und während sie sang, zeigte sie hinter ihre Brüder, wo sich bereits ihre vier Freunde platziert hatten. In einer Umdrehung, schnappte sie sich Arthurs Bein und zog es weg. Jaris hielt Sören sein Schwert unters Kinn, Thyra zielte auf Arnrich und Theical zwang Ole auf die Knie. Daryk hingegen hielt seine Waffe ausgestreckt Thorvid entgegen. Abgeschafft trat Willfred neben die Gruppe und atmete tief durch, während er sich müde auf seine Beine abstützte.
    „Da waren die Gäste wohl überlegen!“
    Theical streckte augenblicklich seine Hände in die Luft.
    „Gewonnen!“
    Die Gruppe freute sich über diesen ungleichen Kampf und Sieg, während über ihren Köpfen ein Blitzschlag Regen einläutete. Überall um sie herum klagten die anderen ihr Leid und „Wäre ich bloß Fischer geworden!“, erklang nicht nur einmal. Daphnes Brüder standen resigniert da und sie sang in einem höhnischen Tonfall die letzten Zeilen noch zu Ende, bevor sie sich mit herausgestreckter Zunge abwandte. Ihr Vater trat lächelnd an Daryks Seite und schien ihm etwas zuzuflüstern, weshalb der Schlächter seinen Helm weichen ließ. Sein Blick wanderte zu Daphne, und während sich der Rest noch freute, warf der Hüne skeptisch seine Stirn in Falten und sein Grinsen wich.

    Daphne folgte dem Mann, den sie noch unter dem Namen Erik kannte. Leicht gealtert war er, als dieser sie zum Schlafgemach des einstigen Herzogs brachte.
    „Eurem Vater geht es wirklich schlecht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Eure Rückkehr ihn nicht zu sehr aufwühlt.“
    Die Prinzessin blieb stehen, die ihre Freunde äußerst ungern alleine gelassen hatte. Die Nordmänner waren gastfreundlich, aber alles nur bis zu einem gewissen Punkt. Das Begleiten der Prinzessin war da so eine Sache.
    „Dann werde ich das herausfinden müssen oder nicht?“, wandte sie daher ein und dachte nicht daran, sich erst anmelden zu lassen, als sei sie eine Fremde. Eilig waren wie in einem der imposanten Türme angekommen und Daphne kam es wie eine Ewigkeit vor, die sie vor der Tür ihres Vaters verbrachte, ehe sie sich getraute diese zu öffnen, aber kaum offen, kam ihr der Geruch von Tod entgegen. Sie wusste nicht warum, aber sie roch es, als wäre dieser Raum seit Monaten nicht mehr gelüftet worden.
    Vorsichtig streckte sie ihren Kopf durch den Spalt der immens hohen Tür, die selbst Daryk um das doppelte überragt hätte.
    „Vater?“
    „Daphne?“, hörte sie es schwach aus dem Bett. „Bin ich schon tot, dass ich deine Stimme höre?“
    Zögerlich trat die junge Frau ein und wandte sich noch einmal an Erik.
    „Seid so nett und weist meinen Freunden Zimmer zu. Sie sind unsere Gäste.“
    „Unsere ...“
    „Gäste und genau so werden sie behandelt, ausnahmslos!“
    Nickend machte sich der Mittvierziger davon und Daphne verschloss die Tür.
    Mit den Worten: „Du bist nicht tot“, näherte sie sich dem Bett und sah auf die graugelbe Gestalt nieder, die ihr Vater sein sollte. Ausgemergelt und nur noch ein Schatten seiner selbst. Knochige Finger griffen nach Daphne und zuerst wollte sie zurückschrecken, aber dies unterdrückte sie bitterlich. Sie nahm seine Hand und drückte sie sich gegen ihre Wange, um ihm deutlich machen, dass sie es wirklich war.
    „Du bist wieder zu Hause!“, nuschelte Willfred und ihm rannten Tränen über die Wange.
    Daphne nickte und unterdrückte ihre eigenen Tränen, ihren Vater so zu sehen.
    „Ich habe Rufe gehört ...“, krächzte der sechzig Jahre alte Mann und blickte schwach zum Fenster.
    „Meine Ankunft schien nicht lange geheim zu bleiben.“
    „Ich würde auch gerne rufen und jubeln, aber … es reicht nur einen sterbenden Mann weinen zu sehen.“
    „Nein, ist gut, Vater ...“, wimmerte Daphne schließlich. „Das alles ist nicht nötig. Ich bin aus einem bestimmten Grund hier. Ich werde dich heilen ...“
    „O Kind, das haben schon viele versucht.“
    „Aber niemand war wie ich“
    Daphne verlor keine weitere Zeit mehr, denn irgendwie befürchtete sie, er würde umgehend sterben, als sie sein rasendes Herz bemerkte. Sie drückte seine Hand noch fester gegen ihr Gesicht und tat das, was sie am besten konnte, seinen Fluss suchen. Ihr Vater atmete tief ein, als sei es sein letzter Atemzug, als sie begann seine Leber zu heilen und Gebrechen, die ihn schon immer geschmerzt hatten, seit sie ihn kannte. Eine Reitverletzung am Rücken, ein lahmer Arm durch einen Schwertkampf als junger Mann. Ähnlich wie Daryk, hatte er etliche Verletzungen über die Jahre gesammelt, die somit der Vergangenheit angehörten. Haut polsterte sich auf und die kranke Farbe wich. Wenige Augenblicke später, erhob sich der Mann, als sei nie etwas gewesen.
    „Wie ist das …?“, fragte er mit fester Stimme, während seiner Tochter die Schweißperlen auf der Stirn standen.
    „Rhenus … er gab mir seinen Segen.“
    „Der Rhenus? Unser Gottvater?“
    Wieder blich dem Mann die Farbe aus dem Gesicht, aber diesmal aus anderen Gründen.
    „Eine unheimlich lange Geschichte“, erwiderte die Prinzessin, die sich müde erhob. Die Heilung war anstrengender gewesen, als sie dachte.
    „Meine einzige Tochter, auserwählt vom Gott des Lebens und des Meeres?“
    Ein Schulterzucken folgte seitens von Daphne. Willfred ließ sie nicht gehen, bevor sie alles soweit erzählt hatte, mit Auslassen einiger Details. Vor allem Details, die sie und Daryk betrafen oder dem wahren Ausgang von Heinrich. Sie glaubte nicht, dass dies zu dem Zeitpunkt sehr förderlich war.
    „Und du bist zurückgekommen, weil ich krank war? Dann hätte mich dieses Leiden schon viel früher ereilen sollen“, sprach Willfred und rieb sich den weißen Bart, den er kürzer als sonst trug.
    „Wie hätte ich nicht? Du bist mein Vater und warst einst der größte und stärkste Mann, den ich kannte.“
    „War?“, mischte sich der ehemalige Herzog ein und musterte seine Tochter. Daphne atmete tief ein.
    „Naja“, setzte sie an. „Meine Freunde überragen die Stärken eines normalen Menschen. Jaris ist mit dem Schwert so gut wie unschlagbar und seine Blitze … Thyra kann Ziele aus Entfernungen treffen, die ich nicht einmal sehe, Theical kann Schatten anderer Menschen und Tiere steuern, Aras beherrscht Magie und Daryk ...“
    „Ich verstehe schon“, unterbrach sie ihr Vater lachend. „Vielleicht sollten wir unsere Gespräche nach einem ausgiebigen Essen weiterführen. Ich habe schon lange nichts Richtiges mehr zu mir genommen und mein Hunger ist so riesig wie das Meer!“
    Nun musste Daphne lachen und nickte zustimmend. Auch sie musste sich erst einmal erholen.
    „Und ich bin gespannt deine `Freunde´ kennenzulernen. Sie sind natürlich eingeladen.“


    Kaum zu Hause angekommen, spielte man die alten Lieder. Daphne wurde gleich von ihrer Mutter angewiesen, die sie mehr als unterkühlt begrüßte, sich umziehen und dem Seelenheil ihres Vaters zuliebe, kam sie dieser Bitte nach. Nur fand man schnell heraus, dass sie nicht mehr gänzlich in ihre Kleidung passte. Den vielen Kleidern in ihrem Schrank war sie entwachsen, was Daphne kaum für möglich gehalten hätte. Eines passte noch, was dem Schneider früher zu groß geraten war. Blau mit silbernen Nähten und Stickereien, schulterfrei und bis unter die Schulterblätter ausgeschnitten am Rücken. Es grenzte einer Tortur so etwas wieder zu tragen. Während die Zofen an ihren Haaren herummachten, um silberne Fäden hineinzuziehen, die einen lockigen, geflochtenen Zopf zierten, versank sie immer weiter in Gedanken, die hin und wieder von einem Laut des Schmerzen unterbrochen wurden. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit, was nicht von der zu eng geschnürten Korsage kam. Ihre Freunde kannten sie als Schurkin, Heilerin und nur selten ließ sie etwas höfisches durchblitzen. Sie fühlte sich als eine von ihnen, weder besser noch schlechter. Aber nun begann man an diesem Bild zu rütteln. Erstrecht was Daryk anging. Er war ein Ritter, ein Rang, den es in ihrem Land nicht einmal gab, auch wenn es mit einem bereits vollständig tätowierten Krieger gleichzusetzen war. Trotzdem … sie wollte in seiner Gegenwart nicht die gutbetuchte Prinzessin sein. Für sie spielte das alles keine Rolle, was ihre Familie wahrscheinlich anders sah. Zacharas hatte dahingehend Glück, selbst wenn er das mit Kuen bekanntgegeben hätte. Er war selbst ein Herzog, kann demnach machen was er wollte, aber bei ihr sah das anders aus. Sie repräsentierte ihr Land, trug deren Traditionen weiter und sollte Vorbild für nachfolgende Generationen sein, weshalb viel Wert auf Gehorsamkeit gelegt wurde. Naja, das hatte sich bereits mit ihrer Flucht gegeben – warum eigentlich dann damit aufhören?! Der einzige Lichtblick war, dass man Thyra zu ihr durchgelassen hatte, die vor ihr saß und mit großen Augen die Schmuckschatullen durchwühlte.
    „Das gehört alles dir?“, fragte die Jägerin teils erstaunt und teils überrascht. Es war eben etwas anders immer nur Prinzessin genannt zu werden, als es leibhaftig zu sein.
    „Wenn du willst, kannst du alles geschenkt haben“, erwiderte Daphne und lächelte Thyra schüchtern an. Ihre Freundin lachte laut los und legte alles beiseite. Mit einem „Nein, danke“, verwarf sie das Angebot. „Sowas brauche ich nicht. Es sieht hübsch aus, aber … das ist nichts für mich.“
    „Für mich auch nicht“, stimmte Daphne zu, während man ihr eine Kolje mit hellblauen Edelsteinen umlegte – ihren Holzarmreif trug sie weiterhin. „Aber für meinen Vater werde ich das einen Tag ertragen.“
    „Daryk wird es bestimmt gefallen“, frotzelte die Jägerin, was Daphne nicht nur einen roten Kopf bescherte, sondern sie auch aufschrecken ließ.
    „Nicht jetzt“, nuschelte Daphne und schaute hin und her, um auf die Zofen aufmerksam zu machen. Thyra verstand umgehend und räusperte sich.
    „Ich meine, sowas gefällt doch jedem Mann. Eine Frau in einem schönen, unbequemen Kleid … Schmuck.“
    Die Prinzessin lächelte zufrieden, aber kam auf eine Idee.
    „Glaubst du wirklich?“, hakte sie deshalb nach und Thyra schluckte. Eine leicht verspätete Rache für die Taverne. Es verging nicht einmal genug Zeit, die Normadin antworten zu lassen, da hatte Daphne schon allerhand Kleider zusammengesucht und die Jägerin in ein zartgrünes Kleid gesteckt, während sich nun die Zofen an ihrem etwas kürzeren Haar zu schaffen machten und die Heilerin diejenige war, die nun den Schmuck auswählte.


    So begab sich Daphne, zusammen mit Thyra, zum Essen, was ihr Vater eilig hatte herrichten lassen. Vor der Tür, an denen zwei Krieger in voller Montur standen, hielt sie inne. Sie wollte dort nicht hineingehen und so die Fassade der „Daphne“ zerstören. Einer jungen Frau, die mehr mit ihrem Leben experimentierte, als strikten Regeln und Traditionen zu folgen, frei war und von jedem angesprochen werden konnte, wie sie wollten. Das war dort anders und auch ihre Freiheit stand auf dem Spiel. Die Entscheidung, die Tür zu öffnen, wurde ihr jedoch von den beiden Wachen abgenommen und Thyra stieß sie regelrecht in den riesigen Speise – und Festsaal hinein. Die Blicke aller ruhten auf den beiden Frauen und wie sie an Jaris´ Gesicht erkennen konnte, hatte Thyra mit ihrer Aussage nicht mal ganz unrecht behalten. Resigniert schaute der Söldner aus der Wäsche und seine rote Gesichtsfarbe war mehr als deutlich, selbst aus der Distanz. Daphne sah den Rest eher schüchtern aus dem Augenwinkel an und nahm dann an der langen Tafel Platz, wobei ihr Stuhl von Yorick zurechtgerückt wurde, der direkt neben ihr saß. Daryk räusperte sich kurz, was ihm Daphnes Aufmerksamkeit einbrachte und sie sah, wie kurz ein Lächeln über sein Gesicht huschte, bevor sich ihm andere zuwandten. Die Sitzaufteilung war klar strukturiert. Am oberen Kopf saß eigentlich der Herzog, im Grunde Tristan, der aber aufgrund seiner Arbeit verhindert schien, selbst bei der Rückkehr seiner Schwester. Deshalb hatte Willfred diesen Platz eingenommen, zu seiner Linken Yorick und Daphne, auf der rechten Seite seine Frau. Etwas weiter unten saßen sich die vier Gäste gegenüber, auf der rechten Seite Theical neben Daryk, da Jaris und Thyra verheiratet waren. Kaum saßen alle, wurde das Essen aufgetragen, was von Wild bis zu Fisch alles zu bieten hatte. Wein und Met wurden ebenfalls aufgetischt, wovon Daphne umgehend trank, um die Scham zu verbergen.
    „So ...“, setzte Maria umgehend neugierig an. „Diese Personen begleiten also unser verlorenes Lamm! Du bist doch noch ein Lamm und kein Schaf, oder?“
    „Mutter“, mischte sich Daphne ein, da der Ton ihrer Mutter wie immer abwertend klang.
    „Maria, beherrsche dich“, erwiderte auch der Vater.
    „Man wird ja mal fragen dürfen“, moserte die Herzogin. „Immerhin war sie sieben Jahre verschollen. Wir können somit froh sein, dass sie nicht mit einer Horde Bastarde aufgetaucht ist.“
    „Ist euch auch plötzlich so kalt?“, kam von Theical, der sich die Arme rieb. „Da bekommt man ja Frostbeulen.“
    Der Rest der Gruppe unterdrückte ein Lachen und versuchte sich auf das Essen zu konzentrieren. Daphne war das mehr als peinlich.
    „Unsere Mutter ...“, stellte sie Yorick leise noch einmal vor. „Und heute hat sie gute Laune.“
    „Ich meine ja nur, man darf ja wohl fragen“, wiederholte sich Maria und musterte die Freunde. „Immerhin sind zwei der Gruppe verheiratet und das noch ganz frisch. Wer weiß, mit wem unsere Tochter alles fraternisiert hat.“
    „Ich habe nicht fraternisiert, sondern Städte gerettet“, rechtfertigte sich Daphne. „Oder eine Stadt gerettet und das mehrfach.“
    „Erstaunlich wie oft Ymilburg Probleme hat“, ergänzte Jaris trocken und unterdrückte ein weiteres Lachen.
    „Davon hörte ich“, versuchte Willfred vom Thema abzulenken, aber vergebens.
    „Und fett ist sie geworden“, erklang es bereits von Maria, während Thyra augenblicklich ihren Met, per Fontäne, ausspuckte.
    „Das tut mir leid“, entschuldigte sich die Jägerin, während sich Theical den Met aus dem Gesicht wischte und Daryk die Mutter mit einem fragenden Blick strafte.
    „Ich bin nicht fett, sondern einfach eine Frau!“, wimmerte derweil Daphne und fuhr sich genervt über die Stirn.
    „Deine Base Elvira ist nicht so gebaut und bereits verheiratet.“
    „Was daran liegt, Mutter, dass sie nicht schnell genug weglaufen konnte, weil ihr, so dünn wie sie ist, die Kraft dazu fehlt.“
    Willfred versteckte sein Lachen aufgrund der Antwort nicht und wurde daher von seiner Frau mit einem wütenden Blick behaftet.
    „Was ist, Weib?“, forderte er zu wissen. „Das war gut gekontert.“
    „Wir werden ja wohl dort weitermachen, wo wir aufgehört haben, Gatte, daran ändert Heinrichs Ableben nichts. Konnte ja keiner ahnen, dass er einer Herzattacke erlag.“
    Daphne sah im Augenwinkel, wie die Blicke ihrer Freunde zu Daryk wanderten, der unbeeindruckt weiter aß.
    „Das hat Zeit, Gattin“, wurde der Herzog energischer.
    „Zeit? Sie ist vierundzwanzig. Noch eins, zwei Jahre mehr und niemand will sie mehr.“
    Das gleiche Spiel wieder. Die Blicke wanderten von der Mutter zu Daryk, während Daphne, wie er, nur starr auf ihren Teller sah. Der Hüne leerte aber im Gegensatz zur Prinzessin seinen Teller und nahm sich nach.
    „Sagt mal“, flüsterte Yorick seiner Schwester zu. „Täusche ich mich oder schauen deine Freunde ständig zum Ogerschlächter?!“
    „Keine Ahnung, was du meinst“, murmelte Daphne und entschied noch einen großen Schluck aus ihrem Kristallglas zu nehmen.
    „Wie ich hörte, seid Ihr ein Halbelf“, wandte sich Willfred Jaris zu und dieser nickte, kaute zu ende und bejahte es noch einmal.
    „Ich bin noch nie einem Halbelf begegnet“, gestand der Herzog fasziniert. „Ihr seht jung aus, aber nicht unbedingt elfisch.“
    „Das scheint immer unterschiedlich zu sein, Hoheit, je nachdem wie es vererbt wird.“ Nickend fuhr der Daphnes Vater fort und schaute sich die Personen aus ihren Erzählungen an.
    „Und Ihr müsst die überaus hübsche Freundin meiner Tochter sein“, widmete er sich Thyra, die anscheinend merkte, dass der Herzog selbst eine anderer Schlag Mensch war, als die Mutter.
    „Danke sehr und ja, wir sind wie Schwestern.“
    Die Antwort der Normadin ließ Daphne ehrlich lächeln und munterte sie etwas auf.
    „Pass auf, dass du nicht gleich sabberst“, erwiderte Maria wütend und stocherte laut in ihrem Essen herum. Willfred sah sie an und zuckte mit den Schultern.
    „Gestern noch lag ich im Sterben. Wenn ich sabbere, dann sabbere ich, das ist dann immer noch ein Kompliment an die Dame und den Gatten.“
    „Hat er sich tätowieren lassen?“, riss Yorick Daphne aus ihren Beobachtungen und redete fernab des eigentlichen Themas.
    „Was?“, fiepste die junge Frau ihren Bruder an, der mit seiner Gabel erneut auf Daryk zeigte.
    „Sein Hals und seine Hand … Hat er sich ...“
    „Nein!“, unterbrach Daphne ihn lauthals. „Das ist schwer zu erklären!“
    Willfred fuhr mit Theical fort.
    „Und ihr der Magier mit dem Schatten kontrollieren, nicht wahr?“
    Kauend betrachtete Theic den Herzog.
    „Ja, aber ...“, er schluckte, „ich bin noch nicht sonderlich geübt.
    „Naja, es ist ja noch kein Meister vom Himmel gefallen“, gestand Willfred und schien nach seiner Heilung, Magie etwas anders zu betrachten, als es üblich war.
    „Und Ihr dann wohl der Mann aus dem Norden?! Es muss Euch seltsam erscheinen, obwohl südlicher, dass wir uns Nordmänner schimpfen“, richtete sich der Herzog nun an Daryk.
    „In der Tat“, stimmte dieser Daphnes Vater zu.
    Eine ganze Weile herrschte Ruhe am Tisch und die Blicke der Gruppe wanderten umher. So still hatten sie noch nie beieinander gesessen und gespeist, aber keiner wusste so recht, wie er sich verhalten sollte.
    „Wenn ich darf“, unterbrach Yorick irgendwann die Stille. „Würde ich unsere Gäste morgen gerne etwas herumführen. Die Stadt zeigen, den Hafen besuchen, immerhin wird ein neues Schiff zu Wasser gelassen! Das könnte man etwas mitfeiern.“
    „Das ist eine gute Idee“, stimmte Willfred seinem Sohn zu. „Ein großartiges Schiff sogar. Eines der größten, die wir jemals anfertigen haben lassen.“
    „Sieben Jahre hat die Anfertigung gedauert“, wandte sich Yorick an die Gruppe. „Es besitzt mehrere Decks, insgesamt achtzig Kanonen und ist dreimastig.“
    „Eine Galeone?“, mischte sich Daphne ein und ihr Vater nickte.
    „Sie war eigentlich als dein Hochzeitsgeschenk gedacht, aber … dazu kam es ja nicht“, fügte der alte Mann hinzu,
    „Mein eigenes Schiff?“ Daphne riss die Augen auf. „Aber warum? Ich ...“
    „Du wolltest doch frei sein“, unterbrach der Vater sie. „Ich konnte zwar nicht alle Traditionen ändern, aber dir zumindest die Möglichkeit zu reisen geben, wenn es dir Heinrich gestattet hätte. Nach unserem Streit gab ich sie in Auftrag, aber wie wir wissen ...“
    Daphne schluckte trocken. Das hatte sie nicht gewusst, auch wenn das an ihrer Flucht nichts geändert hätte.
    „Das hätte er ihr bestimmt nicht gestattet!“, murmelte Thyra dem Rest kaum hörbar zu. „Nicht ohne Kerker.“
    „Gehört es immer noch mir?“, wollte Daphne wissen.
    „Wenn du es haben willst!“, bejahte ihr Vater indirekt.
    „Für was?“, mischte sich die Mutter ein. „Damit sie wieder abhauen kann. Sie kann gerne an den Strand gehen, aber über den Ozean reisen?“
    „Wenn sie zu halten bedeutet, sie gehen zu lassen, dann bin ich bereit diesen Preis anzunehmen“, entgegnete der Vater kalt seiner Frau. „So habe ich die Chance, dass sie freiwillig zurückkehrt.“
    Dann ist ja gut, dass nach deiner Abdankung Tristan das Sagen dahingehend hat. Immerhin habe ich ihn heute mit dem Anschreiben der Adelshäuser beauftragt, die, mit viel Glück, einen Gatten zu Folge haben werden!“
    Daryk verschluckte sich in dem Moment und Thyra fiel kommentarlos ein Stück Fisch aus dem offenstehenden Mund.
    „Soll ich ihren Schatten kontrollieren und sie von der nächsten Klippe jagen?“, erklang es hingegen von Theical leise, der dies an den Hünen und Jaris wandte.
    „Ich hab es leider geahnt“, gestand der Söldner an seine Gegenüber.
    „Du hast was?“, schrie Daphne und fuhr hoch. „Dann kannst du meinem Vormund ausrichten, dass noch immer ich das Sagen über mich habe. Ich lasse mich nicht verschachern wie Vieh!“
    „Gewöhne dich dran!“, nuschelte die Mutter mit vollem Mund.
    „Nicht in tausend Jahren und nicht in weiteren hundert Leben!“
    Wie wäre es mit einem anderen Thema?“, versuchte Yorick zu schlichten. „Den Krieg, den wir gewonnen haben? Sind Ritter eigentlich auch adlig? Ich bin mit Lyc nicht so bewandert.“
    „Yorick?!“, schrie Daphne ihren Bruder ebenso laut an. „Das ist jetzt nicht der Augenblick für dämliche Bemerkungen.“
    „Ja, sind sie!“, kreischten Thyra und Theic mit einer Stimme dazwischen.
    „Nein, dass ist genau der richtige Moment für dämliche Bemerkungen!“
    „Es ist zumindest der richtige Moment für eine Herzogin sich zu erheben und ihr Gemach aufzusuchen. Ich habe alles gesagt, was es von meiner Seite zu sagen gibt“, antwortete Maria und trank ihren Kelch leer.
    „Das ist, glaube ich, besser“, flüsterte selbst Willfred und sah mit mürbe Blick dabei zu, wie seine Frau sich erhob und ging. Kleinlaut entschuldigte er sich bei seinen Gästen für den Aufstand.
    Früher war sie einmal anders gewesen!“, fügte er hinzu und schüttelte seinen Kopf. Daphne konnte nur sagen, dass sie ihre Mutter, im Gegensatz zum Vater, nicht anders kannte. Alle aßen noch fertig, bevor man beschloss Daphne wieder auf ihr Zimmer zu bringen und den Gästen eigene zuzuweisen. Sie kam nicht umhin zu bemerken, dass ihr Vater einen musternden Blick durch die Gruppe schweifen ließ, bevor er einen Diener leise zu sich zitierte und dann wiederum fortschickte. Sie konnte nur hoffen, dass der alte Herzog nicht mehr allzu streng nach Traditionen handelte, aber wirklich Einfluss hatte sie darauf nicht.

    Die Heilerin ahnte, als Daryk an einer versperrten Tür rüttelte, dass, egal was ihre Freunde vorhatten, es noch nicht vorüber war. Sie lief auf das Zimmer zu, was man ihr zugeteilt hatte und öffnete die Tür.
    „Natürlich ...“, nuschelte sie, als sie die zusammengeschobenen Betten sah, um die irgendwer ringsum Kerzen aufgestellt hatte. „Unauffälliger geht es nicht“, setzte sie nach, legte genervt ihren Kopf in den Nacken und seufzte, während Daryk ebenfalls einen Blick in den Raum warf. Der Hüne hob seine rechte Braue und schien ebenso entgeistert drein zu blicken wie die Heilerin.
    „Sehr dezent“, erwiderte der Ritter und blieb in der Tür stehen, während Daphne kurz zum Zimmer ihrer Freunde zurücklief.
    „Eure Versuche in allen Ehren, aber ich hätte mir da etwas mehr erwartet“, begann sie scherzhaft zu schimpfen. „Ich erwarte von einer Liebe mehr, als das Zusammenschieben zweier Betten. Ich schlage ja ein Buch auch nicht kurz vor Ende auf, sondern lese es vom Anfang.“
    Nach diesen Worten wandte sie sich wieder ab und ging in das Zimmer, in welches Daryk nun auch vollständig eintrat und die Tür hinter sich schloss. Die Kerzen um das Bett herum blies Daphne aus, ein paar jedoch ließ sie auf der Anrichte gegenüber dem improvisierten Doppelbett stehen. Die beiden Kopfenden waren an die Wand geschoben und die Fußenden der zwei Schlafmöglichkeiten ragten mittig in den Raum hinein, wodurch das dritte Bett, in der Ecke des Raumes, fast unterging. Daphne lief um das Bett herum und warf ihre schmutzigen Klamotten einfach neben ihre Tasche, die sie zuvor schon in das Zimmer gebracht hatte.
    „Dann sollten wir mal schlafen gehen!“, sprach sie und natürlich war ihr die Situation zutiefst peinlich, aber sie wollte Thyra und Theical nicht die Genugtuung geben, sie in eine unangenehme Lage gebracht zu haben. Nach dem Lagerfeuer in Ymilburg schienen sie unbedingt zu wollen, dass sich dies wiederholt, aber da so einfach war das nicht und Daphne wollte sich nicht anmerken lassen, dass das Schweigen darüber, sie irgendwie traf. Es sah so aus, als wählte der Ritter das Bett, was näher zur Tür stand, also nicht das dritte in der Ecke. Tief atmete die Schurkin aus, als konnte sie so der Röte entgehen, die in ihrem Gesicht anstieg, aber ein Spiegel besaß das Zimmer nicht, in dem sie sich dessen versichern konnte.
    Macht es dir etwas aus?“, wandte sich der Hüne an die junge Frau, die abrupt abwehrend ihre Hände hob.
    „Nein, nein“, dementierte sie seine Frage. „Es ist nur so, dass ich … Wie auch immer. Nein, es macht mir nichts aus. Es ist bloß ungewohnt.“
    Daryk lächelte bloß und legte sich hin. So eine Linseneintopf-Schlacht, musste anstrengend gewesen sein. Na schön, er hatte immerhin noch einen Dorftrottel verhauen. Aber auch bei Daphne machte sich die Müdigkeit breit und die Frage, die seit dem Bad unbeantwortet geblieben war, entschied sie vorerst totzuschweigen. Eine Antwort hätte die Situation, in der sie gerade waren, nur geringfügig verbessert – eigentlich gar nicht. Mit der Bitte, wieder einmal wegzusehen, zog sie sich um und legte sich ebenfalls auf ihre Seite des Bettes. Aber wie hinlegen? Abgewandt wirkte gewollt distanziert, zugewandt zu vertraut, auf dem Rücken irgendwie gelangweilt. Deshalb entschied sie sich dafür, sich auf den Bauch zu legen und umschlang dabei ihr Kissen, was einem Brett glich. Dabei wandte sie ihr Gesicht dem Hünen zu und schloss müde die Augen.
    „Schlaf gut!“, nuschelte sie. Obwohl sie nicht wussten, ob sie so schnell einschlafen würde. Ihr Herz hämmerte in der Brust, aber einen Rückzieher konnte sie aus dieser Situation nicht mehr machen. Immerhin hatte sie darauf beharrt alles so zu lassen, wenn Thyra und Theical schon so viel Mühe investiert hatten.
    „Gute Nacht!“, antwortete Daryk eben so leise, bevor alle Gespräche an jenem Abend erstarben.


    Die Tage vergingen und die Reise setzte sich fort, so weit, dass sie gerade noch einen Tagesmarsch von Delyveih entfernt waren, was Daphnes Nervosität nur noch ansteigen ließ. Die Gegend wurde für die anderen ungewohnt flach, auch wenn sie noch durch Wälder bestach. Allerdings waren die Bäume dort nicht mehr durchweg so groß wie die in den Wäldern um Felodun oder Ymilburg. Das lag daran, dass durch den Schiffbau der Nordmänner wieder aufgeforstet worden waren, um Nachschub zu schaffen.
    An diesem Abend legten sie ihre letzte Rast vor der Heimat der Heilerin ein und beließen es bei drei Zelten, wo sich Daryk und Theical eines teilten, Thyra und Jaris, aber wieder einmal Daphne eines für sich besaß. Diesmal war es auch schwerer eine Tür abzuschließen, wie sie es gerne in Tavernen und Gasthäuser taten. Daphne überspielte weiterhin ihre Gedanken mit Lachen und Scherzen. Aber nicht mehr nur wegen der Verkupplungsversuche oder dem Lagerfeuer, auch die Gedanken an ihre Familie verunsicherte sie zunehmen. Je mehr sie in sich kehrte, desto mehr versuchte Thyra sie aufzumuntern. Sie ahnte anscheinend, dass es ihrer Freundin nicht allzu gut ging, schließlich hatte sie die Nordmänner erlebt. Auch Theical hielt sich an diesem Tag mit Doppeldeutigkeiten zurück und half ihr das Zelt aufzubauen. Die Nächte so weit im Norden waren bereits sehr frisch. Nachts fror man ohne ausreichend Decken oder Felle und der Wind, vom Meer her, fegte über das Land. Auch Daphne hatte sich bereits einen dunklen Mantel zugelegt, dessen weite Kapuze sie sich tief ins Gesicht ziehen konnte, so wie sie ihre Vorräte durch ihr Siegel tatsächlich bei den Händlern per eine Art Schuldschein anschrieben ließ und dies ab da Tristans Problem war. In der vorerst letzten Nacht unter freien Himmel, zog Daphne ihre Decke weit über die Nase, während sie auf einem der neuen Felle lag. Es war einfach zu kalt und der Wind drückte sich durch jede Naht im Stoff. Eigentlich sollte sie es gewohnt sein, aber man war schnell von einem anderen Klima verwöhnt. Ihr fiel ein, dass es unweit ihres Rastplatzes einen Tempel gab. Normalerweise diente dieser meist der Beisetzung irgendwelcher hoher Verwandtschaften, aber man hätte ihn ja einmal zweckentfremden können. Dort begegnete man Leben und …
    Daphne hielt in ihren Gedanken inne. Da klingelte ein Glöckchen, aber noch konnte sie es nicht greifen. Tempel … Irgendwo war das Wort schon öfters gefallen.
    „Helen“, sprach sie und schreckte auf. Wenn die Nordmänner einen Gott des Lebens verehrten, dann gab es natürlich auch das Gegenstück dazu. Den Tod. Aber als unliebsame Angelegenheit befasste man sich mit ihm nur, den Zwilling, wenn es nicht anders ging. Wenn Helen und Xhar vielleicht eine Verbindung hatten, dass konnte Daryks Traum mit dieser ominösen Waffen vielleicht dort aufgeklärt werden. Schnurstracks zog sie sich an und schlich zum Zelt des Hünen. Unausgesprochen wollte sie die Tatsache nicht lassen, dass sie auch so einen Gott besaßen. Ganz vorsichtig näherte sie sich mitten in der Nacht dem Zelt und war froh, dass das Lagerfeuer noch glimmte. Dunkelheit in freier Natur war nicht ihr bester Freund. Sie lief einfach stur auf das Zelt zu, ohne nach links oder rechts zu schauen.
    „Daryk“, flüsterte sie bestimmt, aber so leise wie möglich.
    „Ja?“, erklang es neben ihr aus dem Schatten, weshalb Daphne einen Schrei unterdrücken musste. Der Ritter saß vor dem fast erloschenen Lagerfeuer, kaum sichtbar in seiner dunklen Rüstung und schnitzte an einem Stück Holz herum.
    „Willst du mich umbringen?“, krächzte die Prinzessin immer noch erschrocken.
    Monoton schaute er sie an und legte sein Werkzeug nieder.
    „Nein“, erwiderte er leise und fragte sie dann, ob etwas passiert sei. Aber das war es nicht. Naja, abgesehen von einem Fast-Herzinfarkt.
    Daphne ging auf ihn zu und hoffte niemanden geweckt zu haben, aber da niemand reagierte, war dies nicht der Fall gewesen.
    „Du hast mir doch vor längerer Zeit einmal von deinem Traum mit einer seltsamen Waffe und einem Tempel erzählt“, fuhr sie flüsternd fort. Wie so oft, drückte Daryk seine eigentlich Frage mehr durch Mimik, als durch Wort aus und beließ es bei einem einfachen: „Ja?“
    „Hier in der Nähe gibt es einen Tempel, der Rhenus gewidmet ist, aber nicht ihm allein, sondern auch seinem Zwillingsbruder Helen. So nennt man den Tod bei uns. Ich weiß nicht, aber ich dachte, du hättest vielleicht Interesse daran, das zu wissen.“
    Nun legte Daryk gänzlich seine Sache bei Seite und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Er schien über etwas nachzudenken.
    „Wo?“, fragte er schließlich und Daphne zeigte nach Nordosten.
    „Vielleicht ein paar Minuten Fußweg. Er liegt direkt an der Grenze nach Delyveih.“
    „Kannst du mich hinführen?“
    „Wie jetzt noch?“, entgegnete die Heilerin unsicher und schaute sich um. Es war Nacht.
    „Morgen werden wir weiterreisen, oder?“, führte Daryk an und ja, der Weg würde um den Tempel herum führen.
    „Ja schon, nur ...“ Sie seufzte. „Nagut, aber wenn uns irgendetwas angreift, werde ich nicht zögern, dich zu opfern“, stellte sie scherzhaft klar.
    „In Ordnung“, erwiderte Daryk mit einem Lächeln und erhob sich von seinem Platz. Zusammen machten sie sich auf den Weg und das durch unwegsames Gelände. Der direkte Weg kam von Norden zu dem unheimlichen Ort, den Daphne gerne bei Nacht gemieden hätte und bei jedem Rascheln drehte sie sich um, bis sie die steinernen Säulen entdeckten, an denen bereits der Zahn der Zeit genagt hatten und einmal so etwas wie ein Eingang gewesen sein musste oder dies als Teile davon noch übrig waren.
    Daphne war fast fünfzehn Jahre nicht mehr in diesem Tempel gewesen. Zuletzt, als man ihre Großmutter beigesetzt hatte und selbst da mochte sie diesen Ort nicht oder war ihr in guter Erinnerung geblieben. Ihre Mutter musste dort drei Nächte übernachten, so war es Brauch, um Abschied zu nehmen, nachdem man sie verbrannt hatte. Die verrücktesten Geschichten erzählten so manche über die Nächte in diesem Gemäuer. Von Schattenspiele, bis zu göttlichen Erscheinungen oder, dass die Toten mit ihnen gesprochen hatten.
    Daphne stieg die steilen Stufen hinauf, wo nicht ein Vogel sang oder irgendein Tier gab einen Laut von sich. Und das konnte nicht nur daran liegen, dass es bereits tiefste Nacht war.
    Immer näher kam sie dem imposanten Eingang, der zwei Statuen zeigte. Einmal einen Mann zur Rechten, der Rhenus, obwohl er ihn verkörpern sollte, so gar nicht ähnlich sah. Das Haar war zu kurz, das Gesicht zu rund und eine Figur zur Linken, die einem Skelett glich. Dort reichten sich Leben und Tod die Hände. Zögerlich lief sie weiter, sodass sie von Daryk beinahe überholt wurde.
    „Vielleicht solltest du da reingehen und ich warte hier!“, murmelte die Heilerin, der immer unwohler beim Gedanken wurde, diesen düsteren Ort zu betreten. Sanft schob Daryk sie weiter die Treppen hinauf.
    „Das ist ebenso Rhenus´ Tempel“, antwortete er und zeigte, noch bevor die die Halle vor sich betraten, auf einen einsamen Brunnen, der mittig in der Halle prangte und von einem Loch in der Decke, durch den Mond beschienen wurde.
    „Gib doch einfach zu, dass du auch nicht alleine rein willst!“, schmollte die junge Frau scherzhaft vor sich hin und ging immer kleinere Schritte. Der Hüne erwiderte ihren Einwand bloß mit einem kurzen Lachen, was ihr auch nicht weiterhalf. Unter dem Rundbogen hindurch, setzte Daphne ihren ersten Fuß in die riesige Halle, deren Ecken in Finsternis getaucht waren und als sie den zweiten Fuß nachsetze, explodierten förmlich Fackeln ans den Wänden, die Daphne erschrocken Aufschreien ließen und sie instinktiv Schutz beim Hünen suchte. Aber bevor sie sich vom Schreck erholen konnte, begann laut plätschernd Wasser, durch das Loch in der Decke, direkt in den Brunnen zu fließen. Durch jede Ritze floss plötzlich Wasser und sammelte sich ringsherum um sie, wodurch nur wenige Felder zum Begehen übrigblieben. Bäume sprossen aus dem Boden, Weiden, die alles mit ihrem Vorhang aus Blättern schmückten, Blumen und Schwärme von Glühwürmchen erhellten unterhalb der Decke weiter den Raum. Als Daphne in die spiegelnde Oberfläche neben sich sah, leuchteten ihre Augen hellblau auf.
    „So sah es das letzte Mal hier nicht aus“, brachte sie nur heraus und sah sich um, wobei sie merkte, dass sie sich an Daryks linken Handschuh geklammert hatte. Der Hüne schaute zu ihr hinunter und lächelte sie an. Er schien sich nicht erschreckt zu haben.
    „Ist alles in Ordnung?“, versicherte er sich bei ihr, weshalb sie den Arm räuspernd losließ.
    „Natürlich!“, entgegnete Daphne. „Ich betrete ja jeden Tag Tempel, die förmlich zu leben anfangen, wenn man hineingeht.“
    Ihre sarkastische Antwort war ebenfalls von einem zaghaften Lächeln geprägt und sie wandte ihren Blick gerade aus, wo ein erneuter Rundbogen den Raum kennzeichnete, wo man auch ihre Großmutter aufgebahrt hatte. Dort, wo Leben und Tod sich die Hände reichten. Der Übergang.
    Wenn wir zum Tod wollen, müssen wir weitergehen“, gab sie bedenken und zeigte geradeaus. Daryk nickte und es dauerte keinen Wimpernschlag, da setzte er sich in Bewegung.
    „Dann los!“
    Dann los ...“, wiederholte Daphne in ihren Gedanken. Das sagte der furchtlose Ritter so einfach, der mit Finsternis und Schrecken keine Probleme hatte, im Gegensatz zu ihr.
    Als nächstes betraten sie einen fast leeren Raum, wo die Decke so weit hoch reichte, dass man diese kaum sehen konnte. Nur die riesigen Statuen vom Leben und Tod beherrschten die Dunkelheit und durchbrachen jene mit ihrem hellen Marmorgestein. Beide waren einander zugewandt, und wo bei Rhenus das Wasser zu Boden fiel, brannte bei Xhar, den sie in Delyveih nur Helen nannten, ein Feuer in einer Wanne. Dies signalisierte den Nordmännern ihr Vorgehen. Sie übergaben der See die Toten und verbrannten sie mit brennenden Pfeilen. Dort standen sich die Zwillinge direkt gegenüber, die gegensätzlicher nicht sein konnten, aber zutiefst verbunden waren.
    Als sie auch diese Halle durchquerten, fragte sich Daphne, ob es eine gute Idee war, dort hinzugehen.
    „Daryk, vielleicht sollten wir umkehren“, wandte sie sich daher an den Hünen. Daryk drehte sich um und blieb kurz stehen. Ein Lächeln zierte sein Gesicht und er antwortete: „Ich passe schon auf dich auf!“
    Normalerweise hätte sie das beruhigt, aber angesichts dessen, dass sie an einem seltsamen Ort mit seltsamer Magie waren, befürchtete sie, dass selbst seine Kraft dagegen machtlos sein würde, was da kam. Sie lief weiter und bevor sie unter den Statuen hindurch waren, stieg Wasser neben ihnen, aus einer Rinne, empor und formte die Gestalt von Rhenus, der umgehend seine Urenkelin am Weitergehen hinderte. Er streckte seinen Arm aus und versperrte damit Daphne den Weg.
    „Nicht“, sprach der Gott des Lebens und sein Blick haftete dabei auf den Hünen. „Das dort ist kein Platz für uns.“
    Verwirrt schaute die Heilerin drein, als der Gott auftauchte.
    „Großvater …“, entwich ihr, für was sie sich am liebsten selbst geohrfeigt hätte. Er war ihr Ahne, aber dann doch nicht so nah. Rhenus entlockte dies nur ein Lächeln. Vermutlich war er lange nicht mehr so genannt worden, sah er ja nur wenige Jahre älter aus als Daphne.
    Daryks Blick haftete auf beiden und Verwirrung machte sich darin breit.
    „Großvater?“, wiederholte er den Ausrutscher der Heilerin. Rhenus nickte.
    „Im Grunde bin ich das“, antwortete der Gott des Lebens, „wenn auch etwas entfernter. Sie ist mein Blut und deswegen solltest du dir genau überlegen, was du tust. Mein Bruder gibt nichts umsonst her, das hat er mir mit Daphne allein bewiesen.“ Betreten nickte Daryk.
    „Dann gehe ich wohl alleine weiter“, erwiderte er, was Daphne dazu brachte, sich dem Arm ihres Großvaters zu widersetzen.
    „Das kommt gar nicht infrage!“, entgegnete sie. „Wir kamen zusammen her und gehen zusammen.“
    „Es ist seine Prüfung“, sprach Rhenus, als sich Daphne vor Daryk stellte. „Xhar wird unsere Anwesenheit nicht dulden!“
    "Hör auf deinen ... Großvater“, wandte Daryk ein. „Der Tempel des Todes ist kein Platz für dich."
    „Das ist mir egal!“, begann Daphne zu schimpfen. „Ich kenne den Tod besser als ihr beide zusammen, also erzählt mir nicht, wohin ich gehöre.“
    „Eben drum“, meinte Rhenus. „Es hat mich sein Leben gekostet, dich zu retten. Lass ihn gehen!“
    Daphne erinnerte sich an seine Worte an der Mauer. Dass Daryk und er in anderer Verbindung miteinander standen, als miteinander verwandt zu sein. Es gab nur eine Verbindung, die in diesem Fall griff – Rhenus hatte ihn vor dem Tod bewahrt.
    „Mein Leben?“, unterbrach Daryk die Blicke der beiden, die sich ihm zuwandten.
    „Als Säugling rettete ich dich, dafür versprach mir mein Bruder ein Leben. Ich habe meine Enkelin gewählt, nun ist es an dir, deinen Weg zu suchen, aber behalte die Worte an der Mauer in deinem Gedächtnis. Enttäusche mich nicht!“
    Daryk konnte wohl mit den Fetzen an Informationen nicht viel anfangen, ebenso wenig wie Daphne selbst. Der Hüne wandte sich bloß von ihnen ab und ließ ein kurzes: „Bis gleich“, folgen, ehe er sich in Bewegung setzte.
    „Nein!“, stieß die Heilerin aus, wurde aber an ihrem Arm von Rhenus festgehalten.
    „Vertraue uns etwas!“, flüsterte der Gott seiner Nachfahrin zu, die absolut nicht mit dessen Vorgehen einverstanden schien.
    „Warum tut ihr das?“, schrie sie.
    „Weil uns keine Wahl bleibt!“, erwiderte er geradezu verzweifelt. „Ich habe tausende Leben gesehen, tausende Möglichkeiten, aber diese ist die beste von allen.“
    „Du kommst daher und mischst dich in mein Leben ein!“, dementierte sie seine Ansicht. „Du gibst mir diese Kräfte und stellst einen Kampf in Aussicht, den ich anscheinend nicht gewinnen kann.“
    „Einen Kampf?“, verlangte Rhenus zu wissen.
    „Den in Delyveih“, sprach Daphne. „Den von dem du mir nichts erzählt hast, aber die Frau hinter der Schranktür. Die, die behauptet ich sei eine Tochter.“
    „Isidora ...“, nannte Rhenus die Frau beim Namen und schloss dabei seine Augen, als ihm klar wurde, dass sie es gewesen sein musste, die Daphne dies verraten hatte. „Du verstehst das falsch. Du hast sehr wohl eine Chance, aber dazu musst du mir vertrauen.“
    Wütend schaute die Heilerin den Gott in die traurigen Augen. Sie schwieg zunächst, nickte aber zum Schluss.
    „Vertrauen, na schön, aber dies stelle ich dir voraus. Verdient habt ihr alles es nicht.“
    Sie wäre wohl keine Götter, wenn sie nicht richtig entschieden.
    Xhar hat ihn vor langer Zeit auserwählt, mich gebeten, ihn zu retten … Er wird ihn nicht ohne Weiteres sterben lassen“, ergänze Rhenus und ließ ihren Arm los. „Deine Kräfte werden mit dir wachsen, du musst nur genau hinsehen. Heilen bedeutet nicht nur Wunden zu schließen. Dein Einfluss auf andere kann größer sein, als du glaubst, du musst es nur wollen und spüren lernen.“
    Kaum merklich schüttelte sie ihren Kopf und verstand nicht, was er damit meinte.
    „Du hast bereits begonnen Albträume zu verdrängen, baue darauf auf und du kannst noch mehr bewirken. Baue Dämme, wo keine mehr sind, reiße Mauern ein, um andere von ihnen zu befreien. Nicht der Krieg ist meine Gabe an dich, sondern das Heilen der Übriggebliebenen. Manchmal geht es nicht anders, das weiß ich, aber zum Töten sind wir nicht gemacht und waren es nie.“
    Daphne warf ihre Stirn in Falten. Albträume verdrängen? Meinte er etwa damit die von Daryk? Sonst kannte sie niemanden, der unter solchen Schlafstörungen litt wie der Hüne. Sie hatte Einfluss darauf? Aber sie hat nie irgendetwas Derartiges vernommen oder absichtlich angewandt, geschweige daran gedacht.
    Plötzlich unterbrach ein markerschütternder Schrei die beiden, die Daphne sofort bekannt vorkam. Es war die Stimme von Daryk, die sich anhörte, was erlitt er Schmerzen.
    „Nicht ohne Weiteres, hast du gesagt“, spie ihm Daphne entgegen und wandte sich schnurstracks von ihm ab.
    „Bleib hier!“, rief Rhenus ihr nach, aber sie dachte nicht daran. Sie hielt erst an, als sie, nach einem düsteren Tunnel, vor der steinernen Wand stand, hinter die Daryk verschwunden war. Ein Becken und Blut deutete an, dass dort irgendwas gemacht werden sollte, aber die Heilerin trug weder ein Messer mit sich noch etwas anderes Spitzes. Zu ihrem Glück spürte sie einen Luftzug an ihren Beinen. Der Durchgang war nich gänzlich dicht, was sie umgehend dazu brachte, sich aufzulösen und durch den schmalen Spalt zu fließen. Auf der anderen Seite brannten mehrere Schalen am Ende eines von einem Abgrund begleitenden Weges, wo sie sich noch in Wasserform hinbegab, ehe sie sich an dessen Ende wieder zurückverwandelte. Eine berennende Schale mit einer skelettartigen Figur begrüßte sie auf einer Art Plattform, ehe sie den rauchenden Hünen am Boden entdeckte. Geschockt stand sie einige Sekunden da, ehe sie sich sicher war, dass dies Xhar sein musste. Der Tod. In Sekundenschnelle versuchte sie sich die Worte ihres Urgroßvaters ins Gedächtnis zu rufen, dass man Daryk nicht töten würde, aber das sah irgendwie anders aus. Die Furcht vor der Gestalt hinunterschluckend, rannte sie auf Daryk zu und kniete sich zu ihm hinunter. Sie fasste umgehend die schimmernde, schwarze Rüstung an, wobei sie sich verbrannte.
    „Was hast du mit ihm gemacht?“, schrie sie den Gott des Todes mit recht wenig Ehrfurcht an und betrachtete ihre geröteten Hände. Bei einem Blick auf Daryk, kam sie nicht umhin zu bemerken, dass man ihn irgendwie erneut gebrandmarkt hatte. Eine dunkle Linie setzte sich an seinem Hals ab, die bis zum Kinn führte, der Rest wurde von der glühend heißen Rüstung verdeckt. Eilig legte sie ihm ihre Hand auf die Stirn, aber da war weder ein Fluss noch etwas anderes. Erneut konnte sie den Mann vor sich nicht heilen, der kaum noch zu atmen schien.
    „Hilf ihm!“, brüllte Daphne erneut die hagere Gestalt an, die sie und Daryk bei Weitem überragte.
    „Ich kann nicht!“, raunte die Stimme des Gottes, woraufhin sich sie sich die Ohren zuhalten musste. Xhar klang für sie wie das Kratzen mit einem Stein auf Porzellan.
    Du hast es ihm doch angetan, also hilf ihm!“, erwiderte sie lautstark und befürchtete, seine Stimme wieder zu hören.
    „Ich gab ihm die Wahl. Leben oder Tod. Er muss selbst entscheiden!“
    Daphne riss ihre Augen auf. Eine Wahl? Umgehend prüfte sie die Rüstung noch einmal, die irgendwie bereits erkaltet war. Vermutlich deswegen, weil er nicht von einem normalen Feuer ergriffen worden war. Vorsichtig nahm hob sie Daryks Kopf an und legte ihn auf ihren Schoß.
    „Ich habe dich nicht so oft vor dem Tod bewahrt, dass du dich jetzt vor so eine dämliche Wahl stellen lässt und die falsche Seite wählst, hast du verstanden?! Dann hätte ich dich schon bei unserer ersten Begegnung sterben lassen können, lange Zeit bevor ...“ Sie brach ab und richtete ihren Blick wieder Xhar zu.
    „Man muss doch irgendetwas tun können?“, wich ihr verzweifelt über die Lippen.
    Ich bin nicht derjenige mit dem Einfluss“, entgegnete ihr der Tod kalt und spielte anscheinend auf die Worte seines Bruder an. Aber wie konnte ...
    „Ich spüre aber nichts!“, wurde ihr Ton immer wimmernder.
    „Du fühlst genug. Zeig ihm den Weg!“
    Xhars Blick ruhte auf ihr, als sie wieder hinuntersah und nachdachte.
    „Nur“, fuhr der Gott fort. „sollte ihm bei Gelingen deiner Tat, nicht das blanke Leben begrüßen! In meinen Hallen trägt man schwarz!“
    Aus den Fingern seiner ausgestreckten, rechten Hand waberte umgehend Rauch, der Daphne wie ein Schleier umgab, ehe er sich wie eine zweite Haut an ihren Körper legte. Als sich dieser verflüchtigte, trug sie ein pechschwarzes Kleid, welches weniger bedeckte, als es zeigte. Nur an den wichtigsten Stellen, war der Stoff so dick, dass man nichts sah, der Rest mehr in Spitze gehüllt, die sich bis zur pechschwarzen Schleppe zog.
    Ohne Widerworte, nahm sie die Kleiderwahl des Todes hin, dem sie eigentlich hätte dankbar sein müssen.
    Vorsichtig strich sie sich ein paar Strähnen hinter ihr Ohr, um sich dann zum Hünen hinunter zu beugen und ihm etwas zuflüstern zu können.
    Kaum hatte sie das getan, atmete Daryk plötzlich tief ein und riss seine Augen auf. Daphne schreckte kurz zurück und sah ihn dann an, wobei ihr vereinzelt Tränen der Erleichterung über die die Wange rannten.
    Warum muss man sich um dich ständig sorgen?!“, fragte sie wimmernd und sah, dass er angestrengt lächelte.
    „In meinem Traum hat das weniger wehgetan“, nuschelte er und ließ sich beim langsamen Aufstehen helfen.

    Seit vier Tagen waren sie unterwegs und fast die Hälfte war geschafft, aber daran vermochte Daphne an diesem Abend nicht zu denken, als ihre Freunde plötzlich quakend vor ihr saßen.
    „Soll ich euch heilen?", fragte sie, aber es funktionierte nicht. Das gab es nur in einem Fall.
    Sagt mal, seid ihr verzaubert worden?“, fuhr sie fort, als sie keine „Erkrankung“ an sich feststellen konnte. Die Köpfe der beiden quakenden Freunde lief rot an, was Jaris nur noch mehr zum Lachen brachte.
    „Hast du mit einem von Aras´ Zaubersprüchen experimentiert?“, wollte Daphne verwirrt von Theical wissen, aber Thyra fand vor ihm ihre Stimme wieder.
    „So-quak in der Qu-art!“
    „Vielleicht solltet ihr beiden mal im schlauen Bu...“, setzte Jaris voller Atemnot an, wurde aber von einem leichten Tritt seiner Frau unterbrochen.
    „Wir quak-en mal in meinem Quak nach, vielleicht quak-en wir eine Lös-quak!“, stotterte Theical und nahm Thyra an ihrem Arm, um die Gästeräumlichkeiten aufzusuchen. Als Daphnes verwirrter Blick zu Daryk schweifte, zuckte dieser ebenso fragend mit den Schultern.
    „Weißt du, was sie haben, Vetter!?“, bohrte die Heilerin weiter bei Jaris nach, nutze dabei sogar den um Ecken bekannt gewordenen Grad ihrer Verbindung und dieser schaute vom Boden auf.
    „Nein!“, dementierte er zögerlich. „Aber ich werde mal nach dem Rechten gucken, bevor meine Angetraute noch grün wird und den nächsten Teich zum Laichen sucht.“
    Kopfschüttelnd stand er auf und verließ den Tisch. Daphne schaute nun Daryk an, der sich wieder schweigend seinem Abendessen widmete.
    „Weißt du, was das sollte?“
    Wortlos schüttelte dieser den Kopf und aß weiter. Die beiden benahmen sich seit Tagen seltsam, tuschelten oft und schauten sie komisch an. Irgendwas taten sie oder planten sie, aber was, das wusste die Heilerin nicht. Lag es vielleicht immer noch an ihrer Rückkehr oder ihren Kräften. Nein, das konnte nicht sein. Selbst Thyra hatte einen Bogen von einer Göttin bekommen, die ebenso schnell wieder verschwunden wie sie aufgetaucht gewesen war. So wie sie ihrer Freundin mitgeteilt hatte. Und auch Theical hatte sich leicht verändert. Vielleicht durch den Krieg, dem Wissen, dass seine Mutter noch lebte und seinen stärker werdenden, eigenen Mächten. Sie hatten auch keinen wirklich boshaften Gesichtsausdruck, vielmehr grinsten sie verstohlen und taten so, als sei alles in bester Ordnung. Es war rätselhaft. Daher stocherte Daphne weiterhin appetitlos in ihrem Essen herum.
    „Findest du nicht auch, dass die beiden sich seit einiger Zeit seltsam benehmen?“, durchbrach die Heilerin die aufgekommene Stille, wobei der Schankraum voller Menschen war. Daryk schaute von seinem Teller auf und dachte kurz nach, bevor er sich zu einer Antwort durchrang.
    „Ein wenig, ja“, antwortete er karg, was von ihm auch nicht anders zu erwarten gewesen war. Seit dem Lagerfeuer konnte man ihre „Beziehung“ als etwas unterkühlt bezeichnen, zudem auch Daphne ihren Teil beitrug. Aber wie mit jemanden umgehen, den man beinahe geküsst hatte und es dann endete, wie es dort geendet hatte – in Totschweigen? Daphne war sich sicher, dass die anderen diese angespannte Situation bereits mitbekamen, wenn zwei der Gruppe nur das Nötigste miteinander redeten. Wobei Daryk das wohl immer tat. Wenn Reden Silber war und Schweigen Gold, dann war dieser Ritter ein reicher Mann. Daphne rührte und stocherte daher weiter im Essen herum. Sie hasste es, wenn irgendetwas unausgesprochen blieb, wollte aber auch nicht diejenige sein, die mit diesem Thema anfing. So war sie nicht erzogen worden. Dennoch störte sie der Umstand und wenn schon Schweigen, dann konnte man das auch einfach gekonnt ignorieren und sich zwingen weiterzumachen – immerhin wollte sie niemanden die Reise verderben, wenn das Ziel schon anstrengend genug war.
    „Ein wenig?“, hakte sie nach. „Sie haben gequakt!“
    Kurz stieß der Hüne ein Lachen aus, räusperte sich aber, als er den Bissen hinunterschluckte.
    „Kommt davon, wenn man mit Magie spielt, die man nicht versteht.“ Er hielt kurz inne. „Es sah aber aus, als hätten sie eine Idee!“
    „Hoffentlich“, sprach Daphne. „Wobei ich mich frage, was sie genau da gemacht haben.“
    In aller Eile, hatten Thyra und Theical ihre Krüge dort stehenlassen und die Heilerin konnte es sich nicht verkneifen, erst an ihrem zu riechen und dann an denen ihrer Freunde.
    „Riecht etwas säuerlicher, aber warum sollten sie sich verzaubern wollen?!“
    Immer mehr Rätsel taten sich auf.
    „Und warum mischen sie es in ihr Met?“
    Daryk schaute sie an und hob seine rechte Braue, bevor er seinen Löffel neben sich legte und dann noch einmal eindringlicher ansah.
    „Du meinst, sie wollten uns die beiden Mets geben?“, platzte es aus der Heilerin heraus, der es nun wie Schuppen von den Augen fiel.
    „Sie haben wohl die Krüge vertauscht!“, stellte Daryk fest, der als ehemalige Wache eines Königs so ein Vorgehen kannte oder zumindest damit rechnen musste.
    „Aber“, setzte Daphne nun vollkommen verwirrt an, „warum sollten die beiden wollen, dass wir quaken?
    „Ich glaube nicht, dass das zu ihrem Plan gehört hat“, vermutete der Hüne anscheinend. „Sie wollten irgendetwas anderes mit …“, er zögerte einen Moment, „uns machen!“
    „Uns?“, entglitt es Daphne entsetzt. Sie wusste nicht einmal, dass es ein „uns“ gab, geschweige ein „sie“ oder Ähnliches. Schön, dass man sie davon in Kenntnis setzte, dass … Sie ließ ihre Schultern hängen und legte nun endgültig ihr Essbesteck auf den Tisch. Die beiden hatten sich schon nach Daryks Heilung komisch benommen, da sie den Beinah-Kuss anscheinend gesehen hatten. Sie dachte eigentlich, mit dem Herunterspielen und der Beteiligung an den Witzen, hätte sie dies umgehen können. Vielleicht wollten sie beenden, was fraglich im Raum stand und interpretierten mehr in die Geschichte hinein, als es Daphne tun wollte.
    „Das … ist mir jetzt fast unangenehm“, nuschelte sie und schob Daryk ihren Teller hin, den sie ohnehin nicht mehr aufessen würde. Den ganzen Abend nahm ihr der Gedanke an Delyveih sowieso schon den Hunger. Der Hüne schaute den Teller an.
    „Was ist?“, fragte er.
    „Ich habe keinen Hunger heute, iss du meine Portion!“
    Daphne lehnte sich auf ihre rechte Hand und schob den Teller gänzlich neben den von Daryk.
    Mehrfach wechselte der Blick von ihm zwischen dem Teller und Daphne hin und her.
    „Du musst auch etwas essen“, dementierte er ihr Vorhaben, aber Daphne winkte ab.
    „Ich hab ein halbes Brot gegessen, das reicht.“
    „Das reicht nicht mal für dich“, antwortete er und schob der Heilerin wieder den Teller zurück.
    „Ich bin ein großes Mädchen und kann das gut einschätzen. Ich werde wegen einem Abend nicht verhungern!“, protestierte Daphne und ließ den Teller wieder auf die andere Seite wandern.
    „Groß?“, frotzelte Daryk und zog seine Brauen hoch, woraufhin Daphne ihren Kopf schief legte und grinste.
    „Rein metaphorisch“, korrigierte sie. „Groß genug, um zu entscheiden, keinen Hunger mehr zu haben und dem übergroßen Ritter ihr Essen zu überlassen, der einige Tage geschwächt war. Du kannst das besser vertragen. Wir wollen doch nicht, dass du vom Fleisch fällst.“
    Daryk erwiderte ihr Lächeln und lehnte sich wegen des Lärms um sie herum etwas über den Tisch.
    "Der übergroße Ritter, muss aber auch dafür Sorgen, dass die kleine Prinzessin genug zu essen bekommt. Immerhin war sie auch geschwächt!"
    „Die Prinzessin heilt und erholt sich recht schnell, der Ritter nicht. Ess´ es!“
    Daryk lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme, was wohl eine Ablehnung des Angebots gleichkam.
    „Du widersprichst einer Prinzessin?“
    „Was, wenn?“, bekam sie als Antwort, die gespielt herausfordernd klang. Kleine Prinzessin, die man nicht ernst nahm? Man forderte eine Prinzessin, dass sollte man sie auch bekommen.
    „Das ist ja fast eine Beleidigung!“, stellte Daphne im gleichen Tonfall fest.
    „Was macht die kleine Prinzessin, wenn der große Ritter sie 'beleidigt'?“, forderte Daryk zu wissen und ließ sich etwas tiefer in seinen Stuhl sinken. Die Heilerin begann sich umzusehen und entdeckte in dem gefüllten Gasthaus allerhand Menschen. Eindeutig weniger Frauen als Männer. Was nicht verwunderlich war, denn diese reisten weniger durch das Land. Ganz im Gegensatz zu Händlern und Kaufleute, die eben meist männlicher Natur waren.
    „Wie viele Herrschaften hier, siehst du, die gewillt wären dich herauszufordern, Ritter Übergroß?!“
    Der besagte Ritter ließ ebenfalls seinen Blick schweifen und kam zu dem Ergebnis: „Keinen!“
    Daphne nickte und schnalzte einmal mit ihrer Zunge. Damit hatte sie gerechnet. Daher schob sie ihren Stuhl zurück und lief langsam um dein runden Tisch herum.
    „Seht Ihr“, sprach sie Daryk scherzhaft höfisch an und nahm ihren Teller Linseneintopf zur Hand, der mittlerweile in der Mitte stand. Dann stellte sie sich hinter ihn und drehte den Teller herum, wodurch der Inhalt sich gänzlich über Daryks Kopf ausbreitete. Als er leer war, platzierte sie diesen auf der Glatze des Ritters und klopfte ein paar mal provokant auf das Holz.
    „Schicker Hut, ist der neu?“, kam gespielt arrogant über ihre Lippen, um das mit der Prinzessin noch etwas hervorzuheben. Daryk zuckte kurz zusammen und zog die Schultern an, als ihm vermutlich die lauwarme Brühe am Hans hinuntertropfte.
    „Igitt ...“, nuschelte er.
    „Ich mag ja vielleicht klein sein, aber ich bin anscheinend die einzige hier, die keine Angst hat.“
    Scherzhaft rückte sie den Teller noch mehrfach zurecht und merkte nicht einmal, dass die Gespräche immer mehr um sie herum verstummten. Der Hüne nahm in einer bedrohlichen Schweigsamkeit den Teller vom Kopf, wischte sich den Eintopf vom Kopf und schob ebenfalls seinen Stuhl zurück, was Daphne Anlass dazu gab, einen gewissen Sicherheitsabstand einzunehmen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er dies auf sich sitzen ließ, aber trotzdem war seine Reaktion oder das Ausmaß dessen, abzuwarten. Langsam stand er auf und nahm die beiden noch halb vollen Teller von Theical und Thyra zur Hand, die nicht fertig essen konnten.
    „Nein, nein“, mahnte Daphne den Hünen. „Leg´ das schön wieder hin.“
    „Soso“, nuschelte Daryk und drehte sich langsam um, was Daphne das Startzeichen zur Flucht gab. Eilig sprang sie über drei Tische und wich gekonnt anderen Krügen und Tellern aus. Daryk hingegen folgte ihr auf die Weise, dass er einfach die Tische vor sich herschob, als seien sie gar nicht da. Andere Gäste wurden zwar beim Mahl gestört, schienen aber viel mehr an dem Ausgang dieses Szenarios interessiert, als dass sie sich darüber beschwerten. Das unpraktische an geschlossenen Räumen war, dass sie ein Ende besaßen. Also kam Daphne recht schnell an einer Wand an, die ihre Flucht beendete.
    „Du kannst fortlaufen, aber du kannst dich nicht verstecken“, mahnte sie Daryk und Daphne wandte sich mit dem Rücken zur Wand dem Hünen zu, der vielleicht noch zehn Schritte von ihr weg war.
    „Platz, sitz, pfui, aus“, erwiderte Daphne wieder im arroganten Ton. „So etwas macht ein Ritter nicht!“
    „Bist du sicher?“
    „Ähm, ja!“, antwortete sie gedehnt.
    Aus einer der hinteren Reihen von Gästen erklang ein: „Kipp es ihr über!“, was Daphne empört dreinblicken ließ. Einer der Nachteile, wenn man nur von Herren umgeben war – sie hielten anscheinend auch noch zusammen. Grinsend, und anscheinend in seinem Vorhaben bestätigt, näherte sich Daryk der Heilerin unaufhaltsam.
    „Du weißt, ich könnte mich jetzt einfach aus dem Staub machen. Förmlich zwischen den alten Dielen verschwinden, aber ich werde es nicht machen, weil du das auch nicht kannst. Das wäre nicht fair. Dennoch, überlegt dir gut, was du tust.“
    Das war der letzte Versuch, scherzhaft an sein Gewissen zu appellieren, aber unbeeindruckt davon, kippte Daryk ihr die beiden Teller über. Daphne stieß einen Seufzer aus und atmete stockend ein, als sich der kalte Brei über ihr ausbreitete. Es landete in ihren Haaren, auf ihrer Schulter und in ihrer Bluse. Steif, wie ein Storch im Salat, regte sie sich zunächst kein Stück, während man Daryk dafür noch Beifall klatschte. Mit sich zufrieden, stellte er die Teller am benachbarten Tisch ab und verschränkte seine Arme vor sich. Die Heilerin schaute ihn von unten heraus aus und plusterte ihre Wangen auf, während sie angeekelt ihre Schultern hochzog.
    „Das ist so gar nicht ritterlich!“, murmelte sie, musste sich aber das Grinsen unter schwersten Bemühungen verkneifen.
    Die Farbe steht dir, Prinzessin!“, gab Daryk grinsend von sich.
    „Ich weiß nicht“, konterte sie, „grün war nie so meine Farbe, dafür hebt sie deine Augen hervor.“
    Kaum ausgesprochen, fischte sich Daphne etwas aus dem Ausschnitt und verteilte es Daryk, auf Zehenspitzen, im Gesicht, der seine Augen schloss und es hinnahm.
    „Du hast da was im Bart“, fuhr sie fort und machte eine umkreisende Geste an ihrem Gesicht. Daryk wischte sich angedeutet etwas über sein Kinn.
    „Wo? Da?`Besser?“
    Daphne brach in heiteres Gelächter aus und schüttelte mit dem Kopf.
    „Nein!“, antwortete sie fast unter Tränen und bekam kaum Luft. Immer wieder, wenn sie zu weiteren Worten ansetzen wollte, übermannte sie das Gelächter.
    „Die anderen beiden haben vielleicht gequakt“, kam fiepsend über ihre Lippen, „aber grün sind wir!“
    Auch Daryk begann lauthals zu lachen und fragte kurz darauf: „Und jetzt?“
    Die Heilerin hielt sich den Bauch und stützte sich an der Wand ab, an die sie sich manövriert hatte.
    „Ich weiß nicht genau“, setzte sie quietschend an, „aber wir sollten baden gehen!“
    Daryks Lachen stoppte und er schaute Daphne überrascht an, was die Heilerin dazu brachte, noch einmal ihren Satz zu reflektieren. Abrupt lief sie rot an, was mit dem grün um sie herum sicherlich ein eigensinniges Farbenspiel abgab.
    „A-Also“, warf sie schnell stotternd ein, „ich meinte du in einer Wanne und ich in einer anderen. Alles andere wäre ja, nicht wahr?! Reichlich seltsam!““
    Dort wäre sie nun gerne in den Dielen des Gastraumes versunken – wortwörtlich. Daryk lächelte bloß und wischte sich noch einmal etwas von den Linsen aus dem Gesicht.
    „Geh schon mal vor“, gab er in einem beruhigenden Tonfall von sich. „Ich regle das hier mit der Meute und der Sauerei!“
    Nickend hatte Daphne nichts dagegen, dass er diesen Part übernahm, immerhin hatte er die größte Menge auf die kleinste Person verteilt. Watschelnd, wie eine Ente, bewegte sich die Heilerin fort, als sie das Badehaus aufsuchen wollte. Die Linsen bahnten sich ihren Weg durch ihre Kleidung, was ein wahrlich ekliges Gefühl darstellte.
    Anscheinend angelockt von dem Gelächter der Gäste, dem Applaudieren und Grölen, standen plötzlich wieder Theical, Thyra und Jaris am Treppenaufgang des Hauses und starrten Daphne verwirrt an, die aussah, als sei die in den Topf des Wirtes gefallen.
    „Ich hoffe, ihr habt euer Quakproblem gelöst!“, gab Daphne lachend von sich. Die drei nickten betreten und sahen sich gegenseitig an.
    Das habt ihr von eurem seltsamen Plan, was immer der bezwecken sollte … Wir sehen aus wie Frösche und ihr quakt so. Das nächste Mal macht doch irgendwas mit hübschen Schwänen, wobei, lieber nicht, sonst enden Daryk und ich geteert und gefedert!“
    Kopfschüttelnd lief sie an ihren Freunden vorbei.
    „Alles nur wegen euch!“
    Sie hoffte, dass das Zeug nicht noch den Weg in ihre Hose fand. Natürlich hätte sie wütend auf Theical und Thyra sein können, war sie aber nicht. So gelacht hatte sie seit einer Ewigkeit nicht mehr. Als sie vor der Tür stand atmete sie tief durch und entdeckte den steinernen Schuppen gegenüber des Gasthauses, was wohl das Badehaus darstellen sollte. Immer noch watschelnd, hielt sie direkt darauf zu und öffnete die Tür.
    „Es war so klar ...“, nuschelte sie und seufzte. Dieses Gegend gehörte eben nicht zu den besser betuchten, aber worüber beschweren, drum herum kam sie nicht, es sei denn, sie wollte in ein paar Stunden aussehen wie ein Brückengnom.

    Nachdem Daryk endlich erwacht war und bevor sie von Thyra zum Schlafen geschickt wurde, versuchte Daphne den Hünen ein weiteres Mal zu heilen. Der noch geschwächte Ogerschlächter konnte sich kaum rühren. Ihm musste jeder Knochen wehtun und sprach kaum ein Wort. Nur ein Raunen verließ seine Lippen, als er sich vorsichtig aufrichtete und hinsetzte. Was sollte er auch sagen? Nicht einmal sie sprach über das, was sich beinahe ereignet hatte. Hinfort schweigen – das war die passende Reaktion. Und je mehr sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie sich, dass das nur ein flüchtiger Moment gewesen war, dem man nicht zu viel Bedeutung geben sollte. Immerhin sagte er auch nichts. Nicht die geringste Gestik ließ irgendeinen Zweifel daran zu, dass er sogar vermied sie anzusehen. Daphne schaute auf die bestickte Bettdecke hinunter und dachte nach. Zu langes Schweigen verriet, dass etwas nicht stimmte, der offene Umgang fehlte, weshalb sie schließlich aufsah und gezwungen lächelte.
    „Versuchen wir es einfach nochmal.“
    Daryk schreckte auf und schaute sie nun doch an.
    „Vielleicht klappt es jetzt mit dem Heilen!“, fuhr die junge Frau fort. Kaum vorgeschlagen, nickte der Hüne leicht abwesend und atmete tief durch. Daphne schritt etwas näher an das Kopfende heran und betrachtete kurz ihre rechte Hand, ehe sie diese vorsichtig auf Daryks Brust platzierte. Auch sie atmete tief durch und schloss ihre Augen. Und endlich … sie erkannte den Fluss und die Wellen in seinem Inneren. Sie konnte wieder ihre Magie bei ihm wirken. Es war wie inmitten eines Sturmes zu stehen. Vor ihrem inneren Auge bäumten sich riesige Wellen auf, die gegen brüchige Küsten und Klippen schlugen. Immer mehr Gestein bröckelte ins Wasser und alles war umgeben von einer sternlosen Nacht. Im Glauben daran, dass dieser Zustand von den Verletzungen stammen musste, versuchte sie das Meer zu beruhigen. Wie bei dem Glattstreichen von Papier, fuhr sie mit ihrer Hand über die Wellen, so lange, bis sie anfingen sich zu fügen. Im gleichen Moment wuchsen die Knochen wieder zusammen, Wunden schlossen sich und Müdigkeit schwand. Sie öffnete wieder ihre Augen und spürte nur das schnell schlagende Herz des Hünen.
    „Nun dürfte es besser sein!“, sprach sie zu ihm, ohne ihn wirklich anzusehen. Im Augenwinkel konnte sie ein kurzes Lächeln erkennen, ehe auch er verhalten zur Tür sah. Wieder dieses Schweigen und Daphne schwor es sich durch die Nachricht ihrer Brüder zu unterbrechen, nämlich jene, dass es ihrem Vater nicht gut ging und sie alsbald aufbrechen würden. Sie wurde von dieser Nachricht genauso überrascht wie Yorick, denn wer den Herzog kannte, wusste, dass dieser nicht einmal von hundert Mann niedergerungen werden konnte.
    „Wie geht es ...“
    Kaum hatte Daryk dazu angesetzt, schob er seine Beine seitlich vom Bett und setzte sich hin. Sie fühlte sich gezwungen die Karten auf den Tisch zu legen und unterbrach ihn mit:
    „Ich gehe nach Hause!“
    Dabei hob sie ihren Kopf und blickte ihn unverwandt an. Auch Daryk fuhr herum und betrachtete ungläubig ihr Gesicht.
    „Mein Vater leidet an einem Fieber. Wer, wenn nicht ich, könnte ihn davon kurieren.“ Ihre Stimme verkam zu einem flüstern. Mürbe warf sie ihre Stirn in Falten, bevor sie ihre Lippen aufeinander presste und auf die Bettdecke schaute.
    „I-Ich kann nicht“, sprudelte es aus ihr heraus. „Ich kann ihn nicht sterben lassen, egal welcher Zwist zwischen uns stand. Er ist und bleibt mein Vater.“
    Tränen eroberten ihr Gesicht und die Stimme erstarb unter einem Schluchzen.
    „Ich bin ihm schon lange nicht mehr böse. Ich weiß, dass er jeden Bewerber weggeschickt hat, so lange, bis ihm keine Wahl mehr blieb. Er wollte mich nie verletzen, aber ich hab ihm das Herz gebrochen. Ich habe Angst zurückzukehren und ihm in die Augen zu schauen.“ Daryk saß immer noch neben ihr und schaute sie an. Irgendwann ergriff er ihrem Handgelenk und zog sie zu sich heran. Er nahm sie einfach in den Arm und drückte sie fest, als würde er verstehen, was sie meinte. Tat er mit Sicherheit sogar, aber das war nicht die Antwort, die sie sich eigentlich erhofft hatte. Vielmehr schämte sie sich dafür, so schnell wieder mit dem Weinen zu beginnen, wo sie es geschafft hatte, so lange zu unterdrücken. Sie war erschöpft, müde und ihre Kraft reichte nun mehr kaum noch aus, um ein Tropfen vom Fallen abzuhalten, denn hätte sie dies gekonnt, wären kaum Tränen aus auf Daryks Hals gelandet. Er meinte es gut, aber sie musste das beenden. Um ihretwillen. Kurz, vielleicht für ein paar Sekunden, nicht mehr, lehnte sie an seiner Schulter, dann löste sie sich draus und schob ihn vorsichtig von sich weg.
    Nein“, wimmerte sie. „Das führt nirgends hin. Ich werde zurückgehen und bereinigen, was es zu bereinigen gibt.“
    Als sie dies aussprach, fühlte sie sich wie ein Spiegel, der zerbrach, denn wenn er nicht mitkam, sollte dies ein Abschied sein. Aber fragen konnte sie ihn nicht. Wie konnte sie? Selbst wenn sie es versucht hätte, ihre Kehle hätte nicht die Worte formen können, weil sie die Antwort fürchtete. Aber kaum war ein allzu langes Schweigen ausgebrochen, schaute sie auf, während Daryk weiterhin vor sich den Boden betrachtete.
    „Soll ich …“, murmelte er, als die Stimmen von Thyra und Theical vor der Tür erklangen.
    Ich lasse dich etwas essen“, erklärte sie vor einer Antwort. „Du musst Hunger haben und du brauchst, nach all der Zeit, etwas zu essen!“
    Sie bewegte sich zur Tür und öffnete sie, dabei schaute Daphne nicht zurück, sondern schloss die Tür einfach hinter sich. Doch kaum im Beisein ihrer Freunde, wurde sie wieder gefühlt ein Wimpernschlag später mit einem Teller zurück ins Zimmer geschoben. Diesmal herrschte wirklich Schweigen zwischen ihr und Daryk, welches Thyra gekonnt überspielte, während Theical nach Essen für den Hünen verlangte. Aber auch sie schien zu merken, dass die Situation mehr als unangenehm war. Die Jägerin blickte zwischen beiden hin und her, während Theical wieder auftauchte und alle über ihren Zustand nachhakten. Sah man ihr es nicht genug an? Sie wollte schlafen, jede Heilung erschöpfte sie. Die Tage ohne oder mit kaum schlaf hatten den letzten Rest ihrer Reserven vollkommen ausgeschöpft. Sie erzählte von ihrem Vater, woraufhin Thyra beschloss ihre Freundin zu begleiten, so wie sie für alle sprach. Aber sie hatten Daryk nicht einmal gefragt, aber er widersprach auch nicht.
    "Aber wahrscheinlich hast du Recht, Theic. Ich sollte zu ihm gehen", sagte Daphne nach einer Pause.
    Für eine Sekunde atmete sie erleichtert aus.
    „Schon komisch, was ein Fluch anrichten kann!“, fuhr Theical fort, dem Daphne den Grund dafür geschildert hatte, dass sie Daryk nicht sofort heilen konnte.
    „Fluch?“, murmelte Daryk verwirrt.
    „Ja, Aras´ Zauber“, setzte Thyra an, die ebenfalls davon wusste. „Er hat anscheinend vergessen die Nebenwirkungen zu erwähnen.“
    „Er wollte es dir am … Lagerfeuer sagen“, stockte Daphne leise, die direkt vor dem Ogerschlächter stand, wie ihn neuerdings Yorick und viele andere nannten. Thyra nahm sie irgendwann an der Hand und begleitete sie hinaus. Sie sahen ein, dass so mit Daphne nicht anzufangen war und beschlossen, dass sie sich im Wasser ausruhen sollte. Das Zimmer neben ihrem „Patienten“ war ihres, deshalb scheuchte Thyra ein paar Diener los, damit man ihrer Freundin eine Kupferwanne mit Wasser bringen sollten.
    „Du solltest wirklich schlafen“, ermahnte die Jägerin die Heilerin. „Männer machen einem ständig Sorgen, was?“
    Thyra lächelte ehrlich und Daphne lächelte zurück.
    „Es gibt bisher nichts, worum ich mir Sorgen machen müsste, außer um meinen Vater.“
    „Du wirst sehen, wir reisen nach Delyveih und dann heilst du ihn. Das ist doch mittlerweile einer deiner leichtesten Übungen.“
    Betreten nickte die Heilerin und folgte Thyras Befehl erst einmal ordentlich durchzuschlafen.


    Die Müdigkeit, die Daphne ereilt hatte, war mit kaum etwas zu vergleichen. Sie konnte ihre Gedanken kaum noch festhalten. Gerade wollte sie noch etwas tun, da war der flüchtige Moment schon verflogen und sie stand nachdenklich im Raum. Aras hatte ihr das Zimmer neben Daryks rasch anpassen lassen, neben all den anderen Aufgaben, denen er anscheinend nachkommen musste. Vermutlich hatte Thyra da auch ihre Finger im Spiel gehabt – eigentlich ganz sicher. Wachen hatten eine Kupferwanne, anstelle des riesigen Bettes platziert und eine kleinere Schlafstelle eingerichtet, da sie doch weniger in weichen Kissen schlief. Den Blick in den Spiegel vermied sie. Sie wollte nicht sehen, wie sehr sie alles geschlaucht hatte. Die Schlacht, die schlaflosen Nächte. Immer wieder sprach man sie darauf an, wie blass sie aussah, der Glanz einer Prinzessin anscheinend vergangen, aber sie fand keine Zeit dem nachzutrauern.
    Daphne spürte Wassertemperaturen kaum, daher war es ihr ebenso egal, wie kalt die Wanne bereits war, als sie hineinstieg. Erschöpft tauchte sie unter und wischte sich dann das Wasser aus dem Gesicht.
    Sie würde also nach Hause zurückkehren … nach Hause. Nach all den Jahren klang dies vollkommen fremd für sie, wobei sie doch dort aufgewachsen war. Trotzdem wollte sie nicht, dass ihr Vater starb und ihre letzte Erinnerung, an ihn, der Streit war. Das würde sie sich nie verzeihen, wenn sie diese Sache nicht aus dem Weg räumte und viel zu lange stand dieser Zwist schon zwischen ihr und ihrer Heimat. Die Angst wie sie reagieren würden, wenn sie plötzlich wieder vor den Toren stand. Ihre Mutter kalt und verhalten – so vermutete Daphne. Aber ihr Vater?! Früher gab es keinen Mann, der annähernd an ihn herangereicht hätte. Der Größte für sie, der Beschützer und Bewahrer. Und obwohl umgeben von Söhnen, ruhten seine Augen stets auf ihr. Ein blonder, riesiger Mann, dessen einzige Verbindung zu seiner Tochter die winzigen Muttermale waren, die sie als Kind vor Gerüchte behütetet hatten. Mächtiger als ihr Vater, waren nur die Hallen. Immens hohe, durch Säulen getragene, Räume, die das geringste Flüstern weitertrugen. Das Schloss von Delyveih kam ohne viel Prunk aus. Dort gab es keine verzierten Springbrunnen, Blumenkästen oder Rosengehänge, dort erzählte alles eine Geschichte. Bilder über Bilder zeigten Ahnen, deren Geschichten längst erzählt, ihre Stimme erloschen, aber nicht vergessen waren. Als Günstlinge Rhenus´, der das Leben verkörperte, gab es für sie nichts wichtigeres, als dieses zu ehren, selbst wenn es vorüber war. Daphne wusste, dass der Tod nicht das Ende darstellte und doch schien sie enttäuscht über diese Tatsache. Wenn es dort nicht endete, was kam danach?
    Müde lehnte sie ihren Kopf an den Rand der Wanne und beobachtete, wie ihr überlanges Haar die Oberfläche des Wassers schwarz färbte. An so viel hatte sie sich geschworen nicht zu denken, aber ihr Geist besaß andere Pläne. Würden sie alle nach Delyveih begleiten und wenn ja … Wollte sie das überhaupt? Dort endete ihr Versteckspiel und sie würden alles kennenlernen, was sie betraf. Dort war sie keine Heilerin, keine Magierin oder Schurkin. Dort war sie die Tochter eines Herzogs, Prinzessin von Delyveih und so frei wie ein Vogel im Käfig, dessen Flügel man bricht, damit er nicht davonfliegen kann.
    In Gedanken versunken, merkte sie nicht einmal, wie die Zeit verging. Die Sonne zog an ihrem Fenster vorbei und ehe sie es sich versah, wurde der Raum dunkler und damit auch ihre Augen schwerer.


    Schon lange hatte Daphne nicht mehr geträumt. Zumindest konnte sie sich an keinen ihrer Träume erinnern. Alles lag in einer nichtssagenden Dunkelheit, Erinnerungen vermischten sich. Sie wusste, dass sie schlief. Ihr Leben war viel zu turbulent, als dass es so ruhig sein konnte. Sie wollte ihre Augen öffnen, aber es gelang ihr nicht. Leise bahnte sich, aus der Finsternis heraus, ein Summen zu ihr. Eine Melodie, die sie kannte, aber nicht mehr selbst wiedergeben konnte. Plötzlich konnte sie ein Licht sehen, so klein, als sei es bloß ein Schlüsselloch und genau das war es. Schlagartig wurde ihr klar, wo sie war. Im Schrank, in den sie immer von ihrer Großcousine, ihrer einzigen, weiblichen Aufsicht, gesperrt worden war, wenn sie nicht brav das getan hatte, was man von ihr verlangt hatte. Immer dann, wenn ihre Mutter nicht zugegen war. Wie schon als Kind, fing sie an, wild gegen die Tür zu hämmern.
    „Sei still!“, mahnte sie eine Stimme vor dem massiven Holzgebilde.
    „Wer ist da?“, fragte Daphne überrascht, denn die Frau klang nicht wie ihre Cousine. Die Stimme war älter, reifer und etwas tiefer, aber dennoch nicht unbekannt.
    Vorsichtig lugte sie durch das Schlüsselloch, wo sie umgehend ein eisblaues Auge erspähen konnte und erschrocken gegen die hintere Wand stieß.
    „Wir haben keine Zeit zu verlieren! Wenn du zurückkehrst, solltest du etwas wissen“, fuhr die Frau fort. „Sie wird auf dich warten.“
    „Wer?“, fragte Daphne reflexartig und bemerkte erst jetzt, dass sie klang wie ein Kind. Wie sie als Kind.
    „Egal was geschieht, du darfst nie auf sie hören. Sie kennt kein Erbarmen, keine Gnade und lebt von Rache. Sie wird gegen dich verwenden, was dich ausmacht. Sie ist wie eine Krankheit, die zu deinem Herz schleicht und es zum Stillstand bringt.“
    Ja, aber wer denn?“
    „Franziska ...“, flüsterte die Frau und Daphne schnellte wieder zum Schlüsselloch.
    „Die Franziska?“, hakte sie verwirrt nach. „Aber sie ist tot! Ihr Selbstmord ist über fünfhundert Jahre her“
    Du müsstest am besten wissen, dass das nicht immer etwas zu bedeuten hat. Ihr Präsenz liegt wie ein düsterer Schatten über unser Land. Sie wird dich, mit deinen Kräften, zu ihrem Ebenbild machen wollen. Auf so etwas hat sie nur gewartet, aber du bist nicht wie sie“, die Fremde hielt kurz inne, „Du bist wie ich.“
    „Ja, aber ...“
    „Es ist kein Zufall, dass du ihren Namen trägst, anstatt meinen. Ihr Einfluss ist bereits lange unter euch und verseucht unser Erbe. Schaffe Klarheit, lass dich nicht vergiften oder ins Meer locken. Wenn sie kommt, darfst du ihr nichts geben, woran sie sich festhalten kann. Sie muss ein Schiff ohne Anker bleiben. Denn sieht sie Land, kann sie nichts daran hindern, dort zu siedeln und alles ins Chaos zu stürzen. Sie verdreht Wahrheiten zu Lügen oder schafft Unwahrheiten, wo Zweifel sind. Wenn du es nicht schaffst, dann gibt es kaum Hoffnung, dass es andere können. Du unterscheidest dich vom Rest. Du warst eingesperrt, hast die Fesseln gelöst und die Freiheit kennengelernt. Die Wahl, in allem was du fühlst. Lass dir das nicht nehmen.“
    Mit aller Kraft schlug Daphne gegen die Schranktür.
    „Wer seid Ihr?“
    „Du bist nicht allein, weder in dieser Welt noch in der anderen.“
    „Sagt mir Euren Namen!“
    „Auch ich bin stets bei dir, vergiss das nicht. Das war ich immer, selbst bei deinem Tod. Ich stehe allen meinen Töchtern bei, auch wenn ich keine mehr davor bewahren kann, was im Meer auf sie lauert … Ich war nicht stark genug.“
    „Wo geht Ihr hin? Lasst mich hier nicht zurück!“
    „Befreie dich. Manchmal lässt sich Feuer nur mit Feuer bekämpfen oder in dem Fall mit Wasser. Baue eine Mauer um dich herum auf, hinter die sie nicht schauen kann.“
    „Wartet ...“, schrie das Kind aus ihr heraus.
    Panisch rückte Daphne im Schrank herum und stemmte ihre Beine gegen die Tür. Immer wieder trat sie gegen diese, doch das Holz war wie der Käfig, an den sie zuvor gedacht hatte. Unnachgiebig und wie aus Eisen. Wut stieg in ihr herauf. Selbst in ihren Träumen saß sie schon in dem Martyrium ihrer Kindheit fest. Alles schränkte sie ein und kein Licht war am Ende in Sicht. Schreie erklommen ihre Lunge, wodurch sie plötzlich das Wasser aus der Luft sog und um sich herum sammelte. Ohne die Schmach des Ertrinkens, sammelte sich immer mehr Wasser in dem kleinen Schrank, bis der Druck so groß wurde, dass das Holz darunter zerbarst. Ein Schrei in die Freiheit folgte und als Daphne sich umsah, stand sie inmitten der Wanne, dessen Inhalt sich mehr im Raum befand, als noch um sie herum. Sie atmete als sei sie bis zur Erschöpfung gerannt. Vereinzelte Tropfen fielen noch zu Boden und zeugten von der Welle, die den Raum heimgesucht hatten. Schlagartig erinnerte sie sich an ihren Traum, an das, was ihr gesagt wurde und obwohl noch nicht gänzlich in der Wirklichkeit angekommen, wusste sie, dass dies kein einfacher Traum gewesen war. Etwas lauerte in Delyveih, die Frage war nur was. Sie sollte ungebrochen sein, stur, sich dem widersetzen, was da kommen würde. Viele Mythen und Legenden waren in dem von Nebel umgebenen Land erzählt worden, aber welche von ihnen war nun mehr als das? Es hatte etwas mit Franziska zu tun und auch Calypso wurde in der Vergangenheit bereits von Rhenus erwähnt. Anscheinend musste sie selbst herausfinden, was es mit all dem auf sich hatte. Wie so oft, schien ihr niemand klare Worte oder Erklärungen entgegenbringen zu wollen.
    Ganz langsam stieg sie aus der Wanne und merkte in der Dunkelheit, dass die Tür einen Spalt offen stand. Die Lichter des Flures schienen hinein und als Daphne nach draußen sah, war da nichts. Sie musste aufgesprungen sein. Leise schloss sie diese wieder und beschloss wach zu bleiben. Dies war der Tag, an dem die Nordmänner zurückkehren würden und auch, wenn sie diesmal nicht für ewig getrennt blieben, wollte sie ihnen zumindest eine gute Heimreise wünschen.
    Und dabei blieb es auch. Eine Umarmung und ein Kuss auf die Stirn, dann setzten die Männer die Segel. Daphne schwor so schnell es ihr möglich war, nachzukommen. Deshalb verlangte sie ihr Pferd, welches in den Stallungen des Herzogs untergebracht worden war. Zur Zeit der Schlacht konnte man Avalon nicht auffinden, aber das hatte ihr der Züchter bereits gesagt, dass dieser Hengst kam und ging wie es ihm gefiel. Sie war nur froh, dass er anscheinend immer anwesend war, wenn sie ihn brauchte. Und erneut drängte sich ihr der Gedanke auf, dass dies nicht nur für das Pferd galt.

    Da war es wieder. Dieses Klingeln in den Ohren, wenn man mit anderen Sachen beschäftigt war. Der Ursprung des Tinnitus hatte für die Prinzessin ganz klar einen Namen. Aras. Vielleicht sollte der Herzog erlernen, bestimmte Situationen erst zu begutachten und sich dann dazu entscheiden, wahllos Namen herumzubrüllen. Dabei ereilten sie Gedanken daran, was wohl geschehen wäre, wenn der Herzog sie nicht unterbrochen hätte. Ein Kuss etwa? Aber der Schaden war angerichtet und der Moment verflogen, im Gegensatz zu der Hitze in ihrem Gesicht, was der Heilerin ein Seufzen entlockte. Als Daryk aufstand und sie vorsichtig von seinem Schoß hob, um auf Zacharas zugehen zu können, kam Daphne nicht umhin zu bemerken, dass er seltsam schwankte. Und kaum hatte sie es bemerkt, kippte der Hüne schon vornüber. Der Herzog bewegte sich genauso schnell auf den Bewusstlosen zu, wie sie aufschreckte und sich zu ihm begab.
    „Daryk!“, entglitt es ihr dabei und sie kniete sich zu ihm hinunter.
    „Und ich fragte mich schon, wann das passieren würde“, nuschelte Zacharas und Daphne schaute ihn erschrocken an. Keine Zeit übermäßige Fragen zu stellen, schrie die Heilerin nach ihren Brüdern. Diese sahen das Szenario aus der Ferne, ließen das Fass fallen und rannten auf die drei zu.
    „Kaum lässt man euch aus den Augen ...“, frotzelte Yorick zunächst. „Da hat wohl jemand zu viel getrunken.“
    „Nein!“, dementierte Daphne sofort und fühlte Daryks Stirn. „Er hat Fieber! Von Wein bekommt man kein Fieber und ich kann ihn nicht heilen. Warum kann ich ihn nicht heilen?“
    „Das sind die Nachwirkungen des Fluches“, mischte sich Aras ein.
    „Was denn für ein Fluch?“, fiepste Daphne mit hoher Stimme.
    „Den ich über ihn ausgesprochen habe. Der, der seine Kampfkraft steigerte.“
    „Das war ein Fluch?“, wurde die junge Frau lauter und konnte es nicht fassen, was sich die Männer da ausgedacht hatten.
    „Ich wollte es ihm gerade nochmal sagen, dass es mich wundert, dass es ihm so gut geht.“
    „Gut geht?“, schrie Daphne nun. „Sieht das für dich nach einem guten Zustand aus? Warum leiden wegen deiner Ideen eigentlich immer andere? Kannst du mir das mal verraten?“
    Sauer, aber zu beschäftigt, sich jetzt um den Herzog zu kümmern, wies sie ihre Brüder an, Daryk hochzuheben. Damit sie die Feierlichkeiten nicht unterbrachen, lotste Aras sie durch einen Seitenausgang und führte sie schnellstmöglich in den Gästetrakt der Burg. Allem voran, öffnete Aras eine Tür zu einem Zimmer, wo die drei Männer den Hünen etwas unsanft auf ein Bett niederließen.
    „Bringt mir kaltes Wasser in einer Schüssel und ausreichend Tücher!“, befahl die Heilerin umgehend, die wegen dem Fieber besorgt war, aber kaum hatte sie die Knöpfe an seinem Hemd gelöst, um ihm mehr Raum zum Atmen zu geben, erkannte sie schlimmeres als das. Daryks Oberkörper wies Quetschungen auf und glich einem einzigen blauen Fleck. Verletzungen, die von dem Kampf gegen dem Oger stammen mussten. Hinzu kamen kleine Schnittverletzungen, eine seltsame Brandwunde am Arm und … Sie faltete ihre Hände über den Kopf zusammen. Er hatte keinen Ton zu ihr gesagt, dass es ihm so schlecht ging, verweigerte sogar eine Heilung, da sie nicht jeden Kratzer von ihm behandeln sollte. Das waren keine Kratzer und durch den Fluch konnte sie nicht einmal sagen, ob er innere Verletzungen hatte. Ein verzweifelter und wütender Schrei folgte von ihr, der selbst die Brüder auf Abstand gehen ließ, dabei fing sie an zu zittern. Thorvid schien ihrer Bitte nach dem kalten Wasser nachkommen zu wollen und verließ lieber den Raum. Sie spürte, wie ihre Augen sich veränderten und fuhr zu den restlichen Männern herum.
    „Verschwindet!“, zischte sie. „Wer nicht helfen kann, geht!“ Dabei schaute sie auch Aras an. Sie bat Yorick lediglich Verbände zu bringen, damit sie die vermeintlichen Rippenbrüche fixieren konnte. Sie versuchte sich zwanghaft an das zu erinnern, was sie gelernt hatte, aber nach all der Zeit, ohne Studien über die Heilkunst, hatte sie einiges vergessen, wofür sie sich selbst am liebsten geohrfeigt hätte. Dass die Wunden sich nicht magisch behandeln ließen, war nicht mal das Schlimmste für sie. Es war immer wieder die Tatsache, dass sie anderen beim Leiden zusehen musste. Etwas, wovor der Arzt sie schon zu Anfang gewarnt hatte. Nicht alle Kranken waren namenlose Gesichter, über die sie sich weniger Gedanken machen würde. Sie hatte ihre Studien vernachlässigt, nachdem sie von den Toten zurück gewesen war, ebenso wegen der magischen Kraft dies zu tun. Sie konnte ja nicht ahnen, dass Zauber ihre Magie blockieren konnten. Und alles nur wegen des Fluchs. Sie wollte wütend auf Aras sein, konnte es aber nicht, denn die Schlacht hatte überall seine Opfer gefordert und sie verstand, dass Daryks gesamtes Potenzial zu nutzen, irgendwie dazugehört hatte. Aber nun saß sie vor den Trümmern, die sie wieder zusammenfügen musste. Sie musste einfach.
    Ich könnte Euch beim Verband anlegen helfen!“, wandte sich Arthur gewohnt höfisch an seine Halbschwester und diese nickte. Yorick verließ mit Aras zusammen den Raum, um ihr das zu bringen, was sie verlangt hatte. Wie in Trance zog sie sich das Wissen aus den Fingern, was sich irgendwann mal angeeignet hatte. Es war mehr ein Reagieren, als ein fachmännisches Vorgehen. Aber was sollte sie da schon falsch machen? Viel kaputtgehen konnte nicht mehr.


    Als der Verband angelegt war, begutachtete sie den Rest der Verletzungen. Die Brandwunde, die an seinem Arm prangte, hatte sich rot verfärbt und wies auf eine Entzündung hin. Vielleicht rührte daher das Fieber. Aras stand irgendwann wieder in der Tür, als Daphne den Hünen soweit versorgt hatte, dass sie über die nächsten Schritte erst einmal nachdenken musste.
    „Das hätte nicht passieren dürfen!“, meinte er kleinlaut und die Heilerin konnte nichts weiter tun, als ihm kalt beizupflichten.
    „Der Fluch tut so etwas normalerweise nicht!“, fügte der Herzog hinzu und erklärte Daphne die Symptome, die sich danach normalerweise zeigten, nur vergaß er an der Stelle, wie verletzt Daryk war. Er hatte sich einem Oger gestellt, war durch Wände geflogen und ein Haus war über ihm zusammengebrochen. Selbst der Körper eines noch so großen und starken Menschen hatte seine Grenzen. Vor allem bei einem Mann wie ihm, die Zweifel oder Ängste zu verstärken, war mehr als leichtsinnig gewesen, wusste die Heilerin doch um die Vorwürfe und Albträume, die ihn plagten.
    „Tu´ das nie wieder!“, forderte sie von Aras, der sie weiterhin ansah. Daphne verließ das Zimmer, stieß den Herzog absichtlich an und lief in die Bibliothek. Zacharas folgte ihr natürlich, immerhin hatte er sich geschworen, sich ändern zu wollen und wollte das alles so nicht auf sich sitzen lassen – das vermutete Daphne zumindest.
    „Willst du mir noch mehr weise Ratschläge geben?“, schimpfte sie, während sie in dem riesigen Raum ankam und zu den Kräuterbüchern lief. Sie riss eines nach dem anderen aus dem Regal und blätterte wahllos darin herum. Wenn sie nicht das richtige fand, dann warf sie es einfach wütend hinter sich.
    „Wie ich bereits sagte, das hätte nicht passieren sollen und konnte auch niemand vorhersehen. Ich sagte ihm, dass es auch Zweifel verstärken könne. Er wusste teils, was er da tat.“
    „Teils – da haben wir es.“
    „Ich habe nur vergessen, ihm direkt alles über den Entzug zu erklären, aber wir hatten auch kaum Zeit zum Nachdenken. Es wird ihn sicherlich nicht umbringen.“
    „Genau, Aras!“, maulte sie ihn lautstark an und warf ein Buch mit aller Kraft in eine Ecke, wobei sie zuerst versucht war, es dem Herzog ins Gesicht zu schleudern. „Es wird ihn nicht umbringen, aber leiden darf er! Es ist doch erstaunlich, wie viel Mann überleben kann, nicht wahr?!“
    Plötzlich hatte sie ein Buch über Salben in der Hand und atmete erleichtert aus.
    „Wir waren im Krieg. Er als Ritter mit der Kraft … so konnte er viel mehr ausrichten.“
    Daphne wusste, dass Aras nicht ganz unrecht hatte, aber das half ihr in diesen Stunden auch nicht weiter. Die Wut, die sie verspürte, gab ihr die Kraft weiterzumachen, die sie brauchte. Irgendwo hoffte sie, dass Aras das verstehen würde. Also weiterhin sauer, setzte sie sich wieder in Bewegung und blieb neben ihm stehen.
    „Er als Ritter … Dann frag ich mich, warum nicht auch Kuen mit diesem Fluch belegt wurde … Sie als Soldatin.“
    Aras schwieg.
    „Genau“, flüsterte Daphne erbost. „Weil Daryk kein Mensch ist, der dich sonderlich interessiert.“
    Sie lief weiter und versuchte zu retten, was zu retten war. Der erste Tag war dabei der schwerste. Daryks Fieber wollte nicht sinken und Daphne musste den Arm aufschneiden, um die Entzündung zu öffnen. Sie wusste ja, oder ahnte, dass sie ihn irgendwann wieder heilen konnte, aber in der Zwischenzeit, wo es nicht so war, musste sie ihn am Leben erhalten. Das hieß, all das entzündete Fleisch zu entfernen, damit es ihn nicht weiter vergiften konnte. Das er davon nichts mitbekam, glaubte sie nicht. Immer wieder zuckte der Hüne und öffnete kurz seine Augen, murmelte etwas auf einer anderen Sprache, wenn auch kaum hörbar oder verständlich. Daphne versicherte ihm, dass alles halb so schlimm sein würde, wenn er sich nur zusammenriss. Er hatte eine immense Schlacht überlebt, gegen einen Oger bestanden, sodass ihn die Brandwunde und gebrochenen Knochen nicht umbringen durften. Blutverschmiert rieb sich Daphne die Stirn und ließ ihre eigene Erschöpfung nicht zu. Theical brachte ihr ab und an etwas zu essen vorbei, als er das mit Daryk mitbekam und fragte häufig nach seinem Befinden, wenn er nicht gerade beim Aufbau der Stadt half. Auch er sah niedergeschlagen aus, wollte angesichts ihrer Bemühungen nicht darüber sprechen.
    „Bei einem Met vielleicht, wenn es dem anderen besser geht!“, vertröstete der Taschendieb seine Freundin und lächelte müde. Thyra und Jaris gaben sich auch die Klinke in die Hand, wobei Daphne sie aufforderte ihre Zeit zu genießen. Sie hatten gerade geheiratet, waren vereint und sollten nicht ihre Zeit mit negativen Dingen belasten. Für die Jägerin kam das gar nicht infrage und stand nicht zur Debatte. Wenn sie Hilfe brauchte, sollte sie einfach Bescheid geben, immerhin ging es um einen Freund „den Fettsack“, wie sie ihn trotz seines schlechten Zustandes nannte, damit ihre Freundin lächelte. Aras hielt Abstand, aber legte Daphne allerhand Bücher vor die Tür, so wie sie einst ihm den Tee.
    Alle versuchten zu helfen, sie war tatsächlich nicht allein und sollte die Hilfe auch annehmen. Vorerst konnte sie ohnehin nur abwarten. Ihre Brüder waren schon den ganzen Tag damit beschäftigt, ihr die ganzen Menschen vom Leib zu halten, die wegen eines verstauchten Knöchels Heilung verlangten. Der Preis für die Offenbarung ihrer Kräfte. Daphne wusste nicht, ob es an ihrer Müdigkeit lag, dass sie plötzlich eine Art Euphorie verspürte. Sie nahm einen Keks von einem Teller, den Theical ihr dagelassen hatte und verließ Daryks Zimmer mit einem Buch in der anderen Hand. Dort waren so viele Pflanzen aufgeführt, dass sie für das Heraussuchen Aras fast Danken musste – vielleicht irgendwann einmal. Einige waren schwer zu finden oder zu bekommen, aber ein paar wuchsen in der Gegend, manche waren auch im Sinn und Zweck verfehlt. Wie Knoblauch gegen Vampire, da musste sie die anderen fragen, ob dies geholfen hätte. Draugr oder allerhand zombieartiger Wesen und Untoter, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. So schlecht ging es Daryk immerhin noch nicht. Es entlockte ihr kurz ein Seufzen, bis sie die richtige Seite fand.
    Sie hatte sich entschieden Heilerin zu werden, weil zu helfen ihr im Blut lag und als sie diesen Entschluss gefasst hatte, konnte sie noch nicht magisch heilen. Also warum nun darum ein Drama machen? Sie eilte die Treppen hinunter und umging die Meute, die zu ihr wollte, indem sie in der Burgküche, die am Seitenausgang lag, eine Schürze und ein Kopftuch mitnahm. Dabei fiel ihr auf, dass sie immer noch das rote Kleid trug. Nicht einmal umgezogen hatte sie sich, also wirbelte sie herum und holte dies nach. Sie würde dem Fluch schon zeigen, wer das letzte Wort hatte. Kurz darauf verließ Daphne die Burg und machte sich auf in den Wald. Allmählich fiel das Laub von den Bäumen und verfärbte sich in alle möglichen Farben. Der Spätsommer schien fast beendet. Wieder verging ein Jahr, aber jenes endete anders, als die anderen davor. Sie besaß Freunde, war nicht mehr allein unterwegs und hatte in den vergangen Monaten mehr erlebt, als in all der vorangegangenen Zeit. Sie hatte viel über andere gelernt und auch über sich selbst. Erkannte allmählich, was in ihr vorging, auch wenn sie scheute es in ihren Gedanken laut auszusprechen, als könnte es jemand anderes hören. Sie traute es sich nicht einmal selbst zu verraten, aber dabei musste sie ihr Herz in diesem Moment schon zur Ruhe mahnen. Stirnrunzelnd lief sie weiter, als sie an einem kleinen Fleck mit Kamille niederkniete. Als sie es einsammelte, rutschte der Armreif zu ihrem Handgelenk und gekünstelt begann sie zu jammern. Ihren Kopf lehnten sie dabei an die Rinde eines Baumes und schlug zweimal sacht dagegen.
    „Da hast du dir was eingebrockt“, sprach sie zu sich selbst. „Warum auch einfach, wenn man die Königin der Komplikationen ist!? Das werden wir uns mal dezent aus dem Kopf schlagen.“
    „Er ließ dich auf seinem Schoß sitzen!“, erklang ihre eigene Stimme im Hinterkopf.
    „Ich saß auch bei Thorvid!", antwortete sie dieser laut.
    „Er hat dich merklich an sich rangezogen!"
    „Hochzeiten, Schlachten, die sorgen schon mal für kurzzeitige Sentimentalitäten. Das hat nichts zu bedeuten!“
    „Für uns schon!"
    „Sei endlich still!“
    „Du weißt, dass du mit dir selbst redest?“
    „Ja! Und das alles dürfen wir nie jemanden erzählen. Niemals! Immerhin gab es keinen Kuss! Das ist vielleicht nur eine Phase, weil sich eh jeder auf uns stürzt. Die Witze, die Anspielungen. Das ist verwirrend. Und außerdem … seine Vergangenheit. Es war vielleicht ein Moment der Schwäche, der Blendung falscher Tatsachen oder Erinnerungen. Er war verheiratet und ich ähnle seiner Frau. Vielleicht wollte er kurz ausblenden, dass sie für immer fort ist.“
    Die andere Stimme von ihr schwieg. Ja, das war vermutlich die Erklärung für das am Lagerfeuer. Verrannt in den Leben anderer, wovor sie Rhenus noch gewarnt hatte. Sie musste in der Tat egoistischer werden. So ein Ausrutscher durfte ihr nicht noch einmal passieren, auch wenn es der erste dieser Art war. Vor allem, wenn nicht sie diejenige sein wollte, die den Schaden erlitt.
    „Schluss damit!“, mahnte sie sich deshalb selbst und fuhr über ihr Gesicht. „Fangen wir einfach nochmal von vorne an und diesmal ohne Einflüsse anderer! Es hat ja niemand mitbekommen.“


    Beschlossen war beschlossen und wollte umgesetzt werden. Sie versuchte keinen Gedanken daran zu verschwenden, was hätte passieren können – was hätte sein können, denn es war nicht!
    Sie konzentrierte sich auf die Heilung und Rettung des Hünen, dessen Fieber nicht sinken wollte. Gerne hätte sie sich mit Thyra und den anderen über den Rest der Hochzeit ausgetauscht, mit weglassen einiger Details, die sie selbst betrafen, aber sie wusste ja, dass ihr dies nicht fortlief, auch wenn sie ein schlechtes Gewissen plagte. Sie hatte keinen Schimmer, welche Auswirkungen der Fluch hatte und wie viel sich davon in seinem Zustand widerspiegelten. Es schien eine aneinander gereihte Folge allem zu sein, was es für Daphne unlängst schwerer machte, darauf zu reagieren. Also gab es nur eine Möglichkeit – nicht aufgeben. Die Stunden rasten an ihr vorbei und irgendwann wurde es für sie unmöglich zu sagen, wie viel Zeit vergangen war oder um welche Tageszeit es sich wirklich handelte. Sie verhielt sich schon fast, wie eines der untoten Wesen, von denen sie nebenbei gelesen hatte, wenn es einmal keinen Verband zu wechseln oder kalten Wickel zu erneuern gab. So manches Mal wollte ihr die Augen zufallen, aber sie riss sie unentwegt auf. Tag und Nacht bemerkte sie nur, da Diener vorbei kamen, die den Kamin entfachten oder Kerzen daließen. Irgendwann waren die meisten Bücher über Kräuter gelesen und Daphne nahm andere zur Hand, aus denen sie wahllos begann vorzulesen. Manchmal lustige Geschichten, manchmal traurige Sonetten. Es kam mitunter vor, dass Daryk irgendetwas murmelte, aber egal wie nah sie den kleinen Sessel an das Bett heranschob, sie verstand kaum etwas. Irgendwann, es musste die zweite Nacht zum dritten Tag gewesen sein, stellte sich die erste Besserung ein und Daphne konnte etwas durchatmen. Das Fieber sank und die Salben zeigten Wirkung. Müde zog sie ihre Beine an und las, nur zur Sicherheit, noch ein paar Zeilen in einem Buch, bevor sie sich eigentlich selbst einmal zur Ruhe betten wollte. Aber sie hatte die Rechnung ohne die Erschöpfung gemacht, die dafür sorgte, dass binnen weniger Zeilen, ihre Augen zufielen.

    Daphne schlug auf die Wasseroberfläche auf und in ihrer menschlichen Form fühlte es sich an, als würde sie auf einen gepflasterten Weg prallen. Es presste ihr die Luft aus den Lugen und sie konnte kaum atmen. Nur wimmernd entwich ihr ein leiser Schrei. Trümmer flogen noch immer um sie herum und der seltsame Geist verschwand so schnell wie er gekommen war. Eine seltsame Gestalt und nicht gerade sehr freundschaftlich geprägt, wie sie sah. Feuer prasselte auf sie nieder, was wohl einst Fragmente des Bootes gewesen waren. Ohne Rücksicht auf den Träger des Medaillon, oder Danebenstehende, hatte dieser Kerl alles zerstört. Er hatte zwar auch die Naga getötet, aber etwas mehr aufpassen hätte er können. Sie konnte sich kaum bewegen, weil jeder Zentimeter ihres Körpers schmerzte. Krieg war wirklich scheiße, stellte sie fest. Wenn sie das überleben würde, würde sie sich hüten, so schnell wieder an einem teilzunehmen. Erst langsam kehrte ihr Gehör für die Umgebung zurück und Schreie, wie Plätschern war zu vernehmen. Als sich Daphne umsah, sah sie Aras im Wasser treiben, der seine Hand nach Kuen ausstreckte, um sie sicher am Ufer abzusetzen. Auch ihm schien es nicht gut zu gehen, so sehr, wie er mit Krächzen und Stöhnen beschäftigt war. Er war mindestens genauso hart auf dem Wasser aufgeschlagen und die Heilerin sah nirgends einen Gegner dessen Wasser sie sich bemächtigen konnte. Sie war ausgebrannt, kaum noch etwas von ihrer Magie übrig und so schnell konnte sie sich nicht erholen, um sich und Zacharas zu heilen. Also blieb nur eine Entscheidung. Sie bewegte sich langsam auf Aras zu, glitt mehr durch das Wasser, da schwimmen zu schmerzhaft gewesen wäre.
    „Halt still!“, nuschelte sie vollkommen erschöpft dem Herzog zu.
    „Geht es dir gut?“, fragte Aras gleichauf und die Prinzessin schnaufte nur, verzog dabei mitunter ihr Gesicht,
    „Ging schon mal besser, aber auch schlechter!“, antwortete sie ihm grinsend, ehe sie ihm ihre rechte Hand ins Gesicht hielt. Mit letzter Kraft heilte sie seine Rippenbrüche, Prellungen und den Bruch seines linken Armes. Ein verdutzter Gesichtsausdruck von Aras folgte, als er sich merklich erholte.
    „Womit hab ich denn das verdient?“, forderte er lächelnd zu wissen und Daphne sah zum Ufer.
    „Gewöhn dich nicht dran“, stotterte sie. „Ich bin nach der Heirat etwas sentimental, glaub ich.“
    „Ich bin dir nun noch mehr schuldig. Ich weiß gar nicht, wie ich all dies begleichen soll!“
    Wieder versuchte Daphne ein Lachen auszustoßen, aber wurde von der mangelnden Fähigkeiten einzuatmen, unterbrochen.
    „Wenn ich mal ein Arsch bin“, fuhr sie angestrengt fort. „Dann sei einfach auch nicht nachtragend.“
    Ein Nicken des Herzogs erfolgte und er gab sich einverstanden, aber bevor sie es wiederum ebenfalls mit einem Nicken absegnen konnte, fing ihr Unterleib zu brennen und als sie ins Wasser schaute, stecke ein Stück Holz in ihrem linken Unterbauch. Blut vermischte sich mit dem Wasser des Sees.
    „Du brauchst einen Arzt!“, stieß Aras aus.
    „Welch Ironie“, presste Daphne zwischen ihren Lippen empor und hielt ihren Atem an. „Ständig versucht mich irgendetwas zu durchlöchern. Und noch schlimmer; die Heilerin braucht einen Arzt.“
    Sie versuchte ihre Tränen zu unterdrücken, aber nicht wegen des Trümmerteils, welches in ihrem Körper steckte, sondern, weil für den Krieg nicht geschaffen schien. Nicht gegen so viele, nicht so unerfahren wie sie war. Von einer Schurkin zur Kriegerin zu werden, war wohl in ein paar Tagen etwas viel verlangt.
    „Kuen?“, schrie Zacharas seiner vermeintlichen Geliebten entgegen. Daphne war nicht dumm, sie hatte den vertrauten Umgang der beiden schon längst bemerkt. „Hol ein Boot hierher, schnell!“
    Kaum hatte Aras die Bitte ausgesprochen, setzte sich die Soldatin bereits in Bewegung.
    „Ist es schlimm?“, fragte der Herzog weiter und Daphne schüttelte den Kopf.
    Sterben werde ich daran vermutlich nicht, dazu fühlt es sich nicht tief genug an, aber wehtun könnte es trotzdem weniger.“
    „Beeil dich!“, ermahnte Aras ein weiteres Mal die Soldatin. Aber bevor es die blonde Frau auf ein Boot schaffte, wirbelte sich Wasser hinter Daphne auf und eine ihr bekannte Stimme erklang.
    „Vielen Dank Herzog, aber ab hier übernehme ich das“, wandte sich die Person an Aras und Daphne bemerkte nur zwei Arme, die sie aus dem Wasser hoben und wieder zu Wirbeln wurden. Gefangen in einem wilden Strudel, spürte sie, wie sie sich fortbewegten, konnte aber zu keiner Seite etwas erkennen. Es dauerte nur ein paar Sekunden, welche ihr unter den Schmerzen wie Stunden vorkamen, aber irgendwann löste sich der Strudel auf und sie befand sich wieder auf der Mauer. Eben jene, die sie zuvor noch mit ihren Freunden verteidigt hatte und lehnte an einer Wand, die mal ein Turm gewesen war. Es war dort plötzlich deutlich ruhiger. Anscheinend hatte es der Rest geschafft, sich dort ein wenig Luft zu verschaffen und den Gegner zurückzudrängen.
    „Hör mir zu“, sprach die Stimme plötzlich weiter und eine Hand wandte Daphnes Gesicht herum. Sie erkannte einen Mann in ihrem Alter mit langen, schwarzen Haaren und einem Gesicht wie aus Porzellan gefertigt. Die eisblauen Augen starrten sie eindringlich an und wirkten auf sie unheimlich vertraut. Doch ehe sie sich darauf konzentrieren konnte, spürte sie einen Ruck und der Fremde zog ihr das Holz aus dem Unterleib.
    „Ich kann nicht zulassen, dass du hier stirbst, verstehst du das?! Dazu war dein Leben zu teuer“, sprach er zusammenhangslos daher und presste seine Hände auf die Wunde.
    „Teuer?“, japste Daphne und bemerkte, wie ihr das Atmen leichter fiel. Ihre Wunde schloss sich und all ihre Gebrechen verschwanden schlagartig.
    „Du bist wie ich“, fuhr der Mann fort. „Wir sind ein Blut, auch wenn du mehr meiner Geliebten Marene gleichst als mir. Immer nur auf andere bedacht und nie auf sich selbst. Auch als meine Urenkelin, musst du damit aufhören. Es ist wichtig, dass du egoistischer wirst. Denn ohne Blick auf dich selbst, verlierst du dich in anderen und das ist gefährlich.“
    Daphne konnte ihre fragende Miene nicht verstecken. Wer war Marene und wer war der Mann vor ihr und was redete er denn da?
    „Wer bist du?“, fragte Daphne deshalb und der Fremde stieß ein Lachen aus.
    „Ich bin Rhenus. Wer sonst?“
    Die Heilerin riss ihre Augen auf. Der Gott des Wassers saß vor ihr und hatte sie gerettet? Sie blickte in das Antlitz der Gottheit, die in ihrem Land mehr als verehrt wurde und sollte von seinem Blut sein? Dann hatte Jaris mit seiner Vermutung also Recht behalten, dass eine Verbindung zischen ihnen bestand?
    „Ich habe dich von meinem Bruder nicht zurückbringen lassen, dass du dich wenige Tage später wieder töten lässt. Dein Leben wird nicht kampflos sein, aber dazu ist es zu früh.“
    „Ich verstehe nicht ganz ...“, stammelte Daphne verwirrt.
    „Du musst lernen, deinen Charakter festigen und darfst dich niemals von anderen lenken lassen. Mache aus deinem Leben, was du willst. Xhar gibt nur ungern Seelen her und ein drittes Mal wird er das nicht machen. Ich habe ihm ja auch nichts mehr zum Tausch anzubieten.“
    „Tausch?“, wimmerte die junge Frau und verstand nur Hafenmöwe.
    „Das erkläre ich ein andermal, hier ist nicht die richtige Zeit dafür, aber sei gewiss, dass du nicht alleine bist. Es gibt so … viele, die ein wachendes Auge auf dich haben.“
    „Deine Augen“, fiel es Daphne auf. „Die sind wie die von ...“
    „Keine Sorge, der ist nicht von unserem Blut, dann wäre er gesprächiger. Das ist mehr eine Laune der … Natur.“
    Ein Zwinkern folgte vom Gott und er bedachte sie mit einem Kuss auf die Stirn, während an einer Biegung Jaris, Daryk und Thyra auftauchten. Danach erhob sich der Mann, der sich ihr Vorfahr nannte und drehte sich zu den drei anderen herum.
    „Daphne?“, erklang die besorgte Stimme ihrer Freundin, die sich umgehend auf sie zubewegte, während sie dem Mann in der dunkelblauen Rüstung nur wenig Aufmerksamkeit schenkte.
    „Mir geht es gut, mir geht es gut!“, beruhigte die Heilerin die Jägerin eilig und ließ sich von ihr aufhelfen. Daphne sah wie Rhenus neben Jaris stehenblieb und seinen Blick seitlich zu ihm wandte.
    „Glückwunsch, Neffe“, glaubte die Prinzessin zu hören. „Eine bessere Wahl hättest du nicht treffen können.“
    Jaris stand ebenso verwirrt da und starrte den Mann an.
    „Was bei allen ...“, nuschelte der Söldner und sah Rhenus nach, der geradewegs auf die Mauer zulief. An Daryks Seite senkte Rhenus seinen Blick und sah ihn nicht direkt an, nuschelte aber etwas, das konnte Daphne an den Bewegungen seiner Lippen ausmachen.
    Ein Soldat, der an einer Leiter die Mauer erklomm, fasste Rhenus ins Gesicht und stieß ihn mit Leichtigkeit wieder hinunter, sodass dieser noch ein paar feindliche Männer mit sich riss. „Sag meinem Bruder einen schönen Gruß oder vielleicht doch lieber nicht, dann glaubt er noch, ich mag ihn.“
    Der Kampf war also noch nicht vorbei. Immer mehr strömten wieder an den steinernen Abhängen empor und der Hüne nahm zuerst den Kampf wieder auf.
    Noch einmal drehte sich Rhenus indessen um und lächelte.
    „ Hochzeiten sind mir immer willkommen, denn wo zwei Leben sich finden, entsteht über kurz oder lang ein Neues“, verlautete er. „Versucht nur zu überleben! Hilfe naht!“
    Danach löste er sich in einem Wasserwirbel auf und verschwand.
    „Was war das denn für ein Kauz?“, murmelte Thyra leise.
    „Ich glaube, mein Opa!“, nuschelte Daphne verwirrt, weshalb Thyra sie ungläubig anstarrte. Die Heilerin blinzelte einmal abwesend und wandte sich ihrer Freundin zu. „Also nicht direkt. Wenn das stimmt, was Jaris erzählte, dann mein Urgroßvater mit mehr „Urs“, als ich jetzt aufzählen möchte.“
    „Er sagte, dass Hilfe nahen würde“, wiederholte Jaris und kaum hatte er seinen Satz beendet, ertönten Hörner in weiter Entfernung. Es war Zeit weiterzukämpfen.

    Daphne bekam ihr Zeichen dadurch, dass die Kämpfe in den Straßen begannen und die ersten Gegner den Wall aus Soldaten durchbrachen. Thyra machte sich auf den Weg zu ihrer nächsten Station, Daphne musste hingegen zum Fluss. Sie sollte ihn mit ihrem Volk halten, bis sich zur Not alle anderen in die Burg zurückgezogen hatten und genau das hatte sie vor. Aras verteidigte seinen Weg mit seiner Magie, was die Heilerin wunderte, woher er diese bezog. All die Wochen hatte sie damit verbracht, ihm damit zu helfen, aber die wahre Hilfe schien eine andere geliefert zu haben. Kuen, die sich tapfer mit den anderen auf der Mauer schlug, ehe sie aufgegeben wurde. Das verdiente ihren Respekt, auch wenn das die Heilerin nicht gern zugab. Jaris schrie immer noch Befehle, während sie ihrem augenscheinlichen Vetter, durch ein Nicken, zu verstehen gab, dass sie loszog. Daryk machte sich mit der Speerphalanx bereit und nahm Haltung an.
    Verspürte sie Angst? Ja! Schon einmal war sie gestorben und die Hoffnung, ein drittes Mal leben aufzuerstehen, hatte sie nicht. Ebenso wie sie um die Leben ihrer Freunde und Brüder fürchtete. Soweit es ihr in der Macht stand, würde sie den Tod jedes einzelnen verhindern und sollte die ganze Welt erfahren, was sie im Stande war zu leisten. Der einzige tröstende Gedanke war, dass Theical etwas weiter abseits die Straßen und Hinterhalte kontrollierte. Er war unlängst nicht in Sicherheit, aber auch nicht an der Front, wie manch andere, um deren Gesundheit sie sich mehr als Gedanken machte. Ausblenden musste sie es, aber konnte es nicht. Dies war die erste wirkliche Schlacht für sie. Die Rückeroberung der Burg demnach fast lachhaft in ihrer Erinnerung.
    Vom noch stehenden Teil der Mauer eröffnete sich ihr ein Blick über die Stadt, mit Sicht zum Fluss, wo der andere Rest der Nordmänner wartete. Ihr Ziel. Ohne wirklich nachzudenken, setzten sich ihre Beine in Bewegung. Mit gewohnter Eleganz bewegte sie sich fort, sprang über Vorsprünge, rollte sich auf steinerne Untergründe ab, im Wissen, dass jede Blessur verheilen würde. Aber das ging der Prinzessin nicht schnell genug. Sie war zu weltlich, zu langsam, dafür, dass sie mit Kräften des Wassers gesegnet worden war. Sie ließ ihre Gedanken freie Bahn und schon kam das Wasser an ihren Armen zum Vorschein, die das Dach eines Hauses ergriffen und sie nach vorne schleuderten. Ihre Beine taumelten hoch über den Köpfen der Männer, die ihre Stellung hielten, tapfer und unnachgiebig. Weiter fassten ihre Wasserarme nach einer Zinne einer Mauer und brachten sie auch so ein Stück weiter voran.
    Irgendwann gab es keinen Widerstand mehr, an dem sie sich zum Fluss hin hätte festhalten können, also rief sie nach Arthur, der in der Nachhut stand und auf Befehle oder Informationen wartete. Wenn es eines gab, was zwischen ihr und ihren Brüdern stimmte, dann war es die geradezu wortlose Verständigung. Sie rief nur seinen Namen und umgehend erfasste Arthur die Wasserstränge und schleuderte seine Halbschwester, im Halbkreis, einige Meter weiter. Was für den Mann mit einem immensen Kraftaufwand verbunden war. Aber so wie er, taten es ihm die Krieger nach ihm gleich. So lange, bis sie Thorvid auffing und auf den Boden der Tatsachen niederließ. Ein letzter Widerstand, ehe sie die Burg erreichten.
    Ihre Brüder, darunter auch ihr Volk geltend, kämpfte weiterhin in einer Art Formation. Immer wieder erhoben sie ihre Schilde, stachen mit Schwert und Speer auf Feinde ein. Kaum erlangten diese fremden Männer den Fluss, begann ein Wettlauf um die Zeit. Daphne bewies sich mit ihrer neu erlernten Magie. Sie schleuderte Gegner zurück, hielt sie auf Abstand, aber gegen den drohenden Widerstand war selbst sie machtlos. Immer mehr Soldaten drangen durch den Riss in der Mauer und ihre Freunde konnten kaum noch etwas dagegen ausrichten. Vereinzelt ergriff sie jemanden und warf diesen in die Reihen der eigenen Männer, aber wirklich effektiv war das nicht, so lange sie wieder aufstanden.


    Im Augenwinkel sah sie, wie die Mauer aufgegeben wurde, wie Theical die Fallen losbrechen ließ, aber das konnte sie vor einer Konfrontation nicht schützen. Viel mehr versuchte sie ihresgleichen zu beschützen. Ihre verlängerten Arme wurden zu Waffen und heilen lag ihr in diesem Moment fern. Kein Krieger hielt sich an die Gesetze ihres Landes, worüber sie froh war. Sie sahen sie nicht als Tochter eines Herzogs, sondern standen mit ihr Seite an Seite einem mächtigen Gegner gegenüber. Wiederholt stemmten sich Soldaten gegen den Schildwall und Metall schlug auf Metall. Wenn irgendwo ein Mann nachgab, rückte der nächste vor. Plötzlich entdeckte sie ein Ungetüm in den Massen. So etwas hatte sie noch nie gesehen, bekam aber ein Namen durch den Schrei eines Bauern.
    „Oger!“, schrie er und erst da erkannte sie die Art des Ungetüms. Eine Kreatur, die kaum ein Kräftemessen zuließ. Doch kaum hatte sie dieses Wesen, auf der anderen Seiten des Flusses, ins Auge gefasst, sah sie ebenso Daryk, der sich einen unausgeglichenen Kampf mit diesem lieferte.
    „Daryk“, schrie Daphne, als sie ihn von dem Monster in ein Haus werfen sah. Doch kaum den Name ausgesprochen, für eine Sekunde der Ablenkung, verspürte sie einen Widerstand an ihrem Körper. Kaum wandte sie sich dem Ursprung zu, starrten sie zwei starre, rehbraune Augen an. Die eines feindlichen Soldaten. Ein Ruck ereilte sie und erst jetzt verstand Daphne, dass der Soldat seinen Speer in ihrem Unterleib versenkt hatte. Dieser verschwendete aber keine Zeit mit der Frau und wandte sich anderen Gegnern zu. Auch der Widerstand der Nordmänner schien zu schwinden. Ungläubig blickte die Heilerin zur Wunde, aus der ungehalten Blut sickerte und noch ehe sie zurücktaumeln konnte, wurde sie aufgefangen.
    „Ich hole Hilfe!“, erklärte die Person hinter ihr und rief umgehend nach ihrem Bruder Yorick.
    „Thorvid?“, erkannte Daphne ihre Bruder augenblicklich an der Kapuze und konnte fast nicht glauben, seine Stimme zu vernehmen. Tief und ruhig. Als wollte er sie nicht beunruhigen.
    „Wir sagten Euch, dass sei kein Ort für eine Frau!“, ermahnte er sie und rief wiederholt nach dem legitimen Verwandten.
    „Hilf mir auf!“, entgegnete hingegen Daphne.
    „Ihr braucht einen Arzt!“
    Ich bin mein eigener Arzt!“, fauchte die Prinzessin nun, die ihren Peiniger fest im Blick hatte und wie er von anderen Nordmännern bedrängt wurde.
    „Hilf mir auf!“, wiederholte sie fluchend und versuchte sich derweil selbst aufzurappeln. „Noch einmal sterbe ich nicht. Zumindest nicht hier!“
    „Ihr könnt nicht ...“, setzte Thorvid an, aber ehe er den Satz beenden konnte, stand seine Schwester schon blutend auf ihren Beinen.
    „Jetzt reicht es!“, nuschelte Daphne unter starken Schmerzen, die ihr fast die Sicht nahmen. „Ich lasse mich nicht noch einmal ins Totenreich schicken, nicht in meinem Alter.“
    Blitzschnell schossen die Wasserstränge nach vorne und umwickelten den Hals des Mann in Rüstung, der sie verletzt hatte. Ohne, dass dieser eine Chance hatte, zerrte Daphne diesen zu sich heran und ergriff ihn mit ihrer rechten Hand am Helm, den sie ihm entriss.
    „Lass uns tauschen!“, knurrte sie enttäuscht darüber, dass es im Krieg tatsächlich nur zwei Möglichkeiten zu geben schien und packte dem Soldaten ins Gesicht. Augenblicklich begann sie, durch sein Wasser, ihre Wunden zu schließen. So lange, bis von dem jungen Mann nur noch ein brauner Haufen hautüberzogene Knochen übrigblieben. Ausgemergelt und ausgetrocknet, ließ sie ihn zur Seite umfallen und atmete tief durch. Es fühlte sich an, als hatte sie stunden geruht, was wohl bedeutete, dass sie die Energie einer Person nicht nur weitergeben, sondern auch behalten konnte. Als sie sich zu Thorvid herumdrehte, starrte dieser sie nur überrascht an.
    „Ich erkläre dir das alles, wenn wir das überlebt haben“, versicherte sie ihm und er nickte bloß.
    „Wenn ...“, wiederholte Daphne in ihren Gedanken und wandte sich wieder dem Schlachtgeschehen zu, wo sie ebenso von Arthur und Yorick kurz, aus der Ferne, angesehen wurde, als hatten sie bei der ganzen Schlacht noch keinen Magier gesehen. Doch ihnen blieb nicht Zeit lange ihren Gedanken nachzuhängen. Bogenschützen positionierten sich auf den eroberten Häusern und auf den Schutthaufen dessen, was von den Gebäuden übrig war. Pfeile prasselten auf sie nieder und auch, wenn immer wieder Gegenfeuer kam, fielen einige Nordmänner dem hölzernen Regen zum Opfer. Ihre Brüder kamen nicht voran, musste sie doch den Fluss halten, also rannte Daphne los. Sie ließ ihre Leute zirka hundert Schritte hinter sich, bevor sie wieder die wässernen Tentakel bildete, die nun mehr zu Speere oder Harpunen verkamen. Über einen Brunnen, beförderte sie sich selbst in die Höhe und spießte die erst besten Soldaten umgehend auf. Sie versuchte nicht daran zu denken, dass diese Männer, wie Kuen zuvor, bloß einem Befehl folgten, sondern versuchte sie als Monster zu sehen, die ihr gegenüber ebenso wenig Erbarmen zeigten. Ein Dritter fiel und wurde durch einen Helm hindurch aufgespießt. Als seien sie so leicht wie Federn, schmiss Daphne die Soldaten durch die Gegend und nach dem dritten folgte auf dem Nachbardach ein vierter. Diesen umwickelte sie und warf ihn hoch in die Luft, so dass seine Knochen auf der Straße unter ihm zerschellten. Ihre Magie war nicht so effektiv gegen Feinde wie Jaris´ Blitze oder wie Aras´ Feuer. Sie musste sich andere Dinge einfallen lassen, um schnell zu töten. Sie handhabte es wie als Schurkin. Dem Feind ausweichen, schneller sein als er, aber ausgestattet mit ihrer Magie, konnte sie selbst einige zu Fall bringen. Einige vor ihr gefroren zu Statuen, sie sie mit einem Hieb der Stränge zerschlug. Thyra verlor sie nicht mal in diesem Getümmel gänzlich aus den Augen. Feuer loderte in den Straßen, Fallen schnappten zu, Fallgruben stürzten ein. All dies konnte Daphne aus ihrem Augenwinkel sehen, aber sich nicht darauf konzentrieren. In unmittelbarer Nähe eines Schutthaufens, der wohl mal ein Hause gewesen war, blieb sie stehen und schlug mit ihrem Wasser rundum. Blutüberströmt stand sie da, aber nicht mehr nur mit ihrem eigenen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich mit ihrer Anspannung und ebenso erneuten Erschöpfung. Viel zu schnell verließ sie wieder ihre Kraft, kaum dass sie welche gewonnen hatte. Aber ehe sie sich darüber Gedanken machen konnte, erhoben sich hinter ihr die zerfallenen Gesteinsbrocken und ein ohrenbetäubendes Brüllen durchbrach die metallischen Klänge. Mit großen Augen starrte Daphne dem riesigen Oger direkt ins Angesicht und dieses Ding sah nicht nur übel aus, es stank auch noch. Sofort schnappte sich der Oger Daphne und brachte sie auf Augenhöhe. Die Hände dieses Wesens ergriffen sie wie eine Puppe und drohten ihr ebenso einfach das Genick zu brechen. Daphne konnte erst einmal nur den Griff mit Hilfe der Wasserarme lockern und sie so vor dem Ersticken bewahren, aber dieses Untier besaß selbst eine übermenschliche Kraft, die mit der der Heilerin fast übereinstimmte. Erbittert biss Daphne sich auf die Zähne und wehrte sich gegen den Oger, bevor ihr Blick neben den Fuß dessen fiel. Dort lag die Axt von Daryk, der diesem Vieh zuletzt gegenübergestanden hatte. Nur wo war der Hüne? Erst jetzt erinnerte sie sich an das Gebäude und wie der Ritter durch die Mauern geworfen wurde.
    „Was hast du mit ihm gemacht?“, krächzte die Heilerin mit dem wenigen Atem, der ihr blieb. Mit aller Kraft versuchte sie ihre Magie zu erweitern, damit die Wasserarme wuchsen und weiter reichten, als ihren Körper vor dem Zerquetschen zu bewahren, aber dies war in ihrem Zustand leichter gesagt als getan.
    Dem Oger schien nicht einmal die klaffende Wunde etwas auszumachen, welche an seiner Schulter prangte. Panik ergriff sie. Diese Kreatur war für sie kaum zu schlagen, wenn es nicht einmal Daryk … Die Heilerin wollte nicht zu ende denken. Am liebsten hätte sie laut losgebrüllt, aber ihr wurde unaufhörlich die Luft aus ihrem Körper gepresst. Vier Rippen brachen ihr, das konnte sie deutlich spüren, aber abgesehen von einem schmerzerfüllten Rauen, konnte sie keinen Laut von sich geben. Kraftlos war sie dem Weinen näher, als dem wütenden Toben, aber durfte ihre Körperspannung nicht verlieren, ansonsten hätten sie die Hände zermalmt. Denn er ließ es sich nicht nehmen, sie eilig mit beiden Pranken zu packen, als er merkte, dass eine allein nicht ausreichte.
    Doch plötzlich regte sich etwas hinter dem Oger. Steine rieselten einem Haufen hinunter, der zu einem Berg aus schwarzem Metall heranwuchs. Daphne hätte gerne erleichtert durchgeatmet, aber das war ihr nicht möglich. Mit finsterer Miene stierte sie dem Oger bloß ins Gesicht, um seine Aufmerksamkeit weiterhin zu behalten. Er durfte sich nicht umdrehen! Daryk schwankte ein paar Schritte nach vorn und zog sich dann den Helm vom Kopf, da dieser den Zusammensturz nur mäßig überstanden hatte. Verbeult und zerkratzt, schien der Ritter nichts mehr durch das Visier zu erkennen. Fest umklammerte er einen Dolch, während ihm Blut die Stirn hinunter rannte. Kaum schien Daryk den Oger ins Auge gefasst zu haben, verlor er keine Zeit und rannte lautstark auf sie und das Monster zu. Daryk rammte dem Oger mit all seiner Kraft und versenkte tief den Dolch in dessen Rücken. Überrumpelt von diesem plötzlichen Angriff, stolperte der Riese nach vorn und ließ Daphne endlich los, welche auf den harten Boden unter sich viel. Hustend und nach Luft ringend, hielt sie sich ihren schmerzlich ihren Oberkörper. Endlich durfte sie ihre Schmerzen beklagen, die fast den Speerhieb überboten. Zuletzt schien der Oger nicht eine Rippe ganz gelassen zu haben, weshalb sich die Heilerin umsah, um eine erneute Quelle der Jugend auszumachen. Dabei entging ihr nicht, dass der Oger sich wieder Daryk zuwandte und dieser sich unter einem Schlag des Riesen hinweg ducken musste. Noch während er sich in der Hocke befand, nahm er die am Boden liegende Axt zur Hand und verpasste dem Ungetüm einen tiefen Schlag in sein rechten Bein, weshalb der Oger vor Daryk auf die Knie ging. Keine Sekunde ließ der Hüne nun mehr verstreichen, um sich links neben dem Monster zu platzieren und nach einer schwungvollen Handhabe, dem Oger die Waffe im Nacken zu versenken. Für wenige Sekunden starrte Daphne die Kreatur an, ehe sie leblos nach vorne fiel. Kaum hatte er den Oger erledigt, näherte sich Daryk der Heilerin.
    „Das wurde aber auch Zeit“, jammerte Daphne, die dies versuchte heiter klingen zu lassen, wobei sie Todesängste ausgestanden hatte.
    „Geht´s dir gut?“, kam Daryk umgehend zum Punkt und schaute auf sie hinunter. Daphne nickte knapp.
    „Ich fühle mich etwas zerknautscht, aber es geht. Und dir?“
    Doch bevor der Hüne ihr eine Antwort geben konnte, kämpfte sich Yorick, mit einigen Männern, durch die versprengten Soldaten und kam unweit der beiden zum Stehen.
    „Das Liebesgeflüster muss warten“, rief er seiner Schwester zu. „Der Fluss wird aufgegeben, wir ziehen uns in die Burg zurück!“
    Daphne atmete tief durch, was kaum möglich war und rappelte sich mit Daryks helfender Hand wieder auf. Jede Bewegung tat ihr weh, aber so ging es sicherlich jedem. Sich gerade aufrichten war Schwerstarbeit. Daryk war von einem Haus begraben worden und zeigte nicht einmal annähernd ihre Erschöpfung. Allein deshalb schon, riss sich die Heilerin am Riemen. Hörner erklangen in der Ferne, die Yoricks Aussage bestätigten. Und als sie ein paar Schritte mühselig vor die nächsten gesetzt hatte, hielt Thorvid auf sie zu, im Schlepptau einer der feindlichen Bogenschützen.
    „Hier!“, kommentierte der Namenlose und warf seiner Halbschwester den Feind vor die Füße. „Nimm sein Leben für Eures!“
    Ungläubig starrte die Prinzessin ihren Bruder an, dessen Gesichtsausdruck keine Widerrede zuließ. Kurz schaute die junge Frau dann auf den Gefangenen nieder, der ihren Blick finster erwiderte. Wie viele ihrer Leute hatte dieser wohl auf den Gewissen? Sicherlich genug, um später davon erzählen zu können. Kurz wollten Daphne Zweifel ereilen, aber es half alles nichts. Ihre Rippen waren gebrochen und mit ein wenig Pech, könnten diese noch ihre Lungen durchbohren, also tat sie, was unvermeidlich war. Sie packte dem Mann ins Gesicht und sorgte dafür, dass sie überlebte. Noch einmal erklangen die Hörner und Daryk, Daphne und die Nordmänner begaben sich zum Fluss, wo ab dem dritten Ertönen des Signals, das Öl entzündet wurde, damit die Flucht weitestgehend, gesichert war. Auf dem Weg,fiel Daphne der Wasserfall in der Ferne auf. Jener, der unterhalb von Aras´ Turm war.
    „Lauft schon einmal vor, ich komme nach!“, wandte sich die Heilerin an die Männer und schlug eine andere Richtung ein – flussaufwärts.
    „Was hast du vor?“, rief ihr Yorick hinterher.
    „Feuer löscht man doch bekanntlich am besten mit Wasser“, antwortete sie, aber gab natürlich den Kern ihrer Idee nicht preis. Wäre auch ungünstig im Angesicht ihrer Feinde gewesen. Aber Daphne hatte eine Idee. Solange die Feuerwand tobte, würden sich am Fluss die Angreifer sammeln, um die Burg einnehmen zu können. Wenn sie es schaffte, genug Wasser zu sammeln und zu bündeln, um es dann in einer riesigen Welle auf die Feinde niedergehen zu lassen, dann hätten sie ein wenig an Zeit gewonnen.

    Verdutzt schaute Daphne Jaris an.
    „Ja ...“, antwortete sie. „Sie ist so etwas wie eine Schutzheilige der Seefahrer. Mutter des Meeres. Königin der Flüsse.“
    „Also ist sie gut?“, hakte der Söldner nach, womit er anscheinend ihre Gesinnung meinte.
    „Eher wechselhaft, wie die See“, murmelte Daphne und wusste nicht, worauf ihr Freund hinaus wollte. Jaris wiederholte noch einmal, dass er schrecklich viele Leben in seinem Kopf vereinte, mehr als betrachte er ein Buch mit vielen Bildern, von oben herab, aber ein paar Sachen schienen ihm aufgefallen zu sein. Zumindest merkte Daphne dies an seiner Stimme. Er wollte sie nicht über ihre Kultur ausfragen, er wusste etwas.
    „Glaubst du an sie?“, fragte der Halbelf weiter. Daphne musste kurz überlegen. Vor ein paar Wochen noch, hätte sie mit einem klaren „Nein“ geantwortet, aber nach allem, was geschehen war, den Träumen, der Stimme in ihrem Kopf, der Wiedergeburt – wer wusste da schon, ob es Calypso nicht auch gab.
    „I-Ich weiß es nicht“, gab Daphne zögerlich zu. „Es gibt so viele Legenden in meinem Land. Bruchstücke, die nicht zusammenpassen. Angeblich kamen wir über das Meer hierher, aber wo waren wir dann zuvor? Calypsos Legende ist eine der Neueren. Sie entstand in Delyveih selbst, nicht zu Rhenus´ Zeiten.“
    „Den Gott, den ihr anbetet?“, fuhr Jaris fort und die Heilerin schüttelte ihren Kopf.
    „Anbeten ist das falsche Wort. Wir verehren ihn einfach, wir unterwerfen uns ihm nicht. Die Krieger, die fallen, übergeben wir ihm, dem Meer, aber die Kinder, die zum Beispiel vor ihrer Zeit sterben, übergeben wir der Mutter – eben Calypso.“
    Nachdenklich nickte der Söldner und atmete einmal tief durch.
    „Sagt dir auch der Name Franziska etwas?“
    Daphne musste lachen und verwies auf ihren vollständigen Namen. Aber natürlich hatte Jaris Recht. Es war etwas anderes einfach einen Namen zu tragen, als auch seine Herkunft zu kennen.
    „Sie war eine Prinzessin aus einer anderen Siedlung der Nordmänner. Einer Insel vor unserem Festland, welche sich selbst vertrat und nicht dem damaligen Herzog angehörte. Um diesen Umstand zu ändern, nahm er Franziska zur Frau und holte sie zu sich. Sie verehrte das Meer und alles, was damit zu tun hatte. Legenden behaupten, dass ihre Blutlinie selbst von Rhenus abstammte, was sie wohl erfanden, damit sie noch erhabener wirkten, dem Festland überlegen. Ihre jüngere Schwester, Isidora, begleitete sie, als Zofe. Franziska galt als eitel, teils arrogant, aber gut. Eine Frau, die wusste, was sie wollte und was nicht. Aber alles kann gebrochen werden, selbst der stärkste Wille. Jahrelang waren der Herzog und sie verheiratet, aber keine Nachkommen entstanden aus der Verbindung, die rein politisch war.“ Die Heilerin pausierte kurz. „Isidora stand zwischen den Stühlen. Einerseits wollte sie den Kummer ihrer Schwester auffangen, andererseits machte der Herzog keinen Hehl daraus, dass sein Interesse an Franziska zu schwinden begann. Am Ende stand eine Annullierung der Ehe an, welche er bei Franziskas Vater beantragte, um die jüngere Schwester heiraten zu können. Somit hielt er auch das Bündnis aufrecht. Für den Herzog machte das keinen Unterschied, da sich beide Frauen stark ähnelten. Getroffen davon, so leicht ersetzt zu werden, versuchte Franziska mit allen Mitteln schwanger zu werden, es musste ja nicht zwangsläufig nur an ihr liegen. Etliche Affären folgten, die sie nicht alle geheimhalten konnte. An dem Tag, als die Ehe aufgelöst w, warf sie sich vom Balkon unseres Schlosses ins Meer. Die Geburtsstunde unserer strengen Bräuche, was Prinzessinnen anging. Denn als Isidora die ersten Kinder gebar, waren dies alles schwarzhaarige Töchter, als wollte Franziska aus dem Totenreich ein Zeichen setzen.“
    „Entstand die Sage der Calypso zufällig im gleichen Zeitraum als sich Franziska ins Meer warf?“, verlangte Jaris zu wissen und tatsächlich … Daphne musste zugeben, dass es sich in diesem Zeitraum abspielte. Ungefähr fünfhundert Jahre vor ihrer Geburt. Die Nordmänner hatten zirka hundert Jahre, vor dieser Tragödie, den Bereich des Kontinents besiedelt. Weshalb der Glaube an Rhenus und Ähnlichem damals noch stärker war, als zu diesem Zeitpunkt.
    „Isidora ist meine Vorfahrin“, fügte Daphne hinzu. „Aber damit auch Franziska. Wenn Calypso durch den Sturz ins Meer geboren wurde – die Mutter, die keine war, dann ...“
    Immer noch stellte sie sich die Frage, ob Jaris mehr wusste als sie oder nur gute Fragen stellte. Schemenhaft erklommen Erinnerungen an das Totenreich ihre Gedanken. Darüber, dass sie auf etwas vorbereitet wurde. Dass sie etwas … aufhalten müsse. Einen Zerfall, ein Vorgehen, aber kaum hatte sie diese Erinnerung gefasst, entfernte sich das Wissen darüber wieder.
    Ich fand die Sage über Calypso schon immer unheimlich“, fuhr Daphne fort. „Ich sehe nicht ein, warum ich ihr meine Kinder übergeben sollte. Rhenus, das wäre was anderes, aber ich hab seit ich klein war kein gutes Gefühl dabei. Seitdem ich das erste Mal bei einer `Übergabe` zuschauen musste. Es fühlte sich falsch an, den toten Körper des Kindes nicht zu verbrennen, wie man es bei den Erwachsenen macht, sondern auf einem Boot auf das Meer hinauszuschicken.“
    Nachdenklich betrachtete der Söldner die Heilerin und schien mit irgendwas zu hadern.
    „Hat dir dein … Vater irgendetwas gesagt?“, wollte Daphne nun von Jaris wissen.
    Ich glaube, ich habe Franziska in einen meiner Leben gesehen“, meinte der Söldner, weshalb Daphne ihn überrascht ansah. „Aber ich hab noch nicht alle Erinnerungen sortiert.“
    „Naja, wenn dir etwas einfällt, kannst du mir es ja sagen“, antwortete sie mit einem zaghaften Lächeln, welches Jaris erwiderte. Gerade, als sie sich umdrehen wollte, setzte der Söldner aber noch einmal kurz nach.
    „Wenn mein Vater recht hat, er Brüder und Schwestern besitzt, dann ist vielleicht Rhenus einer davon“, sprach Jaris mit einem Grinsen im Gesicht.
    „Und weiter?“, fragte Daphne verwirrt.
    „Tja, wenn Rhenus ein Bruder meines Vaters ist, Franziska und Isidora von ihm abstammten, dann sind wir beide verwandt. Weit entfernt zwar, aber ich wäre sowas wie dein … Vetter?!“
    Daphne begann lauthals zu lachen.
    „Das ist wahr“, frotzelte sie. „Noch ein männlicher Verwandter, genau das, was ich brauche. Aber dann wird ja gar nichts aus unserer heimlichen Affäre, so als Cousin dreihundertsten Grades.“
    „Nein, wird es wohl nicht! Nicht, dass ich dafür überhaupt infrage käme, richtig?!“, stimmte Jaris lachend mit ein. „Aber ich hätte zumindest wieder etwas Verwandtschaft.“
    Daphnes lachen verstummte abrupt. Das hatte sie ganz vergessen. Abgesehen von ihnen, und vor allem Thyra, hatte Jaris aktuell niemanden und sie beschwerte sich über einen Mann mehr – wenn auch nur scherzhaft. Außerdem versuchte sie seine Anspielung zu ignorieren, was ihr nur mäßig gelang.
    „Blut ist dicker als Wasser!“, wiederholte sie die Worte, die sie schon zu Arthur gesagt hatte. „Wenn es so ist, Jaris; willkommen in der Familie. Mal schauen wie lange du brauchst, um vor ihr die Flucht zu ergreifen. Ich zumindest, werde nun ein paar Sachen holen und dann zu euch zurückkehren. Dort finde ich ja doch keine Ruhe.“


    So kehrte sie am späten Nachmittag zurück ins Lager, nur, um ihre Tasche zu holen und dann Habgers Einladung nachzukommen. Es war ohnehin klüger, die letzte Nacht vor dem Kampf, in einer Wanne zu schlafen. Niemand wusste, wie viel Energie sie brauchen würde. Vermutlich alles, was bedeutete, ging sie ihr aus, würde es etliche Leben kosten, um diese zu kompensieren. Ähnlich wie bei Daryks Heilung, nur, dass sie jene für sich benutzen würde. Und wieder fühlte sie bei diesem Gedanken kein Bedauern.

    Daphne saß in ihrem Zelt und streckte den Rücken durch, während ihr ein Seufzen entwich.
    „Stimmt etwas nicht, Herrin?“, fragte sie die blonde Hofdame von der Seite, während sie feine, weiße Linien auf ihren Arm malte.
    „Alles gut!“, antwortete die Prinzessin, aber sie war genervt. Sieben Jahre hatte sie es geschafft, diesem Alltag zu entkommen und nun verbrachte sie im ungünstigsten Moment überhaupt, ihre Zeit mit alten Traditionen. Tristan, ihr legitimer Bruder und mittlerweile Herzog von Deliveih – wie sie überrascht feststellen musste – hatte sich erdreistet heimische Kammerzofen mitreisen zu lassen, die sich um sie kümmern und ihm Bericht erstatten sollten. Anscheinend waren ihm die Damen aus Zacharas´ Haus nicht „nordisch“ genug. Man hatte sie gebadet, ihre Haare aufwendig geflochten und mit heißen Holzspiralen bearbeitet. Was sollte das nutzen? Alsbald würden tausende Soldaten dort einmarschieren und sie sah aus, als wollte sie zu einem Empfang. Thyra hatte sie schon ausgelacht, als sie ihr einen kurzen Besuch abgestattet hatte, um ihr mitzuteilen, dass sie ebenfalls bei Habger untergekommen waren. Daphne vermisste ihre Freunde. Das Leben, was man ihr dort aufzwang, war schon lange nicht mehr ihres gewesen. Natürlich trug sie ab und an mal gerne Kleider, aber das weiße Seidenkleid, in welches man sie dort geschnürt hatte, war gänzlich übertrieben. Die bestickte Schleppe unpraktisch. Sie würde an der Seite ihrer Freunde kämpfen und nicht irgendwo ausharren wollen. Dieser Gedanke machte ihr mehr Angst, als sich Feinden zu stellen. Irgendwo auf Nachricht warten, nein, das kam nicht infrage. Aber nicht einmal Yorick ließ eine Widerrede zu. Wer konnte es ihm verübeln, nachdem sie ihm von ihrem Tod gestanden hatte. Es war ihr nicht leicht gefallen, den richtigen Moment zu finden, aber als er sie über Heinrichs Tod ausgefragt hatte, erzählte sie ihm kleine Details, nichts alles. Er musste auch nicht alles wissen, weil sie auch nicht alles wusste. Wer Heinrich wirklich getötet hatte, war ihr natürlich bekannt. Sie hatte den ersten Peitschenhieb gesehen, aber mehr auch nicht. Die Genugtuung, dass er es zuletzt nicht leicht gehabt hatte, reichte ihr, ging aber keinen anderen etwas an. Sollten doch selbst ihre Brüder glauben, er sei betrunken die Treppe hinuntergefallen und hatte sich das Genick gebrochen – so hatte der Herzog von Felodun zumindest bekanntgegeben. Natürlich hatte er eine Lüge erfunden, aber nicht nur, um die Gruppe zu decken, sondern auch, um sich peinliche Fragen zu seinen Töchtern zu ersparen, die sich derzeit auf einer „langen“ Reise befanden.
    Nichtsdestotrotz hatte Yorick an der Tatsache, dass sie gestorben und wieder zurückgekehrt war, zu schlucken. Sie konnte es in seinen Augen sehen. Wäre ihm so etwas zugestoßen, dann würde sie ihn auch in weiches Moos betten und nicht mehr in die Fremde entlassen, schon gar nicht in einen Krieg, aber man kann den freien Willen einer Person nicht brechen, nur weil ein anderer sich selbst fürchtet. Ihr wäre es auch lieber, wenn sich Yorick, Arthur und Thorvid weit weg befinden würden, taten sie aber nicht. Würden sie sich abbringen lassen – sicher nicht. Sie verdienten sich so ihre Tätowierungen, eine Frau jedoch hatte sich aus so etwas herauszuhalten, obgleich Yorick wusste, dass sie mehr war. Er hatte es bei der Rückeroberung erlebt, aber ein Kampf gegen Tausende war natürlich etwas anderes, als die Eroberung eines Turmes – kampflos. Daphne war der vollsten Überzeugung, den Hals konnte sie sich auch in diesem Kleid brechen. Die zweite Kammerzofe legte den Pinsel auf der anderen Seite von Daphne nieder und war anscheinend etwas schneller fertig als die andere. Für was der Aufwand? Die Männer tätowierten sich für die Ewigkeit, um so auf ihren Rang und ihre Kampfkraft aufmerksam zu machen. Frauen war dies natürlich nicht gestattet, weil sie keinen Rang dahingehend besaßen, aber Daphne als Tochter des Herzogs, nun Schwester dessen, bekleidete von selbst ein höheres Amt als die meisten. Angesehen davon, erfüllte die Farbe aus einem Kalkstein noch eine weitere Aufgabe, warum sie früher fast täglich aufgetragen wurde. Daphne gähnte. Einen Tag noch sollte es laut Kuen dauern und sie … Wenn die Prognose der Soldatin nur halb so zuverlässig war, wie die Route um die Soldaten herum, dann verschwendete sie dort kostbare Zeit. Die anderen planten vermutlich bereits. Der Pinselstrich an ihrem Hals kitzelte, aber wie gewohnt versuchte sie die Haltung zu bewahren. Natürlich hätte sie sich verflüssigen und somit abhauen können, aber zu welchem Zweck? Jeder hätte gewusst, wo man nach ihr suchen musste. Man musste sie aus freien Stücken gehen lassen und dafür würde sie alsbald sorgen.
    Urplötzlich trat die Zeltwache und räusperte sich vor ihr, da sie ihn, gedankenverloren, überhaupt nicht wahrgenommen hatte.
    „Hoheit?“, setze er gedämpft unter seinem Helm an, als sie ihren Kopf hob.
    Bitte?“, gab Daphne erschrocken wieder.
    „Wollt Ihr …“, er pausierte kurz, „einen Ser Daryk Hylon empfangen? Er bittet um eine Unterredung.“
    Fast hätte Daphne laut aufgelacht. Nicht nur, dass sich der Hüne mit vollem Namen vorstellte, nein, der Soldat nannte eine Unterhaltung eine Unterredung.
    „Das letzte, worum mich Daryk bitten muss, ist eine Unterredung“, meinte sie daher. Der Soldat unter seiner blickdichten Rüstung schien auf eine exakte Antwort zu warten.
    „Natürlich darf er eintreten“, stellte Daphne klar und konnte nicht fassen, dass sich ihre Freunde mittlerweile anmelden mussten. Selbst Thyra stellte sich scherzhaft mit vollem Namen vor, bevor sie den Soldaten angemault hatte, dass er verschwinden solle. Der Mann verschwand wieder aus dem Zelt und kurz darauf war eine Diskussion zu hören. Bevor Daphne überhaupt reagieren konnte, stand Daryk schon mitten im Zelt, aber mit dem Soldaten als Begleiter, welcher an dessen Fuß hin. Die Prinzessin wollte gar keine erklärenden Worte des Mannes am Boden hören, sie erkannte den Grund bereits, als sich die beiden Kammerzofen neben ihr erschrocken erhoben und anfingen zu krakeelen.
    „Ja, ich weiß!“, maulte Daphne daher und fuhr sich genervt über die Stirn.
    „Zieht Euren Helm auf!“, behaarte die blonde Zofe energisch.
    „Ihr könnt der Prinzessin nicht mit Eurem Gesicht entgegentreten!“, meinte die zweite Kammerzofe.
    „Ich kenne aber sein Gesicht!“, entglitt es Daphne erklärend und verwies mit beiden Händen auf Daryk. „Ich hab es bereits oft gesehen, bei Rhenus langem schwarzen Haar, hört auf euch anzustellen!“
    „Aber er ist ...“, widersprach die Blonde.
    „Was? Ein Mann? Erzählt mir etwas Neues!“, protestierte Daphne lautstark.
    „Aber Euer Bruder ...“, sprach die Rothaarige verunsichert.
    „Welcher?“, wollte Daphne verzweifelt wissen. „Ich habe so einige von ihnen und jeder glaub, schlauer als der andere zu sein. Es ist in Ordnung.“
    „Der Herzog wird ...“
    „Der kann von mir aus im Kreis springen und dabei sich die Finger in die Nase stecken, das ist mir egal“, fuhr die Prinzessin fort. „Und nun lasst uns allein.“
    „Was?“, entglitt es der Blonden.
    „Geht! Ihr alle!“, schrie Daphne geradezu hysterisch, stand auf und ergriff die Schale mit der weißen Farbe. Eilig verschwanden der Soldat und die beiden Damen aus dem Zelt, ehe Daphne ihnen das Behältnis an den Kopf werfen konnte. Somit traf es nur die Zeltwand.
    „Die machen mich wahnsinnig!“, verkündete die Heilerin zähneknirschend, während ihre Schultern leicht zusammenzuckten. Sie war ja gar nicht alleine und hatte sich nun wirklich wie eine verwöhnte Prinzessin aufgeführt. Langsam wandte sich Daryk zu, der etwas Platz vor dem Eingang gemacht hatte, damit alle entkommen konnten.
    Erst jetzt hatte sie einen Moment der Ruhe, um zu begreifen, dass Daryk nicht einfach in seiner übliche, dunkel gehaltenen Kleidung dastand, sondern er die schwarze Rüstung trug. Die Fliege stach förmlich empor und ließ den Hünen noch bedrohlicher wirken, als er es ohnehin schon tat, aber trotzdem fürchtete sie ihn kein bisschen. Er befand sich zu ihrem Glück auf ihrer Seite. Trotzdem schämte sie sich fast ein bisschen, ihn nicht nach seinen Wünschen oder Vorstellungen gefragt zu haben. Aber so war es nun mal mit Geschenken. Sie hätte sich ja die Überraschung selbst verdorben, wenn sie etwas verraten hätte.
    „Die Rüstung ...“, sprach sie deshalb leise.
    „Ist perfekt!“, beendete Daryk, zu ihrer Erleichterung, den Satz. Ein Stein fiel ihr vom Herzen und sie atmete erleichtert aus, was ihr Lächeln untermauerte.
    „Dann ist gut und tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest, aber … ich bin nicht mehr dran gewöhnt so behandelt zu werden.“
    „Warum bist du so... bemalt?“, setzte Daryk die Frage hinterher, weshalb sich Daphne von oben bis unten selbst musterte. Das war wohl kaum zu übersehen. Die verschnörkelten Muster zogen sich über ihren Oberkörper, über Arme und Hals. In dem Moment konnte sie nur froh sein, dass man ihre Beine nicht sah.
    „Es zeigt, wer ich bin“, antwortete Daphne knapp.
    Das hätte ich auch so gewusst!“, erwiderte Daryk grinsend. „Aber ist das normal bei euch?“
    „Normal?“, lachte die Heilerin. „Nein, das ist ein lang errungener Fortschritt. Früher noch, wurden Männer, die einer Prinzessin zu nah kamen, verstümmelt und ihr wurde das Augenlicht genommen. Dagegen sind ein paar weiße Linien reinste Freiheit.“
    „Warum?“, hakte Daryk nach und schaute sie fragend an. Daphne hob ihre rechte Braue, wie immer, wenn sie erstaunt war.
    „Wie behandelt man Prinzessinnen in deiner Heimat?“
    „Man bewacht sie, man sorgt dafür, dass sie sicher ist. Aber man verstümmelt sie nicht oder die Männer, die sie bewachen“, erwiderte der Hüne, was Daphne erneut ein Lächeln entlockte. Sie lief zu einem kleinen Tisch und schenkte sich einen Becher Wein ein, ebenso wie Daryk, dem sie ihn reichte. Die Erklärung dessen, so war sie sich sicher, konnte kaum einer nachvollziehen. Wortlos nahm Daryk den Wein entgegen.
    „Und wenn die Männer mehr tun, als sie nur zu bewachen?“, fragte Daphne und schaute ihn aus dem Augenwinkel an. Daryk starrte sie geistesabwesend an, geradezu durch sie hindurch, bevor er sich wiederfand und nach ein kurzen Blinzeln meinte: „Die Wachen sind Ritter. Sie schwören einen Eid, die Königliche Familie mit ihrem Leben zu schützen und ihren Befehlen zu gehorchen. Normalerweise ...“, er pausierte kurz mit gerunzelter Stirn, „halten sich auch alle daran, da sie den Preis für das Brechen des Eids kennen.“ Dann verwies er auf sein Gesicht. Daphne grinste.
    „Das ist ebenfalls verstümmeln.“
    „Ja, aber als Strafe, nicht als Vorkehrung.“
    Leicht legte die Heilerin ihren Kopf schief und musterte den Hünen vor sich.
    „Warum warten, bis das Unvermeidliche eingetreten ist? Wir waren einst ein kleines Volk. Der Legende nach, kamen wir über das Meer in den Norden. So klein, dass es schlimme Folgen hätte haben können, wenn Kinder geboren worden wären, die nicht dem ehelichen Bund entsprangen Wenn irgendein Vater in meinem Land zu seiner Tochter spricht, dann heißt es; schau dir dir Prinzessin an, sie macht … sie tut … sie befolgt. Ich bin die Tochter eines Landes, nicht die eines Müllers, eines Bäckers oder Schmieds.“
    Daryk senkte seinen Blick und nahm einen Schluck Wein.
    „Das tut mir leid“, sprach er reumütig, für was es für Daphne keinen Grund gab. Sie war schon mal entkommen und würde es ein zweites Mal tun.
    Und wegen der Farbe!“, kehrte sie zu seiner eigentlichen Frage zurück und forderte, dass er kurz seinen Becher abstellte, dem kam er nach.
    „Zieh deinen Handschuh aus!“, forderte sie gleich auf weiter. Dem kam er ebenfalls nach. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht, nahm Daphne Daryks Hand und legte diese auf ihre.
    „Das Gestein ist so ölig, dass es nie gänzlich trocknet, aber so hartnäckig, dass es haftet. Ein Mann in meinem Land, würde zweit Tage mit der Farbe an seinen Händen herumlaufen, sodass man merkt, wen er angefasst hat. Deswegen darf niemand anderes diese Farbe tragen.“
    Sie entfernte Daryks Hand von ihrer und zurück blieb eine Kopie ihres Musters. Skeptisch betrachtete er seine Hand und schaute dann wieder auf.
    „Soll ich deinen Brüdern nun aus dem Weg gehen?“, verlangte Daryk zu wissen.
    „Nein, nein“, meinte Daphne beruhigend. „Ich kann Yorick erklären, dass ich es dir erklärt habe. Nur die Kammerzofen sollten es nicht sehen. Das sind Spione des Herzogs.“Verständlich nickte der Hüne, mit Blick auf seine Hand.
    „Deines Bruders ...“, wiederholte er die Art der Verwandtschaft, aber dem konnte Daphne nicht mehr gänzlich zustimmen. Tristan repräsentierte nun ein Land. Wie viel von ihrem einstigen „Bruder“ übrig war, blieb abzuwarten.

    Plötzlich schob sich der Vorhang beiseite und Arthur trat ungefragt hinein.
    „Die Zofen meinten ...“, setzte er an, verstummte aber kurz bei dem Anblick auf Daryks gezeichneter Handfläche.
    „Hoheit?“, fragte der unbenannte Bruder und bedachte Daphne mit einem fragenden Blick.
    „Ich hab ihm erklärt, was der ganze Aufstand soll, keine Sorge. Er hat nicht ungefragt meine Hand gehalten.“
    „Trotzdem sollte er nicht hier sein“, beschwerte sich Arthur. „Die Zofen waren außer sich, auch, weil er keinen Helm trug. Ihr werdet heute Nachmittag ins innere von Ymilburg verlegt. Hier außerhalb ist es zu gefährlich. Yorick sprach bereits mit Zacharas van Júmen und er spricht Euch Räumlichkeiten zu.“
    „Dann richte meinem Bruder aus, dass er das vergessen kann! Ich gehe nirgendwo hin, außer zu meinen Freunden!“
    „Was?“, maulte der Halbbruder los. „Wer hat Euch diese Flausen in den Kopf gesetzt?“
    Sein Blick wanderte zu Daryk, der seine Arme vor sich verschränkte und die Leibwache finster musterte.
    „Niemand“, widersprach Daphne. „Ich kann heilen und … kämpfen.“ Daphne schaute auch kurz zu Daryk, der ihr immerhin beim Ausbauen ihrer Kräfte geholfen hatte und ihr so Selbstvertrauen gab. Vielleicht hatte er doch etwas mit den Flausen zu tun – so wie Thyra, Jaris und alle anderen.
    „Ihr gehört nicht auf ein Schlachtfeld!“, wurde Arthur lauter.
    „Und wie!“, schrie Daphne zurück. „Glaubt ihr alle im Ernst, dass ich mich feige verziehe? Ihr dürfte andere einfach zu einem Übungskampf auffordern, ich andere nicht einmal ansehen.“
    „Eigentlich wurde ich nie gefragt“, warf Daryk ein. „Man ließ mir gar keine Wahl.“
    „Wie bitte?“, brüllte Daphne und wechselte zwischen Arthur und Daryk hin und her. „Ihr fordert einfach Gefährten von mir heraus?“ Ihr Tonfall wurde immer lauter. Sie hatte das Gefühl, gleich zu explodieren. Immer wieder erinnerte sie sich an die Zeit, in der sie allein auf sich gestellt war. Jahre in vollkommener Abgeschiedenheit und nun wusste sie wieder warum. Ansehen wen sie wollte, sprechen mit wem sie wollte. Und vieles mehr, was ihr zuvor verboten war. Sie konnte es gar nicht verhindern, dass das Wasser nach Arthur griff und seine Arme umwickelte. Erschrocken blickte dieser seine Herrin an, die ihn so aus dem Zelt stieß. Kaum draußen, wurde der schwere Soldat hochgehoben und auch Daphne trat aus dem Zelt hinaus. Die verwirrten Blicke der anderen Krieger blendete sie aus. Die Prinzessin hielt ihre einstige Wache hoch über sich und ließ den Moment auf sich wirken.
    „Ich mache was ich will!“, stellte sie klar.„Ich mache was ich will, wann ich will, wo ich will und mit wem ich will!“
    „Was hat das zu bedeuten?“, verlangte Arthur zu wissen und biss die Zähne zusammen, als sich die beiden Wasserstränge um seine Arme fester zuzogen.
    „Dass ich zu meinen Freunden gehen werde und niemand wird mich davon abhalten. Ich bleibe bei ihnen, sogar im Kampf!“
    „Daphne“, erklang Daryks Stimme im Hintergrund, der langsam hinter sie trat und er legte ihr seine Hand auf die Schulter. Sie atmete tief durch und ließ ihren Halbbruder wieder runter.
    „Ich glaube, er hat es verstanden. So ziemlich jeder hier!“, fügte der Hüne hinzu und Daphne bedachte ihren Halbbruder noch mit einem letzten warnenden Blick, dann verflüssigte sie sich und verschwand im Zelt.

    Kurze Zeit später kam sie heraus und das in ihrer gewohnten Kleidung. Ihrer schwarzen Hose, den dunklen Stiefeln und der schulterfreien Korsettbluse. So, wie sie sich am Besten kannte. Auch hatte sie wieder den hölzernen Armreif am linken Handgelenk, den man ihr zum Bemalen abgenommen hatte. Aber das war ohnehin hinfällig, denn nach Daphnes Verwandlung, waren die Zeichen verschwunden.
    „Ich lasse mich nicht mehr knechten“, richtete sie an Arthur, während sie an ihm vorbeilief. „Soll Tristan doch Blut und Galle spucken, aber ich bin nicht länger ein Sklave ihrer Launen, Bruder!“
    Sie wählte absichtlich das Wort, denn im Grunde war Arthur das und Daphne hatte die Nase voll davon, dass sie so tun musste, als sei es anders. Blut war dicker als Wasser! Wer, wenn nicht sie, wusste dies am Besten?
    „Daryk, wir gehen!“, meinte Daphne weiter und kurz schaute der Hüne verdutzt, der anscheinend das Kleid, welches Daphne zuvor getragen hatte, in Händen hielt. Als die Heilerin sich an ihn wandte, drückte er Arthur kommentarlos den weißen Fetzen gegen die Brust und folgte ihr.
    Sie liefen zum See, der sie von Ymilburg trennte, aber anstatt nach einem Boot Ausschau zu halten, lief Daphne einfach weiter.
    Was hast du vor?“, wollte Daryk wissen, aber die Heilerin schien zu wissen, was sie tat.
    „Komm einfach!“, antwortete sie und versuchte die vorherige Wut in ihrer Stimme zu unterdrücken.
    „Aber wohin?“
    „Nun komm!“, beharrte Daphne weiter auf den eiligen Schritt und fing an das Wasser vor sich zu verdrängen. Sie schuf einfach einen Weg durch den See hindurch, direkt am Boden entlang, mit meterhohen Wasserwänden um sie herum. Sie liefen tatsächlich einfach durch den See hindurch, der vor der kleinen Frau zurückwich. Daphne hatte gehofft, dass dies funktionieren würde, aber allein ihr Zorn, genug Abstand zwischen sich und ihre Brüder zu schaffen, half dieser Magie auf die Sprünge. Allmählich ahnte sie, woher sie ihre Kraft bezog. Es war wie bei Aras nicht der Gedanke an Liebe oder Ähnliches, oder wie bei Theical von der Konzentration abhängig. Bei Daphne sorgte die Wut und der Zorn für ausreichend Energie, damit sie ihre Kräfte gezielt einsetzen konnte. Daryk schaute sich ständig um, hatte die Wände genau im Blick, die Daphne mit ihrer Magie aufrecht erhielt. Ihm schien das alles gar nicht zu gefallen, auch wenn er nichts sagte.
    „Was ist?“, hakte Daphne auf halber Strecke nach, als sie das ständige Herumgedrehe auffällig fand.
    „Nichts!“, meinte der Hüne, untersuchte aber die Wand vor sich mit seiner rechten Hand, von wo aus man direkt in den See schauen konnte.
    „Du … wirkst beunruhigt“, bohrte sie weiter.
    „Du wärst auch beunruhigt, wenn du nicht schwimmen könntest“, gestand ihr Daryk und Daphne blinzelte kurz ihre Verwirrung hinfort.
    „Du kannst nicht schwimmen?“, wiederholte sie das Geständnis. Das erinnerte sie an Theical, der ihr einmal das gleiche gestanden hatte.
    „Wirklich?“, nuschelte Daphne, die immer dachte, dies sei eine Tugend von Rittern, aber gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass, wenn Daryk so weit aus dem Norden stammte, dass dort nur Eis zu finden war, schwimmen eher unwichtig erschien. Das hätte sowieso niemand überlebt.
    „Ich verstehe“, antwortete sie deshalb im Nachhinein. „Aber mach dir keine Sorgen, ich habe es unter Kontrolle.“
    „Ich weiß“, meinte er und schaute sie an. „Es ist nur seltsam.“
    Daphne nickte und lief zunächst einfach weiter.
    „Ist ja nicht so, als würde dir das Schwimmen können etwas helfen, in der Rüstung, die du trägst.“
    „Vielen Dank, sehr beruhigend“, murmelte der Hüne und schloss eilig zu ihr auf, als er merkte, dass die Wand hinter ihm näherkam.
    „Zur Not bringe ich es dir und Theical noch bei. Nach der Schlacht eben, wenn wieder Normalität einkehrt. Dann bin auch ich mal von Nutzen für die Allgemeinheit.“ Daphne sprach absichtlich von dieser Zeit, weil sie hoffte, dass danach alles noch genauso war und sie keinen verlieren würden.
    „Für mich ist `Normalität` eher ungewohnt“, antwortete Daryk und meinte wohl damit, dass er sein halbes Leben lang Schlachten schlug. Daphne musste ihm innerlich recht geben. Inwieweit unterschied sich schon diese von denen, die er bereits geschlagen hatte? Für sie war es ein neues Ufer und hätte sie sich vor einem halben Leben nicht erträumen lassen. In Delyveih wäre sie sicher und behütet, weit weg von all dem Zwist und Gefahren, aber sie würde einiges in ihrem Leben vermissen, was sie nicht mehr bereit war herzugeben.


    Deshalb war sie froh, als sie das andere Ufer betrat und das Stadttor genau vor Augen hatte – wie Daryk vermutlich auch. Ohne Umschweif ließ man sie in die Stadt, wo kaum noch jemand, außer Soldaten der Stadtwache, herumliefen. Es war eine düstere Stimmung, ruhig, wie der Moment vor einem Blitzeinschlag. Daphne versuchte dies zu überspielen, ihre Angst und Befürchtungen. Zum ersten Mal, versuchte sie freiwillig niemanden Fremdes in die Augen zu sehen, damit sie später Gesichter nicht vermisste, denn sie war nicht so blauäugig zu glauben, dass man jeden retten konnte. Yorick warnte sie davor, ihre Magie auf dem Schlachtfeld zu zeigen, zumindest die heilende. Denn wie verzweifelt würden die Männer werden, wenn sie erfuhren, dass jemand all ihre Gebrechen und Verletzungen heilen konnte? Wie begrenzt dies war, spielte dabei dann keine Rolle.
    Kurz vor der Schmiede blieb Daryk stehen und meinte, er müsse noch in einer Angelegenheit zu Aras. Es ging um einen Schacht, der versiegelt werden sollte. Die letzten Vorbereitungen liefen, deshalb nickte die Heilerin stumm und wandte sich der Tür von Habgers Heim zu.
    „Daphne“, sprach Daryk sie noch einmal an und sie wandte sich ihm zu, während ihre Hand bereits auf dem Türgriff ruhte.
    „Danke“, führ er fort und legte seine rechte Hand auf die Fliege, welche auf seiner Rüstung prangte.
    Wieder nickte die Heilerin.
    „Gern!“, antwortete sie, bevor sich ihre Wege trennten. Daphne öffnete die Tür, wo sie, zu ihrer Überraschung alle im ehemaligen Schankraum vorfand. Alle mit überraschten Gesichtern, sie zu sehen. Thyra, Jaris, Theical und sogar Habger.
    „Was ist?“, fragte Daphne.
    „Du, hier?“, verlangte Thyra zu wissen, hatte aber ein Strahlen aufgesetzt.
    „Bin mal wieder abgehauen!“, gab Daphne schulterzuckend zu und betrat den Raum, wo Jaris ein paar Dinge erzählte, die er erfahren hatte. Dinge, die kaum möglich erschienen.

    Es vergingen weitere Tage und bis zur Ankunft der Armee waren es laut Kuen nur noch zwei Tage. Jaris und Thyra waren mittlerweile zu ihnen zurückgekehrt, worüber die Heilerin wirklich froh war, aber andererseits bemerkte sie auch die Stimmung der beiden. Sie hüllten sich in Schweigen, was ihre Reise und ihr Ziel anging, ähnlich wie über ihre Erkenntnisse. Vielleicht würde sie damit noch rausrücken, aber Daphne drängte sie nicht. Sie hielt ihre angeborenen Neugier zurück, weil sie mittlerweile auch nicht mehr wollte, dass man sie mit Fragen löcherte. Thyra beruhigte sie, dass sie ihr alles erklären würde, aber sie sich zuerst ebenfalls auf die Schlacht vorbereiten müsse, zwecks Pfeile und Ähnliches.
    Die Evakuierung, die Zacharas in Gang gesetzt hatte, war in vollem Gange und die Häuser um sie herum leerten sich. Alle wurden nach Osten abgezogen, da die Bedrohung aus Norden und Süden zu kommen schien.
    Daphne musste noch ihr Training fortsetzten, aber an diesem Morgen half sie erst einmal Wagen zu beladen. Ihre Magie mit dem Wasser war dabei recht hilfreich, da es ihre Muskelkraft um ein vielfaches verstärkte und auch die Kinder unterhielt. Durch das Training mit Daryk, verstand Daphne ihre Kräfte immer besser und konnte kleine Wasserfontänen beschwören, ebenso ihre beiden ´Arme` gezielter einsetzen.
    Zwischen all dem Trubel, der sich zwischen die Menschen der Stadt mischte, erhaschte die Prinzessin auch einen Blick auf den Herzog des Landes, der ihr, gelinde gesagt, peripher an der Kehrseite entlang ging. Die Worte, die Kuen mitgeteilt hatte, waren zu viel gewesen. Zu viel, dass sie ihm das einfach verziehen konnte. Zu viel hatte sie schon ertragen müssen.
    Kaum hatte sie die eine Kiste abgeladen, sah sie Aras aus der Ferne und näherte sich ihr. Augen rollend wandte sie sich ab und ergriff die nächste Kiste.
    „Maria Franziska“, rief er und wie sie diese Namen hasste. Es waren nicht ihre. Maria war ihre Mutter und Franziska eine Frau mit dunklem Haar, die sich von ihrem Balkon in die See gestürzt hatte.
    „Was?“, forderte sie von ihm forsch zu wissen.
    „Ich muss dir etwas mitteilen!“, fuhr Aras gut gelaunt fort, was Daphne alleine schon auf die Palme brachte. Sie half bei der Evakuierung und er freute sich – sehr schön.
    „Ich habe keine Zeit, Aras, also macht schnell!“
    Sie lud mit ihrer Magie die zweite Kiste auf und der Karren war damit schon voll. Alle brachten in Sicherheit, was sie mitnehmen konnten. Ein grausamer Anblick, wie Daphne fand.
    „Ich wollte dir nur mitteilen ...“
    „Dass du uns unnütz findest, vielen Dank, das wissen wir schon.“
    Daphne wünschte der Familie eine gute Reise beiläufig.
    „Ich wollte ...“
    „Das interessiert mich gerade wenig, was du willst. Viel wichtiger ist, was das Allgemeinwohl will.“
    „Darum, geht es mir doch.“
    „Von einmal!“
    Daphne wusste selbst nicht, woher ihre harten Worte kamen, da sie meist doch eher auf Verständnis und Mitgefühl getrimmt war, aber Aras hatte sich zu viel herausgenommen.
    „Ich will mich entschuldigen.“
    Es klang ehrlich, aber die Prinzessin hatte keinen Sinn mehr dafür, nicht, was ihn anging. Seufzend fuhr sie zu Aras herum, der sie anstrahlte, als hatte gerade das Rad erfunden.
    „Entschuldigen?“, entglitt es der Heilerin in einem schroffen Tonfall und sie wirbelte herum. „Entschuldigen? Und du glaubst, damit löschst du deine Worte aus meinem Gedächtnis? All die Erniedrigungen, all die Beleidigungen, die ich in Kauf genommen habe, um dir ein Freund zu sein? Vielleicht mag ich naiv herüberkommen, weil ich in meinem Leben nie viele Freunde hatte, aber ich weiß, wann meine Bemühungen umsonst sind.“
    „Sie waren nicht umsonst“, widersprach wiederum Aras und trat näher an sie heran.
    „Feige? Drückeberger? Sagt dir das was?“, forderte Daphne zu wissen, was Zacharas erstaunt dreinblicken ließ.
    „Hör zu“, begann Aras sachlich. „Das war nicht so gemeint, ich war nur enttäuscht und ...“
    „Das bin ich auch“, unterbrach Daphne den Herzog abermals. „Habe ich nicht alles getan, um meine Freundschaft zu beweisen? Mich ihr würdig zu erweisen? Nun ist es an dir das Gleiche zu tun.“
    Daphne wandte sich ab und lief einfach weiter. Immerhin hatte sie noch ihre Fähigkeiten auszubauen, wenn es schon ein Herzog nicht tat.
    „Maria Franziska“, rief er sie wiederholt, weshalb Daphne sich gezwungen fühlte noch einmal herumzufahren.
    „Ich heiße weder Maria noch Franziska“, schrie sie los. „Ich habe einen Rufnamen, den jeder benutzt, nur nicht du. Erinnere mich nicht immer an das, was ich nicht bin!“
    „Daphne“, korrigierte er sich selbst und machte einen Schritt vor, die Heilerin jedoch einen zurück.
    „Theical hat dir alles gesagt, was es zu sagen gibt!“, merkte sie an und wollte ihren Weg fortsetzen, als sie einen Widerstand spürte, der sie festhielt. Aras hatte sie an ihrem Handgelenk gepackt und war anscheinend noch nicht fertig – sie jedoch schon.
    „Lass mich los!“, brüllte Daphne deshalb.„Niemand fasst mich gegen meinen Willen an!“
    Es musste mittlerweile der halbe Marktplatz mitbekommen haben, dass die Prinzessin dort herumbrüllte und sich bedrängt fühlte.
    „So lass mich doch erklären“, begann auch Aras zu brüllen. „Ich versuche mich zu entschuldigen.“
    „Das ist mir egal! Ich widere dich doch ohnehin nur an, das hast du mir oft genug zu verstehen gegeben“, spie Daphne empor und wusste selbst nicht so recht, woher diese Wut in ihr kam. Vermutlich war es die Anspannung wegen der Schlacht, die Enttäuschung und gleichzeitig Aufregung, bald zumindest Yorick wiederzusehen.
    „Jetzt lass mich lo ...“
    Daphne kam gar nicht dazu, den Satz zu beenden. Da packte jemand Zacharas an seinem Handgelenk und verdrehte es, sodass er auf die Knie gezwungen wurde.
    „Sie hat loslassen gesagt!“, erklang eine ihr allzu bekannte Stimme und die Person musterte den Herzog vor sich.
    „Daryk ...“, kam es Daphne über die Lippen und betrachtete den Hünen, der den Herzog festhielt, als sei er nichts weiter als ein Knabe. Merklich schluckte Aras, als er gezwungen war, dem Mann vor sich in die kalten Augen zu sehen.
    „I-Ich wollte mich bei ihr entschuldigen. So wie ich es auch bei dir vorhatte“, gab Aras zähneknirschend zu. Der Hüne packte Zacharas am Kragen und warf ihn einige Meter hinfort in den Dreck. Anscheinend war es Daryk ebenso egal, was Aras wollte, wie Daphne, denn er riss ein Holzbrett von einem Karren und marschierte auf den Herzog zu. Das geht zu weit, dachte sich Daphne derweil. Sie war wütend und enttäuscht, wollte aber Aras nicht verletzt sehen, schon gar nicht vor der Schlacht. Schnurstracks löste sie sich aus ihrer überraschten Starre und hielt auf Daryk zu und überholte ihn, während er sich mit großen Schritten Aras näherte.
    „Nein!“, rief sie und stemmte ihre Hände gegen Daryks Brust, um ihn am Weiterlaufen zu hindern. „Das ist es nicht wert, eine Inhaftierung zu riskieren. Er ist immer noch Herzog dieses Landes. Lassen wir ihn regieren und wir erledigen zum Wohl der anderen den Rest.“ Noch einen Schritt lief Daryk weiter und schob Daphne vor sich her, hielt aber dann inne und warf das Brett knapp neben den Herzog.
    „Wie mutig bist du jetzt?“, sprach Daryk und Daphne wandte sich dem Herzog zu.
    „Eine Sache gebe es da noch, die ich zu erledigen habe“, nuschelte die Prinzessin und kniete sich zu Aras hinunter, der sie und Daryk ansah, als erwarte er das Schlimmste.
    „Du hast mein Leben bewahrt“, flüsterte Daphne Aras zu. „Aber diese Schmach werde ich von mir nehmen. Keine Verletzung, keine Tat. Keine Narben, keine Geschichte – so sagte mir mal jemand.“
    Augenblicklich packte Daphne Aras diesmal an den Armen und heilte das, was von den Verletzungen an seinen Unterarmen noch übrig war, dann erhob sie sich, um weiter trainieren zu gehen.

    Sie nahmen Theical gleich mit auf die Lichtung, der immer noch damit fertig werden musste, dass er aus seiner Wut heraus einen Menschen kontrolliert hatte. Zwar schien er dies mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge zu sehen, da es ausgerechnet Aras getroffen hatte, aber ähnlich wie bei ihr, konnte sich die Heilerin vorstellen, dass es erschreckend war, diese neue Kraft an sich festzustellen. Daphne stellte sich als Übungsobjekt zur Verfügung, aber es war nicht mehr ganz so energisch, wie vielleicht beim Herzog. Konnte auch daran liegen, dass die Sonne hoch am Himmel stand, kaum Schatten zuließ und Theic nicht die gleiche Wut Daphne gegenüber empfand. Avalon hatte sie bei der Schmiede zurückgelassen, da das Pferd sich ständig in Übungen hinein hängte, was die Heilerin wenig förderlich fand. Er stellte sich quer in die Bahn oder machte es ihr allgemein schwer, sich zu verteidigen.
    Nebenbei machte sich Thyra ein paar Pfeile zurecht und Jaris übte, leicht abwesend, mit Daryk. Der Söldner schien immer wieder in Gedanken zu versinken und hatte seinen Kampfstil verändert. Zumindest kam es Daphne so vor, aber wirklich Ahnung hatte sie nicht davon. Später hinaus tauschten sie immer wieder die Konstellationen, sodass auch Daphne ihre Fähigkeiten ausbauen konnte.
    Die Mittagssonne zog rasch weiter und als die Hitze unerträglich wurde, beschlossen alle erst einmal, etwas essen zu gehen. Sie marschierten alle zusammen aus dem angrenzenden Wald und nähernden sich dem Tor.
    „Sag mal“, setzte Daphne an und meinte damit Thyra. „Wie war euer Alleingang so?“ Die Neugierde überwog dann doch.
    „Willst du alles wissen oder nur, ob wir das Grab gefunden haben?“, erwiderte die Jägerin frech und rückte sich ihren Köcher zurecht.
    „Ich meine, ob ihr euch mal etwas erholen konntet. Immer unter anderen zu sein, kann ja sehr … anstrengend sein.“Thyra lachte laut, als Daphne dies von sich gab, aber nickte.
    „Alles zu seiner Zeit, aber ja, es war irgendwie auch schön mal nicht in getrennten Zimmern schlafen zu müssen.“
    Gerade als Daphne mit einem Lachen antworten wollte, ertönten in der Ferne bekannte Laute, Kriegshörner, welche die Prinzessin abrupt stehenbleiben ließen. Sie spürte, wie ihr die Gesichtsfarbe förmlich entglitt und obwohl sie wusste, dass dieser Moment kommen würde, hatte sie ihn sich in jeder Minute, eine Sekunde weiter hinfort gewünscht.
    „Sie sind da!“, nuschelte Daphne und wandte sich dem See zu, an dessen anderen Ende Boote einliefen, die großzügig das Wasser vor sich verdrängten. Segel für Segel war das Banner der Nordmänner zu sehen. Das aufgebäumte Pferd inmitten von tosenden Wellen. Ruderschlag für Ruderschlag, näherten sie sich den kleinen Stegen, die eigentlich Fischerboote beherbergen sollten.
    „Freust du dich denn gar nicht?“, hakte Thyra nach und stieß ihre Freundin leicht an. „Also ich sehe Yorick gerne wieder. Er ist witzig.“
    Für diese Anspielung erntete die Jägerin skeptische Blicke von Jaris, die Thyra mit einem Wort niederringen konnte und das war der Name der Prinzessin aus Felodun. Ein Grinsen eroberte das Gesicht des Söldners und er hob abwehrend seine Hände.
    „Ich habe nichts gesagt.“
    „Verratet ihnen nichts“, nuschelte sie bloß.„Weder etwas über meine Kräfte noch über die Geschehnisse in Felodun, ich bitte euch. Kein Wort darf darüber vorerst ans Licht kommen.“
    Daphne bekam die weitere Unterhaltung nur beiläufig mit. Viel zu sehr fokussierte sie das erste Schiff, was auf den nahegelegenen Steg zuhielt und lief darauf zu. Beklemmungen in ihrer Brust machten sich breit. Ein Kloß bildete sich um ihr Herz. Mit jedem Schritt, den sie auf ihr Volk zu tat, spürte sie wieder diese Einsamkeit, die Abschottung und die strenge Erziehung. Alles, was sie dazu bewegt hatte, nicht mehr zurückzukehren, aber sie konnte nicht davor davonlaufen, was oder wer sie war. Nicht, wenn sie einfordern wollte, was ihr Recht war. Sie konnte nicht eines von beiden sein. Prinzessin und freie Frau, wenn es ihr gerade passte. Sie umlief den See etwas, um zum Anlegepunkt zu kommen, während immer wieder die Hörner erklangen. Aus einem überdachten Zelt trat Yorick, der sie bereits aus der Ferne gesehen hatte, aber er war nicht allein. Mit ihm traten Arthur und Thorvid hervor. Zwei Halbbrüder, aber nie offen so genannt. Als Kinder einer Geliebten, besaßen sie keinen Stamm, keinen Namen und ebenso kein Erbrecht. Ihre einzige Hoffnung war es, trotz dessen von ihrem Vater angenommen zu werden und eine Aufgabe zu bekommen, in der sie sich beweisen konnten. Die Aufgabe der fünf Namenlosen war es, die Leibgarde Daphnes zu sein. Zumindest war es so gewesen, bis sie fortlief. Die beiden ältesten hatten demnach Yorick begleitet. Arthur, ein brünetter Hüne mit Vollbart, der sogar sechs Jahre älter als Tristan war. Dem legitimen Herzog. Mit seinen vierunddreißig war er der erste gewesen, der Daphne bewachen durfte und da lag sie noch in der Wiege. Thorvid war auch älter als Yorick oder Tristan, wirkte aber etwas jünger, da man sein glattrasiertes Gesicht kaum unter der Kapuze erspähen konnte. Mit seinen einsachtzig war er auch geradezu ein Zwerg unter den Brüdern. Er war Daphnes Schatten gewesen. Eine Leibgarde, die sich nie offen zeigte, sondern sich verbarg. Sie alle waren in den sieben Jahren älter geworden und Daphne wusste nicht, wie sie auf sie reagieren sollte. Wenn es nach dem Brauch ging, hatten sie versagt. Die Prinzessin war jahrelang verschollen gewesen und das ohne, dass sie jemand gefunden hatte – bis auf Yorick. Daphne sah auf die schmalen Holzbretter vor sich. Sie konnte ihnen nicht gleich in die Augen sehen. Schlagartig verstummten die Hörner, als Daphne das Boot ihres Bruders betrat und schaute zögerlich auf. Sie wusste nicht einmal, ob ihr einer ihrer Freunde gefolgt war. Sie starrte plötzlich nur in die Gesichter, die einst die einzigen gewesen waren, die sie zu sehen bekommen hatte. Eingesperrt im Schloss, damit sich niemand ein Urteil über die einzige Tochter des Herzogs erlauben konnte, ihr das Herz stahl oder Schlimmeres. Daher waren Namenlose im Grunde ein Geschenk. Nah genug verwandt, um einen innigen Schutz zu garantieren, aber zu nah verwandt, um dass daraus mehr entstehen konnte.
    Yorick nahm Daphne in den Arm, als sie vollständig auf dem Boot stand, was sie endgültig vor allen enttarnte. Rund zweitausend Männer gingen auf die Knie, was ein lautstarkes Scheppern und Tosen auslöste, was weit über die Standmauern zu hören gewesen sein musste.
    „So schnell sieht man sich wieder!“, flüsterte Yorick ihr zu.
    „Ja, aber ich wünschte, die Umstände wären bessere“, erwiderte Daphne an sein Ohr gelehnt.
    Yorick gab sie frei woraufhin sich auch Arthur und Thorvid ihr näherten. Jedoch waren ihnen vertraute Gesten verboten, weshalb auch sie auf die Knie gingen und jeweils eine Hand ergriffen. Ein Kuss auf den Handrücken signalisierte ihre Demut, aber als sie Daphnes Hände auf ihren jeweiligen Kopf platzierten, baten sie um Entschuldigung und Gnade, was die Heilerin nicht verstehen konnte. Sie hatten nichts verbrochen und waren nicht Anlass ihrer Flucht gewesen.
    „Ich hab euch beiden nichts zu vergeben“, stellte sie deshalb klar, aber Arthur, so wie Thorvid, ließen nicht von ihrem Gesuch ab.
    „Sie bitten um Verzeihung, dass sie dich nicht aus dem Kerker von Heinrich geholt haben, in dem er dich festhielt und folterte.“
    „Sie wissen davon?“, fragte Daphne erschrocken.
    „Heinrich schickte doch einen Brief, indem er deine Mitgift Aufgrund deiner Vergehen erhöhte, ebenso wie den Erlös. Glaubst du, Mutter ließ sie nicht wissen, wem sie die Schuld dafür gab.“ Mit Bedauern blickte Daphne auf ihre Halbbrüder hinunter und verweigerte sich selbst das Wort „Namenlose“ in ihrem Kopf. Wenn sie eines in ihrer Freiheit gelernt hatte, dann, dass Blut dicker war als Wasser. Deshalb kniete sie sich zu ihnen hinunter und richtete ihre Gesichter nach oben, damit sie sie ansahen.
    „Wenn jemand um Verzeihung bitten müsste, dann ich“, gestand Daphne leise. „Aber ich hatte keine Wahl. Was immer man euch vorgeworfen hat, ich vergebe es.“
    Die beiden Männer richteten sich wieder auf und Arthur begutachtete das, was man ihm als Ymilburg beschrieben hatte.
    „Und das will man angreifen?“, versicherte er sich mit brummiger Stimme.
    „Ja, irgendwie ist diese Stadt unheimlich begehrt“, antwortete Yorick scherzhaft. „Als ich bei der letzten Auseinandersetzung half, dachte ich, dass ich diesen Ort sehr lange nicht mehr wiedersehen würde – so täuscht man sich.“
    Thorvid folgte den Blicken seiner Brüder und sagte nichts. Er sagte immerhin nie etwas und man wusste nicht einmal, wie seine Stimme klang. Er nahm einfach seinen Bogen zur Hand und verließ das Boot, woraufhin er im Wald verwand.
    „W-Wo will er denn hin?“, fragte Daphne und schaute ihm nach.
    „Sich umschauen und Stellung beziehen“, sprach Arthur und damit hatte es begonnen. Das alte Leben, ohne dass sie einen Gedanken daran verschwendeten, ob sie das wollte.
    „Mach dir keine Gedanken, Daphne“, ergänzte Yorick schlichtend. „Den sieht man doch eh nie. Ignoriere ihn einfach.“
    Yorick stieg freudestrahlend von Boot, als er Daphnes Freunde erkannte, die sich nun doch näherten.
    „Theical … Jaris … Thyra.“
    Beim Namen der Frau ließ er eine tiefe Verbeugung folgen, was der Jägerin ein Lachen bescherte.
    „Keine Sorge, Soldat“, fuhr er zu Jaris herum. „Ich weiß, sie ist vergeben und ich will hier ja keinen weiteren Krieg anzetteln.“
    „Das will ich auch für dich gehofft haben.“
    Jaris reichte Yorick freundschaftlich die Hand, ebenso wie Theical, aber eine Person wurde seltsam beäugt und nicht nur vom legitimen Bruder.
    „Der ist neu!“, kommentierte Yorick Daryks Person, dabei tat ihr Bruder nur überrascht, hatte sie den Hünen bereits in ihrem Brief erwähnt – aus gutem Grund. „Habt ihr bei der Revolte gemerkt, dass etwas Größeres in eurer Runde fehlt?“
    „Könnte man so sagen!“, antwortete Theical lachend.
    „Aber man muss es ja nicht gleich übertreiben“, nuschelte Yorick überrascht, denn Daryk überragte ihn fast um einen halben Kopf, ebenso Arthur, der ein Fingerbreit kleiner war als Yorick.
    „Naja, hinter dem kann sich Daphne wenigstens ordentlich verstecken!“, witzelte Thyra, was die Heilerin aufschrecken ließ. Wild gestikulierte sie hinter ihren Brüdern umher, um verständlich zu machen, dass dies nicht die Zeit für Zweideutigkeiten war. Nicht mal annähernd, aber das war nicht die Schuld der Jägerin, denn Daphne hatte nie viel von ihrer Heimat erzählt.
    „Wie bitte?“, brummelte Arthur und musterte die Gruppe.
    Sie meint das anders“, ging Daphne dazwischen. „Wir beschützen uns alle gegenseitig, so wie das Freunde machen.“
    „Ja, genau“, stimmte Thyra noch einmal zu und erkannte, dass der Rest nicht so viel Spaß verstand, wie der blonde Hüne.
    Yorick atmete tief durch und fuhr sie über die Stirn. Ihm war anzusehen, dass die strenge Art seiner Halbbrüder auch ihm aufstieß, aber so waren sie erzogen worden und so hatten sie sich ihr Recht verdient, teil der Familie zu sein, wenn auch nicht offiziell. Yorick beschloss Zacharas aufsuchen zu wollen, mit dem er alles weitere besprach. Der Rest sollte die Boote abladen und das Lager vor der Stadt aufbauen. Erst dort würden sie Listen ihrer Einheiten und Waffen erstellen.
    So dauerte es bis Sonnenuntergang, bis die ersten Zelte standen und Feuer entfacht wurden. Alle erklärten sich bereit zu helfen, was Daphne stolz auf ihre Freunde machte. Obwohl sie argwöhnisch gemustert wurden, taten sie was nötig war, aber im Grunde war das ein jeder bereits von Aras gewöhnt. Nur mit dem Unterschied, dass Daphne nicht mit anpacken durfte, obgleich sie es wollte. Wie sie erst wohl darauf reagieren würden, wenn sie ihnen gestand, dass sie mitkämpfen würde? Es würde eine lange Diskussion werden, die letztendlich damit enden würde, dass sie ihrer Heimat erneut den Rücken kehrte.

    Greif mich an!“, sprach Daryk auf einer offenen Lichtung vor der Stadt und Daphne ließ ihre Schultern hängen.
    „Ich kann das nicht!“, erwiderte die Heilerin. „Ich kann meine Kräfte kaum kontrollieren. Wenn ich dich verletzte ...“
    „Dann heilst du mich wieder“, erwiderte der Hüne gelassen, was bei Daphne ein Schnauben hervorrief. Das Heilen war ja an sich nicht das Problem, aber den Schmerz würde er ja zuvor trotzdem verspüren. Die Scheu, jemanden ernsthaft wehzutun, überwog bei ihr.
    „Los jetzt!“, mahnte sie Daryk erneut und stand mit Waffen da, die er sich aus Aras´ Beständen hatte geben lassen. Ein Schwert und Schild, neben an der Seite lag noch ein Stab, der ursprünglich mal einen Speer gebildet hatte. Sie schaute ihn mittig des offenen Platzes an, wie er sie immer wieder aufforderte, aber sie konnte nicht.
    Das ist mir unangenehm. Ich stelle mich sicher an, wie der letzte Dorftrottel. Du bist darin ausgebildet, ich nicht. Ich kann dir das Geld aus der Tasche ziehen oder deine Kleidung nähen, aber nicht … kämpfen.“
    „Und jetzt wirst du ausgebildet! Es ist keiner da, der dir zusieht und dich beurteilt“, wandte wiederum der Hüne ein und Daphnes Kopf lief rot an.
    „Natürlich“, widersprach sie. „Du bist da!“
    „Ich beurteile dich nicht, ich helfe dir!“
    Daphne seufzte und fuhr sich mit ihrer Hand über ihre Stirn.
    „Das kann ja heiter werden“, murmelte sie und richtete ihren Blick dann wieder auf.
    „Es ist ja nicht so, dass ich nicht will, aber es ist einfach eine … unangenehme Situation für mich. Einmal gehorchen mir meine Kräfte und dann wieder nicht. Ich weiß nicht, woraus sie geboren werden.“
    „Greif an, Prinzessin!“, versuchte Daryk sie aus der Reserve zu locken. Versuchte er sie zu provozieren? Sollte das etwa helfen?
    „Prinzessin?“, hakte Daphne nach. „Das soll mich dazu bringen, dich anzugreifen? Da habe ich schon Schlimmeres gehört.“
    „Nagut!“, konterte und ließ den Schild auf den Boden sinken, dann führte er das Schwert zu seinem linken Arm.
    Was machst du da?“, brüllte Daphne laut.
    „Wenn du mich heilen willst, musst dich mich umwerfen?“
    „Was?“, schrie die Heilerin mit gespielt hoher Stimme und sah, wie Daryk das Blut vom Arm tropfte. Wie von selbst, floss das Wasser aus ihren Armen und materialisierten sich zu zwei langen Strängen, die Daphne in Richtung Daryk drängten. Was machte er da? Hatte er den Verstand verloren? Das Wasser schien zu verstehen, was der Hüne von ihr wollte, sie musste es erst begreifen. Wenn sie einen Menschen nicht angreifen wollte, dann musste dieser ihr einen anderen Grund geben, ihn zu fangen. Daryk hatte das verstanden und nutzte ihre Besorgnis aus, wenn auch nicht böswillig. Sie standen einer Schlacht gegenüber. Mit falscher Scham tat sich Daphne selbst keinen Gefallen. Bereitwillig nahm Daryk wieder die Waffen zur Hand, während sich die Heilerin ihm näherte. Das Wasser in ihr, zwang sie den Hünen zu umkreisen. Die bestmögliche Position auszumachen, um den großen Mann niederzuringen, was sich nicht als einfach erwies. Denn kaum hatte sie die beiden Wasserstränge auf ihn gerichtet, parierte er jedwede Annäherung dessen mit einem gekonnten Schwerthieb, sodass die Enden einfach wie Wasser zu Boden fielen und darin versickerten. Sie hatten noch nicht die gleiche Festigkeit, wie in dem Moment, als sie die Tür des Gasthauses aus den Angeln gerissen hatte. Immer wieder peitschten die beiden, schmalen Wasserflüsse um Daryk herum, die er mit Leichtigkeit zerteilte.
    „Siehst du, ich bin schlecht in sowas!“, kommentierte Daphne halbherzig.
    „Du musst die Angriffe variieren! Nicht immer den Gleichen“, belehrte er sie.
    „Großartig“, nuschelte sie. Sie versuchte es immer wieder, aber Daryk konterte jedweden Angriff. Irgendwann machte sie das wütend. Er blutete immer noch, wobei ein Teil bereits getrocknet an seinen Armen prangerte. Was sollte sie davon halten, wenn sich andere verletzten, nur um sie zum Handeln aufzufordern? Sollte das in der bevorstehenden Schlacht genauso enden? Musste sich erst einer verletzten, damit sie ihre Ängste und Scham überwand? Nein, vermutlich nicht. Sie wurde wütend über sich selbst. Das sie all die Dinge nicht hinter sich lassen konnte. Eine Frau ist nicht Teil einer Schlacht! Eine Frau … ihre Heimat hing ihr nach. Aber die Zeiten und ihre Freunde hatten gezeigt, zu was sie fähig waren. Ihre Magie war eine Verlängerung von ihr selbst, genauso musste sie damit umgehen.
    „Jetzt reicht es aber langsam!“, maulte sie.„Du verblutest noch.“
    „Dann streng dich an!“
    Er hielt den Schild hoch und das Schwert bereit, aber Daphne überkam eine andere Idee. Sie nutzte all das versickerte Wasser, was sich im Boden um sie herum versammelt hatte. Es war immer noch dort und somit hatte sich Daryk seine eigene Falle gegraben. Daphne amtete tief durch und ließ das Wasser wieder an die Oberfläche treten, genau um sie herum. Wie bei einem Rankengewächs, griffen sie nach Daryks Beinen und er versuchte eilig aus dem vorherigen Kreis zu treten, aber zu spät. Das Wasser umschlang ihn wie Fesseln aus Stahl, was es Daphne einfach machte, sich ihm zu nähern.
    „Umwerfen sagtest du?“, witzelte Daphne und riss ihn von den Beinen.
    „Sagte ich!“, antwortete der Hüne und grinste. So konnte Daphne an seine linke Seite treten und legte ihre Hand über den Schnitt.
    „Sowas sollte nicht nötig sein“, meinte sie ernst, während sich die Wunde wieder schloss.
    „Aber es hat funktioniert!“, fühlte sich Daryk bestätigt und Daphne setzte sich neben ihn, während das Wasser wieder im Boden verschwand.
    „Danke“, ergänzte er, was wohl auf das Heilen geeicht war. Daphne quittierte dies mit einem Nicken.
    „Ich habe zu danken!“
    „Gern“, antwortete Daryk und sein Lächeln riss nicht ab.

    Plötzlich hörten sie ein Rascheln hinter sich.
    „Entschuldigt, ich habe etwas länger gebraucht“, erzählte Theic umgehend, kaum, dass er die Lichtung betreten hatte.„Habt ihr schon angefangen?“
    „Ich befürchte, für heute sind wir fertig“, erwiderte Daphne mit einem Lächeln und fühlte sich ausgelaugt. Sie hatte immerhin seit drei Tagen nicht mehr im Wasser gelegen, was ihr die Stimme als riskant erklärt hatte.
    „Du siehst auch müde aus“, gestand ihr der Taschendieb und half ihr beim Aufstehen, ohne wirklich nachzuhaken, was die beiden auf dem Boden taten, üben sah vermutlich anders aus.
    „Bei dir alles in Ordnung?“, wollte Theical vom Hünen wissen und dieser nickte, während er sich auch wieder aufrichtete.
    „Wir haben kaum Zeit“, warf Daphne ein. „Ich bezweifle, dass ich eine Ausbildung in ein paar Tagen durchlaufen kann, für die andere Jahre brauchen.“
    „Geht mir ähnlich“, gestand Theical. „Ich habe mich all die Jahre nicht mit meiner Magie beschäftigt und nun scheint das immer ausschlaggebender zu werden.“
    „Ihr schafft das!“, versuchte Daryk sie aufzumuntern, aber gerade, als Daphne etwas dazu sagen wollte, erschien eine andere Person auf der Lichtung. Diese löste bei der Prinzessin nur ein Seufzen aus.
    „Kann man hier vielleicht auch noch irgendwo helfen?“, wollte Kuen, die Soldatin, wissen.
    „Jetzt bewegt sie sich schon frei in der Stadt. Was kommt als nächstes? Wir geben ihr eine Waffe?“, nuschelte Theic nur so laut, dass es die beiden anderen hören konnten.
    „Naja ...“, erwiderte Daphne ebenso leise und versuchte sich nicht aufzuregen. „Zumindest stimmte ihre Route und wir sind keinem weiteren Trupp begegnet.“
    „Das könnte auch gewollt sein“, kommentierte Daryk und dem konnten die beiden nicht widersprechen. Es war abzuwarten, als was sie sich entpuppte.
    „Nein, danke“, rief Daphne der Soldatin zu.„Ein Lehrer reicht mir.“
    „Ihr bereitet euch alle vor, was?“, benannte sie das Offensichtliche.
    „Eigentlich gebe ich hier Tanzunterricht!“, entgegnete die Heilerin sarkastisch. Kuen lächelte etwas verlegen. Sie schien den Argwohn in Daphnes Stimme wahrzunehmen.
    „Ihr traut mir immer noch nicht.“
    „Warum sollten wir?“, hakte Theical nach.
    „Eure Freunde haben uns zu verstehen gegeben, dass sie nicht unsere Freunde sind“, antwortete der Hüne und verwies damit unterschwellig auf sein Verhör. Daphne schaute kurz zum Waldboden, ehe sie ihre Blick wieder auf die Soldatin richtete, die sich vor sie stellte.
    „Wir haben allen Grund skeptisch zu sein.“
    „Euer Herzog ...“
    „Er ist nicht mein Herzog“, fiel Daphne der Soldatin ins Wort. „Mein Vater ist selbst einer. Demnach gehöre ich einem ganz anderen Land an und so hast du dich mir gegenüber auch zu verhalten. Ich bin kein Anhängsel, nicht das Weib von irgendwem und schon gar nicht deine Freundin. Was ich hier tue, mache ich aus Freundschaft.“
    „Verzeiht, wenn ich Euch beleidigt habe“, resignierte Kuen ihren anfänglichen Tonfall, woraufhin Daphne ihre rechte Braue hob und Daryk seine Arme vor der Brust verschränkte. Theical drehte merklich mit den Augen und ließ einen genervten Seufzer über seine Lippen kommen.
    „Die Hilfe weiß der Herzog allen Anscheins nicht zu schätzen, so, wie er die Gruppe wiedergibt. Ihm nach seid ihr alle nur Drückeberger und Feiglinge, die sich von ihm aushalten lassen“, fuhr Kuen fort und hätten die Gesichter der drei wahrhaft aus den Fugen geraten können, dann hätten sie es getan. So schauten sie einander abwechselnd an.
    „Drückeberger?“, wiederholte Theical.
    „Feiglinge?“, ergänzte Daryk. „Wo war der mutige Herzog, als mich die beiden Feiglinge aus dem Lager gerettet haben?“
    Der Hüne verwies auf Theical und Daphne, die keinerlei Kampferfahrung aufwiesen und dennoch den Soldaten gefolgt waren.
    „Wo war er im Kerker?“, fügte Daphne hinzu und Theical verschränkte seine Arme.
    „Wo war er, als wir in seine Burg eingebrochen sind? Ich habe mich noch nie vor etwas gedrückt. Wenn ich etwas tun kann, dann tue ich es, auch für meine Freunde. Zacharas war der, den wir stets zum Schutz zurückhielten, aber vermutlich wiegt sein Leben schwerer als unseres. Jaris ist ja sogar seine Leibwache, nicht mal sein Freund. Ein Freund stellt das Leben eines anderen nicht über sein eigenes oder verlangt, sich für ihn in ein Schwert zu werfen. Für Aras sind wir alle doch bloß dumme Bauern.“
    „Immerhin hat er das Leben der Prinzessin verteidigt“, nahm Kuen Zacharas in Schutz, was ein lautes Lachen bei Daphne hervorrief.
    „Leben verteidigt?“, schrie sie regelrecht. „Das war mehr Reflex und dummer Zufall, als eine heroische Tat. Damit lag er mir dann in den Ohren. Ich habe mein Leben bei der Rückeroberung riskiert und halte ich ihm das pausenlos vor? Nein! Selbst jetzt stehe ich hier und versuche sein beschissenes Reich zu retten. Dafür ziehe ich eine Armee aus meiner Heimat ab? Für was? Für Undankbarkeit? Für ein Messer in meinem Rücken? Deswegen verabscheue ich den Adel mehr als alles andere und Zacharas van Júmen ist ein Glanzbeispiel dessen, was ich an diesem arroganten Pack nicht leiden kann.“
    „Nur leider geht es nicht nur um ihn“, sprach der Taschendieb weiterhin gereizt. „Hier leben Menschen, darunter auch mein Großvater, den ich nicht zum Gehen auffordern konnte.“
    „Der Grund, warum ich immer noch helfen werde“, stimmte Daphne Theicals Einwand zu. „Ich kann diese Leute sich nicht selbst überlassen.“
    Ihr Blick wanderte zum Hünen.
    „Aber du, Daryk, du bist Aras nichts schuldig. Ich könnte verstehen, wenn du wieder deines Weges ziehen willst, vor allem, wenn so über einen gesprochen wird.“
    Der Große schaute Kuen abschätzig an, wandte sich aber dann Daphne zu.
    „Ich halte meine Versprechen!“
    „Also von mir aus, kann Aras auf dem Schlachtfeld versauern“, merkte Theical an. „Ich bin mal gespannt, wie mutig er ohne seine Magie ist.“
    Wie ohne Magie?“, forderte Kuen zu wissen und alle drucksten zuerst herum, aber Daphne sah dann die Soldatin vor sich erst an.
    „Er kann nicht mehr zaubern. Sagen wir, seit er seine Geliebte, die Liebe seines Lebens, auf dem Schafott zurückgelassen hat, fehlt der Funke in ihm.“
    Der Soldatin war anzusehen, dass sie damit nicht gerechnet hatte. Abgelenkt wurde die Heilerin aber von den kurzen Lachen des Hünen.
    „Sein Zauberstab funktioniert nicht mehr“, gab Daryk zweideutig von sich, weshalb auch Theical und Daphne kurz ein Lachen zurückhalten mussten.
    „Aber Daphne hat ihn ohnehin zerbrochen“, fuhr Theical lachend fort und stieß die Heilerin mit der Schulter an.
    „War doch nur dürres Holz“, erwiderte Daphne der Ironie halber und riss gleichzeitig ihre Augen auf. „Sein Zauberstab ...“, entglitt es ihr.
    „Reden wir noch über Magie oder ...“, verlangte Kuen bei aller Doppeldeutigkeit zu wissen.
    „Ich nicht“, gab Daryk trocken zu.
    Daphne lief zu ihrer Tasche und holte, aus einer versteckten Seitentasche, ein Stück Holz hervor. Dann lief sie zu den anderen zurück.
    „Den kannst du ihm wiedergeben!“, maulte die Prinzessin und drückte Kuen den Zauberstab in die Hand. Ihr fragender Blick verriet der Heilerin, dass sie keine Ahnung hatte, was das war.
    „Das ist sein Zauberstab“, fuhr Daphne fort, aber bevor Theic dazu kam, zu fragen, warum er nicht zerstört war, sprach die Heilerin weiter. „Ich habe nicht den echten Stab zerbrochen. Sowas würde ich nie tun. Das Eigentum anderer zerstören, aber ich wollte ihm helfen seine Vergangenheit hinter sich zu lassen, einen Neuanfang zu wagen. Aber ich komme zum Entschluss, dass er meine Hilfe nicht verdient. Ich will, dass du ihm diesen wiedergibst. Ihn nicht versteckst, ihn nicht zurückhältst, sondern ihn ihm aushändigst. Ich will, dass er versteht, dass manche auf seiner Seite waren.“
    „Ohne Magie sollte er verteidigt werden“, nuschelte Kuen von sich hin, was den anderen einen überraschten Gesichtsausdruck beschwerte.
    „Das kannst du gerne übernehmen, aber wundere dich nicht, wenn du enttäuscht wirst“, antwortete Daphne ihr. „Aber seine Arroganz wird ihm ein Leben lang im Weg stehen.“
    Damit war für Daphne die Diskussion beendet.
    „Ich lasse mich nicht zu einem Werkzeug machen“, widersprach Kuen mit einem Lächeln, was die anderen nur durch ein Nicken quittierten.
    „Viel Spaß dabei“, rief Theical beim Gehen noch nach, als auch die drei die Lichtung für diesen Tag verließen.„Sag uns, wie es gelaufen ist.“
    In seiner Stimme schwang Sarkasmus mit. Die Frage war auch noch, wo alle unterkamen. Daphne konnte auf die weitere Gastfreundschaft von Zacharas verzichten, wobei er ihr dies auch nicht angeboten hatte. Als dies zur Sprache kam, verwies Theical freundlich auf die Schmiede seines Großvaters. Als ehemaliges Gasthaus, besaß es genug Schlafzimmer – sogar noch ein zusätzliches Bad, was Daphne ungehindert nutzen konnte. Ohne das Wissen, wo sie sonst unterkommen sollten, bejahten beide Theicals Einladung und Daphne hoffte, dass auch Habger nichts dagegen hatte. Der Taschendieb versicher ihr, dass dies nicht der Fall sein würde.