Beiträge von Miri im Thema „Auf der Suche nach der Schatulle von Daris“

    Thyra musste sich beherrschen nicht lauthals in Gelächter auszubrechen.
    Das hatte der Giftzwerg von König sowas von verdient!
    Allerdings hatten sie jetzt ein Problem: Entweder sie segelten zurück nach Delyveih und hatten den ganzen Weg umsonst gemacht und zusätzlich noch Stress mit dem König am Backen, weil der ja auch irgendwie besänftigt und wieder nach Hause gebracht werden musste. Oder sie fuhren nach Lyc und würden höchstwahrscheinlich ihr Schiff verlieren und auf dem langen Landweg heimkehren müssen. Ganz abgesehen davon, dass es Daphnes Schiff war und die Prinzessin wahrscheinlich schon daran hing.
    Aber dass sie nichts dafür konnten und dass ein Klabautermann das Schiff des König angezündet hatte, das würde ihnen niemals jemand abkaufen.
    Thyra Blick wanderte zu Daryk. Dessen verkrampfte Hände verrieten, dass er eine dritte Option im Sinn hatte. Sie konnte sein Gesicht unter dem Helm nicht sehen, zweifelte aber nicht daran, dass tiefer Hass in den Augen des Kriegers stand und er seine Hand nur schwer beherrschen konnte.
    Ihr Übermut erlosch. Sie wollte Daphne einen warnenden Blick zuwerfen, doch diese war in den Streit mit dem König vertieft.
    Also wandte sie sich an die restlichen Männer der Gruppe: Jaris, Theic, Tris und Aras. Jeder von ihnen schien ähnliches wie sie zu ahnen.
    Behutsam machte sie einige Schritte rückwärts und verschwand dann in der Takelage. Geschickt hangelte sie sich zum Mastkorb hinauf.
    Wenn es gleich zur Sache gehen sollte, wollte sie keine unnötige Zeit verschwenden.

    Daryk klärte sie mit kurzen Sätzen auf, was es mit dem Schiff auf sich hatte - und auch wer an Bord war. Warum der Hüne den König tot sehen wollte erklärte er nur in groben Zügen. Die Jägerin verstand, dass sie besser nicht nachbohrte, sah aber den Schmerz des Kriegers und begann seine Wut zu teilen.
    "Den würde ich am liebsten gleich ertränken!", brauste sie auf.
    "Er gehört mir", sagte Daryk ruhig, aber in seinem Blick schwang ein Hass und eine Ernsthaftigkeit mit, die Thyra einen Schritt zurück weichen ließen. Sie nickte ernst, sagte aber trotzdem: "Dann lass mich wenigstens Fenrir mit zum Essen bringen. Er wird dir den Rücken freihalten."
    Daryk grinste und die Jägerin nahm es als "Ja". Thyra teilte seine Vorfreude. Ohne manch Menschen war die Welt auf jeden Fall besser.

    Nun stand sie an der Reling zwischen Jaris und Theic, der mittlerweile vom Mast geklettert war, und beobachtete das Schiff, das langsam immer größer wurde. Eigentlich hätte sie das Schiff als bedrohlich empfinden müssen, aber Daryk Zorn hatte sie angesteckt.
    Daphne stand ein paar Meter weiter. Ihre Haare ordentlich zu einem langen, dicken Zopf geflochten, neben ihrem Bruder. Daryk stand in voller Montur hinter ihr. So wirkte er nicht nur bedrohlich, sondern man erkannte ihn auch nicht.
    Das Schiff des Königs von Lyc kam immer näher, bis es schließlich direkt neben ihrem trieb.
    "Seid gegrüßt", hallte es vom Schiff herunter.
    Jaris lächelte und winkte rüber. Er stieß ihr mit dem Ellbogen in die Seite, weil sie es ihm nicht gleich tat und bei einem aufmerksamen Betrachter Verdacht geweckt hätte, also kleisterte sie sich ein Lächeln ins Gesicht, das strahlend aber genauso falsch war.

    Thyra überlegte. Ein Trank, den sie auf ein Seil kippen mussten, damit es den Klabautermann halten konnte.
    Das klang leicht.
    Als Triss, Theic, Aras und Thyra ihren Plan, nämlich den Klabautermann anlocken, dann mit kalten Wasser übergießen und fesseln (das war Triss' Aufgabe) und dann mit dem Reim zwingen zuzugeben, dass er den Matrosen verzaubert hatte, mitgeteilt hatten, überlegten sie gemeinsam, wie sie an die Zutaten für den Trank kommen könnten.
    Thyra überlegte laut: "Also Salz ist leicht. Das gibt es in der Küche. Da müssen wir sowieso hin, um ein bisschen Süßkram zu besorgen ..." Sie tippte sich ans Kinn. "Tinte vom Tintenfisch. Den können wir bestimmt angeln ..."
    Der Kapitän warf ein: "Hier in der Nähe ist auch ein Korallenriff. Dort kriegen wir den Kalk und ein wenig Schneckenschleim von Seeschnecken."
    "Dann bleiben noch Elfenbein, Nickelspan und die Schuppen einer Meerjungfrau", ergänzte Aras die Liste und fügte sogleich hinzu: "Nickelspan habe ich vorne an der Galleonsfigur schon gesehen. Den könnte ich abkratzen."
    "Elfenbein ...", brummte Jaris und kramte in den Taschen seiner Hose herum. "Wusste doch, dass ich es noch hab." Er zog eine kleine kunstvoll geschnitzte Statue hervor. insgesamt mochte sie do groß sein, wie Thyras kleiner Finger. Dennoch konnte man erstaunlich viele Details erkennen.
    "Hey ... die ist von mir", rief Aras erstaunt.
    Jaris zuckte verlegen mit den Schultern. "Damit hast du mich für meine Dienste bezahlt ... Jetzt nehmen wir sie eben für den Trank."
    Theic grinste erfreut. "Ich dachte schon, wir müssen irgendjemand das Erbstück seiner toten Mutter klauen und uns unbeliebt machen ..."
    Thyra stieß ihren Kumpel lachend in die Seite, dann wanderte ihr Blick zu Daphne.
    "Was?", fragte die Heilerin.
    "Äh ... naja ... du bist doch sowas wie Calypso 2.0, oder? Könntest du nicht ein paar Meerjungfrauen rufen?"
    Daphne schmunzelte. "ich fürchte damit kann ich nicht dienen."
    "Schade. Was nun?"

    Wieder hatte der Käptn eine Idee: "Ich hab da einen Matrosen an Bord. Er kann wunderschön Flöte spielen. Die Nixen sind ganz verrückt nach ihm. Wenn er spielt vergessen sie und mit ihrem Gesang zu verführen. Vielleicht kann er eine dazu bewegen uns einige ihrer Schuppen abzugeben...?"
    "Ernsthaft?", platzte es aus Daryk hinaus.
    Der Käptn nickte und grinste. "Sie lieben ihn." Dann zwinkerte er dem Hünen verschmitzt zu.

    Es dauerte den ganzen restlichen Tag alle Zutaten für den Trank zusammen zu kratzen. Alle waren über das Schiff gehuscht, die Matrosen hatten fleißig geholfen. Besonders der, der unter dem Zauber des Klabautermanns das Tau durchtrennt hatte. Er war, na unzähligen vergeblichen versuchen einen blöden Tintenfisch zu fangen, kopfüber ins Meer gesprungen und hatte ein kleines Exemplar am Tentakel gepackt. Mit Daphnes Unterstützung, die ihm das Wasser aus der Lunge fernhielt und den Tintenfisch mit Hilfe der Fluten davon abhielt sich am Kopf des Matrosen festzusaugen, hatte er schließlich die Tinte bekommen. Zurück waren Saugnapfabdrücke auf deinem rechten Arm geblieben.
    Nun standen sie auf dem Deck und betrachteten sie violette Flüssigkeit, die in der Phiole schwappte, die Aras gegen das Licht hielt. Andächtig senkte und entleerte er sie auf ein Tau, dass Thyra ihm hinhielt. Das Material nahm die Flüssigkeit restlos auf und ein dünner, goldener Glanz umspielte das Seil nun.
    "Na dann", sagte Triss und platzierte einen mit Marmelade gefüllten, mit Zuckerguss bestrichenen und mit Puderzucker bestäubten Teigball in der Mitte. Der Küchenchef hatte ihn aus seinem privaten Vorrat geopfert ...
    "Jetzt heißt es warten."

    Thyra lief gerade über das Deck. Jaris und sie hatten sich getrennt, um in kürzerer Zeit mehr Leute befragen zu könne, aber niemand hatte etwas gesehen .... oder gehört ... oder sonst irgendwas ... Innerlich verdrehte sie die Augen. Alle waren so sehr vom Spiel abgelenkt gewesen. Selbst die Matrosen, die eigentlich hätten was schaffen sollen.
    Notiz an mich selbst: Keine Spiele mehr, dachte sie mit Bedauern. Dann musste sie sich wohl was anderes einfallen lassen, um die Langeweile zu vertreiben. Aber immerhin hatte sie jetzt erstmal was zu tun. Und zum Glück war nichts passiert.
    "He, du", sprach sie einen Matrosen an, der gerade dabei war sich in die Takelage zu schwingen. Der Mann hielt und inne und betrachtete sie abschätzig von oben bis unten. "Ich wusste, dass Frauen an Bord Unglück bringen", war sein Kommentar zu der Sache. Das hörte sie heute nicht zum ersten Mal. "Jaja, blabla. Wenn die Männer zu blöd sind, dann warens wieder die Frauen. Hast du wenigstens was gesehen oder gehört, was deine These unterstützt?" "Te .. was?" Thyra starrte den Mann genervt an. Er war abergläubisch und offensichtlich nicht der Hellste. Die öffnete den Mund, um zu einer Erklärung anzusetzen, schloss ihn dann aber wieder, schüttelte den Kopf und drehte sich um, um zu gehen.
    "Genau. Scher dich zum Teufel." Der Matrose war offensichtlich eingeschnappt. Thyra hielt inne, ging zum dem Matrosen zurück und baute sich vor ihm auf. Er war nicht sonderlich groß, sodass sie ihm direkt in die Augen sehen konnte. Ihre Nasenspitzen trennte vielleicht noch ein Finger. Sie setzte ein fieses Grinsen auf und hauchte: "Ich bin der Teufel." Lachend stieß sie ihn vor die Brust. Der Mann taumelte zurück und bekreuzigte sich. "Nie wieder Frauen an Bord", murmelte er und ergriff die Flucht nach oben.
    Sie lachte immer noch, als sie spürte, wie ihr jemand auf die Schulter tippe.
    "Ja? Oh hey, Tris. Hast du was rausgefunden?"
    Der Jüngling nickte, wirkte aber ein wenig durch den Wind. "Kann ich mit dir sprechen? Unter vier Augen."
    Thyra merkte, dass es Tristan ernst war, also nickte sie. Außerdem wollte sie wissen, was er Spannendes herausgefunden hatte. Sie suchten sich eine wenig belebte Ecke auf Deck, die zu einer Seite von Fässern und zur anderen von der Reling begrenzt war.
    "Also was ist?", fragte Thyra und blickte den Soldaten fragend an. Er druckste eine Weile herum und begann dann: "Wir haben unter Deck einen aufgelösten Matrosen gefunden. Er sagte immer wieder, dass er nicht wollte, dass jemand verletzt wurde."
    "Das ist doch super!", unterbrach Thyra Tris. "Wo ist er jetzt?"
    "Theical und Herzog Zacharas bringen ihn zu Daphne, aber das ist nicht der Punkt."
    "Sondern?"
    "Er war es nicht ..."
    Thyra blickte den jungen Mann misstrauisch an. "Was macht dich da so sicher?"
    "Er ist von einem Klabautermann verzaubert worden."
    Thyra blinzelte ein paar ungläubig und brach dann in schallendes Gelächter aus, doch als Tris nicht mit einstimmte, sondern sie eindringlich, wütend und gekränkt zugleich ansah, brach ihr Lachen ab. Fragend sah ihn an. Tristan schien seinen ganzen Mut aufbringen zu müssen, um fortzufahren. "Ich konnte ihn nicht fangen, aber ..." Er zog eine Pfeife aus der Hosentasche und reichte sie Thyra. Die Jägerin nahm sie in die Hand und betrachtete sie. Sie schien für ein Kind gefertigt worden zu sein.
    "Er ist ganz klein. Geflickte Hose, dick, zu kurzes Hemdchen, langer, ungepflegter Bart. Er hatte sie in der hinteren Hosentasche ..."
    Thyra blickte die Pfeife, Tristan, die Pfeife und wieder Tristan an. Warum sollte er sich sowas ausdenken? Zumal er von dem Klabautermann wirklich ein Bild vor Augen zu haben schien. Trotzdem war Thyra immer noch skeptisch, aber warum sollte man alten Legenden nicht glauben? Selchior war eine einzige Legende gewesen. Ein Versuch war es wert. Was, wenn der Mann wirklich unschuldig war? Andererseits würden sie sich zum Gespött machen, wenn sich ihre Behauptung am Ende als falsch herausstellte...
    "Was schlägst du vor?", fragte sie zaghaft.
    "Hier gibt es einen alten Seebär. Er hat schon Geschichten erzählt. Vielleicht kann er uns helfen ..."
    Thyra nickte langsam. Das war eine gute Idee. Sie würden erst zu dem Seebären gehen und keine Pferde scheu machen. Danach konnten sie immer noch sehen, was sie tun würden.

    Sie fanden besagten Matrosen an der Reling lehnend und in die Ferne starrend. Eine Pfeife hing aus seinem Mundwinkel, die der des Klabautermanns ähnelte. Aufmerksam hatte er Tristans Erzählungen gelauscht und sich die kleine Pfeife genau angesehen.
    "Nun es ist nicht so schwer einen Klabautermann zu fangen", antwortete er schließlich. Zu Thyras Verwunderung stellte er die Geschichte nicht ein einziges Mal in Frage.
    "Was müssen wir tun?", wollte Tristan wissen.
    "Zucker. Klabautermänner lieben Zucker. Findet Süßkram, damit könnt ihr ihn anlocken. Allerdings kann man ihn in der Regel nicht sehen. Warum du", er deutete auf den Soldaten, "ihn sehen konntest, ohne, dass er sich dir gezeigt hat, ist mir ein Rätsel. Jedenfalls müsst ihr ihn dazu bringen sich sichtbar zu machen. Dafür reicht es in der Regel ihm einen Kübel eiskaltes Wasser überzuschütten. Aber es muss wirklich kalt sein. So kalt, dass er erschrickt und seine Tarnung vergisst."
    Thyra und Tris nickten synchron. "Und dann?"
    "Nun, ein Klabautermann sagt nie die Wahrheit. Er verzaubert die Menschen um ihn herum einfach."
    "Hat bei mir auch nicht geklappt", warf Tristan ein. Thyra blickte ihn erstaunt an. Davon hatte er gar nichts erzählt. Wie auch immer ...
    Der Seebär drehte sich erstaunt zu Tristan. "Du bist aber was ganz Besonderes. Dann wird es an dir sein den Klabautermann zum reden zu bringen. Es gibt da einen Vers, der ihn für kurze Zeit zwingt die Wahrheit zu sagen:

    Tintenfischtinte, Quallenschleim
    und Klabautermannsfinte,
    sag die Wahrheit oder lüg dir die Beine kurz.
    Bei Rhenus, sag die Wahrheit oder lüg dir die Beine kurz."

    "Rhenus?", fragte Thyra.
    Der Seebär grinste. "Ja, Rhenus der alte Schelm. Er hielt die Klabautermänner für witzig. In der Regel stiften sie nur Chaos. Selten stirbt bei ihre Streichen jemand oder wird ernsthaft verletzt."
    "Dann war heute wohl eine Ausnahme...", murmelte Thyra sarkatisch. Aber wenn Rhenus dabei eine Rolle spielte, würde Daphne vielleicht nicht gleich alles abtun und sie konnten wenigstens versuchen den Klabautermann aus der Reserve zu locken. Langsam glaubte sie Tristan wirklich. Auch wenn die Ratschläge des alten Matrosen wirklich ... absurd wirkten ...

    Thyra saß auf dem Deck und langweilte sich zu Tode.
    Heute Morgen nach dem Frühstück waren alle voller Tatendrang aufgestanden, aber da sie so gut wie keine Ahnung von Schifffahrt hatten, waren ihre Aufgaben doch sehr begrenzt. Sie hatte zwischenzeitlich in der Küche geholfen, aber der Koch hatte seine Küchenjungen zum Rumschubsen. Jaris brutzelte gerade auf dem Krähennest in der Sonne. Theic ging schon zum gefühlten 100 Mal auf dem Deck auf und ab und spähte immer wieder aus sicherem Abstand über die Reling. Daphne und Daryk hatten sich in den Schatten des Großsegels gesetzt und unterhielten sich leise. Aras stand oben neben dem Steuermann und blickte aufs Meer hinaus.
    Der Einzige, der von dem ganzen nicht genug bekommen konnte, war der Junge Soldat, der zu ihnen gestoßen war. Er löcherte die Matrosen mit Fragen und ließ sich sogar zeigen, wie man den oder anderen knoten band oder wie der Mechanismus funktionierte, mit dem die Segen eingeholt oder gehisst wurden. Thyra hatte immerhin schon kapiert was Lee und Luv war. Luv war die windzugewandte Seite, Lee die abgewandte. Aber bis sie heraus gefunden hatte woher der Wind kam und wo jetzt Luv war, hatten die Matrosen schon entnervt ihre Arbeit übernommen.
    Ihr Blick wanderte wieder zum Ritter und seiner Prinzessin. Es gefiel Thyra die beiden so zu sehen und eigentlich wollte die Zweisamkeit nicht unterbrechen, aber ihr war soooooooo langweilig. Und das obwohl es erst der erste Tag auf dem Schiff war. Als sie die Beiden so beobachtete, fielen ihr lose herumliegende Holzklötze auf. Ein Geistesblitz, der Abwechslung versprach, zuckte durch ihren Kopf und sie lachte. mit steifen Gliedern stand sie auf und ging zu Daryk und Daphne: "Habt ihr Lust auf ein Spiel?"
    Die zwei schraken auf. Daryk schien erst ein wenig genervt, schon wieder in seiner Zweisamkeit gestört zu werden, aber Daphne lächelte sie an und nickte. Folgsam stand also auch Daryk auf und gab Daphne nur einen schnellen Kuss auf den Scheitel.
    "Was für eins?", fragte die Heilerin.
    "Ich nenne es ... Wikingerschach", strahlte Thyra.
    Genau in dem Moment kletterte auch Jaris die Takelage herunter - er war abgelöst worden - und gesellte sich zu ihnen.
    "Was heckst du wieder aus?", fragte er und legte der Jägerin einen Arm um die Taille. Sie schmunzelte zu ihm auf und stahl ihm einen Kuss.
    "Ein Spiel! Theic, Komm her!"
    Irritiert blickte Theic auf, stapfte dann aber auch zur kleinen Gruppe hinüber.
    "Aras?", rief Thyra nach oben. "Willst du mitmachen?"
    Schließlich hatten sie alle zusammen und Thyra begann zu erklären.
    "Es gibt einen König." Sie packte das größte der Holzstücke und stellte es in die Mitte. "Und jeweils sechs Soldaten." Diese platzierte sie in ungefähr sieben Metern Abstand gegenüber voneinander. "Jedes Team darf abwechselnd zwei Mal werfen. Wenn alle Soldaten gefallen sind, darf man den König angreifen. Wer zuerst den König zu Fall bringt, gewinnt."
    "Das klingt toll, kann ich mitspielen?", fragte da ein kleiner Schiffsjunge, der wohl Pause hatte. Thyra lächelte. "Ja natürlich. Dann spiele ich eben nicht mit."
    "Oder ...", begann Theic und drehte sich um. "Tris, hast du Lust mitzumachen?" Der Junge Soldat hatte schließlich auch nichts zu tun.
    Dieser nickte eifrig und kam auf die Gruppe zu.

    Thyra betrachtete Daphne von der Seite.
    Die Zeichen waren unübersehbar. Gerötete Wangen, ein dünner, fast getrockneter Schweißfilm auf der Haut. Die Lippen voll und rot von seinen Küssen. Sie musste schmunzeln. Hatten die beiden es also endlich geschafft. Sie hatte ein bisschen ein schlechtes Gewissen gehabt, nachdem sie die beiden in der Grotte unterbrochen hatten, aber woher hätte sie es denn wissen sollen? Und dann hatte sie es nicht mal verstanden ...
    Sie biss in ein Stück Brot, das sie mit Käse belegt hatte. Es schmeckte ziemlich gut.
    "Wie wird der Verlauf der Reise eigentlich sein?", fragte sie zwischen zwei Bissen und wandte sich an den Kapitän.
    Der erwiderte ihren Blick freundlich. "Die Überfahrt dauert einige Tage. Zuerst aufs offene Meer hinaus Richtung Norden. Wenn wir die Küste erreichen machen wir ein oder zwei Tage Halt, um unsere Vorräte aufzufrischen. Dann geht's weiter an der Küste entlang bis nach Lyc."
    "Klingt langweilig", meinte Thyra und grinste in die Runde.
    "Also mir würde was einfallen, um die Langeweile zu vertreiben", grinste Jaris anzüglich. Thyra warf ihm einen überraschten Blick zu. So viel Zweideutigkeit war sie von ihm gar nicht gewohnt. Alle anderen fingen leise an zu kichern.
    "Ich wüsste da auch einige Sachen", warf der Kapitän ein. "Im Krähennest Wache halten, in der Küche helfen, Deck schrubben, Knoten lernen ..." Er begutachtete die Gruppe. Daphne lächelte unverbindlich und wirkte so ausnahmsweise ganz wie die Prinzessin, die sie war. "Wir sind jederzeit bereit zu helfen."

    Nach einer Weile standen sie auf und verließen den Tisch. Thyra beschloss Daphne zu begleiten, wenn sie nach dem jungen Soldaten sehen wollte. Gemeinsam schlenderten die beiden Frauen also durch einen langen, schmalen Gang unter Deck auf dem Weg zu den Kajüten der Matrosen.
    "Sag mal, wie ist das eigentlich auf einem Schiff?", fragte Thyra unverblümt.
    "Äh ... was?", stammelte Daphne.
    "Obwohl. Auf einem großen Schiff ist es sicher wie immer ... Auf einem kleinen müsste Daryk nur anstoßen und den Rest würde das Boot für euch erledigen." Thyra wackelte mit den Augenbrauen, während Daphne die Röte ins Gesicht schoss. Die Heilerin bedachte ihre Freundin mit einem Blick, der ihr bedeuten sollte endlich zu schweigen.
    Lachend betraten sie den Speiseraum der Matrosen und entdeckten tatsächlich den Neuen, der in der Gruppe bärtiger und rauer Männer irgendwie weiblich wirkte. Daphne winkte ihm zu und er gesellte sich zu ihnen.
    "Tristan, richtig?", fragte Daphne.
    Der Soldat nickte. "Und Ihr ...?"
    "Oh, ich bin Daphne. Lass das Förmliche. Mein Bruder heißt übrigens auch Tristan."
    "Dann nennen wir dich jetzt einfach Tris", mischte Thyra sich ein und lächelte freundlich.

    Auch bei den anderen dauerte es nicht mehr lange bis sie zusammenpackten und das Feuer löschten.
    Der Neue - Tristan - ging ihnen dabei hilfreich zur Hand und sammelte damit Pluspunkte bei der Jägerin.
    Neugierig wie sie war, beschloss sie ihn auszufragen.
    Tristan stand gerade, sein Pferd am Zügel haltend, bei einem der Matrosen und fragte wo er sein Reittier unterbringen könnte. Thyra wartete, bis der Soldat seine Antwort erhalten hatte und klinkte sich dann in das Gespräch ein: "Ein hübsches Tier. Wie heißt es denn?"
    Tristan drehte sich um und lächelte Thyra ein wenig verhalten an. "Skarto."
    Skarto zog unwillig an den Lederriemen, mit denen Tristan ihn hielt, als hätte er verstanden, dass sie über ihn redeten. Eigentlich hatte Thyra den Hengst streicheln wollen, ließ jetzt die Hand allerdings vorsichtig sinken. Sie hatte noch nicht allzu viel Erfahrung mit Pferden und dieses hier schien ihr launisch. Stattdessen wandte sie sich wieder an den Jüngling und ging mit ihm zusammen die Planke zum Schiff hinauf.
    "bist du schon mal zu See gefahren?", fragte sie weiter.
    Tristan schüttelte den Kopf. "Nein. Ich bin schon gespannt wie es wird."
    "Ich bin ehrlich gesagt nicht so heiß drauf", warf Thyra ein. "Ich finde die Vorstellung gruselig, wenn um dich herum nichts als Wasser ist und man in dieser schaukelnden Nussschalte herumschippert ..."
    "Dann bist du also schon mal auf einem Schiff gewesen?", fragte Tristan neugierig.
    Nun schüttelte die Jägerin den Kopf. "Nein. Ich stelle es mir einfach nur nicht angenehm vor."
    "Oh. Achso. Naja ich hoffe so schlimm wird es schon nicht werden."
    Thyra lächelte. "Ich denke nicht. Was verschlägt dich denn auf unser Schiff?"
    "Ich brauche eine Überfahrt nach Lyc."
    Mittlerweile hatte sie das Deck erreicht und standen vor dem Eingang zu den Kajüten. Tristan würde woanders lang müssen, weil er erst Skarto wegbringen musste, also blieben sie stehen.
    "Darf ich fragen warum?"
    "Ich habe gehört mein Bruder soll sich dort herum treiben."
    "Ah, die Familie." Thyra lächelte und dachte an Daphne und ihre Brüder. Was wohl aus ihrem Bruder geworden war?
    Hinter ihr tapste Fenrir auf Samtpfoten übers Deck, hielt aber Abstand zu Skarto, der den Wolf misstrauisch beobachtete.

    Thyra faltete vorsichtig das blaue Kleid und Jaris Willkommensgeschenk zusammen und verstaute alles in einem Seesack, den sie von einer Magd bekommen hatte. Er war etwas zerschlissen und das Banner Delyveihs schon ein bisschen abgenutzt, aber alles in allem in besserem Zustand, als ihre eigene Tasche. Und die wertvollen Kleider wollte sie nicht gleich zu Anfang ruinieren.
    "Noch weiter in den Norden", murmelte Thyra gedankenverloren. Irgendwo zwischen Delyveih und Lyc, vielleicht etwas weiter westlich, erstreckte sich das Gebiet ihres Stammes. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt einen Abstecher in ihre Heimat zu machen und ihre Mutter nach ihrem Vater aus der Wüste zu fragen, aber dann hatte Daphne verkündet, dass sie mit ihrem Schiff, der Calypso nach Lyc reisen würden. Sie seufzte.
    "Hast du Heimweh?", fragte Jaris und ließ sich auf alle Viere nieder. Thyra nickte.
    "Ich würde dich meiner Mama gerne vorstellen..."
    "Und deinem Vater?", fragte Jaris. Seine Stimme drang dumpf unter dem Bett hervor. Er suchte seinen zweiten Stiefel.
    "Er ist nicht mein Vater", murmelte Thyra leise.
    Jaris Kopf tauchte zerzaust über der Bettkante auf. "Aber er hat dich großgezogen."
    "Und war doch nie mein Vater. Jetzt, wo ich es weiß, weiß ich auch, dass er es wusste." Sie hielt inne und spielte mit einer dunklen Haarsträhne. Niemand aus ihrem Volk hatte dunkle Haare gehabt. Wie dumm war sie gewesen. Alle hatten es gewusst.
    Jaris lächelte über ihre umständlichen Worte, konnte ihr aber dennoch folgen. Er stand auf und kam um das Bett herum, um sie nach oben zu ziehen. Gemeinsam setzten sie sich aufs Bett.
    "Ich bin mir sicher, dass er dich geliebt hat. Und wenn er deinen Bogen sieht und wie du damit umgehst", er strich ihr liebevoll über die Wange, "dann wird er vor Stolz platzen."
    "Warum sollte er, wo ich nicht von seinem Blut bin?" Thyra wandte sich ab, damit Jaris nicht die einzelne Träne sah, die über ihr Gesicht rollte. Sie dachte an den Moment, als ihr Halbbruder zur Welt gekommen war. Ihr Vater hatte sie mehr gefreut, als jemals zuvor in seinem Leben. Er hatte nicht mal gemerkt, dass sie aus dem Zelt verschwunden war und als sie drei Jahre später ging, hatte er nur eine kurze Umarmung und ein knappes "Pass auf dich auf" für sie übrig gehabt. "Er hat nicht mal versucht mich aufzuhalten", flüsterte sie.
    Erst als Jaris antwortete, merkte sie, dass sie den letzten Gedanken laut ausgesprochen hatte.
    Jaris fasste sie unterm Kinn und drehte ihren Kopf sanft zu sich. Er lächelte. "Er lehrte dich alles, was du zum Überleben brauchtest, nur weil er nicht dein Vater war, heißt das nicht, dass du nicht seine Tochter warst. Er kannte dich. Er wusste, was du kannst und er wusste vermutlich auch, dass du bei dem Bergklimmern niemals glücklich geworden wärst. Eine Frau mit Kampfgeist und Fertigkeiten, die eigentlich den Männern vorbehalten sind. Eine Frau, die die Traditionen auf den Kopf stellt. Eine Frau, die den Stamm und sein System in den Grundfesten erschüttern würde, wenn sie bliebe. Vielleicht wusste er, dass du und der Stamm daran kaputt gehen würden, wenn du bliebest. Er ließ dich gehen und wusste, dass du auf dich aufpassen kannst. Er ließ dich in dem Vertrauen gehen, dass du eines Tages zurück kehren würdest und in der Hoffnung, dass, sollte der Tag jemals kommen, der Stamm, er und du endlich bereit dafür wärt. Vielleicht war es damals einfach zu früh."
    Jetzt brach Thyra endgültig in Tränen aus und schmiegte sich an die Schulter des Söldners. "So habe ich es noch nie betrachtet", schluchzte sie.
    "Deswegen hast du ja mich", schmunzelte Jaris und strich ihr über ihre Haare, die mittlerweile wieder bis zwischen die Schulterblätter reichten. "Auf dem Rückweg können wir deine Familie vielleicht besuchen."
    Sie blieben eine Weile sitzen und verpassten deswegen das Mittagsessen. Sie besuchten die Köchin in der Küche und konnten zwei süße und noch warme Semmeln und zwei Becher frische Milch abstauben.
    Auf dem Weg zu einem sonnigen Plätzchen begegnete ihnen Theical, ebenfalls mit losem Mittagessen in der Hand.
    "Huch. Warum hast du das Essen verpasst?", fragte Thyra. Sie erreichten die Palasttreppe und ließen sich auf den Stufen in der Sonne nieder.
    "Mittagsschlaf", murmelte Theic zerknautscht. Die Jägerin verstand. Der Entschluss nach Lyc aufzubrechen, war von Theic, Daphne und Daryk mitten in der Nacht gefällt worden und Thyra und Jaris begleiteten den Freund gern. So etwas machte man unter Freunden. Sie hatten Daphne begleitet, also würden sie es auch bei Theic tun, den sie ja nun schon länger als die Heilerin kannten.
    "Und was ist mit dir?", fragte Theic mit Blick auf ihre verweinten Augen.
    "Nichts", wich Thyra aus. Sie wollte nicht darüber sprechen. "Komm, lass und Daphne und Daryk suchen. ich möchte wissen, wann wir genau aufbrechen werden."

    Thyra schob sich an Jaris vorbei und betrat neugierig ihr zugewiesenes Zimmer.
    Der erste Raum war klein. Ein Tisch und zwei Sessel. Auf dem Tisch eine Karaffe Wein und zwei Gläser. Daneben lag eine Rose. Thyra drehte sich um und stellte sich kokett in den Türrahmen. "Die Nordmänner wissen wie es läuft."
    Jaris kam grinsend auf sie zu, fasste sie an der Hüfte und gab ihr einen Kuss. Sie löste sich lachend und fuhr mit der Erkundung der Räumlichkeiten fort. Sie öffnete die Tür zu ihrer linken. Aus diesem Raum führte eine weitere Tür ab, wohl ins Badezimmer. Sie ließ den Blick schweifen und blieb an einem großem Himmelbett hängen, welches vor einer verglasten Front stand. Der Blick war einzigartig. Er offenbarte die nachtschwarzen Weiten des Meeres und den Mond, der sich silbrig auf der Gischt der Wellen spiegelte.
    Mitten auf dem Bett lag ein dunkelblaues Kleid mit silbernen Verzierungen und einem tiefem Rückenausschnitt.
    Daneben eine passende Hose samt Hemd für Jaris.
    "Warum kriegen Frauen immer Kleider?", moserte Thyra im Spaß. Aber sie fühlte sich in ihrer Lederhose wirklich wohler. Jaris grinste, kam abermals auf sie zu und schloss sie in die Arme. "Vielleicht, weil sie in Kleidern umwerfend aussehen." Er wollte sie küssen, aber sie entzog sich ihm. "Heißt das, ich sehe sonst nicht umwerfend aus?", neckte sie ihn. "Na dir werd ich helfen ..."
    Sie wand sich aus seinen Armen, was diesmal schwieriger war, als beim ersten Mal, aber schließlich ließ der Söldner sie gewähren. Dann drehte sie sich um und machte sich auf den Weg ins Bad. Dabei streifte sie das Kleid, das sie von Daphne bekommen hatte, erst von der einen und dann von der anderen Schulter, bis der Stoff schließlich gänzlich an ihr hinabglitt und raschelnd zu Boden fiel. Ohne im Gehen zu stocken schritt sie weiter aus und ließ die Hüften provokant schwingen.
    Sie hörte Jaris noch tief Luft holen, ehe sie im Badezimmer verschwand. Es dauerte nicht lange bis er ihr folgte und diesmal wehrte sie sich nicht gegen seine Küsse und Berührungen.

    Thyra hatte sich schon Sorgen gemacht, als Daphne und Daryk am nächsten Morgen nirgends aufzufinden waren.
    Zuerst hatten sie noch gewitzelt, dass sie sich zu einem Schäferstündchen im Stall hatten hinreißen lassen, doch als sie die beiden in der näheren Umgebung nirgends hatten finden können, begannen sie unruhig zu werden.
    Lustlos stocherte sie in ihrem Essen herum, das der Wirt ihnen gebracht hatte.
    "Der Hüne wird die Kleine schon beschützen", hatte er versucht sie aufzumuntern, dennoch hatten alle drei noch nicht viel gegessen, als endlich die Tür zum Gasthaus aufschwang und Daphne und Daryk eintraten.
    Thyra sprang sofort auf und stürmte auf die beiden zu. "Gott sei Dank", sagte sie und schloss Daphne in die Arme, ehe sie sie auf Armeslänge wegschob und von oben bis unten musterte. Ihr schien nichts passiert, aber ihre Wangen waren gerötet.
    "Dann haben wir ja nicht so falsch gelegen", sagte sie scherzhaft, dennoch hörte man aus ihrer Stimme eine Spur Schärfe.
    "Womit?", fragte Daphne verwirrt und gleich darauf: "Willst du nicht wissen, wo wir waren?"
    "Ich kann es mir denken", raunte Thyra schelmisch.
    "Was zum-", unterbrach Theical die beiden Frauen. Thyra drehte sich um und folgte seinem Blick. Daryks Hand war schwarz. Von ihr zog sich ein ebenfalls schwarzes Muster den Arm hinauf, verschwand unterm Hemd und tauchte unter dem kragen wieder auf, um an Hals und Nacken auszulaufen.
    "Okaaaaay, jetzt will ich doch wissen wo ihr beide wart..."
    Sie folgte Daphne und Daryk zum Tisch und hörte zu, als die beiden zu erzählen begannen.
    Thyra warf immer wieder einen Blick auf Daphne und auch Daryk schien gelöster zu sein. Irgendetwas verschwiegen die Beiden und sie ahnte auch schon was. Innerlich freute sie sich einen Zehn-Jahresvorrat an Keksen zusammen und hoffte, dass ihre Vermutung stimmte. Sie musste unbedingt mit Daphne reden.
    Sie blieben noch eine geraume Weile am Tisch sitzen und hörten sich Daryks Geschichte von Xhar an, die von Daphne ab und zu ergänzt wurde, doch am entscheidenden Punkt war sie von Rhenus zurückgehalten worden, sodass sie mit Daryk knappen Erzählungen vorlieb nehmen mussten.

    ******

    Thyra ritt neben Jaris her.
    "Undglaublich", murmelte sie.
    "Was?", fragte der Söldner und warf ihr einen schiefen Blick zu.
    "Dass wir offensichtlich alle in der Gunst der Götter stehen ... Das hat doch sicherlich was zu bedeuten."
    Jaris nickte. "Ich könnte die aber auch nicht sagen was."
    Thyra schwieg und versank in Gedanken. Über die Götter, über sich selbst, über Jaris, über Delyveih ... Was noch alles kommen mochte.
    Sie merkte erst, dass Jaris ihr Pferd dichter neben ihres gelenkt hatte, als seine Hand sie unterm Kinn fasste und ihren Kopf zu ihm drehte. Er küsste sie und sagte: "Denk nicht so viel nach. Es wird alles gut werden."
    "Ich hoffe es", mischte Daphne sich ein und deutete nach vorn. Hinter einer Wegbiegung konnten sie Delyveih, Daphnes Heimat erkennen. Und je näher sie der Stadt kamen, desto nervöser wurde die Heilerin.

    Sie hatten den ganzen Tag gebraucht die nötigen Zutaten zusammenzusuchen und schließlich den Trank zu brauen.
    Jaris hatte sich irgendwann kopfschüttelnd abgesetzt und die beiden machen lassen.
    Thyra schnippte gegen das kleine Glasfläschen, das sie gegen das Licht hielt und in dem eine violette Flüssigkeit schimmerte.
    "Fertig", strahlte sie.
    Theic nickte. Bei ihm war das Unbehagen größer geblieben, aber auch er hatte es irgendwann über Bord geworfen und sich von Thyras Begeisterung anstecken lassen.
    "Jetzt müssen wir nur noch das Essen einfädeln...", fügte Thyra hinzu.
    "Hm ... falls das nicht klappt-" "Das klappt!", unterbracht Thyra Theics Einwände. Theic hob abwehrend die Hände. "Ich meine ja auch nur falls ... ich würde mir das Essen als Plan B aufheben. Vielleicht können wir die beiden zu was zum Trinken überreden und schütten es den beiden ins Met?"
    Thyra überlegte eine Weile. Dabei wischte sie sich eine lose Strähne aus dem Gesicht. "Wahrscheinlich hast du Recht. Sicher ist sicher."
    Sie nickte und stand auf. Gemeinsam mit Theic machten sie sich auf die Suche nach Daphne und Daryk, aber auch nach Jaris, damit das Ganze weniger verdächtig wirkte.
    Nach einer Weile saßen sie alle am Tisch.
    "Ich geb die erste Runde aus!", rief Thyra und sprang auf.
    "Huch? Was ist der Anlass?", fragte Daphne.
    Aus dem Augenwinkeln beobachtete Thyra, wie sich Jaris ein amüsiertes Grinsen verkniff. "Ähm ... Reise und Freunde und Sonne und ... ich brauche für sowas keinen Grund?!", stammelte die Jägerin wenig geistreich und machte auf dem Absatz kehrt, bevor weitere Fragen aufkamen.
    Theic folgte mit den Worten: "Ich helfe dir tragen!"
    Gemeinsam machten sie sich also auf zur Theke und bestellten fünf Krüge Met. In Zwei davon kippten sie jeweils die Hälfte ihres Gebräus. Unter heftigen Blubbern vermischte es sich mit dem Alkohol, bis es schließlich farblos und still darin zurückblieb. Thyra und Theic starrten jeweils in einen Krug. "Meinst du, dass das ein gutes Zeichen ist?", fragte Theic in einen der Becher hinein.
    Thyra zuckte mit den Schultern. "Wird schon schief gehen."
    Theic zuckte mit den Schultern und nahm einen Krug mit Trank und einen ohne Trank.
    "Links Trank, rechts ich, links Trank, rechts ich", murmelte er, als er sich auf den Weg zurück zum Tisch machte.
    Neben ihm murmelte Thyra: "Rechts, rechts, rechts."
    Kurz bevor sie beim Tisch ankamen hielt Theic inne. "Ääääh ...", dann zuckte er mit den Schultern und reichte Daphne den rechten Trank.
    Thyra wusste, dass sie die andere Hand als Theic gewählt hatte und reichte Daryk den linken Krug, Jaris den mittleren und nahm selbst den Rechten.
    "Auf eine ruhige Reise", sagte Theic hob und den Krug und stieß mit den anderen an. Sie leerten ihre Krüge in einem Zug, in der Hoffnung Daphne und Daryk würden mitziehen und dabei nicht bemerken, dass ihr Met ein wenig seltsam schmeckte.
    Als Thyra den Krug absetzte, blickte sie in das mit lila Flecken übersäte Gesicht ihres Freundes. "Theic, du hast da was im Gesicht ... Quark."
    Erschrocken schlug Thyra die Hand von den Mund, als sie wie ein Frosch quarken musste, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.
    "Quark?", machte Theic. Er erwiderte ihren Blick entsetzt.
    Neben ihnen bracht Jaris in schallendes Gelächter aus, dass die beiden anderen überhaupt nicht verstanden.
    "Das ist nicht Quark!", machte Thyra und boxte Jaris auf die Schulter, der sich immer mehr vor Lachen krümmte.
    "Was ma- quarken wir denn jetzt?", fragte Theic verzweifelt. Das war zu viel. Jaris fiel rücklings lachend von der Bank, selbst um Daryk Mund spielte ein Grinsen, auch wenn er nicht wirklich verstand was vor sich ging, nur Daphne schien einigermaßen besorgt.
    "Soll ich euch heilen?"

    Verdutzt blickten die beiden Frauen Thiecal hinterher, der sich auf den Weg in die Küche machte.
    Thyra zuckte mit den Schultern und wandte sich Daphne zu. Die ehemalige Schurkin wirkte müde und ausgezehrt. Die Jägerin nahm ihr das Tablett aus der Hand und deutete auf das große Glas Wasser.
    "Nimm. Daryk kriegt ja gleich." Thyra wusste, dass das Gals nur ein Tropfen auf dem heißen Stein war, aber so wie Daphne wirkte konnte sie alles Wasser gebrauchen. "Wir suchen dir erstmal eine schöne große Badewanne und du kannst in Ruhe essen und schlafen. Lass mich nur schnell nach dem Fettsack sehen."
    Daphne nickte müde und folgte ihrer Freundin und dem mittlerweile leeren Wasserglas zurück in das Zimmer des Patienten.
    Daryk wirkte schon wieder recht fit. Er saß auf dem Bett und löste die Verbände, die Daphne ihm angelegt hatte, für die Zeit, in der sie ihn nicht hatte heilen können. Als er die beiden Frauen sah lächelte er.
    "Na?", machte Thyra und grinste. "Wie geht es dir?"
    "Ich hab Hunger", murmelte Daryk.
    "Keine Angst. Die Ogerfütterung beginnt gleich. Theic ist schon unterwegs."
    Daryk grinste müde. "Daphne sieht müde aus ...", kommentierte er bloß.
    "Jaja, ich bringe deine Geliebte gleich in die Badewanne." Thyra konnte sich ein kleines Lachen nicht verkneifen.
    "Ich bin nicht seine Geliebte!", rief Daphne hinter ihr.
    Gespielt erstaunt drehte sich Thyra zu ihr um. "Immer noch nicht?" Dann wandte sich wieder an den Ritter. "Du solltest dich beeilen, Dickerchen." Sie stupste Daryk in die Seite und bemerkte dabei seinen unglücklichen Gesichtsausdruck. Sofort schaltete sie einen Gang zurück. Irgendwas musste zwischen den beiden vorgefallen sein, was beiden so gar nicht passte oder womit sie nicht umzugehen wussten.
    Dankbar, dass Theic genau in dem Moment in den Raum kam, wechselte sie das Thema.
    "Daphne, die siehst nicht nur erschöpft aus. Ist sonst noch irgendwas, was dir auf der Leber liegt?"
    Daphne schien nicht zu wissen was sie sagen sollte. Nervös spielte sie mit dem Saum ihres Hemdes herum. "Yorick hat doch erzählt, dass es meinem Vater nicht gut geht ..."
    Thyra nickte, während Theic ihren Arm nahm und sie bei Daryk auf die Bettkante setzte.
    "Und?", fragte sie.
    "Ich fühle mich schlecht, weil wir uns im Streit getrennt haben."
    "Dann solltest du zu ihm fahren", meinte Theic, dem Familie sehr wichtig war, pragmatisch.
    Daphne schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht. Ich bin immer noch ein bisschen angefressen, weil er nichts gegen die Heirat mit Heinrich unternommen hat ... Nur weil der Vertrag schon geschlossen war. Immer dieses höfische Protokoll. Er hat immer gesagt meine Brüder wären seine Sinne. Tristan die rechte Hand. Yorick die Linke. Arthur seine Augen und Thorvid seine Ohren. Sören der mit dem richtigen Riecher, Ole der Ertastende und Arnrich der Geschmack, der Vorsichtige, der Bedenkende." Während sie redete war Daphne aufgesprungen. Thyra musterte ihre Freundin besorgt, traute sich aber nicht sie zu unterbrechen. "Und ich? Ich war sein HERZ! Sein Herz beschützt man! Das Herz hält alles am Leben. Warum hat er mich nicht beschützt?" Verzweifelt blickte Daphne in die Runde. Thyra wurde einer Welle Mitleid erfasst und legte vorsichtig eine Hand auf den Arm der Heilerin.
    "Er war sicher selbst überfordert", versuchte die Jägerin zu trösten.
    Daphne seufzte tief und ließ sich wieder auf das Bett fallen. Thyra sah wie Daryks Hand Richtung der von Daphne kroch, aber im letzten Moment zurück zuckte. Unwillkürlich fragte sich die Jägerin, was zwischen den beiden vorgefallen war.
    "Aber wahrscheinlich hast du Recht, Theic. Ich sollte zu ihm gehen", sagte Daphne nach einer Pause.

    Verdutzt starrte Thyra den Söldner an, der in blutverschmierter Rüstung vor ihr kniete und ihr gerade einen Antrag gemacht hatte.
    Die Schwerter schienen sich in Zeitlupe zu bewegen, die Pfeile in der Luft hängen geblieben. Mehrmals klappte sie den Mund auf und wieder zu, wie ein Fisch, der auf dem Trockenen lag. Dann spürte sie einen kräftigen Stoß in die Schulter. Hinter ihr stand Daryk.
    "Nun sag schon ja!" Er grinste.
    Die Jägerin drehte sich wieder ihrem Freund zu, der langsam ein wenig verunsichert wirkte, dann platze sie raus: "Ja!"
    Als Jaris aufsprang, sie in den Arm nahm und sich einmal mit ihr drehte, prasselte das Geschehen um sie herum wieder in Echtzeit auf sie herein. Hinter Daryk erschien Daphne mit Theical, Aras Kuen und Yorick.
    "Na dann", sagte Daphne und schubste Yorick nach vorne. "Du darfst sowas doch."
    "Was? Jetzt? hier?", fragte der Nordmann verdattert. Auch Thyra war überrascht, aber Jaris antwortete: "Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn ich sterbe, dann will ich in meinem nächsten Leben wissen, dass du meine Frau gewesen bist."
    Thyra errötete und senkte verlegen den Blick.
    "Na los!" Daphne schubste ihren Bruder abermals auf das Pärchen zu und Yorick fügte sich grinsend. Hinter ihnen tobte die Schlacht, immer mehr Feinde strömten über den Wehrgang und auf sie zu und dennoch ergriff Jaris Thyras Hand und vermittelte ihr ein Gefühl, dass wie Welt ihr nichts anhaben konnte. Zu gern gab sie sich dieser Illusion hin und blickte zu Yorick, der begann: "Wir haben uns hier versammelt ... eigentlich um einen Krieg zu führen", er lachte und Daphne zwickte ihn in die Seite, "aber auch, weil sich zwei Liebende gefunden haben."
    Daryks Kopf ruckte nach oben, blitzschnell zog er einen Dolch und warf ihn hinter Thyra. Ein dumpfer Aufschlag, ein Röcheln, dann stellte er sich wieder aufrecht hin und sagte er zu Yorick: "Kannst weiter machen."
    Dieser nickte und fuhr fort: "Jaris, möchtest du Thyra Donnerstochter zu deinem angetrauten Weib nehmen. Sie lieben und ehren, bis das der Tod euch scheidet? ... Was ziemlich bald sein könnte", brummelte der Nordmann in seinen Bart. Thyra warf ihm halb bösen, halb erheiterten Blick zu.
    "Ja, ich will", antwortete Jaris ernst.
    "Das ist so rührend. Mir bleibt glatt die Luft weg", säuselte Theic, während er einen Soldaten, der Yorick angreifen wollte, sich selbst würgen lies.
    "Thyra Donnerstochter, möchtest du Jaris zu deinem angetrauten Mann nehmen. Ihn lieben und ehren, bis dass der Tod euch scheidet?"
    "Ja, ich will."
    "Das rührt mich zu Tränen", nuschelte Daphne, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und mit der gleichen Bewegung und einem Wassertentakel einen Feind zur Seite.
    "Nun, dann: Kraft meines Amtes ... Adels ... was auch immer: Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau. Du darfst deine Braut jetzt küssen."
    Jaris schloss Thyra in die Arme, presste seine Lippen leidenschaftlich auf ihre, zog sein Schwert und erstach einen herannahenden Feind, ohne den Kuss zu unterbrechen.
    Selbst Aras schien die überstürzte Hochzeit zu rühren, denn er sagte: "Dann lasst uns lieber gehen, bevor es zu heiß wird." Und warf einen Feuerball auf einen Feind, der schreiend ein paar Meter zurückgeschleudert wurde.
    Lachend lösten sich die Liebenden von einander. Sofort wurde Thyra von Daphne in die Arme geschlossen, während Jaris anerkennende Schulterklopfer von den Männern bekam. Bis ein Pfeil Daryks Brust traf. Natürlich vermochter dieser nicht das Eisen zu durchschlagen, doch die kleine Delle im schwarzen Eisen holte sie alle schmerzhaft zurück in die Gegenwart. Thyra zog ihren Bogen und gemeinsam mit den anderen stürzte sie sich wieder ins Kampfgetümmel. Aber diesmal mit einem warmen Gefühl in der Brust, was das Töten umso absurder machte.

    "Sie kommen!", rief Thyra, als sie vom Turm aus die schwarze Linie des Feindes vor den Toren der Stadt erkennen konnte.
    Flink schwang sie sich von ihrem Ausguck und riss das Tuch von ihrem Bogen, den sie in einer Ecke des Turmes versteckt hatte. Sie streckte die Hand nach Iorweth aus, doch ihre Finger verharrten kurz über dem Holz, das einen ungewöhnlichen, sachten Glanz verströmte. Dann besann sie sich. Sie hatte keine Zeit für solche Spielchen. Entschlossen packte sie den Bogen und warf sich den Köcher mit ihren Spezialpfeilen über die Schulter. Dann trat sie nach draußen auf die Mauer neben Daphne. Die warf ihr einen flüchtigen Blick zu, der sofort zum Bogen ruckte.
    "Ähm ...", machte die Heilerin und deutete auf die Waffe in Thyras Händen. "Bist du sicher, dass das deiner ist?"
    "Jap", machte Thyra kurz angebunden. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis anzugeben. Obwohl Jaris von weiter hinten erst "Anviesieren!", brüllte, weil die Feinde noch nicht Reichweite der Bogen waren, hob Thyra den Bogen und spannte die Sehne. Ein Pfeil erschien aus dem Nichts. Ihre Sicht verengte sich und fokussierte sich auf den Anführer des ersten Batailon der Feinde. Sie erkannte eine Lücke zwischen Helm und Brustpanzer, zielte und ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Einsam rauschte der Pfeil durch die Luft. Empörte Rufe machten sich breit, dass sie Befehle missachtete und einen wertvollen Pfeil verschwendete, der unmöglich sein Ziel treffen konnte - doch er traf. Er schlug in den Hals des Feindes ein und hinterließ hundert Mann der feindlichen Armee vorerst Führungslos.
    Daphne zog neben ihr scharf die Luft ein und wandte sich an die Jägerin. "Was ...?", brachte sie nur hervor.
    Doch dann unterbrach Jaris Ruf ihre noch nicht richtig begonnene Unterhaltung: "Feuer!"
    Pfeile färbten den Himmel einen Augenblick lang schwarz und gingen als tödlicher Regen auf die Feinde nieder. Die hielten jedoch in ihrem Ansturm nicht inne, sondern erreichten nach fünft weiteren Salven die Mauer.
    Sofort wurden Leitern nach oben gestemmt und Rammböcke in Position gebracht. Daphne warf Thyra einen letzten Blick zu, dann rannte sie los, um mit Hilfe ihrer Wasserkräfte die Leitern wieder umzustoßen. Auch Jaris Blick ruhte kurz auf ihr, ehe er wieder begann Befehle zu brüllen. Jetzt war nicht die richtige Zeit für Erklärungen.
    Ihre mit Munition ausgestattet, die sich niemals dem Ende neigte und die praktisch ihr Ziel nicht verfehlen konnte, weil sie von Diara gesegnet worden war, wurde Thyra tollkühn. Sie hängte sich den Bogen über den Rücken und schlug sich zurück zum Turm durch. Kurz starrte sie die Mauer empor, dann grub sie Füße und Finger in die Fugen und kletterte behände daran empor. Oben angekommen schlang sie schon wie damals, als sie Daphne Feuerschutz gegeben hatte ein Bein um die Spitze und zog ihre Waffe.
    Selbst für feindliche Pfeile unerreichbar, hielt sie Ausschau nach den führenden Kräften der feindlichen Armee. ihre Pfeile flogen unaufhörlich und tödlich. Die eigentlichen Strippenzieher des Angriffs konnte sie im Getümmel nicht ausmachen, aber sie konnte kurzzeitige Verwirrung in den Reihen stiften.
    Dann erschütterte ein mächtiger Stoß die Mauer. Der Grund auf dem sie stand erzitterte. Ihr Bein rutschte ab und die Instinkte übernahmen die Kontrolle. Sie warf ihren Bogen über die Schulter, rutschte mehr oder weniger elegant das Dach hinunter, bekam einen Vorsprung zu fassen und konnte den Schwung nutzen, um auf der Mauer zu landen und nicht in die Tiefe zu stürzen. Dabei verlor sie allerdings ein paar ihrer Spezialpfeile, die jedoch ihre Kräfte verloren, sobald sie von einem anderen als ihr in die Hand genommen wurden.
    Als sie auf dem Stein aufkam und sich dabei Knie und Hände aufschürfte, erzitterte die Mauer erneut.
    "Runter!", brüllte Jaris und scheuchte die Männer die Treppen hinunter oder wenigstens aus dem gefährdeten Bereich. Für sie kam der Ruf zu spät. Der nächste Stoß ließ die Mauer bersten. Zusammen mit Geröll und einigen anderen Männern wurde sie in die Höhe geschleudert und fiel dann in die Tiefe. Ein Stein traf sie am Knöchel, der schmerzhaft zu pulsieren begann, dann umschloss sie Wasser. Sanft holte Daphne sie auf den Boden und setzte sie ab.
    "Danke", murmelte Thyra, die noch gar nicht glauben konnte, wie knapp sie dem Tod entronnen war.
    "Keine Ursache", grinste Daphne. "Geht's?" ihr Blick fiel auf Thyras Knöchel, der schon angeschwollen war. Sie belastete ihn und biss die Zähne zusammen. "Muss. Wo ist Jaris?"
    "Hier!" Der Söldner rannte auf sie zu. "Geh zu Theic in die Stadt. Daphne, du weißt was zu tun ist."
    Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie das Loch in der Mauer sofort von Daryk und den anderen Speerträgern geschlossen wurde.

    Thyra saß mit Jaris, Daphne, Theic, Daryk, Aras, Kuen, Yorick und Tristan, Sep, dem Vertreter aus Gerisa und Ellon, dem Vertreter der Elfen an einem Tisch. Vor ihnen - auf dem dunklen Holz ausgebreitet - lag eine Karte von Ymilburg und Umgebung, auf der sogar einige Figuren und kleine Schiffe standen, die verschoben werden konnte.
    Thyra war überrascht wie aufgeräumt der Herzog wirkte und alles im Griff zu haben zu schien. Er hatte zuerst alle willkommen geheißen und sich für die Unterstützung bedankt, dann jeden zu Wort kommen lassen, was die Ideen für eine Verteidigung der Stadt wäre.
    In Yoricks und Tristans Plänen war Daphne nicht mal erwähnt worden, was Thyra innerlich zur Weißglut brachte, auch wenn sie Yorick eigentlich mochte. Er hatte doch gesehen zu was Daphne fähig war und da war sie noch nicht im Besitz ihrer Kräfte gewesen. Die Jägerin hatte mehrmals versucht seinen Blick aufzufangen, doch der Nordmann war ihr ausgewichen. Ein wenig amüsierte es sie, dass der Hüne beim Anblick von Daphne und ihren Freunden scheinbar der Arsch auf Grundeis ging. Dennoch hielt er zu Arthur. Männer. Sie verdrehte die Augen.
    "Sie werden vermutlich in der Nacht oder im Morgengrauen angreifen und ihre Truppen erstmal rasten lassen", meinte Yorick. Die anderen nickten. So weit waren sie schon seit mindestens einer Stunde. Thyra stöhnte innerlich. Strategie und blabla waren noch nie was für sie gewesen. Sie fasste ihr Ziel ins Auge und ließ den Pfeil los. Jetzt saßen sie hier schon eine schiere Ewigkeit und das einzige worin sie sich einig waren war, dass die feindliche Armee rasten würde und sie die in einem offenen Gefecht auf freiem Feld nicht schlagen konnten ...
    Jaris lehnte sich nach vorne mit Elan in der Stimme, der Thyra völlig abging.
    "Mal ein ganz anderer Vorschlag: Bogenschützen und Magier auf die Mauer. Dahinter die Speerträger, die in die Mauer gerissene Lücken schließen. Wenn wir uns im richtigen Moment zurück ziehen, können wir sie in Straßenkämpfe verwickeln und ihre Reihen so ausdünnen. Ymilburg ist verwinkelt, wir kennen uns aus, sie nicht."
    Daryk brummte zustimmend und unterstützte den Freund: "Wir können Fallen einbauen. Fallgruben. Bogenschützen in den oberen Geschossen der Häuser, heißes Öl und so Zeug."
    "Dann müssten wir allerdings jetzt mit den Vorbereitungen anfangen", rutschte es Thyra heraus. Theic grinste zu ihr herüber, die anderen Männer wirkten eher entnervt.
    "Ich hab doch gesagt, dass Frauen ...", begann Yorick leise und Thyra wollte schon auffahren, doch Aras warf ihnen einen mahnenden Blick zu und beide verstummte. "Ich finde die Idee eines Straßenkampfes nicht schlecht. Thyra, geh und sammle alle verfügbaren Kräfte und beginne mit den Vorbereitungen. Daphne und Theic können dir helfen. Der Rest arbeitet den Plan weiter aus."
    Thyra war überrascht von der Diplomatie des Herzogs, der doch sonst immer einfach zeterte, wenn ihm irgendwas nicht in den Kram passte. Und sie hätte auch nicht damit gerechnet, dass er ihr etwas zusprechen würde. Überrascht und dankbar, dass er sie aus dem stickigen Raum entließ, lächelte sie ihn an, stand auf und folgte Daphne und Theic, die schon vorgegangen waren.
    "Diara sei Dank", murmelte sie, als die Tür hinter ihr zufiel. Diara?! Am liebsten hätte sie sich selbst eine geklatscht.
    "Wer ist Diara?", fragte Theic prompt. Bis jetzt hatte Thyra den Gedanken an ihre Begegnung mit Fenrir verdrängen können.
    "Die Schutzpatronin der Jäger", antwortete sie ausweichend. Sie konnte den anderen nichts von ihrem Bogen erzählen. Sie hatte nicht mal Jaris davon erzählt und ihm Vorwürfe gemacht, warum er nicht gleich alles gesagt hatte. Sie seufzte. Eine Beziehung zu führen war schwer.
    Sie merkte wie Theic und Daphne ihr schräge Blicke zuwarfen, aber sie fragten zum Glück nicht weiter.
    Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, um ganz Ymilburg mit kleinen und großen Fallen zu spicken.

    Thyra saß abseits des Lagers der Nordmänner im Dunkel der Nacht verborgen.
    Sie musste nachdenken. Über das, was Jaris ihr erzählt hatte und auch über das, was er ihr nicht erzählt hatte. Während der Reise nach Jandir und zurück hatten sie kein Wort über die Geschehnisse in der Höhle gewechselt. Sie war sich sicher, dass Jaris ihr gerne davon berichten würde, aber selber nicht wusste wie. Vor allem interessierte sie das, was Jaris über Fenrir angedeutet hatte. Was war der Wolf?
    Energisch schnitzte sie einen Pfeil zurecht, setzte Federn in den Schaft und befestigte eine Eisenspitze, die sie von Habger extra geschmiedet bekommen hatte, als Fenrir aus der Dunkelheit auftauchte. Die weißen Stellen in seinem Fell leuchteten ihr förmlich entgegen. Bestimmt kam er auf sie zu und setzte sich vor sie, wie sie es schon bei Jaris beobachtet hatte.
    "Es wird Zeit dir deine Fragen zu beantworten", hallte eine Stimme durch ihren Kopf.
    Erschrocken blickte Thyra sich um. "Wer...?" Ihr Blick wanderte zurück zu Fenrir und sie konnte schwören, dass der Wolf amüsiert die Lefzen zurückzog. "Richtig. Ich bins."
    "Warum ist deine Stimme weiblich?" Was besseres wollte Thyra nicht einfallen. Sie war einfach viel zu perplex. Wieso hörte sie einen Wolf in ihren Gedanken sprechen? Wurde sie langsam verrückt?
    "Nein. Das wirst du ganz und gar nicht." Die Stimme in ihrem Kopf grinste. Thyra erwiderte es nicht, sondern starrte den Wolf vor sich einfach nur weiter an. "Über Jaris kann ich dir nichts erzählen. Da musst du ihn schon selber fragen ..."
    "Was willst du dann von mir?" Langsam legte sie den Pfeil zu den anderen, die sie den Abend über schon gefertigt hatte.
    "Ich kann dir etwas über dich erzählen ..."
    "Ich weiß alles", sagte sie bestimmt. Sie hatte das Gefühl, dass sich in ihrem Kopf alles drehte und plötzlich das Bedürfnis zu heulen. Der Druck, die Unwissenheit der letzten Tage stürmten mit dieser Stimme auf sie ein, die ihr versprach ihr alles zu erklären und doch noch viel mehr Verwirrung stiftete. Eine Träne rollte ihre Wange hinab. Wütend wischte sie sie beiseite.
    "GEH WEG!", schrie sie den Wolf an und brach vollends in Tränen aus. "Geh weg", hauchte sie ein zweites Mal. Sie sank in sich zusammen. Den Kopf auf die angezogenen Knie gelegt und begann hemmungslos zu weinen. Fenrir schmiegte sich an ihre von Schluchzern geschüttelte Seite, doch seine wärmende Berührung tröstete sie diesmal nicht. Dennoch verharrte das Tier und wartete geduldig, bis die Jägerin nur noch verhalten schniefte.
    "Ich bin Diara", erklang die Stimme erneut in ihrem Kopf. Diesmal ganz sanft. "Die Göttin der Jäger. Vor langer Zeit habe ich dich auswählt eine der Meinen zu sein. Du hast ein gutes Herz, die liebst die Tiere und die Natur und du jagst nur das, was du zum Überleben brauchst. Deine Pfeile sind unfehlbar, weil ich stets dafür gesorgt hab."
    Thyra hob den Kopf und starrte den Wolf wütend an. Sofort ruderte die Stimme in ihrem Kopf zurück. "Du bist ein sehr gute Jägerin. Das wärst du auch ohne mich. Ich bin nur diejenige, die deinen Atem beruhigt und dein Ziel für dich ins Auge fasst."
    Thyra gab auf. Sie konnte der Stimme offensichtlich eh nicht aus dem Weg gehen. Dann sollte sie ihr verdammt nochmal erzählen, was sie zu sagen hatte.
    "Erinnerst du dich daran, was Jaris dir über uns erzählt hat und an den Angriff des Bären? Er hätte dich getötet. Ich nahm den Körper des Wolfes und rettete dich."
    "Ich habe dich nicht darum gebeten. Ich bin dir nichts schuldig." Trotzig reckte sie das Kinn.
    Fenrir schüttelte den Kopf. Die menschliche Geste sah an dem Tier seltsam aus. "Ich bin nicht hier, um einen Gefallen einzufordern. Ich bin hier, um dir ein Geschenk zu machen. Ich fürchte du wirst die Schlacht ohne es nicht überleben und was für eine Göttin wäre ich, die Meinen sterben zu lassen?"
    Der Wolf stand grazil auf. Und erst jetzt bemerkte Thyra, dass sich der männliche Wolf schon die ganzen Jahre über mit weiblicher Eleganz bewegt hatte. Auf samtenen Pfoten tapste er in Richtung ihres Bogens und legte eine Pfote darauf.
    "Kinder der Jagd, Herren über Leben und Tod", hallte die Stimme in ihren Gedanken und Iorweth verwandelte sich. Das Holz streckte sich und schien von innen heraus in kaltem Glanz zu leuchten. Aufwendig gearbeitete Schnitzereien bedeckten den Bogen ohne störend zu sein. Die Sehne glänzte Eisblau. "Nimm ihn", forderte die Stimme.
    Thyra streckte ehrfürchtig die Hand nach dem Bogen aus und wog ihn in der Hand. Er war perfekt. "Spann die Sehne."
    Sie gehorchte und sofort erschien ein Pfeil auf der Sehne. Ihr Blick verschwamm, wurde länger, streckte sich in eine Art Tunnel und am Ende konnte sie ein Kaninchen sehen, das sie eigentlich weder hätte sehen, noch mit der normalen Reichweite ihres Bogen treffen dürfen. Erschrocken atmete sie aus und ließ den Bogen wieder sinken. Der Pfeil verschwand, als sie die Sehne langsam zurück sinken ließ.
    "Und deswegen habe ich dich auserwählt. Du tötest nicht zum Spaß. Und aus diesem Grund, wirst du ein weiteres Geschenk erhalten."
    Fenrir - oder Diara - wandte sich ihrem Pfeilen zu, die am Boden lagen. "Kinder der Jagd, Herren über Leben und Tod", wiederholte die Göttin in ihrem Kopf. Die Pfeile wurden einer Schicht überzogen, die aussah wie Raureif und dampften in der Dunkelheit. "Alles was du damit triffst wird zu Eis erstarren und kann auch wie solches splittern."
    Atemlos strich Thyra über die Pfeile, die sich auf ihrer Haut nicht kalt anfühlten.
    "Du kannst jederzeit um neue bitten", mit diesen Worten verschwand Diara samt Wolfskörper in der Dunkelheit und aus ihrem Kopf.
    Thyra bemerkte, dass Diara einen großen Teil ihrer Seele zur Seite geschoben hatte, um Kontakt mit ihr auszunehmen. Es fühlte sich an, als würde in ihrem Körper wieder etwas an die richtige Stelle poppen.
    Eine Weile starrte sie dem Wolf nach. Dann ihre neuen Waffen an. Irgendwann sammelte sie den Bogen auf und schob die Pfeile in ihren Köcher. Sie brauchte Schlaf. Wenn die Sachen morgen immer noch da waren, dann hatte sie definitiv nicht geträumt und erst dann würde sie sich fragen, was das alles zu bedeuten hatte.

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    Thyra musterte Jaris besogrt.
    Sein Blick irrte hin und her, ehe er sich auf ihr Gesicht fokussierte und sich dann scharf stelle.
    "Ich ... was zur Hölle?", hauchte Jaris.
    "Das habe ich auch gerade gedacht", sagte Thyra sarkastisch, richtete sich auf und zog den Söldner dabei mit in die Höhe. Jaris schüttelte noch einmal den Kopf und schien so recht zu wissen wohin mit sich.
    "Komm erstmal hier raus." Die Jägerin hakte Jaris unter und führte ihn zurück ins Freie. Sie hoffte, dass die frische Luft ihm helfen würde. Benommen setzte Jaris sich auf einen Stein neben dem Höhleneingang und schwieg. Thyra beschloss ihm etwas Zeit zu geben, ehe sie ihn ausfragte. Sie trug Feuerholz zusammen und entfachte ein Feuer. Dann packte sie den Hase aus, den sie in der Nacht gefangen hatte, steckte das Fleisch auf Stöcke und briet sie. Verwundert nahm sie währenddessen zur Kenntnis, dass Fenrir sich vor Jaris gehockt hatte und ein intensiver Blickwechsel zwischen beiden statt fand. So als versuche der Wolf etwas herauszufinden, dem sie, Thyra, nichts wissen sollte. Misstrauisch beäugte sie ihren treuen Begleiter aus dem Augenwinkel. Langsam fing die Sache an ihr über den Kopf zu wachsen. Eine Armee, Elfen, getrennt von ihren Freunden, eine Beziehung mit einem Halbelf, der verschlossener nicht sein konnte und von dem sie dennoch glaubte, dass er sie liebte. Sie seufzte und setzte sich unbewusst ein wenig weiter von Jaris weg als üblich. Wenn er es bemerkte, ließ er es unkommentiert.
    Thyra beobachtete, wie das Fleisch langsam garte. Ohne den Blick aus den Flammen zu wenden fragte sie: "Willst du darüber reden?"
    Es war offensichtlich das Jaris eine Art Vision gehabt hatte. Er war einfach zusammengebrochen. Seine Augen unter den Lidern waren wild umhergeirrt und er hatte unverständliches Zeug gemurmelt. Das einzige was sie hatte verstehen können, war das Wort Saro gewesen ... Es klang wie ein Name. Als Jaris nicht antwortete sprach sie es direkt aus. "Wer ist Saro?"
    Der Söldner zuckte zusammen und drehte sich zu ihr um. Die stumme Unterhaltung mit dem Wolf war gebrochen und er kam, um sich an ihre Füße zu legen. Sie warf ihm einen undurchdringlichen Blick zu.
    Sie spürte, wie der Söldner näher an sie heran rückte und versteifte sich etwas. Er schien es diesmal zu merken, denn die Berührung an ihrer Schulter war beinahe zaghaft. "Saro ist der Name meines Vaters", begann er zu erklären.
    Thyras Kopf ruckte nun doch herum. "Was? Woher weißt du das?"
    "Er hat ... zu mir gesprochen." Jaris stockte. Thyra zog eine Augenbraue nach oben und bedeutete ihm fortzufahren. "Eben in der Höhle. Er erzählte mir Dinge von ... Göttern. Götter deren Seelen andere Körper in Besitz nehmen können."
    "So wie Selchior?", zog auch Thyra den offensichtlichen Schluss.
    Jaris nickte und schüttelte dann den Kopf.
    "Was nun?"
    "Selchior nahm Regar gegen seinen Willen. Es kostet Kraft das fremde Bewusstsein zu unterdrücken. Mein Vater nutzt die Körper von kürzlich Verstorbenen. Wieder andere nutzen Tiere." Jaris Blick wanderte zu Fenrir und Thyra dämmerte was der Blickaustausch zu bedeuten gehabt hatte. Sie sprang auf und wich vor dem Wolf zurück. "Sag mir nicht, dass das dein Vater ist!"
    Jaris sah sie an. "Was wäre schlimm daran?"
    "Was schlimm ... Er hat mich beim PINKELN beobachtet!", brauste Thyra in hilfloser Verwirrung auf.
    Jaris, der seine Gedanken langsam zu ordnen schien, gestattete sich ein Grinsen.
    "Ich gehe zwar nicht mit wilden Tieren mein Geschäft erledigen, aber ich kann dich beruhigen. Fenrir ist nicht mein Vater."
    Erleichtert setzte sich die Jägerin wieder.
    "Aber ich glaube, Fenrir ist ..." Der Wolf knurrte warnend in Jaris Richtung und er brach ab.
    Thyra schwieg. Sie konnte das alles nicht fassen und hatte gerade keine Lust sich Gedanken darüber zu machen. Statt Licht ins Dunkel zu bringen wurde alles viel verwirrender.
    "Erzähl mir von deinem Vater", hauchte sie mit dünner Stimme und in der Hoffnung, dass sie die Gedanken zu Fenrir, die sich ihr unweigerlich aufdrängten, erstmal für eine Weile von sich schieben konnte.
    Jaris tat ihr den Gefallen und brachte dabei die Sprache nicht ein einziges Mal erneut auf Fenrir.
    Thyra unterbrach den Söldner nicht, sondern hörte ihm einfach zu. Die Erklärungen, die ihr geliefert wurden waren ... naja nicht absurd, aber gewöhnungsbedürftig. Andererseits hatte sie schon zu viel erlebt, um Jaris Worte ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Nachdem Jaris geendet hatte, trieb sie das Gespräch nicht weiter voran. Sie aßen das Fleisch und machten sich auf den Weg in die Elfenstadt. Fenrir sicherte ihren Weg, doch Thyra war dabei unwohler als sonst. Was stimmte nicht mit diesem Tier?

    Thyra und Jaris stiefelten schweigsam durch den Wald.
    Jaris kannte den Weg und führte sie unbeirrt über schmale Pfade durch das Dickicht. Sie mieden die großen Straßen, um keinen feindlichen Soldaten in die Arme zu laufen. Sie wussten ja nicht wie groß diese Armee war und wie viele Soldaten als Vorhut losgeschickt worden waren. Fenrir bildete ihre Vorhut. Sobald etwas faul war, würde er Alarm schlagen. Thyra war froh ihren Wolf dabei zu haben und zum ersten Mal begann sie sein Verhalten zu hinterfragen.
    Warum folgte er gerade ihr? Damals gegen den Bären hatte sie Schutz gebraucht, aber sie hatte Fenrir noch nie zuvor gesehen, geschweige denn ihn sich zum Freund gemacht. Es kam ihr vor, als er sie ... auserwählt. Außerdem war er viel zu klug für einen einfachen Wolf und wie machte er es, dass er stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Und - mit dem Verstand einer erfahreneren Jägerin betrachtet - hätte er gegen den Bären eigentlich nicht gewinnen können ... Fragen über Fragen, die sie sich schon stellte, seit Fenrir ihr über den Weg gelaufen war. Allerdings hatte sie ernsthaft nach Antworten gesucht. Sie verstand auch gerade nicht, warum sie genau jetzt damit anfing. Sie hatten doch ganz andere Probleme.
    "Ich mag diese Kriegerin nicht", riss Jaris sie mit finsterem Blick aus ihren Gedanken. Thyra schmunzelte.
    "Weil sie dir mindestens ebenbürtig mit dem Schwert ist?"
    Jaris warf ihr einen Blick mit dem Feuer von tausend Vulkanen zu. Er war scheinbar nicht in der Stimmung.
    "Weil sie viel zu schnell die Seiten gewechselt und geredet hat."
    "Mich wundert eher, dass Aras sie während einem Verhör halb ausgezogen hat ..."
    "Vielleicht erinnert Kuen ihn an Engel", mutmaßte Jaris.
    "Ich weiß immer noch nicht, was er an ihr gefunden hat."
    "Man kann nicht beeinflussen wohin die Liebe fällt." Jaris warf ihr einen Blick zu, den sie deuten konnte und die Worte dieser Fürstentochter aus Felodun schossen ihr durch den Kopf: Ein Elf und ein Wilde, was für eine Verschwendung.
    Sie sagte nichts und richtete den Blick wieder in die Ferne. Jaris schien zu bemerken, dass er etwas gesagt hatte, dass Thyra zum Nachdenken gebracht hatte. "Was ist?"
    "Wie werden die Elfen auf mich reagieren?", fragte sie schließlich leise.
    Jaris lächelte. Sie merkte, dass es ihn Überwindung kostete, weil er seinen eigenen Gedanken und Problemen nachhing, dennoch war sie ihm dankbar. "Ich weiß ja nicht mal, wie sie auf mich reagieren werden. Wenn wir Pech haben genauso wie die Elfen in Haemutsu." Er legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern. "Wir werden es heraus finden."

    Bis zur Nacht hatten sie Irishmir fast erreicht. Es war vielleicht noch eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt. Dennoch beschlossen die beiden die Nacht abzuwarten. Sich als Fremde und im Dunkeln einer unbekannten Stadt voller Elfen nähern erschien beiden nicht sonderlich klug, obwohl die Zeit drängte. Sie hatten nicht mehr viel Zeit, wenn sie rechtzeitig in Ymilburg sein wollten. Neun Tage noch bis die Armee eintraf und zwei bis sich mit ihren Freunden in der Stadt von Zacharas treffen wollten.
    Thyra atmete tief durch und fragte sich, was Daphne und Theic wohl gerade machten. Zum Glück musste sie sich keine Sorgen um die beiden machen. Theic hatte schon mehr als einmal bewiesen, dass er alleine gut zurecht kam und Daryk würde Daphne besser hüten, als ein Huhn seine Küken ... Daryk ... sie fragte sich, was im Lager geschehen war. Wie hatten Theic und Dpahne den Hünen da raus schaffen können? Und vor allem warum waren Daryks Narben verschwunden? Sie seufzte. Alles viel zu viele Fragen und viel zu wenig Zeit. Resigniert lehnte sie sich an Jaris Schulter, der stumm in die Flammen starrte.
    Als er nicht reagierte, setzte sie sich wieder aufrecht und versuchte ihm in die Augen zu schauen. Kaum waren ihre Blicke sich begegnet, spürte sie auch schon seine Lippen auf ihrem Mund. Sie konnte überhaupt nicht reagieren, da lag sie schon unter ihm und seine heißen Küsse zogen sich über ihren Hals immer tiefer.
    "Was ...?", versuchte sie es, doch Jaris erstickte ihre Worte mit einem weiteren Kuss, der sich in glitzernden Kaskaden ihren Unterleib ergoss.
    Sie hatte keine Zeit mehr sich zu fragen, was zum Henker in den Söldner gefahren war, denn plötzlich waren da nur noch seine Wärme, der Schein des Feuers auf seiner nackten Haut und die Hitze seiner stürmischen Küsse.

    Thyra war bei der Verhörung der Soldatin abwesend geblieben.
    Thyra hatte definitiv keine Lust aus einer Soldatin Zeug rauszuquetschen. Irgendwie war sie mit den Gedanken bei Jaris. Er benahm sich absolut seltsam und sich machte sich Sorgen um ihn.
    Thyra starrte gerade Löcher in die Luft und fragte sich nebenbei auch, wo Daphne, Theic und Daryk abgeblieben waren, als Jaris sich von der Verhörung entfernte und den Lord mit der Soldatin alleine ließ. Sofort verflogen die Gedanken an ihre Freunde, was ihr leid tat, aber sie musste unbedingt mit Jaris reden. Sanft berührte sie seinen Arm.
    "Können wir reden?"
    Jaris nickte nur stumm. Er schien zu wissen, dass er ihr ohnehin nicht mehr ausweichen konnte. Gemeinsam gingen sie ein paar Schritte und setzten sich dann auf den Boden. Thyra setzte sich Jaris bewusst gegenüber, um besser in seinem Gesicht lesen und ein ernsthaftes Gespräch führen zu können.
    "Was hat die Soldatin gesagt?", versuchte sie einen lockeren Einstieg. Jaris lächelte schief.
    "Seltsames Zeug. Eine Armee sei unterwegs. Der Anführer ist Bornhold. Er angeblich bestrebt die freien Länder zu unterwerfen. Der Krieg schwappt nun zu uns. Wir haben nur noch zehn Tage."
    Thyra nickte, dabei hatte sie Jaris nicht mal richtig zugehört. Sein Blick glitt schon wieder in die Ferne.
    "Was hat Daphne dir erzählt?", fragte Thyra sanft. Sie wollte nicht fordernd klingen. Das wprde den Söldner nur vor ihr verschließen. Außerdem fragte sie nicht aus Neugierde, sondern weil sie wirklich wissen wollte, das Jaris bewegte. Endlich wurde Jaris Blick gewohnt scharf.
    "Sie hat meine Mutter getroffen."
    "Aber das ist doch schön", versuchte Thyra ihn zu ermuntern und legte eine Hand auf Jaris Knie, der im Schneidersitz vor ihr saß. "Was hat sie noch gesagt?"
    "Dass sie mich liebt."
    "Und weiter?" Thyra merkte, dass Jaris mit sich haderte. "Komm schon. Sowas würde dich doch nicht so aus der Bahn werfen."
    "Sie sagte auch, ich solle meinen Vater suchen", antworte Jaris schließlich, den Blick an ihr vorbei in die Ferne gerichtet.
    "Das heißt er lebt?" Ein freudiges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
    "Nein."
    "Hä?"
    "Daphne sagte, es sei alles so undeutlich gewesen. Meine Mutter verschwommen. Ich soll meinen Vater suchen, ihm vertrauen, aber er lebt nicht mehr ... oder ... ach keine Ahnung."
    Nachdenklich lehnte Thyra sich zurück. Jetzt konnte sie Jaris Verwirrung nur zu gut verstehen. Was meinte Daphne, beziehungsweise Jaris Mutter damit? Ein Mensch konnte doch nicht gleichzeitig tot und lebendig sein ...
    "Vielleicht ist meine Mutter im Totenreich wahnsinnig geworden."
    "Sag sowas nicht." Thyra rang sich ein ermutigendes Lächeln ab. "Wir finden raus, was es mit dem Rätsel auf sich hat. Wir haben schon so viel gelöst, da ist das doch eine Kleinigkeit." Sie gab Jaris ein Kuss auf den Mund und lächelte erneut. Ihre Stimme hatte zuversichtlicher geklungen, als sie sich fühlte. Wie sollten sie das Rätsel lösen? Dennoch zeigten sie Wirkung. Auch auf Jaris Gesicht legte sich ein Lächeln. "Danke."

    Thyra wachte am morgen auf und reckte sich einmal ausgiebig.
    Dank Daphne Flechtkünsten würde sie heute ihre Haare nicht machen müsse, da die Schurkin so fest geflochten hatte, dass die Frisur die Nacht beinahe unbeschadet überstanden hatte.
    Also schnappte sich die Jägerin nur eines der bereit gelegten Handtücher und machte sich auf den Weg in die Bäder zum Waschen.
    Als sie auf den Gang hinaustrat, kam ihr eine tropfnasse Daphne entgegen. Ihr blaues Nachthemd schmiegte sich durch die Nässe an die Konturen ihres Körpers und wäre Thyra ein Mann gewesen, wäre sie wohl sofort über die kleine Frau hergefallen. Sie war aber kein Mann. Also blieb sie nur perplex stehen und fragte: "Wo kommst du denn her?"
    "Aus dem Bad?", fragte Daphne unschuldig und ging ohne mit der Wimper zu zucken an der Jägerin vorbei in ihr Zimmer. thyra machte auf dem Absatz kehrt und folgte ihrer Freundin. "Warum warst du im Nachthemd baden?"
    "Das war so im Halbschlaf. ich habe wohl einfach vergessen es auszuziehen."
    "Okay, ich korrigiere: Warum warst du mitten in der Nacht baden?" Thyra ließ sich verständnislos auf Daphnes Bettkante fallen und musterte die Schurkin eingehend. Hatte sie vielleicht Fieber?
    Daphne lächelte. "Mich hat eine Stimme gerufen. Ich kann mich nur dunkel daran erinnern. Aber im Totenreich war auch von Calypso und Rhenus die Rede. Götter des Wassers ... keine Ahnung, aber ich brauchte dieses Bad. ich fühle mich viel frischer und ausgeruhter. ich weiß nicht. Wahrscheinlich brauche ich das jetzt regelmäßig."
    "Ein Bad braucht jeder regelmäßig", warf Thyra ein und lachte unsicher.
    "Nein. Du verstehst nicht was ich meine. Es war, als wäre das Wasser in mich reingeflossen. Und die Stimme sagte noch:
    Aber ab jetzt brauchst du es. Vergiss das nicht. Macht ist nicht unerschöpflich, alles brauch eine Herkunft. Bei manchen liegt es in den Gedanken, bei anderen sind es weltlichere Dinge."
    "Aha",
    machte Thyra. "Und was für eine Macht soll das sein?"
    Daphne zuckte mit den Schultern. "Das werde ich noch heraus finden."

    Thyra hatte lange über die Worte der Freundin nachgedacht, aber zu einem genauen Ergebnis war sie nicht gekommen. Das Wasser in sie rein geflossen. Sie braucht das nun regelmäßig ... na da werden sich die anderen einen Ast freuen, wenn Daphne im Wassertank schläft, aus dem sie alle noch trinken mussten, wenn gerade kein Bach in der Nähe war. Sie musste grinsen, als sie den Speisesaal gemeinsam mit Daphne betrat. Die Männer waren alle schon wach und saßen an einem Tisch auf dem ein üppiges Frühstück stand. Thyra zwängte sich zwischen Jaris und Theical. Daphne gegenüber zwischen Daryk und Aras.
    "Was hat der Herzog gesagt?", wollte Thyra sofort wissen und langte über den Tisch, um an den Honig heran zu kommen. Daryk schob den Topf grinsend ein Stück weiter von ihr weg, sodass sie ihn gerade so nicht erreichen konnte. "Ha, ha", machte sie und Daphne schob ihr den Honig hin, während sie Zacharas aufmerksam musterte.
    "Er wusste nicht, was er von unserem Gerede halten sollte." Aras schmierte mit ruppigen Bewegungen Butter auf sein Brot. "Wie ich es gesagt hab."
    "Ich glaube, er ahnt, dass etwas nicht stimmt." Jaris deutete auf Daphne. "Und jetzt auch noch die Warnung von einem ominösen Fremden war wohl zu viel des Guten. Ich denken wir sollten seine Gastfreundschaft nicht länger als nötig ausnutzen."
    Theical nickte zustimmend. "Klingt als wäre es das Beste. Mehr als eindringlich warnen können wir nicht und noch mehr Feinde können wir nicht gebrauchen ..."
    Auch wenn es Thyra leid um das Bett und das Essen tat, auch sie wollte aus Felodun weg.
    "Oh, da fällt mir ein ...", sagte sie, griff in ihren Ausschnitt und zog die gefaltete Karte heraus, die sie in der Bibliothek hatten mitgehen lassen. Jaris blickte sie verwundert an, ehe er die Hand danach ausstreckte. Seine Gedanken schienen in der kurzen Zeit schon wieder auf Abwege geraten zu sein und langsam fragte sich Thyra wirklich, was Daphne ihm so Verstörendes erzählt hatte. Vielleicht ergab sich auf der Weiterreise eine Gelegenheit mit ihm in Ruhe zu reden. Es tat ihr weh ihn so zu sehen. Sonst war er immer zielstrebig und selbstsicher gewesen. Aber seitdem er mit Daphne gesprochen hatte wirkte er still und in sich gekehrt. Langsam machte sie sich Sorgen um den Söldner.