Daphne saß in ihrem Zelt und streckte den Rücken durch, während ihr ein Seufzen entwich.
„Stimmt etwas nicht, Herrin?“, fragte sie die blonde Hofdame von der Seite, während sie feine, weiße Linien auf ihren Arm malte.
„Alles gut!“, antwortete die Prinzessin, aber sie war genervt. Sieben Jahre hatte sie es geschafft, diesem Alltag zu entkommen und nun verbrachte sie im ungünstigsten Moment überhaupt, ihre Zeit mit alten Traditionen. Tristan, ihr legitimer Bruder und mittlerweile Herzog von Deliveih – wie sie überrascht feststellen musste – hatte sich erdreistet heimische Kammerzofen mitreisen zu lassen, die sich um sie kümmern und ihm Bericht erstatten sollten. Anscheinend waren ihm die Damen aus Zacharas´ Haus nicht „nordisch“ genug. Man hatte sie gebadet, ihre Haare aufwendig geflochten und mit heißen Holzspiralen bearbeitet. Was sollte das nutzen? Alsbald würden tausende Soldaten dort einmarschieren und sie sah aus, als wollte sie zu einem Empfang. Thyra hatte sie schon ausgelacht, als sie ihr einen kurzen Besuch abgestattet hatte, um ihr mitzuteilen, dass sie ebenfalls bei Habger untergekommen waren. Daphne vermisste ihre Freunde. Das Leben, was man ihr dort aufzwang, war schon lange nicht mehr ihres gewesen. Natürlich trug sie ab und an mal gerne Kleider, aber das weiße Seidenkleid, in welches man sie dort geschnürt hatte, war gänzlich übertrieben. Die bestickte Schleppe unpraktisch. Sie würde an der Seite ihrer Freunde kämpfen und nicht irgendwo ausharren wollen. Dieser Gedanke machte ihr mehr Angst, als sich Feinden zu stellen. Irgendwo auf Nachricht warten, nein, das kam nicht infrage. Aber nicht einmal Yorick ließ eine Widerrede zu. Wer konnte es ihm verübeln, nachdem sie ihm von ihrem Tod gestanden hatte. Es war ihr nicht leicht gefallen, den richtigen Moment zu finden, aber als er sie über Heinrichs Tod ausgefragt hatte, erzählte sie ihm kleine Details, nichts alles. Er musste auch nicht alles wissen, weil sie auch nicht alles wusste. Wer Heinrich wirklich getötet hatte, war ihr natürlich bekannt. Sie hatte den ersten Peitschenhieb gesehen, aber mehr auch nicht. Die Genugtuung, dass er es zuletzt nicht leicht gehabt hatte, reichte ihr, ging aber keinen anderen etwas an. Sollten doch selbst ihre Brüder glauben, er sei betrunken die Treppe hinuntergefallen und hatte sich das Genick gebrochen – so hatte der Herzog von Felodun zumindest bekanntgegeben. Natürlich hatte er eine Lüge erfunden, aber nicht nur, um die Gruppe zu decken, sondern auch, um sich peinliche Fragen zu seinen Töchtern zu ersparen, die sich derzeit auf einer „langen“ Reise befanden.
Nichtsdestotrotz hatte Yorick an der Tatsache, dass sie gestorben und wieder zurückgekehrt war, zu schlucken. Sie konnte es in seinen Augen sehen. Wäre ihm so etwas zugestoßen, dann würde sie ihn auch in weiches Moos betten und nicht mehr in die Fremde entlassen, schon gar nicht in einen Krieg, aber man kann den freien Willen einer Person nicht brechen, nur weil ein anderer sich selbst fürchtet. Ihr wäre es auch lieber, wenn sich Yorick, Arthur und Thorvid weit weg befinden würden, taten sie aber nicht. Würden sie sich abbringen lassen – sicher nicht. Sie verdienten sich so ihre Tätowierungen, eine Frau jedoch hatte sich aus so etwas herauszuhalten, obgleich Yorick wusste, dass sie mehr war. Er hatte es bei der Rückeroberung erlebt, aber ein Kampf gegen Tausende war natürlich etwas anderes, als die Eroberung eines Turmes – kampflos. Daphne war der vollsten Überzeugung, den Hals konnte sie sich auch in diesem Kleid brechen. Die zweite Kammerzofe legte den Pinsel auf der anderen Seite von Daphne nieder und war anscheinend etwas schneller fertig als die andere. Für was der Aufwand? Die Männer tätowierten sich für die Ewigkeit, um so auf ihren Rang und ihre Kampfkraft aufmerksam zu machen. Frauen war dies natürlich nicht gestattet, weil sie keinen Rang dahingehend besaßen, aber Daphne als Tochter des Herzogs, nun Schwester dessen, bekleidete von selbst ein höheres Amt als die meisten. Angesehen davon, erfüllte die Farbe aus einem Kalkstein noch eine weitere Aufgabe, warum sie früher fast täglich aufgetragen wurde. Daphne gähnte. Einen Tag noch sollte es laut Kuen dauern und sie … Wenn die Prognose der Soldatin nur halb so zuverlässig war, wie die Route um die Soldaten herum, dann verschwendete sie dort kostbare Zeit. Die anderen planten vermutlich bereits. Der Pinselstrich an ihrem Hals kitzelte, aber wie gewohnt versuchte sie die Haltung zu bewahren. Natürlich hätte sie sich verflüssigen und somit abhauen können, aber zu welchem Zweck? Jeder hätte gewusst, wo man nach ihr suchen musste. Man musste sie aus freien Stücken gehen lassen und dafür würde sie alsbald sorgen.
Urplötzlich trat die Zeltwache und räusperte sich vor ihr, da sie ihn, gedankenverloren, überhaupt nicht wahrgenommen hatte.
„Hoheit?“, setze er gedämpft unter seinem Helm an, als sie ihren Kopf hob.
„Bitte?“, gab Daphne erschrocken wieder.
„Wollt Ihr …“, er pausierte kurz, „einen Ser Daryk Hylon empfangen? Er bittet um eine Unterredung.“
Fast hätte Daphne laut aufgelacht. Nicht nur, dass sich der Hüne mit vollem Namen vorstellte, nein, der Soldat nannte eine Unterhaltung eine Unterredung.
„Das letzte, worum mich Daryk bitten muss, ist eine Unterredung“, meinte sie daher. Der Soldat unter seiner blickdichten Rüstung schien auf eine exakte Antwort zu warten.
„Natürlich darf er eintreten“, stellte Daphne klar und konnte nicht fassen, dass sich ihre Freunde mittlerweile anmelden mussten. Selbst Thyra stellte sich scherzhaft mit vollem Namen vor, bevor sie den Soldaten angemault hatte, dass er verschwinden solle. Der Mann verschwand wieder aus dem Zelt und kurz darauf war eine Diskussion zu hören. Bevor Daphne überhaupt reagieren konnte, stand Daryk schon mitten im Zelt, aber mit dem Soldaten als Begleiter, welcher an dessen Fuß hin. Die Prinzessin wollte gar keine erklärenden Worte des Mannes am Boden hören, sie erkannte den Grund bereits, als sich die beiden Kammerzofen neben ihr erschrocken erhoben und anfingen zu krakeelen.
„Ja, ich weiß!“, maulte Daphne daher und fuhr sich genervt über die Stirn.
„Zieht Euren Helm auf!“, behaarte die blonde Zofe energisch.
„Ihr könnt der Prinzessin nicht mit Eurem Gesicht entgegentreten!“, meinte die zweite Kammerzofe.
„Ich kenne aber sein Gesicht!“, entglitt es Daphne erklärend und verwies mit beiden Händen auf Daryk. „Ich hab es bereits oft gesehen, bei Rhenus langem schwarzen Haar, hört auf euch anzustellen!“
„Aber er ist ...“, widersprach die Blonde.
„Was? Ein Mann? Erzählt mir etwas Neues!“, protestierte Daphne lautstark.
„Aber Euer Bruder ...“, sprach die Rothaarige verunsichert.
„Welcher?“, wollte Daphne verzweifelt wissen. „Ich habe so einige von ihnen und jeder glaub, schlauer als der andere zu sein. Es ist in Ordnung.“
„Der Herzog wird ...“
„Der kann von mir aus im Kreis springen und dabei sich die Finger in die Nase stecken, das ist mir egal“, fuhr die Prinzessin fort. „Und nun lasst uns allein.“
„Was?“, entglitt es der Blonden.
„Geht! Ihr alle!“, schrie Daphne geradezu hysterisch, stand auf und ergriff die Schale mit der weißen Farbe. Eilig verschwanden der Soldat und die beiden Damen aus dem Zelt, ehe Daphne ihnen das Behältnis an den Kopf werfen konnte. Somit traf es nur die Zeltwand.
„Die machen mich wahnsinnig!“, verkündete die Heilerin zähneknirschend, während ihre Schultern leicht zusammenzuckten. Sie war ja gar nicht alleine und hatte sich nun wirklich wie eine verwöhnte Prinzessin aufgeführt. Langsam wandte sich Daryk zu, der etwas Platz vor dem Eingang gemacht hatte, damit alle entkommen konnten.
Erst jetzt hatte sie einen Moment der Ruhe, um zu begreifen, dass Daryk nicht einfach in seiner übliche, dunkel gehaltenen Kleidung dastand, sondern er die schwarze Rüstung trug. Die Fliege stach förmlich empor und ließ den Hünen noch bedrohlicher wirken, als er es ohnehin schon tat, aber trotzdem fürchtete sie ihn kein bisschen. Er befand sich zu ihrem Glück auf ihrer Seite. Trotzdem schämte sie sich fast ein bisschen, ihn nicht nach seinen Wünschen oder Vorstellungen gefragt zu haben. Aber so war es nun mal mit Geschenken. Sie hätte sich ja die Überraschung selbst verdorben, wenn sie etwas verraten hätte.
„Die Rüstung ...“, sprach sie deshalb leise.
„Ist perfekt!“, beendete Daryk, zu ihrer Erleichterung, den Satz. Ein Stein fiel ihr vom Herzen und sie atmete erleichtert aus, was ihr Lächeln untermauerte.
„Dann ist gut und tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest, aber … ich bin nicht mehr dran gewöhnt so behandelt zu werden.“
„Warum bist du so... bemalt?“, setzte Daryk die Frage hinterher, weshalb sich Daphne von oben bis unten selbst musterte. Das war wohl kaum zu übersehen. Die verschnörkelten Muster zogen sich über ihren Oberkörper, über Arme und Hals. In dem Moment konnte sie nur froh sein, dass man ihre Beine nicht sah.
„Es zeigt, wer ich bin“, antwortete Daphne knapp.
„Das hätte ich auch so gewusst!“, erwiderte Daryk grinsend. „Aber ist das normal bei euch?“
„Normal?“, lachte die Heilerin. „Nein, das ist ein lang errungener Fortschritt. Früher noch, wurden Männer, die einer Prinzessin zu nah kamen, verstümmelt und ihr wurde das Augenlicht genommen. Dagegen sind ein paar weiße Linien reinste Freiheit.“
„Warum?“, hakte Daryk nach und schaute sie fragend an. Daphne hob ihre rechte Braue, wie immer, wenn sie erstaunt war.
„Wie behandelt man Prinzessinnen in deiner Heimat?“
„Man bewacht sie, man sorgt dafür, dass sie sicher ist. Aber man verstümmelt sie nicht oder die Männer, die sie bewachen“, erwiderte der Hüne, was Daphne erneut ein Lächeln entlockte. Sie lief zu einem kleinen Tisch und schenkte sich einen Becher Wein ein, ebenso wie Daryk, dem sie ihn reichte. Die Erklärung dessen, so war sie sich sicher, konnte kaum einer nachvollziehen. Wortlos nahm Daryk den Wein entgegen.
„Und wenn die Männer mehr tun, als sie nur zu bewachen?“, fragte Daphne und schaute ihn aus dem Augenwinkel an. Daryk starrte sie geistesabwesend an, geradezu durch sie hindurch, bevor er sich wiederfand und nach ein kurzen Blinzeln meinte: „Die Wachen sind Ritter. Sie schwören einen Eid, die Königliche Familie mit ihrem Leben zu schützen und ihren Befehlen zu gehorchen. Normalerweise ...“, er pausierte kurz mit gerunzelter Stirn, „halten sich auch alle daran, da sie den Preis für das Brechen des Eids kennen.“ Dann verwies er auf sein Gesicht. Daphne grinste.
„Das ist ebenfalls verstümmeln.“
„Ja, aber als Strafe, nicht als Vorkehrung.“
Leicht legte die Heilerin ihren Kopf schief und musterte den Hünen vor sich.
„Warum warten, bis das Unvermeidliche eingetreten ist? Wir waren einst ein kleines Volk. Der Legende nach, kamen wir über das Meer in den Norden. So klein, dass es schlimme Folgen hätte haben können, wenn Kinder geboren worden wären, die nicht dem ehelichen Bund entsprangen Wenn irgendein Vater in meinem Land zu seiner Tochter spricht, dann heißt es; schau dir dir Prinzessin an, sie macht … sie tut … sie befolgt. Ich bin die Tochter eines Landes, nicht die eines Müllers, eines Bäckers oder Schmieds.“
Daryk senkte seinen Blick und nahm einen Schluck Wein.
„Das tut mir leid“, sprach er reumütig, für was es für Daphne keinen Grund gab. Sie war schon mal entkommen und würde es ein zweites Mal tun.
„Und wegen der Farbe!“, kehrte sie zu seiner eigentlichen Frage zurück und forderte, dass er kurz seinen Becher abstellte, dem kam er nach.
„Zieh deinen Handschuh aus!“, forderte sie gleich auf weiter. Dem kam er ebenfalls nach. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht, nahm Daphne Daryks Hand und legte diese auf ihre.
„Das Gestein ist so ölig, dass es nie gänzlich trocknet, aber so hartnäckig, dass es haftet. Ein Mann in meinem Land, würde zweit Tage mit der Farbe an seinen Händen herumlaufen, sodass man merkt, wen er angefasst hat. Deswegen darf niemand anderes diese Farbe tragen.“
Sie entfernte Daryks Hand von ihrer und zurück blieb eine Kopie ihres Musters. Skeptisch betrachtete er seine Hand und schaute dann wieder auf.
„Soll ich deinen Brüdern nun aus dem Weg gehen?“, verlangte Daryk zu wissen.
„Nein, nein“, meinte Daphne beruhigend. „Ich kann Yorick erklären, dass ich es dir erklärt habe. Nur die Kammerzofen sollten es nicht sehen. Das sind Spione des Herzogs.“Verständlich nickte der Hüne, mit Blick auf seine Hand.
„Deines Bruders ...“, wiederholte er die Art der Verwandtschaft, aber dem konnte Daphne nicht mehr gänzlich zustimmen. Tristan repräsentierte nun ein Land. Wie viel von ihrem einstigen „Bruder“ übrig war, blieb abzuwarten.
Plötzlich schob sich der Vorhang beiseite und Arthur trat ungefragt hinein.
„Die Zofen meinten ...“, setzte er an, verstummte aber kurz bei dem Anblick auf Daryks gezeichneter Handfläche.
„Hoheit?“, fragte der unbenannte Bruder und bedachte Daphne mit einem fragenden Blick.
„Ich hab ihm erklärt, was der ganze Aufstand soll, keine Sorge. Er hat nicht ungefragt meine Hand gehalten.“
„Trotzdem sollte er nicht hier sein“, beschwerte sich Arthur. „Die Zofen waren außer sich, auch, weil er keinen Helm trug. Ihr werdet heute Nachmittag ins innere von Ymilburg verlegt. Hier außerhalb ist es zu gefährlich. Yorick sprach bereits mit Zacharas van Júmen und er spricht Euch Räumlichkeiten zu.“
„Dann richte meinem Bruder aus, dass er das vergessen kann! Ich gehe nirgendwo hin, außer zu meinen Freunden!“
„Was?“, maulte der Halbbruder los. „Wer hat Euch diese Flausen in den Kopf gesetzt?“
Sein Blick wanderte zu Daryk, der seine Arme vor sich verschränkte und die Leibwache finster musterte.
„Niemand“, widersprach Daphne. „Ich kann heilen und … kämpfen.“ Daphne schaute auch kurz zu Daryk, der ihr immerhin beim Ausbauen ihrer Kräfte geholfen hatte und ihr so Selbstvertrauen gab. Vielleicht hatte er doch etwas mit den Flausen zu tun – so wie Thyra, Jaris und alle anderen.
„Ihr gehört nicht auf ein Schlachtfeld!“, wurde Arthur lauter.
„Und wie!“, schrie Daphne zurück. „Glaubt ihr alle im Ernst, dass ich mich feige verziehe? Ihr dürfte andere einfach zu einem Übungskampf auffordern, ich andere nicht einmal ansehen.“
„Eigentlich wurde ich nie gefragt“, warf Daryk ein. „Man ließ mir gar keine Wahl.“
„Wie bitte?“, brüllte Daphne und wechselte zwischen Arthur und Daryk hin und her. „Ihr fordert einfach Gefährten von mir heraus?“ Ihr Tonfall wurde immer lauter. Sie hatte das Gefühl, gleich zu explodieren. Immer wieder erinnerte sie sich an die Zeit, in der sie allein auf sich gestellt war. Jahre in vollkommener Abgeschiedenheit und nun wusste sie wieder warum. Ansehen wen sie wollte, sprechen mit wem sie wollte. Und vieles mehr, was ihr zuvor verboten war. Sie konnte es gar nicht verhindern, dass das Wasser nach Arthur griff und seine Arme umwickelte. Erschrocken blickte dieser seine Herrin an, die ihn so aus dem Zelt stieß. Kaum draußen, wurde der schwere Soldat hochgehoben und auch Daphne trat aus dem Zelt hinaus. Die verwirrten Blicke der anderen Krieger blendete sie aus. Die Prinzessin hielt ihre einstige Wache hoch über sich und ließ den Moment auf sich wirken.
„Ich mache was ich will!“, stellte sie klar.„Ich mache was ich will, wann ich will, wo ich will und mit wem ich will!“
„Was hat das zu bedeuten?“, verlangte Arthur zu wissen und biss die Zähne zusammen, als sich die beiden Wasserstränge um seine Arme fester zuzogen.
„Dass ich zu meinen Freunden gehen werde und niemand wird mich davon abhalten. Ich bleibe bei ihnen, sogar im Kampf!“
„Daphne“, erklang Daryks Stimme im Hintergrund, der langsam hinter sie trat und er legte ihr seine Hand auf die Schulter. Sie atmete tief durch und ließ ihren Halbbruder wieder runter.
„Ich glaube, er hat es verstanden. So ziemlich jeder hier!“, fügte der Hüne hinzu und Daphne bedachte ihren Halbbruder noch mit einem letzten warnenden Blick, dann verflüssigte sie sich und verschwand im Zelt.
Kurze Zeit später kam sie heraus und das in ihrer gewohnten Kleidung. Ihrer schwarzen Hose, den dunklen Stiefeln und der schulterfreien Korsettbluse. So, wie sie sich am Besten kannte. Auch hatte sie wieder den hölzernen Armreif am linken Handgelenk, den man ihr zum Bemalen abgenommen hatte. Aber das war ohnehin hinfällig, denn nach Daphnes Verwandlung, waren die Zeichen verschwunden.
„Ich lasse mich nicht mehr knechten“, richtete sie an Arthur, während sie an ihm vorbeilief. „Soll Tristan doch Blut und Galle spucken, aber ich bin nicht länger ein Sklave ihrer Launen, Bruder!“
Sie wählte absichtlich das Wort, denn im Grunde war Arthur das und Daphne hatte die Nase voll davon, dass sie so tun musste, als sei es anders. Blut war dicker als Wasser! Wer, wenn nicht sie, wusste dies am Besten?
„Daryk, wir gehen!“, meinte Daphne weiter und kurz schaute der Hüne verdutzt, der anscheinend das Kleid, welches Daphne zuvor getragen hatte, in Händen hielt. Als die Heilerin sich an ihn wandte, drückte er Arthur kommentarlos den weißen Fetzen gegen die Brust und folgte ihr.
Sie liefen zum See, der sie von Ymilburg trennte, aber anstatt nach einem Boot Ausschau zu halten, lief Daphne einfach weiter.
„Was hast du vor?“, wollte Daryk wissen, aber die Heilerin schien zu wissen, was sie tat.
„Komm einfach!“, antwortete sie und versuchte die vorherige Wut in ihrer Stimme zu unterdrücken.
„Aber wohin?“
„Nun komm!“, beharrte Daphne weiter auf den eiligen Schritt und fing an das Wasser vor sich zu verdrängen. Sie schuf einfach einen Weg durch den See hindurch, direkt am Boden entlang, mit meterhohen Wasserwänden um sie herum. Sie liefen tatsächlich einfach durch den See hindurch, der vor der kleinen Frau zurückwich. Daphne hatte gehofft, dass dies funktionieren würde, aber allein ihr Zorn, genug Abstand zwischen sich und ihre Brüder zu schaffen, half dieser Magie auf die Sprünge. Allmählich ahnte sie, woher sie ihre Kraft bezog. Es war wie bei Aras nicht der Gedanke an Liebe oder Ähnliches, oder wie bei Theical von der Konzentration abhängig. Bei Daphne sorgte die Wut und der Zorn für ausreichend Energie, damit sie ihre Kräfte gezielt einsetzen konnte. Daryk schaute sich ständig um, hatte die Wände genau im Blick, die Daphne mit ihrer Magie aufrecht erhielt. Ihm schien das alles gar nicht zu gefallen, auch wenn er nichts sagte.
„Was ist?“, hakte Daphne auf halber Strecke nach, als sie das ständige Herumgedrehe auffällig fand.
„Nichts!“, meinte der Hüne, untersuchte aber die Wand vor sich mit seiner rechten Hand, von wo aus man direkt in den See schauen konnte.
„Du … wirkst beunruhigt“, bohrte sie weiter.
„Du wärst auch beunruhigt, wenn du nicht schwimmen könntest“, gestand ihr Daryk und Daphne blinzelte kurz ihre Verwirrung hinfort.
„Du kannst nicht schwimmen?“, wiederholte sie das Geständnis. Das erinnerte sie an Theical, der ihr einmal das gleiche gestanden hatte.
„Wirklich?“, nuschelte Daphne, die immer dachte, dies sei eine Tugend von Rittern, aber gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass, wenn Daryk so weit aus dem Norden stammte, dass dort nur Eis zu finden war, schwimmen eher unwichtig erschien. Das hätte sowieso niemand überlebt.
„Ich verstehe“, antwortete sie deshalb im Nachhinein. „Aber mach dir keine Sorgen, ich habe es unter Kontrolle.“
„Ich weiß“, meinte er und schaute sie an. „Es ist nur seltsam.“
Daphne nickte und lief zunächst einfach weiter.
„Ist ja nicht so, als würde dir das Schwimmen können etwas helfen, in der Rüstung, die du trägst.“
„Vielen Dank, sehr beruhigend“, murmelte der Hüne und schloss eilig zu ihr auf, als er merkte, dass die Wand hinter ihm näherkam.
„Zur Not bringe ich es dir und Theical noch bei. Nach der Schlacht eben, wenn wieder Normalität einkehrt. Dann bin auch ich mal von Nutzen für die Allgemeinheit.“ Daphne sprach absichtlich von dieser Zeit, weil sie hoffte, dass danach alles noch genauso war und sie keinen verlieren würden.
„Für mich ist `Normalität` eher ungewohnt“, antwortete Daryk und meinte wohl damit, dass er sein halbes Leben lang Schlachten schlug. Daphne musste ihm innerlich recht geben. Inwieweit unterschied sich schon diese von denen, die er bereits geschlagen hatte? Für sie war es ein neues Ufer und hätte sie sich vor einem halben Leben nicht erträumen lassen. In Delyveih wäre sie sicher und behütet, weit weg von all dem Zwist und Gefahren, aber sie würde einiges in ihrem Leben vermissen, was sie nicht mehr bereit war herzugeben.
Deshalb war sie froh, als sie das andere Ufer betrat und das Stadttor genau vor Augen hatte – wie Daryk vermutlich auch. Ohne Umschweif ließ man sie in die Stadt, wo kaum noch jemand, außer Soldaten der Stadtwache, herumliefen. Es war eine düstere Stimmung, ruhig, wie der Moment vor einem Blitzeinschlag. Daphne versuchte dies zu überspielen, ihre Angst und Befürchtungen. Zum ersten Mal, versuchte sie freiwillig niemanden Fremdes in die Augen zu sehen, damit sie später Gesichter nicht vermisste, denn sie war nicht so blauäugig zu glauben, dass man jeden retten konnte. Yorick warnte sie davor, ihre Magie auf dem Schlachtfeld zu zeigen, zumindest die heilende. Denn wie verzweifelt würden die Männer werden, wenn sie erfuhren, dass jemand all ihre Gebrechen und Verletzungen heilen konnte? Wie begrenzt dies war, spielte dabei dann keine Rolle.
Kurz vor der Schmiede blieb Daryk stehen und meinte, er müsse noch in einer Angelegenheit zu Aras. Es ging um einen Schacht, der versiegelt werden sollte. Die letzten Vorbereitungen liefen, deshalb nickte die Heilerin stumm und wandte sich der Tür von Habgers Heim zu.
„Daphne“, sprach Daryk sie noch einmal an und sie wandte sich ihm zu, während ihre Hand bereits auf dem Türgriff ruhte.
„Danke“, führ er fort und legte seine rechte Hand auf die Fliege, welche auf seiner Rüstung prangte.
Wieder nickte die Heilerin.
„Gern!“, antwortete sie, bevor sich ihre Wege trennten. Daphne öffnete die Tür, wo sie, zu ihrer Überraschung alle im ehemaligen Schankraum vorfand. Alle mit überraschten Gesichtern, sie zu sehen. Thyra, Jaris, Theical und sogar Habger.
„Was ist?“, fragte Daphne.
„Du, hier?“, verlangte Thyra zu wissen, hatte aber ein Strahlen aufgesetzt.
„Bin mal wieder abgehauen!“, gab Daphne schulterzuckend zu und betrat den Raum, wo Jaris ein paar Dinge erzählte, die er erfahren hatte. Dinge, die kaum möglich erschienen.