Beiträge von Kyelia im Thema „Auf der Suche nach der Schatulle von Daris“

    Bei dem Wörtchen "Aufteilen" horchte Theical auf. In einem fremden land hielt er das für eine reichlich schlechte Idee, wenn nun jeder für sich und allein losziehen würde. Aber hatten sie eine großartige andere Möglichkeit? Ihre Ziele waren nicht mehr die gleichen. Daryk hatte seine Rache bekommen. Für ihn gab es eigentlich keinen Grund mehr, sich noch unnötig länger in dem Land aufzuhalten, in dem seine Familie umgekommen war. Davon abgesehen, wie sollten sie den Tod des Königs überhaupt erklären? Wahrscheinlich würde man sie alle dafür aus dem land jagen, oder aber töten. Aber wie sollte er dann seine Mutter finden? Einfacher wäre es wohl wirklich, sich aufzuteilen und das mit dem Tod des Königs irgendwie anders aufzuklären.
    Davon abgesehen war Zacharas anzusehen, dass er lieber wieder zurück in sein eigenes Reich wollte. Dort befand sich alles im Wiederaufbau und das Volk brauchte den Fürsten sicherlich dringender als sie auf ihrer Reise und Suche nach verschwundenen Familienmitgliedern.
    Davon einmal abgesehen, Thyra und Jaris als frisch verheiratetes Paar, hatten sicherlich auch besseres zu tun.
    "Also bevor wir aus dem Land geworfen werden, weil wir am Tod des Königs nicht ganz unbeteiligt waren, würde ich gern noch meine Mutter finden. Ich bin den ganzen Weg hierher ja nicht umsonst gereist", meinte Theic schließlich nach einigem Schweigen. Davon abgesehen, wollte er die Rückfahrt auf dem Schiff so weit es nur möglich wäre hinauszögern. Eventuell gab es auch einen Weg über das Festland, der länger dauern würde, aber dafür nichts mit Wasser zu tun hatte. "Aber ich will nichts übereilen. Im Grunde habe ich keine Ahnung, wo sie ist. Das kann dauern und ich will niemanden zwingen, ewig in dieser Eiswüste festzustecken. Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich sie überhaupt suchen will." Er war sein Leben lang auch ohne Mutter gut zurecht gekommen. Den einzigen Grund, den er in dieser Suche sah, war, dass es seinem Großvater wieder besser gehen würde. Nach allem, was er verloren hatte, tat es ihm sicher gut wieder etwas zurückzugewinnen, von dem er glaubte, es wäre verloren.
    Tristan zuckte die Schultern.
    "Ich komme mit. Ich habe schließlich auch jemanden, den ich suche, aber von dem ich den genauen Aufenthaltsort nicht kenne. Mein Ziel war Lyc und da ich keine besseren Informationen habe, ist die Hauptstadt der beste Anlaufpunkt."

    Theical blickte über den Rand seines Weinbechers, während er das Gefäß in einem Zug leerte. Irgendwann in den letzten Stunden des Speisens mit dem König von Lyc hatte er komplett den Faden verloren. Plötzlich wollte der fremde Fatzke ihr Schiff und benahm sich als wäre er ein Gott auf Erden. Und nun verschwand Aras auch noch mit Daphne und ließ einen verwirrten Daryk zurück - unter dem Helm nicht zu erkennen, aber durchaus vorstellbar.
    Versteh einer den Adel.
    Als der nächste Matrose vorbeikam, um nachzuschenken, nahm Theic ihm die ganze Flasche aus der Hand. Dieser Verein war nur betrunken zu ertragen.
    Eine Weile tat er sich das Gerede noch an, dann wurde es ihm trotz Alkohol zu viel. Mit einer viel zu schnellen Bewegung, der sein leicht benebelter Geist nicht recht folgen konnte, erhob er sich.
    Er murmelte eine flüchtige Entschuldigung zusammen. Dann verließ er den Raum, egal, was man von seinem Verschwinden hielt. Hier war er doch eh fehl am Platz – ein Bauer bei einem Machtschieben von Adligen.
    Vor der Kajüte des Kapitäns, dem anzusehen war, dass er ebenfalls mit seiner Entscheidung das Ganze in seinen Räumlichkeiten stattfinden zu lassen, unzufrieden war, traf er auf Daphne und Aras, die gerade zurückkehrten, von wo auch immer. Auch bei ihnen verabschiedete er sich noch schnell, bevor er durch den Gang nach draußen flüchtete.
    Auf dem Deck schlug ihm die salzige Seeluft entgegen, die in ihm sofort den Wunsch weckte, sich über die Reling zu übergeben. Er hasste das Meer und diese Schiffsreise sowieso. Da kam ihm ein arroganter König, der meinte, alles und jeden zu besitzen, gerade noch richtig. So viel Alkohol gab es gar nicht, um sich darin zu ertränken. Alternativ blieb nur noch das Meer.
    „Du siehst nicht gut aus“, erklang plötzlich die bubenhafte Stimme von Tristan hinter ihm. Als sich Theic umdrehte, blickte ihn der junge Soldat sorgenvoll an. „Du solltest vielleicht aufhören zu trinken.“ Er deutete auf die Flasche, die Theical noch immer in den Händen hielt.
    „Ich glaube eher, es war noch nicht genug“, lachte er und streckte den Alkohol dem anderem entgegen. „Ist noch was drin, wenn du willst.“
    Tristan sah sich nach allen Seiten um, als befürchtete er, bei etwas Illegalem erwischt zu werden, dann nahm er Theic die Flasche aus der Hand.
    „Aber nur einen kleinen Schluck“, meinte er und drehte die Flasche in den Händen.
    Der Taschendieb ließ sich derweil auf einem Fass nieder, baumelte etwas mit den Beinen und blickte zum anderen Schiff hinüber. Im Gegensatz zu dem Geschenk, das Daphne erhalten hatte, wirkte es wie eine Nussschale und die Übelkeit überrannte ihn, wenn er daran dachte, dass ihre Reise vielleicht mit diesem Ding weiterging.
    „Du hattest auch keine Lust mehr, bei den anderen zu sitzen?“, fragte er in die Stille hinein, zum Einen, um sich abzulenken, zum anderen, um irgendwas zu sagen. Wenn er darüber nachdachte, hatte er mit Tristan noch nicht viele Worte gewechselt. Was zum einen daran lag, dass er sowieso nicht zu denjenigen gehörte, die anderen Löcher in den Bauch fragten und zum anderen war er dem Neuen bisher aus dem Weg gegangen. Warum wusste er selbst nicht so genau.
    Aus dem Augenwinkel sah er, wie Tristan den Kopf schüttelte und sich an die nicht weit entfernte Reling lehnte.
    „Ich habe das Gefühl, ich gehöre da nicht hin.“
    Tristan reichte ihm die Flasche zurück, die er dankend annahm.
    „Dann sind wir ja schon zu zweit.“
    Tristan nickte lediglich, was Theic seufzen ließ. Was sollte er mit ihm reden? Musste er reden oder konnte er auch einfach die Situation hinfort schweigen?
    „Du willst also nach Lyc, um deinen Bruder zu finden?", setzte er nach einiger Zeit doch zu reden an.
    Tristan nickte erneut als Antwort. Nachdenklich legte Theic daraufhin den Kopf in den Nacken und betrachtete die Sterne, die langsam zum Vorschein kamen. Das einzig gute am Meer. Es gab nichts, was den Schein der Sterne trüben konnte.
    „Lyc scheint die erste Anlaufstelle für Leute zu sein, die nach verloren gegangenen Familienmitgliedern suchen“, überlegte er dann unfreiwillig laut. Er nahm einen Schluck aus der Flasche. Sie fühlte sich nicht leichter an. Tristan hatte offenbar nichts daraus getrunken. Komischer Kauz.
    „Suchst du auch jemanden?“
    Theic schlug mit den Hacken immer wieder gegen das Fass, während er die Beine erneut baumeln ließ.
    „So ähnlich. Ich habe vor einiger Zeit erfahren, dass ich eine Mutter habe, die wohl irgendwie dort gefangen ist.“ Ein Gähnen verließ seinen Mund. „Ich will mich mit eigenen Augen davon überzeugen, vorher glaube ich es nicht.“
    „Dann kennst du deine Mutter gar nicht?“
    „Nee“, grummelte Theic nur als Antwort. Da hatte er ja mit seinem Lieblingsthema angefangen, ohne, dass er es wollte.
    „Das ist traurig.“ Tristan senkte betrübt den Blick.
    „Ach iwo, ich hatte eine Großmutter, die war ein klasse Mutterersatz!“ Zwar war er über den Tod der alten Frau noch immer nicht hinweg, aber es fiel ihm erstaunlich leicht, über sie zu sprechen.
    „Ich könnte mir eine Kindheit ohne Mutter gar nicht vorstellen, auch, wenn ich mich mit ihr gestritten habe, kurz bevor ich meine Heimat verließ.“
    „Gestritten? Warum?“
    „Sie hat meinen Bruder als Tod abgestempelt, obwohl noch gar nicht sicher ist, ob er wirklich tot ist.“ Zorn schwang seinen Worten mit.
    Theic holte Luft, um etwas zu sagen, wurde aber von lauten Stimmen unterbrochen, worüber er auch nicht unbedingt traurig war, wusste er sowieso nicht so recht, was er hätte sagen wollen.
    Zeitgleich wandten sich Tristan und er einer Gruppe aus drei Matrosen zu, die über das Schiff torkelten und dabei das eine oder andere Auge auf den Käfig mit dem Klabautermann geworfen hatten.
    „Ha, was für eine lächerliche Gestalt ist das denn?“, rief einer von ihnen aus.
    Die Männer fingerten an dem kleinen Käfig herum, lachten und lallten unverständliche Dinge. Sie schienen sich köstlich darüber zu amüsieren, dass der Winzling darin wütend fluchte.
    Theical runzelte die Stirn, bevor er sich Tristan zuwandte, der nur die Schultern zuckte. Er schien es ebenso wenig für eine gute Idee zu halten, den Klabautermann zu provozieren wie er.
    „Ihr solltet ihn in Ruhe lassen“, meinte er schließlich an die drei Betrunkenen gerichtet. Diese schenkten dem jungen Soldaten jedoch nur kurz ihre Aufmerksamkeit. Interessanter war dann doch der eingesperrte Wicht.
    „Was ihr da macht, ist gefährlich“, mischte sich Theic ein. Er hüpfte von seinem Fass, was die drei Matrosen in noch lauteres Gelächter übergehen ließ.
    „Und was wollt ihr beide dagegen tun?“
    Einer der Matrosen, der zweifellos von dem anderen Schiff, dem des Königs kommen musste, legte seine Finger auf den Verschluss des Käfigs.
    „Nicht! Es war schon schwer, ihn einmal einzufangen!“, meinte Tristan. Eilig trat er an die Männer heran und versuchte diesen den Käfig zu entwenden. Der junge Soldat war zwar ein gutes Stück größer als Theic, hatte gegen die stämmigen Matrosen jedoch keine Chance. Oder jedenfalls schien es, als wollte er ihnen nicht wehtun.
    Theical selbst hatte damit weniger Skrupel. Wenn diese Männer den Klabautermann freiließen, sah es mit allen Schiffen schlecht aus. Er nutzte das wenige Licht, das die Nacht bot und tastete nach den Schatten der Männer. Als er sie zu fassen bekam, ließ er ihre Bewegungen stoppen. Unter irritierten Blicken, stellten alle drei Matrosen den Käfig wieder auf den Boden, alles andere als freiwillig.
    Tristan richtete sein Schwert auf die Männer um sie daran zu hindern, erneut nach dem Käfig zu greifen.
    „Wenn ihr unbedingt bis zur Küste schwimmen wollt, dann könnt ihr das auch so. Aber ich habe heute schon gebadet und würde außerdem gern lebend in Lyc ankommen.“ Wütend trat Theic einem der Matrosen gegen das Schienbein, was wohl seinem Fuß mehr wehtat, als dem Mann.
    „HA! Ich bin frei, ihr Idioten!“, schrie die quietschende Stimme des Klabautermanns.
    Erschrocken wandten Tristan und Theical ihre Blicke zu dem Käfig. Er war leer und die Tür stand offen. Der Verschluss musste sich in der Rangelei gelöst haben.
    Aras und seine Flüche…, knurrte Theic gedanklich.
    „Jetzt mache ich euch fertig!“, schrie das Männchen und fuchtelte bereits wild in der Luft herum. „Ihr werdet für eure Tat bezahlen!“
    Wieder murmelte er einen seiner komischen kleinen Flüche. Und während sich Theical noch fragte, was er machen sollte, um den Quälgeist aufzuhalten, bildete sich in den kleinen Händen bereits ein Feuerball, den er in die Richtung der Matrosen und Tristan abfeuerte. Diese wollten ausweichen, waren aber nicht schnell genug und duckten sich deshalb nur verzweifelt unter der Feuerkugel hinweg. Während die Männer sofort Feuer fingen und kreischend über Bord sprangen, rauschte der Zauber förmlich durch Tristan hindurch und traf das königliche Schiff. Augenblicklich begann das alte Holz die Flammen aufzusaugen und ehe jemand reagieren konnte, stand der ganze Kahn in Brand. Verzweifelt retteten sich die Seeleute an Bord ins Wasser.
    „Verdammter Möwendreck!“, fluchte das kleine Männchen und stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden auf. „Warum passiert das immer wieder?“ Er spuckte aus und warf die Arme in die Luft. „Ach macht euren Scheiß doch allein! Ich kündige!“, schrie er mit einem letzten Blick auf Tristan, dann verschwand er mit einer schnipsenden Bewegung der Finger einfach in der Luft.
    „Ups“, machte Tristan unterdessen, während sich Theic am Kopf kratzte und mit gebührendem Abstand zur Reling dem anderen Schiff beim Sinken zusah.
    „Wie erklären wir das dem König?“, fragte er und versuchte dabei so ernst wie möglich zu klingen, obwohl er sich ein Lachen nur schwerlich verkneifen konnte. Seine Reise auf dem Winzling war damit ja offenbar frühzeitig beendet wurden.
    „Der Klabautermann hat es versenkt?“
    „Das wird man uns wohl kaum glauben“, murmelte Theical.
    Auf dem Schiff brauch ein reger Tumult aus, als die wenigen Matrosen an Bord, die das Los des Nachtdienstes gezogen hatten, aufgescheucht alles wecken und das brennende Schiff mit langen Stangen versuchten etwas von Daphnes Eigentum wegzudrücken, nicht dass alles niederbrannte. Und ebenfalls die über Bord gesprungenen Männer aus dem Meer zu fischen.
    Zu ihrer Rechten flog derweil die Tür zur Kapitänskajüte auf und Daphne und die anderen kamen herausgerannt. Ein König im Schlepptau, der nicht sonderlich begeistert darüber schien, dass sein Schiff in Flammen stand.
    „Scheint, als müssten wir gemeinsam auf Daphnes Schiff nach Lyc reisen“, verkündete Thyra recht trocken. Auch sie schien froh, nicht mehr in dem engen Raum sitzen zu müssen. Gleichzeitig aber auch genervt, weil die Anwesenheit des Königs so nur herausgeschoben wurde
    „Das war doch geplant!“, schrie er König los. „Das ist ein Angriff auf das Königshaus von Lyc.“ Sein erhobener Zeigefinger ruderte ziellos zwischen Theic, Tristan und Daphne hin und her. Wenn man es genau betrachtete bekam jeder von ihnen, jeder ihrer kleinen Gruppe, den Finger einmal vor die Nase gehalten. Was ein hässlich dicker Finger.
    Und aus irgendeinem Grund verspürte Theical nicht einen Moment Reue. Zwar war er nur indirekt Schuld, dass das Schiff gerade sank, aber irgendwie gönnte er es dem König.
    „Jetzt beruhigt Euch“, meinte Daphne nur. „Es ist ja keinem etwas passiert.“ Sie betrachtete das Schiff, als überlegte sie noch, es mit ihrem Wasser zu löschen. Aber da war beim besten Willen nichts mehr zu retten. Das schien auch Daphne schnell zu merken, oder aber sie hatte keine Lust, weil man ihr den Schrottkahn dann andrehen würde.
    „Keinem etwas passiert? Ihr habt mein Eigentum zerstört!“
    „Und Ihr wolltet mir mein Eigentum wegnehmen“, konterte Daphne.
    „Das Schiff befindet sich auf meinen Gewässern“, war alles, was der König dazu sagte.
    „Oder Euer Gewässer unter meinem Schiff.“ Daphne verschränkte die Arme. „Wir müssen ja nicht nach Lyc fahren.“ Sie drehte sich zu Thyra und Daryk um, die beide hinter ihr standen. „Wir können auch zurück nach Delyveih, oder?“
    Tonlos nickten beide, während bei Thyra ein freches Grinsen über das Gesicht huschte.
    „Ihr werdet mich gefälligst nach Hause bringen. Das ist mein Schiff und ich befehle es!“

    Theical ließ sich am Inneren des Krähennestes zu Boden sinken. Seit Tagen sah er nichts anderes als Wasser, Wasser und noch mehr Wasser. Selbst zum Trinken gab es Wasser. Langsam hatte er die Schnauze voll von dem Nass. Auch, wenn Daphnes Schiff groß genug war, um sich abzulenken, das Wissen blieb immer.
    Sari schien es nicht anders zu gehen. Zu Beginn der Reise war er noch fröhlich um den Mast gekreist und hatte voller Freude einen Fisch nach dem anderen aus dem Meer geangelt und Theic vor die Füße geworfen. Die Matrosen hatten sich darüber gefreut, waren ihm sogar die erste Zeit nachgelaufen, nur, um die Fische, denen er immer ausweichen musste, in die Küche zu tragen. Mittlerweile hockte jedoch auch der bunte Donnervogel nur noch beleidigt auf dem Rand des Krähennestes und blickte starr in die Ferne. Hoffentlich wurde das Tier nicht krank.
    Besorgt musterte Theic seinen alten Freund. Auch er wünschte sich das Land sehnlichst herbei. Wieder festen Boden unter den Füßen und ohne Sorge, dass er jämmerlich ersaufen würde, würde das Schiff sinken. Nicht umsonst hatte er sich für eine kurze Atempause den höchsten Punkt auf dieser schwimmenden Festung gesucht.
    Genervt blies Theical die Luft aus, lehnte sich zurück und blickte in den wolkenlosen Himmel. Auf dem Deck huschten die Männer umher, doch die beschäftigten Geräusche und geschrienen Befehle rückten langsam in den Hintergrund. Müde schloss Theic die Augen, nur, um sie direkt wieder zu öffnen. Er runzelte die Stirn und erhob sich verwirrt. Irgendwas hatte sich verändert. Da war der Schatten, die Präsenz ihres eigenen Schiffes auf dem Meer, aber nun konnte er deutlich einen weiteren Schatten ertasten. Ganz schwach und durch das Wasser kaum spürbar, aber da waren eindeutig Menschen, die sich darauf bewegten. Und es näherte sich ihnen.
    Der Schattenmagier lunzte neben Sari über den Rand des Krähennestes, in die Richtung, in der er den Schatten ausmachen konnte. Und tatsächlich. In weiter Ferne war ein kleiner Punkt zu erkennen, der stetig größer wurde.
    Theic kniff die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können, aber es bewirkte nur, dass ihm das Bild noch weiter verschwamm. Er stieß einen lauten Fluch aus, als ihm klar wurde, dass der Matrose, der zuvor hier Wache gehalten hatte und den er in seinem Tun abgelöst hatte, um seine Ruhe zu haben, das Fernglas mit sich genommen hatte.
    "Etwas nähert sich uns", brüllte er nach unten, in der Hoffnung, dass ihn jemand hören würde. Tatsächlich blickten einige zu ihm nach oben und folgten seinem herumfuchtelnden Arm in die gezeigte Richtung. "Wir fahren direkt darauf zu. Und ich glaube, es ist ein anderes Schiff."
    Sofort setzten sich einige der Männer in Bewegung, ebenso der Kapitän, der aus seiner Kajüte kam, um ebenfalls zum Bug seines Schiffes zu rennen.
    Neben Theic krächzte unterdessen Sari auf und ehe der Mann reagieren konnte, erhob sich der Vogel in die Luft. Wohl froh, endlich etwas Neues zu sehen, als immer nur Wasser, schwebte er auf das fremde Schiff zu, bis er zu klein war, um ihn noch als Vogel zu erkennen. Es dauerte nicht lang und Sari tauchte wieder auf. In einem Affenzahn kam er zurückgeflogen, umkreiste den Mast einige Male, bis er sich vor Theical hockte und diesem einen Fetzen Stoff in die Hand drückte. Entsetzt nahm dieser ihn entgegen. Er entfaltete ihn und musste zu seinem Leidwesen feststellen, dass sich seine Vermutung bestätigte. Der Stoff war Schwarz mit einem weißen Kreuz und in dessen Mitte eine kleine Krone. Ohne Zweifel die Flagge des anderen Schiffes. Mit zuckendem Auge glitt sein Blick zwischen dem Stoff und Sari hin und her.
    "Spinnst du?!", zischte er den Vogel sauer an. "Du kannst denen doch nicht die Flagge klauen!" Der Donnervogel legte seinen Kopf schief und krächzte einige Male, als würde er zu widersprechen versuchen.
    "Kannst du erkennen, was es für ein Schiff ist?", hörte Theical die Stimme des Käptens zu ihm nach oben plärren.
    Mit einem letzten bösen Blick auf den Vogel, beugte er sich wieder über den Rand des Nestes und sah nach unten.
    "Es sind schon mal keine Piraten!", gab er zurück und beäugte kritisch die Flagge, bevor er sie ausbreitete und so zeigte, dass man sie von unten erkennen konnte. "Aber ich kenne mich mit Flaggen sowieso nicht so aus."

    Theic traute seinen Ohren nicht, als Jaris ihnen verkündete, dass der Kapitän davon ausging, dass eines der tragenden Seile durchgeschnitten wurde. Das hieß, sie saßen irgendwo mitten auf dem Meer, auf einem Schiff von dem es kein Entkommen gab, zusammen mit einem Verräter. Großartig. Als hätte es in letzter Zeit nicht schon genug Intrigen und Verrat gegeben. Nicht einmal hier waren sie sicher.
    „Das heißt aber auch, dass wer auch immer das Seil durchtrennt hat, noch irgendwo auf dem Schiff sein muss“, folgerte Aras. „Er kann ja nicht einfach weg.“ Der Herzog wirkte nachdenklich.
    „Und was sollen wir deiner Meinung nach machen?“, fragte Thyra. Sie klang genervt. „Ist ja nicht so, als hätten wir irgendwelche Hinweise. Das Seil könnte jeder durchtrennt haben. So ziemlich jeder Matrose hier an Bord trägt ein Messer oder etwas Ähnliches bei sich.“
    Mit einem Nicken stimmte Theical der Jägerin zu. Die Wahrscheinlichkeit, den Verursacher zu finden, glich der Zahl Null.
    „Aber es muss jemandem aufgefallen sein“, warf Tristan in die Runde. Er stand etwas abseits ihrer Gruppe und hatte die ganze Zeit ihr Spielfeld angestarrt, aber offenbar hatte er ebenso versucht, dem Gespräch zu folgen. Als er sich der Blicke der Freunde bewusst wurde, fügte er etwas leiser, wenn nicht sogar ertappt hinzu: „Wenn man die Leute fragt, findet sich vielleicht jemand, der etwas Ungewöhnliches gesehen hat.“
    „Wir können es jedenfalls nicht einfach so stehen lassen. Wenn wir einen Verräter an Bord haben, müssen wir ihn finden.“ Jaris sah sich suchend um. „Am besten trennen wir uns, dann können wir umso mehr Leute befragen.“
    Thyra und Jaris liefen davon und ließen Tristan, Aras und Theic zurück. Daphne hatte den verletzten Matrosen ins Krankenzimmer gebracht und Daryk war ihr gefolgt, weshalb ihnen deren Hilfe bei der Suche nach dem Schuldigen nicht zur Verfügung stand.

    Gemeinsam mit Aras lief Theical in die andere Richtung. Wenn Thyra und Jaris die auf Deck befragten, übernahmen sie eben die unter Deck. Vielleicht waren welche nach unten gerannt, um es den anderen zu erzählen, oder derjenige, der das Seil durchschnitten hatte, war ebenfalls nach unten gerannt.
    „Braucht ihr Hilfe?“ Tristan kam hinter ihnen hergelaufen. Theic blieb stehen, um auf ihn zu warten, während Aras weiterlief. Bei der Tür zu den Kajüten blieb er schließlich ebenfalls stehen und geduldete sich bis sie wieder zu ihm kamen. Immerhin etwas.
    „Ich würde gern etwas machen und nicht nur nutzlos herumstehen“, sprach Tristan. Er sah sich auf dem Deck um und beobachtete für einen Moment die geschäftigen Matrosen, die alle ihre Arbeit verfolgten, um das Segel wieder in den Griff zu bekommen. Theic konnte ihn verstehen, seit er auf dem Schiff war, kam er sich noch nutzloser vor als sonst.
    „Tu' dir keinen Zwang an. Wir können Hilfe sicher gut gebrauchen.“ Theical lächelte dem Neuen aufmunternd zu, dann holte er zu Zacharas aus und gemeinsam betraten sie die Mannschaftskajüten. Vielleicht fand sich hier jemand, der entweder etwas gesehen hatte, oder sich komisch verhielt. Einige Männer kamen ihnen entgegen, die scheinbar wissen wollten, was auf Deck aufregendes passiert war. Einige sprachen sie an, aber keiner wusste etwas, hatten sie auf Schiff die Nachtschicht übernommen und müssten über den Tag eigentlich schlafen.
    Die Räumlichkeiten der Mannschaft waren stickig und rochen nach Schweiß, Algen und nassem Holz. Kein angenehmer Geruch, aber es gab deutlich schlimmeres.
    „Fragen wir die“, meinte Aras. Der Herzog deutete auf eine Gruppe Matrosen, die sich um einen Tisch versammelt hatten. Einige saßen oder lehnten an den Wänden, während sie den Worten eines älteren Mannes lauschten, der wild gestikulierend auf sie einprasselte.
    „… und ich bin mir sicher, dass er es war. Ihr hättet es sehen sollen, es war so auffällig.“
    Die Freunde wurden hellhörig und warfen sich einen kurzen Blick zu, ehe sie auf die Mannschaft zuliefen.
    „Ihr habt es also gesehen?“, fragte Zacharas, als sie hinter ihnen standen.
    Der Mann wandte sich um und musterte sie durch den dichten grauen Bart mit dunklen Augen.
    „Ja“, behauptete er.
    „Ihr habt gesehen, wie jemand das Seil der Segel durchschnitten hat?“, bohrte der Herzog weiter.
    „Nein“, meinte der Alte, „das nicht, aber ich habe gesehen, wie jemand die Seile die ganze Zeit angestarrt hat.“
    „Immerhin etwas“, gab Theic mit zuckenden Schultern von sich.
    „Wisst Ihr, wo der Mann ist?“, fragte Tristan gewohnt höflich.
    Der alte Seebär schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn davon laufen sehen, aber ihn aus den Augen verloren, als das Durcheinander anfing.“
    „Wie sah derjenige aus?“
    Der Alte überlege, schilderte dann aber in wenigen Worten, wie der Mann ausgesehen hatte. Normale und einfache Kleidung, dunkle Haare, schon älter und vom Wetter gezeichnet. Sicherlich selbst seit vielen Jahren ein Matrose.
    „Wenn ich ein Seil durchtrennt hätte, und nicht wöllte, dass mich jemand sieht, wo würde ich mich verstecken?“, überlegte Tristan laut.
    „Irgendwo, wo keine Leute sind“, mischte sich Theic in die Überlegungen ein.
    „Das Schiff ist riesig, es gibt hier sicherlich einige stille Orte“, meinte Zacharas überzeugt. „Aber ich glaube nicht, dass er sich in einem der privateren Räumlichkeiten verkrochen hat. Es muss etwas sein, wo jeder Zugang hat.“
    Gemeinsam mit den Matrosen überlegten sie und dachten über einige Orte nach, an denen man sich unauffällig verstecken konnte. Zwei verschwanden schließlich Richtung Krähennest und zwei andere beschlossen doch die Privatzimmer zu durchsuchen. Aufgrund der Beschreibung meinte der Alte, er wollte das Deck absuchen. Manchmal war die Masse doch das beste Versteck.
    Aufgrund von Tristans Vorschlag machte sich ihre kleine Gruppe auf den Weg in den Lagerraum des Schiffes.

    In den Lagerräumen angekommen, spürte Theic die Anwesenheit eines einzelnen Schattens. Aber sonderlich leise verhielt sich die Person nicht. Sie schien mit sich selbst zu sprechen, sich Vorwürfe zu machen und Fluchte als ginge es um ihr Leben.
    „Komm raus, wir wissen, dass du hier bist!“, rief Zacharas in den Raum. Die Geräusche von Schritten verhallten und plötzlich legte sich eine Ruhe über die vielen Kisten und Fässer, als wäre nie etwas gewesen. Doch sie wussten, dass sehr wohl jemand hier war.
    „Du brauchst dich nicht verstecken, wir finden dich sowieso!“, setzte Theic den Worten des Herzoges nach. Er spürte den Schatten der Person noch immer. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren und schob sich langsam an den Kisten vorbei, auf ihn zu.
    Die anderen folgten.
    Hinter zwei Fässern kam schließlich ein Mann zum Vorschein. Erhielt ein Messer in den Händen, hob dieses aber nicht zum Angriff, sondern wendete es zwischen den Fingern, als wüsste er nicht, was er damit anfangen sollte. Er schien nervös und aufgelöst. Die Verzweiflung war ihm jedenfalls deutlich ins Gesicht geschrieben.
    Nur zur Sicherheit lenkte Theic den Schatten und verdrehte die Hand des Matrosen, so dass er das Messer fallen ließ und vor Schmerz aufkeuchte.
    „Bitte, ich ergebe mich!“, rief dieser und ging in die Knie. „Ich wollte das alles nicht. Ich hatte nicht vor jemanden zu verletzten, oder gar zu töten.“
    „Ihr habt niemanden getötet.“ Tristan hob das Messer auf. „Dem Mann geht es gut.“
    „Daphne hat ihm geholfen“, fügte Theical hinzu. Er ließ von dem Matrosen ab, der augenblicklich erleichtert in sich zusammensackte.
    „Den Göttern sei Dank“, murmelte er. „Ich wusste doch nicht, dass der Balken der Segel derart ausschwenkt, wenn ich eines der Seile löse. Das hätte nicht passieren dürfen. Normalerweise ist mehr als ein Seil für die Stabilität solcher Segel notwendig.“
    Theical warf Tristan einen Blick zu. Er hatte keine Ahnung von Schiffen, oder deren Aufbau, um sagen zu können, ob der Mann die Wahrheit sprach, oder einfach nur ein guter Lügner war.
    „Götter?“, murmelte Zacharas in seinen nicht vorhandenen Bart. Er schien wieder über etwas nachzudenken, und dabei weit weg.
    „Was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte Tristan. Sein Blick glitt zwischen den drei Männern.
    „Zu Daphne bringen“, überlegte Theical. „Immerhin ist es ihr Schiff.“

    Schwarz lag das Meer unter dem nächtlichen Himmel und unterschied sich nur durch die sanften Bewegungen der Wellen vom diesem.
    Nachdem Theic beinahe eine Stunde im Inneres des Schiffes herumgeirrt war, auf der Suche nach seinem Quartier, hatte er dieses endlich gefunden. Das Schiff glich wirklich einer Festung und wenn man nicht wusste, dass man sich auf dem Meer befand, konnte man das sogar vergessen. Jedenfalls spürte man den leichten Seegang im Inneren nicht. Nur ein Blick durch das Bullauge des Zimmers verriet ihm, dass er keinen festen Boden unter den Füßen hatte. Und wenn er ehrlich war, bereitete ihm das nur noch mehr Magenschmerzen. Zum ersten Mal in seinem Leben bereute er es, dass er niemals das Schwimmen erlernt hatte. Aber mit Mitte Zwanzig war es dafür auch zu spät
    Seine Augen wanderten über das schwarze Meer.
    Was sollte er machen, wenn sie in Lyc angekommen waren? Wo sollte er mit der Suche beginnen? An allen dunklen Orten, die es dort zu besichtigen gab? Den Kerker vielleicht? Bei dem Glück, das er seiner Gruppe zumaß, würde er eine der schönen Zellen zuerst besuchen dürfen.
    Hätte man ihm vor einem Jahr gesagt, dass er einmal mit einer durchgeknallten Gruppe herumziehen würde, die scheinbar alle im Schutz der Götter standen, dann hätte er laut gelacht. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, die Götter hatten lediglich ihren Spaß daran, sie scheitern zu sehen. Selchior damals in der Wüste war das beste Beispiel für diesen Wahnsinn gewesen.
    Er stützte die Arme auf dem Sims des Bullauges ab und legte den Kopf darauf. Mit geschlossenen Augen, versuchte er die anderen auf dem Schiff aufzuspüren. Doch bei der Menge der Schatten, die auf und unter dem Deck umherwirbelten, war das keine leichte Aufgabe, GENAU diese Schatten zu definieren. Er versuchte es an den Bewegungen, der Größe und Form festzumachen.
    Nach einer ganzen Weile musste er jedoch feststellen, dass er lediglich Daphne und Daryk herausfiltern konnte. Die beiden Extreme auf einer Stelle...das konnten nur die beiden sein. Allerdings bewegte sich keiner von beiden. Generell hatte er weder Daphne noch Daryk seit Beginn der Fahrt zu Gesicht bekommen. Von dem Ritter hatte er lediglich erfahren, dass es Daphne nicht so gut zu gehen schien. Sie sollten sich keine Sorgen machen, immerhin war die Prinzessin eine Heilerin und einen Arzt hatten sie auch noch an Bord. Darum machte er sich auch nicht so viele Sorgen. Daphne war stark und nach der Sache mit Calypso war es ihr auch nicht zu verübeln.
    Viel mehr Gedanken machte er es sich darum, was sie auf dem Weg nach Lyc alles auf sich nehmen mussten. Die Geschichte mit Calypso hatte ja gezeigt, dass es Dinge gab, die sie im Meer nicht vermutet hätten. Wer wusste, was unter der Oberfläche noch alles lauerte und nur darauf wartete, dass ein paar möchtegern Götterschützlinge vorbeikamen?

    “Geht es Euch gut?“, fragte Triss ihn, “Ihr seht ein wenig blass um die Nase aus.“
    Theical grummelte. Allein bei dem Gedanken daran, dass sie die nächsten Tage auf dem Schiff verbringen würden, wurde ihm schwindelig. Dass das Ganze eine seltendämliche Idee war, wurde ihm langsam auch bewusst.
    "Mir ging es schon besser... Mehrere Tage auf diesem schwimmenden Sarg. Wie soll ich das überleben?" Er fasste sich an den Kopf und warf einen Blick Richtung Meer.
    Tristan musterte ihn währenddessen verwirrt von der Seite.
    "Er kann nicht schwimmen", sprach Thyra in einem Flüsterton, aber dennoch so laut, dass es kaum zu überhören war.
    Theic glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Und obwohl er sich nichts anmerken lassen wollte, konnte er es sich nicht verkneifen, der Jägerin ein "Sag das doch nicht laut!" entgegen zu pfeffern. Wütend sah er sie an. Er war nicht wirklich sauer, aber seit wann wurden die Schwäche der Freunde herumposaunt?
    Thyra konnte darüber scheinbar nur lauthals lachen. Sie hielt sich den Bauch und tätschelte ihm nebenher den Kopf.
    "Wir retten dich schon", meinte sie, "Nachdem wir fertig gelacht haben."
    Theical verschränkte die Arme, brummelte einen Fluch und sah die Frau weiterhin böse an. Ein wenig musste es wirken, als wäre er das bockige Kind.
    "Wenn du eigentlich gar nicht zur See fahren willst, warum machst du es dennoch?" Tristan betrachtete die beiden Freunde skeptisch, wandte sich dann aber an Theic und sah diesen fragend an.
    Theical ließ die Arme mit einem Seufzen hängen.
    "Weil ich offenbar völlig übergeschnappt bin!", stieß er aus.
    Ein verunsicherter Blick von Tristan fand seinen Weg zu Thyra, woraufhin diese mit einem breiten Grinsen heftig nickte.
    "Ich glaube, ich verstehe nicht ganz", bemerkte der Mann kleinlaut. Es schien, als wisse er nicht mehr so recht, was er von ihnen halten sollte.
    "Er will seine Mutter finden", sprach Thyra.
    "Von der ich nur dank eines Gottes weiß, der zu meiner toten Freundin gesprochen hat", fügte er wohl nur wenig verständlich für Außenstehende hinzu. Das alles klang aber auch einfach nur unvorstellbar. Würde er nicht mit eigenen Augen sehen, was seine Freunde mittlerweile für Kräfte hatten, er würde nicht einmal in Betracht ziehen, dass es Götter überhaupt gab. Jahrelang hatte für ihn nur das existiert, was er auch anfassen konnte.
    Wie zu erwarten war, verformte sich Tristans Gesicht zu einem einzigen Fragezeichen.
    "Eines Gottes...?", wollte er wissen.
    Theic warf Thyra einen Blick zu, kurz tauschten sie sich auf diesem Weg stumm aus. Hatte er vielleicht schon zu viel gesagt? Immerhin war dieser Mann für sie fremd. Er machte zwar keinen bedrohlichen Eindruck, aber der Schein konnte trügen.
    Synchron schüttelten sie den Kopf.
    "Lange Geschichte...", meinte sie wie aus einem Mund.
    Tristan wirkte noch immer verwirrt, nahm es aber kommentarelos hin.
    Eine Weile herrschte Stille, in der sie alle aufs Meer schauten und Wellen der See beobachteten, dann bewegte sich Theical langsam von den beiden anderen weg.
    "Ich würde noch in den Hafen gehen", begann er leise, "etwas trinken oder so...man sieht sich morgen."

    Wie ein Idiot kam er sich vor. Wie er da versuchte eine der Vorratskisten auf das Schiff zu wuchten. Er stemmte sich dagegen, zog und zerrte, aber das dämliche Ding bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er behauptet, jemand hatte die Kiste am Boden festgeklebt.
    Man hatte ihm gesagt, es wären Feldfrüchte darin, genau konnte er es aber nicht beurteilen, da die Kiste verschlossen war - genug wog sie jedenfalls.
    Erschöpft lehnte er sich gegen das Holz und stieß genervt die Luft aus, während hinter ihm einige Matrosen ziemlich erheitert darüber zu sein schienen, dass er einfach nicht vorankam.
    "Anstatt zu lachen, könntet ihr auch helfen!", murrte er genervt.
    "Jemand, der es schafft, gegen die Sklaven von Calypso zu kämpfen, der wird ja wohl eine Kiste bewegen können." Die vier Matrosen brachen in Gelächter aus, immerhin war die Kiste, fast genauso lang wie Theical groß und offenbar empfanden sie es als sehr witzig, ihn damit allein zu lassen. Mittlerweile bereute er es etwas, seine Hilfe ausgerechnet denen angeboten zu haben. Für die Verhältnisse der Nordmänner war er eben sehr klein, aber dafür konnte er ja nichts.
    "Ohne deine Magie bist du wohl nicht mehr so stark, was?", lachte ein zweiter.
    Theical griemte höhnisch, dann tastete er nach den Schatten der Matrosen.
    Wenige Sekunden später, saß er breit grinsend auf der Kiste, während die vier Männer sich an dieser abschleppten und sie mit ihm darauf wie auf einer Senfte auf das Schiff trugen.
    "Mag sein, dass ich ohne diese Magie nicht sonderlich stark bin, aber ihr müsst zugeben, es ist sehr praktisch." Zufrieden ließ er die Beine baumeln.
    Wütend wurde er von vier Seiten gemustert und Knurren erklang aus der Kehle des einen, kein bösartiges, aber genervt waren die Männer allemal.
    "Wen hat sich denn Aras da angelacht?", fragte Thyra, die an der Rehling des Schiffes stand und von dort aus in den Hafen blickte, um die Menschen bei ihrer Arbeit zuschauen zu können, spöttisch.
    Theic wurde eben über die Planke aufs Schiff getragen, als er ihrem Blick folgte und den Herzog erkannte, der sich in Begleitung eines jungen Burschen dem Schiff näherte.
    Unsicher musterte er ihn. Die schlanke Gestalt war in ein Kettenhemd, Hosen und Reitstiefel gehüllt. Ein Schwert baumelte an einem Waffengürtel und zusätzlich hing am Sattel des Braunen hinter ihm noch ein Rundschild.
    Woher auch immer er kam, er war genauso wenig einer der Nordmänner wie Theical.
    "Der junge Mann sucht eine Überfahrt nach Lyc", rief Zacharas von unten zu ihnen hinauf und zeigte auf die Person neben sich.
    "Ich habe Geld, ich kann die Überfahrt auch bezahlen", fügte der Fremde hinzu.
    Thyra wechselte einen Blick mit ihrem Mann, stützte sich dann auf der Rehling ab und lächelte dem Jüngling entgegen.
    "Ich hätte ja nichts dagegen, aber leider können wir das nicht entscheiden. Das Schiff gehört unserer Freundin und die ist ... ", sie blickte zu Jaris.
    " ... verhindert", ergänzte dieser.
    Theical ließ unterdessen den Blick nicht einmal von dem Fremden. Hoffentlich hatte man vom ihm nicht zu befürchten, dass er einen rücklings von Bord schubsten würde. Dem Schattenmagier rutschte das Herz sowieso schon in die Schuhe, wenn er nur daran dachte, dass er die nächsten Tage vielleicht Wochen nur umgeben von Wasser auf dem Meer treiben würde. Da wollte er sich nicht auch noch darum Gedanken machen müssen, nicht ganz freiwillig vom Schiff geworfen zu werden. Es gab gnädigere Tode, als im Salzwasser zu ersaufen.
    "Aber ich glaube auch nicht, dass sie Nein sagt, wenn man höflich nachfragt", fügte Thyra ihrem Gesagten noch hinzu.
    Theical sprang nun endlich von der Kister herunter und ließ die Männer sie absetzen. Stöhnend lehnten diese sich dagegen, stützten sich ab und führten ihre Hände zum Rücken.
    "Wisst ihr, wann sie zurückkommt?"
    Alle drei zuckten sie die Schultern.
    Daphne musste sich in dem Kampf wirklich verausgabt haben, schon seit Stunden lag sie in der Grotte und schlief - Daryk die ganze Zeit an ihrer Seite. Keiner konnte sagen, wie lang es noch dauern würde, bis sie wieder wach wurde und sich ausgeruht fühlte.
    "Leider nein", meinte er nur, immer noch etwas misstrauisch, aber mit einem Lächeln im Gesicht. "Aber lang kann es nicht mehr dauern und in der Zwischenzeit kannst du uns ja schon mal verraten wie du heißt."
    "Tristan", antwortete ihm der Fremde.

    Theical hielt sich die Wasserleichen mit Hilfe einer weiteren vom Hals in dem er sie immer wieder auf ihre eigenen Leute losgehen ließ. Er selbst besaß schließlich keine Waffen außer seinen Dolch und der lag wohl noch auf seinem Zimmer. So war das Einzige, das er einsetzen konnte, die Krallen der Leichen. Immer Wasser konnte er sie ja schlecht ertränken.
    Aus dem Hintergrund konzentrierte er sich von daher eher darauf, den anderen den Rücken frei zu halten, allerdings war es für diese nicht immer ersichtlich, welche der Leichen er gerade kontrollierte, weshalb nicht nur einmal die Manipulierte von einem von Daphnes Brüdern oder Jaris niedergewalzt wurde. Aber es tauchten ununterbrochen neue aus den Fluten auf, weshalb das kaum von Bedeutung war.
    Die Hemmschwelle jemanden umzubringen, hatte er glücklicherweise in Ymilburg überwunden, denn mit k.o. schlagen kam man bei diesen ... Dingern nicht weit.
    Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Jaris und Daryk Aras aus dem Wasser zerrten. Er wirkte erschöpft, kam aber wieder auf die Beine. Blieb immer noch das Problem mit Daphne.
    Theical schwenkte den Blick, musste aber abrupt damit aufhören, als sich zwei Wasserleichen von hinten näherten. Den Angriff der einen konnte er noch abfangen, in dem er ihren Arm umlenkte. Durch den Hieb in die Luft verlor sie das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Die zweite Sklavin des Meeres erwischte ihn jedoch am Arm und hinterließ sofort eine blutende Wunde. Theic sog die Luft ein und presste die Hand auf die Stelle. Gerade holte die Frau zum nächsten Schlag aus, da durchdrang ein Pfeil ihre Stirn. Sie verdrehte die Augen und fiel rücklings in den Sand.
    Theic bekam nicht die Möglichkeit sich bei Thyra zu bedanken, denn in der Zwischenzeit hatte sich die zweite Frau wieder erhoben und startete einen erneuten Angriff.
    "Nimmt das denn gar kein Ende?", ranzte er, während er den Schatten und damit auch den Körper der Frau so weit bog, dass dieser das Rückrad brach. Kurz fiel sie wieder zu Boden, verlor das Gleichgewicht, dann aber schwang ihr Oberkörper zurück in die Senkrechte und sie ging erneut auf ihn los, als wäre nie etwas gewesen. "Wenn Daphne sich heilt, ist es okay, bei dir ist das einfach nur unheimlich!" Theical duckte sich unter einem Schlag hinweg. Diesmal konzentrierte er sich auf ihren Arm und ließ diesen herumfahren, sodass die Krallen den eigenen Körper der Frau durchbohrten.
    "Wir brauchen einen Plan." Thyra trat an seine Seite. Mit ihren Pfeilen erledigte sie eine Wasserleiche nach der anderen und mähte auf diese Weise alles nieder, was sich ihnen näherte.
    Theical nickte lediglich und versuchte den Schmerz in seinem Arm zu ignorieren, zumindest bis der Kampf überstanden war. Sein Glück, dass er nicht zwangsläufig auf seinen Arm angewiesen war.
    "Wie sieht es mit Daphne aus?", rief die Jägerin Jaris zu, doch dieser schüttelte nur den Kopf, während er eine der Frauen mit dem Schwert durchbohrte und mit einem Kick von sich schleuderte.
    "Wir kommen nicht mal an sie heran!", rief Daryk.
    "Calypso schützt sie!", fügte Jaris hinzu.
    Theical nutzte die neue Ruhe, die durch Thyra entstand, und versuchte einen Blick auf Daphne zu erhaschen. Sie hockte im Wasser und wurde von der Hexe umkreist. Ihre Augen waren stur auf den Strand gerichtet. Einige Male schüttelte sie den Kopf, dann traten plötzlich Wassertentakel aus ihren Ellenbogen und sie hob sich aus dem Wasser. Sie lief über die Wasseroberfläche und kam auf den Strand zu.
    "Zum Glück, sie konnte sich dieser Irren widersetzen." Thyra wirkte erleichtert und schlug einer der schon zu nahe gerückten Leichen den Bogen um die Ohren.
    "Daphne!", rief derweil Daryk. Er machte sich den Weg frei und lief der Prinzessin entgegen. Diese zuckte jedoch nicht mal mit dem Kopf. Es schien, als würde sie durch Daryk hindurchschauen. Wie hypnotisiert lief sie auf ihn zu, vorbei an den Wasserleichen, die sie nicht einmal wahrnahmen.
    Unsicher blieb Daryk stehen. Er schien ebenfalls zu bemerken, dass etwas nicht stimmte.
    Plötzlich wurden Daphnes Schritte schneller, sie begann zu rennen und schleuderte ihre Wassertentakel einmal nach Daryk und den zweiten nach Jaris. Sie waren diejenigen, die der Prinzessin am nächsten standen. Beide entkamen sie dem Angriff.
    "Wir sind nicht die Feinde!", rief Yorrick entgeistert. Durch sein Rufen auf ihn aufmerksam geworden, nahm Daphne nun ihren Bruder ins Visier, weshalb Theic ihn im letzten Moment aus der Bahn des Wassers stolpern ließ.
    "Was ist denn jetzt los?" Theical versuchte die Leichen von seinen Freunden fernzuhalten, während sie alle auf Daphne fixiert waren. Gemeinsam mit den anderen Frauen griff sie an und fauchte sogar ähnlich.
    "Das muss an Calypso liegen", stellte Jaris fest.
    "Das heißt, wenn wir Calypso erledigen, wird auch Daphne wieder zu sich kommen", kommentierte Zacharas.
    "Und wie wollen wir das machen, du Genie?!", platzte Theical zurück.

    Theic konnte nicht schlafen. Immer, wenn er die Augen schloss, schossen im Gedanken an seine Mutter in den Kopf. Unterbewusst hatte er sich darüber schon die ganze Zeit den Kopf zerbrochen, aber er kam einfach zu keiner Lösung. Wie sollte er sie finden? Wie fand man jemanden, der seit Jahren verschwunden war? Und wollte er das überhaupt? Er konnte sich schon nicht mehr an seine Mutter erinnern, so lang war sie bereits verschollen. Es gab eine Zeit, da hatte er geglaubt Jamir und Habger wären seine Eltern.
    Die letzten Tage hatten zwar eine Menge Ablenkung geboten, mit ihren Verkupplungsversuchen bezüglich Daphne und Daryk und der Ankunft in Delyveih, aber langsam kämpften sich die Gedanken zurück.
    Theical stand von der Bettkante auf, wo er bis eben noch gesessen hatte und verließ sein Zimmer. Damals hatte ihm Daphne erzählt, dass seine Mutter noch lebte. Viel hatte sie nicht gesagt. Nur, dass sie sich an einem dunklen Ort befand. Das grenzte die Suche nicht gerade ein. Nur auf alle dunklen Orte dieser Welt. Da konnte er sich Gedanken machen, wie er wollte. Ohne mehr Informationen würde er zu keinem Ergebnis kommen.
    Er zögerte nochmal, bevor er an Daphnes Tür klopfte. Wahrscheinlich würde man ihn mitten in der Nacht nicht einmal in ihr Zimmer lassen.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis sich jemand der Tür näherte. Es war schließlich auch mitten in der Nacht. Daphne öffnete die Tür selbst und von ihren üblichen Leibwachen war nichts zu sehen. Dass keiner ihrer Brüder sie bewachte, erschien ihm komisch, aber er sagte nichts.
    „Theic?“, fragte Daphne und rieb sich müde die Augen, während sie verwirrt eine Braue hob. „Es ist mitten in der Nacht.“
    „Jaaaa“, jetzt kam ihm das alles noch dämlicher vor. „Hast Recht, ich lass dich lieber weiterschlafen.“ Schon halb weggedreht, wünschte er noch eine gute Nacht.
    „Warte“, murmelte Daphne. Sie öffnete die Tür ganz. „Du kommst doch hier nicht her, ohne Grund.“
    „Nein, ich wollte dich etwas fragen“, er hielt inne und grinste unsicher. „Aber das hat auch Zeit bis morgen.“
    Daphne kicherte leise. „Jetzt bin ich wach, also kannst du gerne auch sagen, warum du hier bist“, sprach sie und hielt ihm die Tür offen. „Ohne echten Grund, wärst du ja nie hier.“
    Theic zögerte noch kurz, dann nickte er und betrat Daphnes Zimmer. Diese schloss die Tür hinter sich und führte ihn in den Raum hinter dem Vorzimmer.
    „Wo ist eigentlich deine Leibwache? Normalerweise hängen dir doch deine Brüder im Rücken.“
    Daphne druckste etwas herum, wurde aber von Theical unterbrochen, dem Daryk ins Auge fiel. Etwas unsicher betrachtete er den Klotz. Sein Blick wanderte zwischen Daphne und dem Hünen hin und her.
    „Ähm…“, brachte er nur hervor.
    Nun war es an Daphne den Blick unsicher wandern zu lassen. „Daryk ist …“, ihr Gesicht nahm die Farbe einer Tomate an, „meine neue Leibwache!“
    Theical hob den Zeigefinger und holte Luft um etwas zu sagen, stieß aber nur die Luft aus und verzog das Gesicht.
    „Dann hat unser Plan ja doch funktioniert“, grinste er schelmisch. „Zumindest so ähnlich.“
    „Wolltest du nicht irgendwas von mir?“, lenkte Daphne auf das Thema zurück, wegen dem er eigentlich gekommen war. Sofort verschwand das Grinsen aus Theicals Gesicht, stattdessen machte sich wieder die gleiche Beklemmung in ihm breit.
    „Jetzt, da langsam wieder Ruhe einkehrt, muss ich ständig daran denken, was du damals über meine Mutter gesagt hast. Wie findet man jemanden, von dem man nicht mal weiß, wo man suchen muss?“ Theical hielt inne und überlegte kurz. Er wollte Daphne zu nichts zwingen. Davon abgesehen, war es noch immer mitten in der Nacht. „Ist dir inzwischen vielleicht noch mehr eingefallen?“
    Daphne ließ sich in einen Sessel fallen und starrte eine Weile an die Decke.
    „Es war kalt ... Ich konnte es nicht spüren, aber an ihrem Atem sehen!“, murmelte sie mehr zu sich selbst, als zu den beiden Männern. Stumm und ohne sie zu unterbrechen ließen sich diese ebenfalls in jeweils einen Sessel fallen.
    „Ich hörte scheppernde Rüstungen, wahrscheinlich Soldaten, die an einer Art Kerker vorbeiliefen. Sie sprachen mit einer und der eine beschwerte sich, dass er den Trangeruch nicht mehr ertragen würde.“
    „Also sitzt sie in einem Gefängnis?“, fragte Theic nach.
    „Tran“, moserte Daryk. „Also irgendwo an der Küste.“
    Daphne beugte sich nach vorn. „Nicht irgendwo. Das war nicht unsere Sprache. Ich habe nur verstanden, was sie sagten, weil ich ein bisschen von dieser Sprache gelernt habe.“ Ihr Blick wechselte zwischen Theical und blieb bei ihrer neuen Leibwachen hängen. „Es war die Sprache aus Daryks Heimat.“
    „Das bedeutet, meine Mutter ist in Lyc?“ Nachdenklich blickten sich die drei Freunde an. „Aber warum in Lyc?“
    Daphne zuckte die Schultern. „Das kann ich auch nicht beantworten.“
    Theical ließ sich in seinem Sessel zurückfallen. Nun wusste er zwar mehr, aber damit hatten sich wieder neue Fragen aufgetan. Was suchte seine Mutter so weit im Norden? Der Krieg in den sie damals geschickt wurde, war nicht im Norden gewesen. Wo genau, wusste er zwar auch nicht, da sein Großvater es ihm nie sagen wollte, aber …
    Schwer seufzend warf er den Kopf in den Nacken.
    „Und jetzt?“, fragte er. „Reisen wir als nächstes nach Lyc?“ Er war sich dabei nicht sicher. Konnte er von den anderen verlangen, dass sie mit ihm kamen? Es war schließlich nur seine Mutter und die anderen hatten garantiert besseres zu tun, als mit ihm zu kommen. „Oder beziehungsweise ich allen“, verbesserte er sich deshalb.
    „Naja, ich habe nicht umsonst ein Schiff bekommen“, grinste Daphne. „Man darf das gern auch verwenden.“
    Daryk sagte nichts, murmelte aber etwas, das klang, als würde er ebenfalls zustimmen, dabei zu sein.

    Theical wälzte sich auf die andere Seite und zog sich die Decke über den Kopf. Etwas blendete ihn.
    „Ich will noch nicht aufstehen“, brummte er in die Kissen.
    Eine ganze Weile blieb er regungslos liegen, bis er seinen Kopf doch wieder aus dem Laken streckte und mit verkniffenen Augen in den Raum spähte. Er war viel zu hell und durch die Sonne, die direkt durch das Fenster ins Zimmer schien, wurde der Umstand nur wenig gemindert. Aber das war es nicht, was ihn geweckt hatte. Es dauerte etwas, bis sich die Gedanken klärten, dann aber streckte er sich ausgiebig und wollte sich wieder drehen, kippte dabei aber über die Kante des Bettes und klatschte wenig elegant samt Kissen und Decke auf den Boden. Dabei verfing er sich so stark im Stoff, dass er sich nicht einmal abfangen konnte und wie ein Fisch im Netz zu zappeln begann.
    „Ah, Ihr seid wach“, meinte eine weibliche Stimme von der Tür. „Das trifft sich gut.“ Die Frau trat breit lächelnd ins Zimmer und legte ein Bündel Kleidung auf das Bett. „Meine Schwester bereitet das Bad vor.“
    Theical hielt kurz in seinem Tun inne und sah zur Tür, ehe er sich mit der Decke in eine sitzende Position kämpfte. Es war die gleiche hellhaarige Frau wie am Abend zuvor. Nur trug sie diesmal mehr Kleidung. Am Rande bemerkt, musste er dringend den Spaßvogel finden, bei dem er sich für diesen Schreck bedanken konnte, den er erlitten hatte, als er das Schlafzimmer betreten hatte.
    „Schwester? Bad?“, brachte er immer noch müde hervor, während er sich den Schlaf aus den Augen wischte.
    Die Dienerin hob die Brauen. „Ihr habt uns doch die Erlaubnis gegeben, Euch eine Frisur nach dem Vorbild unseres Volkes zu geben. Und das geht besser, wenn die Haare nass sind.“
    Wenn er so darüber nachdachte, dann war da wirklich was.
    Die Frau musste die Stille fehlinterpretieren, denn der fröhliche Ausdruck verschwand aus ihrem Gesicht. „Oder habt Ihr es Euch anders überlegt?“
    Theical winkte ab.
    „Schon in Ordnung.“ Etwas unsicher blickte er sich um. „Wo sind eigentlich meine anderen Sachen?“
    „Wir haben sie eingesammelt und in die Waschküche gebracht. Das hier“, die deutete wieder fröhlich auf das Bündel auf dem Bett. „habe ich Euch herausgesucht. Es müsste Euch eigentlich passen.“
    Erst jetzt merkte Theical, dass er vollkommen nackt war und nur von der Decke verhüllt wurde. Panisch versuchte er sich einen Plan zurecht zu legen, wie er von neben dem Bett zu der Kleidung kommen sollte. Bzw. wie er die Frau aus dem Zimmer bekam. Diese kicherte.
    „Tut Euch keinen Zwang an. Da ist nichts, was wir nicht schon gesehen haben“, lachte eine zweite Frau beherzt, die nun ebenfalls in den Raum trat. „Das Bad wäre fertig.“
    Nur schwerlich konnte Theic den Impuls zurückkämpfen, sein wohl knallrotes Gesicht in der Decke zu verstecken. Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte seine „Gastgeschenke“ nicht noch mal wiedergesehen.
    „Ich hoffe, das ist keine Kinderkleidung“, grummelte er um sich selbst abzulenken.
    Die beiden Frauen warfen sich einen kurzen Blick zu. Allein das sagte schon genug aus. Und bei der Größe der Norder war das nicht mal unwahrscheinlich.
    „Naja also“, begann die jüngere der beiden.
    „Wir haben extra welche herausgesucht, die zu Euch passen“, ergänzte die andere.
    „Wehe es ist eine Narrenkappe dabei“, mitsamt Decke stolperte Theic am Bett vorbei und schnappte die Kleidung. Was auch immer die beiden Frauen letzte Nacht gesehen hatten, sollte dort auch in der Vergangenheit bleiben.
    Anschließend drängte er sich an den beiden Frauen vorbei, durchquerte das kleine Vorzimmer seiner Räumlichkeiten und betrat das Bad. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, warf er die Kleidung erst einmal in die Ecke und ließ sich in die Wanne fallen. Das Wasser war nicht sehr warm, aber dennoch angenehm.
    Er tauchte unter und wusch sich dann gründlich mit der Seife. Erst dann warf er einen genaueren Blick auf die Kleidung. Es handelte sich um eine helle Hose und ein weißes Hemd. Dazu irgendein mantelähnlicher Überzug aus einem hellbraunen Stoff auf der Außenseite und rötlicher auf der Innenseite. Der Mantel sollte auf der rechten Seite mit Knöpfen geschlossen werden. Dazu ein Gürtel und sogar Stiefel gehörten zu den neuen Sachen. Das waren definitiv keine Kleider für normale Bauern.
    „Jetzt wäre mir der Narrenhut lieber“, grummelte der Taschendieb vor sich hin, während er die Kleidung argwöhnisch musterte. Allerdings hatte er im Moment nichts anderes und wenn er es sich recht überlegte, so schlimm sah es nicht aus.

    Wenige Minuten später hockte er auf einem Stuhl, die beiden Frauen schräg hinter sich und wusste nicht, ob er sich sonderlich sicher fühlen sollte, bei dem Gedanken daran, dass jede von ihnen eine Schere in den Händen hielt.
    „Von der Länge nicht so viel wegnehmen, nur etwas und den Bart stutzen“, meinte die eine.
    „Nein, die Seiten kurz schneiden und den Bart stehen lassen.“
    Theical verzichtete darauf, sich in die Diskussion der Schwestern einzumischen, stattdessen gähnte er ausgiebig und schloss die Augen. Solang er zum Schluss überhaupt noch Haare auf dem Hof hatte.
    „Okay, dann nehmen wir an den Seiten nicht ganz so viel weg“, einigten sie sich dann.
    „Und den Bart auch nur formen“, fügte die Schwester hinzu. Bevor Theic noch etwas sagen konnte, fielen schon die ersten Haarsträhnen zu Boden. Irgendwie erinnerte ihn das an die Zeit, in der seine Großmutter noch begeistert seine Haare geschnitten hatte. Wie eine Puppe hatte Jamir an ihm herumexperimentiert.
    Ein Klopfen an der Tür unterbrach die beiden Frauen.
    „Theic, kommst du mit? Daphne will uns die Stadt zeigen!“, erklang Thyras Stimme von draußen.
    Mit einem Ruck stand der Taschendieb auf.
    „Ich bin gleich fertig!“ Das war seine Chance, den beiden Frauen zu entkommen. Noch länger und er würde aussehen wie Daryk. „Ihr seid doch fertig, oder?“
    „Ähm ja“, meinte die Ältere etwas überrascht.
    „Sehr gut.“ Und damit war er aus dem Raum verschwunden und trat neben Jaris und Thyra auf den Gang. Auf dem gleichen Weg band er den Teil seiner Haare wieder zusammen, was noch zusammenzubinden ging, was nicht mehr so viel war, hauptsächlich deshalb, weil an den Seiten die Haare zu kurz waren.
    „Sag ein Wort und ich lasse dich gegen die nächste Wand rennen“, meinte Theic, als er den Blick der Jägerin bezüglich seines Aufzuges sah.

    Theic konnte Thyra nur zustimmen. Sie waren wirklich ein seltsamer Verein. Und als normal konnte man dies sicher auch nicht betiteln. Aber wer war schon gern normal? Obwohl...normal groß wäre schon nicht übel.
    "Wir sind viel schneller vorangekommen, als ich gedacht hätte", meinte Daphne als sie noch keine Stunde geritten waren. Die Sonne stand noch nicht einmal sonderlich hoch am Himmel und begann gerade mal, etwas wärmer zu werden. Wobei von Wärme nicht unbedingt die Rede sein konnte. Die Luft war dennoch eiskalt. Theic war einer der ersten gewesen, der sich wärmer hatte anziehen müssen.
    Als er dem Blick der anderen folgte, erkannte er in der Ferne die riesige Stadtmauer von Delyveih. Schon allein die Mauern waren viel imposanter als die von Ymilburg. Eine solche Mauer hätten die Feinde sicher nicht so leicht einreißen können.
    "Willkommen in meiner Heimat", murmelte Daphne wenig begeistert. Die Nervosität klang förmlich in ihrer Stimme mit. Und Theic konnte sie verstehen. Schon die wenigen Tage, die das halbe Nordvolk vor Ymilburg gelagert hatte, hatte man die Prinzessin förmlich erstickt. Es musste nach den vielen Jahren Freiheit erdrückend für sie sein, zurückzukehren. Und dann war auch noch ihr Vater krank. Auch, wenn die Schurkin nichts sagte, man konnte ihr ansehen, dass sie liebend gern einfach gewendet und davon geritten wäre.
    "Stehen geblieben", meinte eine Torwache, als sie kurz vor der Mauer standen. Sie kam etwas auf sie zu und sprach mit ruhiger und tiefer Stimme weiter. Dabei behielt er sein Visier unten, weshalb man die Augen nur durch das schmale Sichtfeld sehen konnte. Er wirkte bedrohlich aber nicht unfreundlich. "Die Stadt ist für Fremde derzeit nicht zugänglich. Habt ihr eine Erlaubnis, durch das Tor zu gehen?"
    "Ich denke doch", meinte Daphne. Sie fischte den Siegelring, der an der Kette um ihren Hals hing hervor, und hielt ihm den Mann vors Gesicht. "Wir werden erwartet." Von der vorherigen Nervosität war nichts mehr zu hören.
    Für einen Moment erstarrte der Soldat, merkte er erst jetzt, wen er da vor sich hatte.
    "Prinzessin", stieß er aus, verbeugte sich eilig und beinahe hatte Theic geglaubt, der Mann würde auf die Knie fallen und sich vor Daphne in den Dreck werfen. Er blieb jedoch stehen. Stattdessen wandte er sich eilig ab und lief zu seinen Kameraden. Diese gestikulierten etwas herum, dann kam er mit drei weiteren Wachen auf sie zu.
    "Wir werden Euch und Eure Begleiter durch die Stadt zur Burg geleiten." Bei dem Wort "Begleiter" drehte er seinen Kopf in die Runde. Was er dachte, konnte sich Theic nicht erschließen, da er sein Gesicht nicht erkennen konnte. Aber in der Art wie er es aussprach, bemerkte er eine gewisse Skepsis.
    Langsam damit die Wachen zu Fuß nachkamen, folgte Daphne den Soldaten und die anderen tasten es ihnen gleich.
    Hinter dem Tor kam eine riesige Stadt zum Vorschein. Die Luft roch nach Salz und hohe Steingebäude mit Säulen flankierten die Straße. Über den fielen Balkonen hingen Decken und andere Kleidungsstücke zum Auslüften.
    "Aras sollte sich eine Scheibe von dieser Stadt abschneiden", sprach Thyra. Mit leuchtenden Augen musterte sie die Gebäude mit den vielen aufwendigen Verzierungen. "Hier sieht es viel freundliche raus."
    "Lass' ihn das ja nicht hören", meinte Jaris. "Ich bin froh, dass er sich endlich etwas beruhigt hat."
    "Ja, hebe dir das lieber für schlechte Zeiten auf." Theical blickte die Jägerin kühl an. "Wenn er wieder nervt, kannst du eh nichts falsch machen. Bis dahin genießen wir die Tage, die er ruhiger ist."
    Vor ihnen tauchte zuerst der Palast auf, und dahinter das endlose Meer. Da sie sich vom Land her genähert hatten, hatten sie noch keine Gelegenheit gehabt, einen Blick darauf zu erhaschen.

    Theical genoss die Ruhe, die ihre erneute Reise mit sich brachte. Kein tobendes Kampfgeschrei, keine sterbenden Menschen, kein Jammern und kein Klagen. Die wenigen Tage, die sie nun wieder unterwegs waren, schienen ihm seit Ewigkeiten die ersten entspannten zu sein. Und das lag nicht nur daran, dass ihre Gruppe nicht vollständig war.
    Wenn er jetzt noch laufen und nicht reiten würde, die Welt wäre super.
    „Seht mal!“ Daphne deutete in die Ferne, wo am Rand eines Waldes ein kleines Dorf vor ihnen auftauchte. Drei Händlerkarren vor sich, näherten sie sich der Häusersammlung, die auf den unzähligen Landkarten, die sie Zacharas vor ihrer Abreise noch entwendet hatten, nicht einmal eingezeichnet war. Demnach war das Dorf wohl nicht sonderlich bedeutend. Aber eine willkommene Abwechslung.
    „Vielleicht finden wir hier etwas“, züngelte Thyra neben ihm, als sie ihr Pferd etwas antrieb und an ihm vorbeiwackelte.
    Theical grinste zurück, fing damit aber auch den Blick von Daphne ein, die sie beide misstrauisch beäugte. Der Taschendieb wandte die Augen wieder dem Dorf zu. Er hatte sich mit der Jägerin darauf eingespielt, die Schurkin und Daryk näher aneinander zu bringen. Auch, wenn die beiden das noch nicht wussten und sicher auch nicht befürworten würden. Sie beide hatten Probleme und Sorgen in ihrer Vergangenheit, die keiner von ihnen dort gelassen, sondern mit in die Gegenwart geschleppt hatte. Der Ansicht der Jägerin nach, hatten sie sich nach alle dem etwas Glück verdient. Dem konnte er nur zustimmen.
    „Wollen wir über Nacht hier bleiben?“, fragte Jaris in die Runde, als sie das Dorf betraten und durch die Reihen von Bauern und Händlern schritten. Über die Köpfe dieser hinweg, zeigte er auf ein Gasthaus.
    „Ich bin dafür!“, säuselte Thyra. „Die Sonne geht sowieso bald unter.“
    „Ich auch!“ Theic war bei allem dabei, was mit einem vernünftigen Bett zu tu hatte. Wie schnell man sich doch an diesen Luxus gewöhnte, früher hatte er auch nur eine lausige Strohmatratze gehabt. Außerdem bot ihnen eine Nacht in diesem Dorf genug Zeit, sich etwas umzuschauen.
    Auch Daryk und Daphne stimmten der Idee zu. Es schien wirklich keiner Lust zu haben, am Abend die Zelte aufzuschlagen.

    Im Gasthaus waren schnell mehrere Zimmer gebucht und auch bezahlt. Es war vergleichsweise billig, Im Gegensatz dazu, was sie in der letzten Zeit vor der Schlacht ausgegeben hatten.
    Während die anderen noch die Zimmer begutachteten, erklärte sich Theical bereit, die Pferde in die Stallungen zu bringen, die ihnen zur Verfügung gestellt wurden und diese anschließend zu versorgen. Thyra wollte ihm dabei helfen und zog auch Jaris in die Sache hinein. Nach ihrer Ansicht, war es so einfacher, sich unerkannt aus dem Staub zu machen und nach einer Möglichkeit zu suchen, ihren Plan umzusetzen.
    So kam es auch, dass sie, kaum, dass sie fertig waren, zu dritt den kleinen Markt des Dorfes aufsuchten. Für so wenige Menschen herrschte hier reges Treiben. Viele Stände und einige Karren fanden ihren Platz. Offenbar kamen hier jeden Tag fahrende Händler vorbei. Ein guter Platz, um etwas Fieses auszuhecken.
    „Los, kommt mit!“, forderte Theical die beiden frisch verheirateten auf. Sein Schatten griff nach den ihren und sie kamen seinem Willen nach, ihm nach links zu folgen. Nicht, dass sie sich in ihrer Überraschung wirklich hätten wehren können. Seit der Schlacht hatte er diese neue Kraft erstaunlich gut unter Kontrolle. Zumindest bei normalgewichtigen und normalgroßen Menschen. Alles darüber, war schon schwieriger. Vom Willen einmal abgesehen, zehrte ein großer Schatten viel mehr Energie.
    „Man, ich kann selbst laufen“, beschwerte sich die Jägerin lachhaft. Theic gab sie frei und anstatt seiner, zog nun Thyra Jaris mit sich. „Hier gibt es eine Menge Händler“, stellte sie anschließend fest und wackelte mit den Augenbrauen, während ihr Ehemann nur die Augen verdrehte.
    „Haltet mich aus diesen Plänen bitte raus“, meinte er. Sonderlich glücklich schien er mit der Entscheidung nicht zu sein, Daphne und Daryk zu verkuppeln. Nicht, weil er es ihnen nicht gönnte, aber wenn da wirklich Gefühle waren, dann würden sie allein zusammenfinden. Das hatte schließlich auch bei ihm und Thyra wunderbar geklappt. Theic und die Jägerin waren jedoch anderer Meinung. Manchen musste man eben auf die Sprünge helfen. Der Taschendieb als Dauerjunggeselle hatte davon natürlich massenhaft Ahnung …
    „Und was schwebt dir vor?“, verlangte Theical zu wissen und ignorierte dabei den Einwand des Söldners. „Ich will nur ungern, dass Daryk auf mich sauer wird.“ Ein unsicheres Lachen entkam seiner Kehle. Dem Brocken hatte er schließlich nichts entgegen zu setzen. Der würde ihn mit einem Schlag über den Rand der Welt schleudern.
    „Ach was“, die Jägerin winkte ab. „Du manipulierst einfach seinen Schatten und das war es schon.“
    Theical hob eine Augenbraue.
    „Wie stellst du dir das vor?“ Er machte eine ausschweifende Geste, die bedeuten sollte, wie viel größer der Schatten des Ritters war. „Der Kerl hat einen Oger erledigt, was soll ich kleiner Wicht da ausrichten?“
    Thyra legte eine Hand an ihr Kinn und sah überlegend über den kleinen Markt.
    „Du könntest ihn zum Tanzen bringen.“ Sie legte den Kopf schief. „Ein eng umschlungener Tanz kann Wunder wirken. Das schafft ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, wenn man die gleichen Bewegungen ausführt.“
    „Ähm … “ Theical hob eine Augenbraue, als die Jägerin grinste.
    Tatsächlich kam er sich etwas übergangen vor. Hatte er nicht eben noch gesagt, dass er den Fleischberg nicht manipulieren konnte? Es war schließlich nicht so, als hätte er es nicht schon versucht. In ein paar Wochen vielleicht …
    „Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte er und blickte die Jägerin bohrend an.
    „Ja, aber das wäre doch total niedlich.“ Die Jägerin tänzelte etwas hin und her, ganz als bewegte sie sich zu einer Musik, die nur sie hören konnte. „Oder Daphne … Daphne ist sicher leichter. Du lässt sie einfach in seine Arme springen.“
    „Und dann?“, lachte Theical, „stehe ich mein restliches Leben immer daneben und lasse sie Sachen machen, die sie nicht wollen.“ Er schüttelte den Kopf. „Es muss einen anderen Weg geben.“
    Abrupt blieb Thyra stehen. „Ich hab’s! Wir sperren sie in einen Raum!“
    Theical verschränkte die Arme hinter dem Kopf und drehte sich zu ihr um.
    „Du meinst, wie letztens? Da haben wir sie zwar nicht eingeschlossen, aber weil ich Daryk nicht in mein Zimmer gelassen hatte, musste er zu Daphne.“
    Thyra ließ bedauernd die Schultern hängen. „Hast recht.“
    Ruhe breitete sich zwischen ihnen aus, als sie geknickt weitergrübelten. Das erste Mal seit Tagen, dass sie das machen konnten, ohne, dass einer der beiden Opfer ihnen im Nacken saß.
    „Ein gemeinsames Essen zu zweit?“, schlug Jaris hinter ihnen seufzend vor. „Der Große isst doch für sein Leben gern. Das wäre also nichts, an was er sich stoßen würde.“
    Synchron wandten sich Theical und Thyra zu dem Söldner um.
    „Das ist eine wunderbare Idee“, Thyra klatschte in die Hände. „Ein romantisches Essen unter dem Sternenhimmel! Mit Blumen und Kerzen.“
    Das klang doch zumindest nach keiner Idee, die schon von vornherein zum Scheitern verurteilt war.
    „Der Gastwirt in der Taverne kann uns sicher auch helfen. Ich hoffe nur, das Geld reicht“, murmelte Theical mehr zu sich selbst, als zu den beiden anderen.
    „Großartig, dann besorgen wir die Blumen und Jaris läuft schon mal zurück und … “, begann Thyra, wurde aber von einem empörten Jaris unterbrochen.
    „Warum ich?“
    „Es war deine Idee“, meinte Theic und zuckte die Schultern.
    „Sobald wir die Blumen haben, kommen wir nach.“ Thyra drückte ihm einen Kuss auf, dann suchte sie schon aufgeregt den Markt nach einem Stand ab, der mit Blumen dienen konnte.
    Jaris grummelte etwas Unverständliches, machte sich dann aber wirklich auf den Weg zurück ins Gasthaus.
    „Ihr versucht also zwei Liebende zu vereinen?“, erklang eine gelispelte und raue Frauenstimme hinter Theical und erschreckte ihn so sehr, dass er dümmlich nach vorn stolperte und beinahe auf dem groben Kopfsteinpflaster zum Liegen gekommen wäre. Als er sich gefangen und umgedreht hatte, stand eine alte Frau in einem kunterbunten Gewand hinter ihm und lächelte schlagseitig zu ihm hinauf – was durch die vielen tiefen Falten einfach nur unheimlich aussah. Zumal die etwas korpulentere Frau sogar noch einen guten Kopf kleiner war als er. Wo kam sie auf einmal her? „Vielleicht kann ich helfen.“ Die Alte besaß zu ihrem Lispeln zudem eine derart kratzige Stimme, dass Theic Schwierigkeiten hatte, sie überhaupt zu verstehen. Er ließ sich jedoch nichts anmerken und nickte stattdessen. Hatte die Alte sie etwa belauscht?
    Die Händlerin kicherte seltsam unheimlich, was Theic trotz allem, was er in der Schlacht gesehen oder nicht gesehen hatte, eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Die Schrulle erschien ihm alles andere als vertrauenserweckend.
    „Vor einiger Zeit“, sprach die Alte und trat zwei Schritte von ihnen weg, um einen Korb von ihrem Rücken zu wuchten. Sie begann darin zu kramen, während sie weitersprach. „hat mir ein guter Freund etwas gegeben, das Euch sicherlich helfen könnte.“
    Ehe Theical reagieren konnte, drückte die Frau ihm ein Buch ohne Titel in die Hand. Sofort beugte sich Thyra neugierig über seine Schulter, um ebenfalls einen Blick zu erhaschen.
    Der Taschendieb schlug das Buch auf und blätterte einige Seiten durch. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und als er aufblickte, lächelte auch die Jägerin schelmisch zurück.
    „Das könnte funktionieren“, meinte er und klappte das Buch wieder zu.
    „Aber ich muss Euch warnen. Wenn Ihr der Anleitung nicht genau folgt … “ Sie ließ ihren Satz unvollendet.
    „Was dann?“, bohrte Theical unsicher nach.
    „Ach, nicht so wichtig“, die Alte winkte lachend ab. „Was soll schon schiefgehen?“
    Das klang nicht sonderlich überzeugend, wenn Theical ehrlich war. Skeptisch sah er dabei zu, wie sich die Händlerin erneut zu ihrem Korb bückte. Ein Ächzen und Stöhnen erklang, ehe sie sich mit einer hässlich gezimmerten Kiste wieder aufrichtete.
    „Das gebe ich euch noch dazu.“ Die Kiste wuchtete sie Thyra in die Armen. „Ich habe seinerzeit alles gesammelt, was Ihr braucht.“
    Theical hob eine Augenbraue. So wie die Alte aussah, hatte sie das auch nötig.
    „Und was kostet uns der Spaß?“
    „Zwei Kupferstücke für das Buch.“
    Das war viel zu billig. Immerhin handelte es sich um ein Buch. Es schien fast, als wollte sie das Ding loswerden.
    „Mehr nicht?“, fragte er skeptisch. „Und die Kiste?“
    „Die gebe ich euch.“ Sie machte eine dramatische Pause. „Kostenlos.“
    „Wir sind im Geschäft“, meinte Thyra und schlug mit der Alten ein. Schneller, als Theic seinen Namen aussprechen konnte, hatte die Jägerin das geforderte Geld aus den Taschen gezaubert und es der Händlerin überreicht.
    „Ich wünsche euch beiden viel Erfolg.“ Die Alte lächelte, dann schulterte sie ihren Korb wieder und verschwand zügig zwischen den Menschen, als flüchtete sie vor ihnen.
    „Ich habe kein gutes Gefühl dabei.“ Theical runzelte die Stirn und warf einen letzten Blick zurück. Doch die Alte war nicht mehr zu sehen. „Warum schenkt sie uns das alles? Da ist doch was faul.“
    „Einem geschenkten Gaul, schaut man nicht ins Maul“, meinte Thyra nur. Aber auch sie sah unsicher zurück. „Ich fand die alte Schrulle auch unheimlich, aber wenn es klappt, dann ist es doch gut, oder?“
    Theic zuckte die Schultern. Er blickte auf das Buch. „Ja, WENN es klappt. Wir wissen, was Zacharas mit Daryk angestellt hat.“
    „Das ist ja wohl kaum zu vergleichen.“
    Theic entschied sich, das vorerst so stehen zu lassen. Sie würden ja merken, wie vertrauensvoll das Buch wirklich war. Nicht, dass sie zum Schluss noch jemanden umbrachten, weil die Alte sie verarscht hatte.
    „Okay, holen wir erstmal die Blumen!“, meinte er.

    Nachdem sich Theic die letzten Tage nach der Schlacht noch Vorwürfe gemacht hatte, dass er mehr als nur eine Person umgebracht hatte – er wusste nicht mal mehr viel von der Hochzeitsfeier seiner Freunde, hatte er da versucht die Sorgen zu ertränken. Bei der Menge, die er vertrug, kein leichtes Unterfangen. So hatte er trotz seiner Größe beinahe eines der Metfässer allein getrunken. Allein bei dem Gedanken meldete sich sein noch immer schmerzender Kopf. Es war noch nie vorgekommen, dass er wirklich solch schwerwiegende Konsequenzen nach dem Trinken zu bekämpfen hatte. Dabei musste er aber auch feststellen, dass er noch nie so viel getrunken hatte.
    Mittlerweile kam er mit seinem Gewissen jedoch besser klar und das lag sicher nicht am Alkoholspiegel. Sein Großvater hatte Recht behalten. So etwas gehörte zu einer Schlacht und um die zu schützen, die man als Freunde bezeichnete, lohnte es sich, eine schwere Last auf sich zu nehmen. Davon abgesehen, hatte er geholfen, die Toten zu beerdigen und mehr als das konnten sie jetzt sowieso nicht mehr machen.
    Sari Vogel plusterte sich auf seiner Schulter auf, als mit dem Tablett in seinen Händen um eine Ecke bog. Daphne hielt sich noch immer den größten Teil des Tages bei ihrem teameigenen Oger auf und versuchte ihr Bestes, ihn wieder auf die Beine zu bringen.
    Er war gerade auf dem Weg, Daphne das Essen aufs Zimmer zu bringen – manchmal kam er sich vor wie ein billiger Diener.
    Aus einem anderen Gang kam ihm Thyra entgegen. Es war das erste Mal seit der Schlacht, dass er sie ohne Jaris sah und länger als ein paar Sekunden. Offenbar verfolgte sie den gleichen Weg wie er, denn sie blieb breit grinsend stehen und wartete auf ihn.
    „Krankenbesuch?“, fragte er nur und sofort nickte die Jägerin.
    „Ich muss ja schauen, wie es dem Fettsack so geht.“
    Den letzten Weg liefen sie zusammen.
    „Wo hast du Jaris gelassen?“
    „Er wollte zu den Elfen, die noch immer vor der Stadt lagern. Viel Zeit hatten wir damals ja nicht.“ Sie lächelte vor sich hin und schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein.
    „Ihr habt es wohl schon satt, verheiratet zu sein?“, neckte Theical und hob etwas die Schulter, als sich Sari bewegte und die Krallen unangenehm ins Fleisch bohren wollte.
    Wie lang war es eigentlich her, dass er sich wirklich einmal mit der Jägerin unterhalten hatte? Er ging die letzten Tage durch, konnte aber nichts finden.
    Thyra grinste vielsagend. „Niemals! Du solltest es auch mal versuchen.“
    Theical lachte gehemmt.
    „Fang du auch noch an! Es reicht, wenn mein Großvater ständig nervt. Aber ich kann mir wohl kaum jemanden aus der Luft zaubern.“
    Sari hüpfte zu Thyra, krächzte kurz, als die Jägerin ihn verwirrt musterte und machte es sich dann bequem, ganz, als wollte er die Frau provozieren. Diese strich ihm jedoch lächelnd durch sein Gefieder und kümmerte sich dann nicht weiter um den übergroßen Vogel. Stattdessen setzte sie zu einer Erwiderung auf Theicals Aussage an, wurde aber unterbrochen, als Daphne aus Daryks Zimmer kam und ertappt stehen blieb. Sofort breitete sich auf dem Gesicht der Jägerin ein breites Grinsen aus, das nichts Gutes verheißen ließ.
    „Und Daphne“, begann sie mit wackelnden Augenbrauen. „Wann ist es bei dir soweit?“ Sie knuffte die kleinere Frau scherzhaft in die Seite, was diese nur die Stirn runzeln ließ.
    „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“
    Theic warf Thyra hingegen ein verschmitztes Grinsen zu, konnte er sich denken, worum es ging und auf was sie anspielte. Die Jägerin lachte ebenso frech zurück.
    „Na sicher...", gaben sie synchron von sich. Beide formten sie ihren Mund kindisch zu einem Kuss und machten dabei übertrieben laute Kussgeräusche.
    Daphne blickte sie trocken an.
    „Ihr habt da was im Gesicht.“
    Thyra musterte ihre Freundin und fuhr sich dann gespielt ernst über das Kinn.
    „Ich glaube fast, sie hat es wirklich vergessen.“
    Theical runzelte nun ebenfalls die Stirn. „Zu viel getrunken, oder was?“
    „Frusttrinken?“, witzelte Thyra weiter.
    „Ja, weil sie nicht an seine Lippen kam.“ Der Taschendieb machte eine Geste mit den Händen, die einen Größenunterschied andeutete.
    „Gerade du musst den Mund aufreißen. Dein Bart ist länger, als du groß bist“, konterte Daphne, was der Jägerin ein heiteres Lachen entlockte.
    „Jetzt macht sie sich direkt an den nächsten ran. Du stehst also auf Bärtige. Theic, lauf lieber weg!“
    Der Taschendieb stimmte in das Lachen ein.
    „Ich glaube kaum, dass ich mir Sorgen machen muss.“
    Daphne lachte nun ebenfalls. „Nein, eher nicht, dafür bin ich noch viel zu müde. Lass uns drüber reden, wenn ich mich mal ordentlich im Wasser ausgeruht habe. Die letzten Tage kam ich einfach gar nicht dazu.“
    Thyra kicherte in die Hand und schien sich beinahe nicht mehr zu fassen.
    „Ja, so hat das bei mir damals auch angefangen. Erst kann man wegen zu vielen Sorgen“, sie machte Anführungszeichen bei dem Wort Sorgen, „nicht schlafe und dann, weil man anderes zu tun hat.“ Sie wurde ganz rot im Gesicht, als sie sich das Lachen verkniff, bis es dann doch aus ihr herausbrach.
    „Ihr seid so kindisch.“ Daphne verdrehte gespielt genervt die Augen, aber das Grinsen in ihrem Gesicht verriet, dass sie nicht wirklich sauer über ihre Witze war.
    „Wie geht es eigentlich dem Fettsack?“, lenkte Thyra auf das eigentliche Thema zurück und zeigte Richtung Tür.
    „Das könnt ihr ihn gern selbst fragen. Er ist aufgewacht und ich konnte ihn endlich heilen. Der Fluch hat seine Wirkung verloren.“
    Deshalb sah die Heilerin also so erschöpft aus.
    „Oh, dann lassen wir euch lieber allein.“ Theic sah auf das Tablett in seinen Händen. „Nur wird das Essen kaum reichen.“ Er drückte Daphne das Essen in die Hände. „Ich laufe noch mal los und hole mehr. Oder noch besser, ich sage in der Küche Bescheid, dass gleich ein hungriger Bergriese vorbeikommt.“ Mit diesen Worten ließ er die beiden Frauen stehen und rannte den Flur zurück in die Küche. Mit Daryks Erwachen waren sie nun endlich wieder komplett und konnten die Schlacht hinter sich lassen.

    Der kurze Moment der Freude verflog schneller, als es Theical lieb war. Zurück in der Realität kehrte er zum Ernst der Lage zurück und begab sich zusammen mit den anderen Bauern, wieder zurück in die Gassen. Die feindlichen Soldaten zogen langsam, aber stur Richtung Stadtzentrum, weshalb auch Theic sich wieder dorthin auf den Weg machte. Tatsächlich hatte er sich dazu überwinden können, seine Kräfte auch bewusst an Menschen anzuwenden, und er musste zugeben, es war wirklich praktisch, die Feinde einfach umkehren oder gegen die eigenen Leute rennen zu lassen. Auch die ganzen Fallen und Hinterhalte der Stadtbewohner und Soldaten aus Gerisa taten ihr übriges, dass die feindlichen Truppen nur mühselig vorankamen. Aber leider kamen sie das immer noch. Und es war einfach kein Ende in Sicht. Ganz davon zu schweigen, dass Theic sich einbildete, einen Oger durch die Straßen walzen gesehen zu haben. Und damit war sicher nicht Daryk gemeint.
    "Noch mehr!", rief einer der Männer um ihn herum. Eine Frau rannte an ihm vorbei, in der Hand eines der Schwerter, die sein Großvater geschmiedet hatte.
    Theical nickte Habger zu, der nur unweit von ihm stand und sprang dann über eine Tränke auf den Vorsprung eines Hauses. Von dort aus überwand er den Abstand bis zum Dach und positionierte sich dort hinter der Feueresse. Dank Daphne, ihren Kletterfähigkeiten und einer Menge Geduld hatte er sich ebenfalls einiges angeeignet. Zwar war er noch lange nicht so geschickt wie die Schurkin, aber hierfür reichte es aus. Schließlich wollte er nirgends einbrechen.
    Von seiner höheren Lage aus, konnte er die feindlichen Soldaten sehen. Sieben waren es an der Zahl. Mit etwas Glück würden sie mit ihnen fertig.
    Er gab seinem Großvater, der in einer dunklen Gasse zusammen mit den anderen wartete, ein Zeichen, deutete die Anzahl der Feinde an.
    Anschließend konzentrierte er sich auf die näher rückenden Schatten und griff gedanklich nach dem letzten in der Reihe. Er zerrte ihn zurück und ließ ihn in der Bewegung verharren. Die anderen Soldaten schienen nicht bemerkt zu haben, dass ihr Kumpane nicht mehr anwesend war, denn sie rannten blind weiter. Und während sie nun auch ins Blickfeld von Theics Mitstreitern rückten, die sich aus der Gasse stürzten, kaum, dass die Feinde auf einer Höhe waren, sorgte Theic dafür, dass sich der Manipulierte selbst mit den eigenen Fesseln fesselte. Kaum war das geschafft, ließ er ihn kopfüber in die Tränke fallen, über die er eben noch auf das Dach geklettert war. Gerade so lang, bis der Mann sein Bewusstsein verlor.
    Dann glitt sein Blick zu den Kämpfenden. Er suchte seinen Großvater und fand ihn gemeinsam mit der Frau gegen einen der gerüsteten Soldaten kämpfen. Die beiden schienen ihre Schwierigkeiten zu haben. Offenbar war der Feind einer derjenigen, die wirklich eine jahrelange Ausbildung im Kampf genossen hatten.
    Auch bei ihm fischte Theic nach dem Schatten. Doch so einfach wie sein Kollege ließ er sich nicht manipulieren. Er wehrte sich und vollführte seine Angriffe gegen Habger weiter - deutlich langsamer und unkoordinierter allerdings.
    Den beiden gelang es, den Mann zurückzudrängen, bis ihm Habger schließlich das Schwert zwischen Rüstung und Helm in den Hals stoßen konnte. Das verzweifelte Röcheln, als der Kerl versuchte weiterzuatmen, hörte Theical sogar bis auf das Dach. Und beinahe hätte er deshalb die Präsenz hinter sich nicht bemerkt, die sich lautlos näherte. Gerade rechtzeitig warf er sich zur Seite, rutschte dabei aber ab und stolperte bis zum Vordach zurück. Mühselig kam er dort zum Stehen, bevor er einen Blick über die Schulter werfen konnte.
    Hinter ihm schlitterte der feindliche Soldat die Schräge hinab und wirbelte sein Schwert in seine Richtung. Offenbar hatte er Theic auf dem Dach bemerkt und vorgehabt, ihn von hinten auszuschalten.
    Auf einen Zweikampf allerdings überhaupt nicht vorbereitet, wich Theic dem Schlag ungelenk aus, ehe er den Dolch zog, den er von seinem Großvater bekommen hatte. Gegen das Schwert des Soldaten, wirkte das Messerchen geradezu lächerlich. Tatsächlich stieß der Feind ein kurzes Lachen aus. Ob nun wegen des Dolches, oder weil Theic zitternd vor ihm stand und unsicher zu ihm aufblickte, war schwer zu erraten. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.
    Was nun?
    Rein instinktiv blockte er einen weiteren Angriff des Soldaten mit dem popeligen Dolch. Er wurde zurückgedrängt oder besser gesagt, geschoben, konnte er mit der Kraft hinter dem Schlag kaum mithalten. Ein erneuter Hieb, doch diesmal griff Theical nach nach dem Schatten des Mannes, ließ ihn stolpern und sprang im gleichen Moment zur Seite. Es war eine reflexartige Handlung und eigentlich dachte er weniger darüber nach, als es einfach zu machen. Das Ergebnis jedenfalls konnte sich sehen lassen.
    Der Soldat stieß einen überraschten Ruf aus, als er erst ins Leere stach und dann mit seinem Fuß neben den Dachvorsprung ins Leere trat. Dann verschwand er laut polternd und mit einem beinahe ohrenbetäubenden Schmatzgeräusch aus Theics Blickfeld.
    Erstarrte blieb dieser stehen und starrte auf die Stellen, an der eben noch sein Feind gestanden hatte. Erst nach einer gefühlten Ewgigkeit lugte er über die Kante des Daches und sah den Mann unglücklich verbogen und den Oberkörper im eigenen Schwert versenkt in der Gasse liegen. Lebendig sah anders aus. Er hatte ihn umgebracht ... den Kerl, der selbes still und heimlich mit ihm auch machen wollte.
    "Junge, geht's dir gut?", hörte er eine Stimme von weit weg rufen. Seine Augen wollten sich jedoch nicht vom Anblick des Toten lösen, weshalb er nur mechanisch nickte.
    Das war einmal ein Menschen gewesen. Ein Mensch, der lediglich Befehlend folgte. Einige von ihnen sicher auch nicht freiwillig.
    Theic versuchte den Gedanken daran zu verdrängen. Dafür war keine Zeit!
    Er schüttelte den Kopf und sah zu seinem Großvater, der neben dem Haus stand und besorgt zu ihm empor blickte.
    "Du bist blass", stellte er geistreich fest. "Sicher, dass du weitermachen kannst?"
    Theic hielt einen bissigen Kommentar zurück, bevor er noch immer etwas zittrig vom Dach kletterte.
    "Lass uns das zu Ende bringen!", meinte er nur und stapfte die Gasse weiter zu Zacharas' Burg. Dorthin waren die meisten Schatten unterwegs.

    Erschöpft betrat Theic erst weit nach Mitternacht das Haus seines Großvaters. Um genau zu sein den alten Schankraum. Wohl wissend, dass er keinen ruhigen Schlaf finden würde, wollte er nichts anderes mehr, als sich ins Bett zu werfen. Die letzten Stunden waren anstrengend gewesen und die nächsten würden kaum besser werden.
    Im alten Schankraum des Gasthauses angekommen, bemerkte Theical jedoch seinen Großvater an einem der Tische sitzen und mit einem Schleifstein und einem weißen Tuch beschäftigt an einigen Waffen herumwerkeln. Wohl letzte Vorbereitungen auf die Schlacht. Es erinnerte den Taschendieb daran, dass er noch einmal mit Habger darüber sprechen wollte. Er hatte nicht vor, den alten Mann noch einmal in einem Kampf zu sehen. Der Schmied war doch wirklich zu alt für so einen Blödsinn und Theical hatte nicht vor, noch ein Familienmitglied zu verlieren.
    "Du bist noch wach?"
    Der alte Mann hob den Kopf und lächelte ihn müde an.
    "Ja, ich habe noch einiges zu tun."
    Theic ließ sich neben seinem Großvater nieder und schnappte ebenfalls nach einem der frisch geschmiedeten Schwerter. Offenbar hatte Habger vor, die freiwilligen Bauern mit etwas Besserem auszustatten, als nur mit Mistgabeln. Alles konnte Aras schließlich auch nicht weggeben, dann hatten seine Stadtwachen auch nicht mehr.
    Er nahm sich einen der Schleifsteine und begann das Metall zu bearbeiten.
    "Mir wäre es lieber, wenn du hier bleiben würdest, statt zu kämpfen", meinte er wie nebenbei. Nicht alle dieser Waffen würde Habger weggeben, sicher würde er auch eine davon für sich selbst behalten.
    Habger musterte ihn eine Weile, bevor er nachdenklich den Kopf schüttelte und sich ein trauriges Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete.
    "Das sind exakt die gleichen Worte, die ich auch damals bei deiner Mutter wählte, als sie mir eröffnete, dass sie der Armee beitreten und in die Schlacht ziehen wollte", erklärte er sich, bevor seine Miene finster wurde und er zu grübeln begann. Plötzlich schien es, als stünde der Schmied kurz davor in Tränen auszubrechen.
    Theic runzelte die Stirn. "Und wie du weißt, hat sie sich nicht aufhalten lassen, weder von mir, noch deinem Vater. Gegen ihren Sturkopf kam einfach keiner an." Ein trauriges Lächeln umfing seine Lippen. "Das liegt wohl in der Familie." Er legte ein Schwert beiseite und griff stattdessen zu einer Axt. Eine Weile besaß er sich das Blatt, dann begann er es zu polieren. "Sie war der festen Überzeugung, der Armee mit ihrer Magie helfen zu können. Und bis heute rede ich mir ein, dass der Krieg nur dank ihr gewonnen wurde."
    Theical senkte den Kopf. Sollte er seinem Großvater erzählen, was Daphne ihm preisgegeben hatte? Das seine Mutter wahrscheinlich noch lebte? Aber was würde der alte Mann dann machen? Vermutlich nicht still sitzen, bis er seine Tochter gefunden hatte. Und das war eigentlich, was Theic verhindern wollte. Er wollte nicht zusehen, wie Habger die letzten Jahre seines Lebens damit verschwendete einem Phantom nachzujagen.
    "Ich besitze zwar keine Magie, aber auch ich kann hier nicht herumsitzen, wenn ich weiß, dass alle anderen kämpfen." Er grinste breit, ehrlich wirkte es jedoch nicht. "Außerdem würde mich Jamir umbringen, wenn ich zulasse, dass ihrem Enkel etwas passiert." Er lachte kehlig.
    "Ich kann auf mich aufpassen." Theic entschied sich das Gespräch über seine Mutter bis auf nach die Schlacht zu verschieben.
    "Daran zweifle ich nicht." Habger schüttelte den Kopf. "Aber ich werde nicht untätig zusehen, wenn ich eigentlich etwas machen kann. Diesmal nicht!"
    Theic war sich sicher, dass sein Großvater damit auch den Tod seiner Großmutter ansprach. Schweigend betrachtete der Dieb seinen Großvater. Die Entschlossenheit in seinen Bewegungen war kaum zu übersehen und er konnte wohl noch lang auf ihn einreden und dennoch nichts erreichen. Aus diesem Grund blieb er auch still. Mit Worten kam er an dieser Stelle nicht weiter, er musste einen anderen Weg finden.
    "Und?" Habger räusperte sich. "Wie sieht es aus mit deinen Kräften? Machst du Fortschritte?"
    Der Taschendieb verstand den Themenwechsel, und seufzte ergeben. Vorerst würde er es dabei belassen.
    "Eher nicht." Theic schüttelte den Kopf. "Ich schaffe es einfach nicht, das zu wiederholen, was ich bei Aras gemacht habe." Er stützte den Kopf auf den Tisch. Natürlich hatte er seinem Großvater davon erzählt, wenn auch nicht ganz freiwillig. Aber dem bärtigen alten Mann konnte er noch nie etwas verschweigen.
    Nachdenklich strich er sich über das pelzige Kinn. "Ich habe leider keine Ahnung von diesem Zauberkram, aber meine Mutter hat immer davon gesprochen, dass Selbstvertrauen dazugehört. Sie war der festen Überzeugung, dass man nur bewältigen kann, an was man glaubt."
    Theic hob die Augenbrauen.
    "Ich fürchte, ich brauche etwas mehr, als nur Selbstvertrauen, um meinen Freunden den Rücken zu stärken."
    "Dass du es kannst, weißt du doch", meinte Habger. "Nun musst du nur noch daran glauben, dass du deine Freunde damit beschützen kannst, der Rest kommt von allein."
    "Deine Zuversicht will ich haben."
    Der Schmied lachte auf und legte nun endgültig seine Arbeit beiseite.
    "Du lässt dich viel zu sehr unter Druck setzen. Nimm dir Zeit und konzentriere dich darauf, was du willst, nicht, was du musst", meinte er und versuchte dabei seine Worte übertrieben weise klingen zu lassen.
    "Hast du vergessen, dass sich eine Armee von mehreren tausend Soldaten nähert?", fragte Theical unbeeindruckt. "Ich habe keine Zeit."
    "Falsch. Du nimmst dir keine Zeit. Dir wird keiner einen Vorwurf machen, wenn du diese Kraft bis zum Krieg nicht mehr meisterst."
    "Nur ich."
    "Und das ist deine eigene Schuld." Habger erhob sich und lief auf den Tresen zu. Das Gasthaus wurde zwar als solches nicht mehr verwendet, aber einen großzügigen Vorrat an allem, was in der Kehle brannte und die Sinne abstumpfte, hatte der Schmied dennoch noch auf Lager. Wozu wegwerfen, wenn es noch gut war? "Ich glaube sowieso, dein Problem liegt an einer anderen Stelle." Er begann damit zwei Krüge hinter dem Tresen vorzuholen und diese an einem Fass zu füllen.
    "Ach?", brachte Theic lediglich hervor.
    "Du willst keinen verletzen." Der Schmied kam zurück und sah dem Taschendieb dabei fest in die Augen. Dieser erwiderte den Blick für einen Moment, musste dann jedoch kapitulieren. "Das ist auch lobenswert, aber solche Gedanken haben in einer Schlacht leider nichts zu suchen." Habger stellte ihm den Krug vor die Nase. "Bei so etwas gilt: Du oder ich." Der alte Herr setzte sich ebenfalls zurück an seinen Platz und nahm einen tiefen Schluck des Mets.
    Theical legte die Stirn in Falten. Wenn er ehrlich war, hatte er darüber noch gar nicht nachgedacht. Zumindest nicht direkt. Aber es ergab schon Sinn. Im Training hatte er nie jemanden verletzen wollen und erst die Wut über Aras hatte ihn diesen Umstand vergessen lassen, obwohl er offen nie darüber nachgedacht hatte. In dem Moment war es ihm egal gewesen, ob er jemanden verletzte - in dem Fall Aras - oder nicht. Er hatte einfach nicht vor, jemandem Schmerzen zuzufügen. Ein solches Vorgehen war wider seiner Natur.
    "Ja, wahrscheinlich hast du auch Recht, aber ..."
    "Nichts aber ... natürlich habe ich Recht."
    Habger lachte kurz und nahm einen weiteren Schluck, ehe er weitersprach. "Niemand wird verlangen, dass du deinen Gegner tötest. Es steht dir völlig frei, wie du deine Gegner kampfunfähig machst. Du brauchst dir nicht den Kampfstil anderer aneignen, sondern musst deinen eigenen finden."
    Theical legte den Kopf schief und sah seinen Großvater forschend an.
    "Und ich dachte, du wärst Schmied."
    "Na hör mal", begann er belustigt, "das sind die weisen Worte eines alten erfahrenen Mannes. Ich muss ja auch wissen, für was ich die Waffen schmiede." Der Alte stand erneut auf und schulterte die ganzen herumliegenden Waffen. "Ich denke jedenfalls, sobald du die Blockade überwunden hast, die du dir selbst setzt, und du mit etwas Vertrauen in dich an die Sache herantrittst, wird das schon."
    Ehe Theical noch etwas erwidern konnte, hatte sich Habger mit einem "Eine gute Nacht" aus dem Schankraum zurückgezogen und ihn mit seinen Gedanken allein gelassen.
    Nachdenklich nippte er am Inhalt des Kruges.
    Er musste also eine Möglichkeit finden, den Gegner bewegungsunfähig zu machen, ohne ihn zu töten. Wenn er diese gefunden hatte, konnte er seine Fähigkeiten verwenden und musste nicht mehr mit dem Gedanken kämpfen, eventuell jemanden damit umzubringen.

    Theical hatte sich sein Training bis für die Nacht aufgehoben. Durch den hellen Schein des Mondes zog die Nacht lange Schatten und machte es ihm so einfacher seine Magie zu wirken. Zwar brachte ihm das im Kampf später auch nicht viel, konnte er schlecht bis auf die Nacht warten, ehe er sich in die Schlacht einmischte, aber so fiel es einfacher, überhaupt auszuloten, was er konnte. Und das wusste er noch immer nicht, obwohl ihnen – wenn sie denn der Auskunft des Fremden trauen konnten – nur noch wenige Tage Zeit blieben.
    Aus diesem Grund hockte er nun völlig allein auf dem Dach des ehemaligen Gasthauses und versuchte sich auf die Schatten in seiner Umgebung zu konzentrieren.
    Bis auf die vielen Nagetiere, die sich in den Straßen tummelten und nach Futter suchten, waren nicht viele andere Lebewesen unterwegs. Nur ein paar Stadtwachen, die Zacharas offenbar aufgestellt hatte, zogen ihre Patrouillen.
    Apropos Zacharas. Der Schatten des Herzogs bewegte sich noch immer unruhig durch die Burg. Von seinem Gemach, in den Flur, durch die Gänge wieder zurück in die eigenen Räumlichkeiten. Dass er keine Ruhe fand, war verständlich, immerhin war eine Armee auf dem Weg zu seiner Stadt, die erst eine Rebellion zu bewältigen hatte. Aber wirklich Mitleid empfand Theic nicht. Vor allem nicht mehr, seit er wusste, wie Aras über sie alle dachte. Wobei … wirklich wundern tat ihn das nicht. Der Herzog hatte nie den Anschein gemacht, als hielte er viel von ihnen, aber so etwas wie Respekt hatte er schon erwartet. Immerhin waren sie nun schon eine ganze Weile zusammen unterwegs.
    Er zog die Beine an und bettete den Kopf darauf. Wie konnte Zacharas behaupten, dass sie Feiglinge und Drückeberger waren? Es stimmte zwar, dass der Mut nicht gerade eine von Theicals best geprägten Eigenschaften war, aber musste man immer an vorderster Front sein Leben riskieren, nur um nicht feige zu wirken?
    Er krampft die Hände zusammen. Zacharas war der Letzte, der sich darüber beschweren durfte, verbarg er sich schließlich immer im Hintergrund und ließ andere für sich kämpfen. Nun gut, er hatte seine Magie verloren, aber das war kein Grund, die Hilfe anderer schlecht zu reden. Als wäre alles Zacharas‘ Verdienst gewesen. In den letzten Wochen hatte er von ihnen allen das Wenigste geleistet. Zwar war auch Theic kein Glanzbeispiel, aber zumindest tat er mehr, als den lieben langen Tag nur herumzuheulen und den Kräften nachzujammern.
    Der Taschendieb erhob sich und entschloss sich, etwas durch die Stadt zu wandern. Dabei konzentrierte er sich weiterhin auf die Schatten der wenigen Menschen, versuchte deren Präsenz zu spüren und die Wege vorher zu sagen, in die deren Besitzer laufen wollten. Ihnen jedoch seinen Willen aufzuzwingen, gelang ihm nicht. Dafür drifteten seine Gedanken viel zu stark zu Kuens Worten zurück. Er konnte nicht einmal bestimmen warum, aber aus irgendeinem Grund machte es ihn unglaublich wütend, dass der Fürst so über sie dachte. Als wären sie nur eine Plage.

    Als er aufblickte, sah er die Burg nur noch wenige hundert Meter vor sich aufragen. Unterbewusst hatte ihn sein Ärger über den Herzog direkt zu diesem geführt.
    Tatsächlich überlegte Theic, ob er seinem Zorn Luft machen und Aras seine Meinung geigen sollte. Wo er schon mal hier stand. Sicher würde man ihn durchlassen, kannten die Wachen ihn schließlich und wussten, dass er dem Herzog nicht gefährlich werden konnte, oder wollte. Aber mitten in der Nacht den Wunsch zu äußern, in die Burg eingelassen zu werden, war doch eher merkwürdig. Oder?
    Theical blickte die beiden Wachposten an, die starr am Tor standen und zurückstarrten.
    Er wollte schon wieder kehrtmachen, entschied sich dann jedoch anders und lief an den beiden Burgwachen vorbei, von denen er nur seltsam gemustert wurde. Auf kurz oder lang war es sicher nicht falsch, reinen Tisch zu machen. Davon abgesehen hatte ihn am Morgen sicher schon wieder der Mut verlassen, mit Aras darüber zu reden. Schon lang redeten sie unter einander darüber, dass ihnen Aras Art auf die Nerven ging, aber ihm das wirklich an den Kopf geworfen, hatte noch keiner von ihnen. Und vielleicht lag es am Schlafmangel, dass er nun auf die Schnapsidee kam, ausgerechnet er, musste das machen. Oder aber es lag daran, dass er sich selbst beweisen wollte, den Mut zu haben, den Herzog darauf anzusprechen.
    Vor der Kammer von eben diesen verharrte er jedoch. Was wäre wenn Zacharas sauer darüber wäre, dass man sich gegen seine Worte auflehnte, so sauer, dass er ihn aus der Stadt warf? Ihm würde es wohl nichts ausmachen. Zurück nach Gerisa und dort weitermachen, wo er aufgehört hatte. Aber was war mit Habger? Sein Großvater würde Ymilburg nicht verlassen. Hier lag seine Frau und mit ihr der Traum, eines neuen Lebens. Würde Zacharas auch ihn der Stadt verweisen? Allerdings wäre das sogar für ihn ein hartes Pflaster.
    Vielleicht sollte er doch die Unterstützung der anderen anfordern … Aber würde Zacharas wirklich davor zurückschrecken, sie einfach alle aus der Stadt zu werfen? Wohl kaum. Offenbar bedeuteten sie ihm schließlich nichts. Dann besser nur er.
    Zögerlich klopfte er und ohne auf eine Antwort zu warten, betrat er das Zimmer. Er wusste schließlich, dass Aras darin war und auch, dass er nicht schlief.
    Tatsächlich lehnte der Herzog an seinem Tisch und stierte an die Wand. Als er den Kleineren bemerkte, hob er abschätzig die Augenbrauen und setzte merklich zu einem genervten Kommentar an.
    „Wir müssen reden“, war Theical jedoch schneller. Vorsichtshalber schloss er die Tür und lehnte sich dann mit dem Rücken dagegen, damit der Herzog dem Gespräch nicht einfach entkommen konnte – und er selbst auch nicht.
    „Müssen wir?“, fragte Aras. In den beiden Worten steckte so viel Abneigung und Arroganz, dass es ihm eigentlich schon aus den Ohren hätte quellen müssen. Für einen winzigen Moment spielte Theic auch mit dem Gedanken, einfach wieder umzudrehen und zu verschwinden. Aber nun war es auch zu spät.
    „Ja“, meinte Theical mit einem knappen Nicken. Eine Zusage, dass er sprechen durfte, wartete er gar nicht ab, stattdessen entschied er sich direkt mit der Tür ins Haus zu fallen. „Was denkt Ihr über uns?“ Obwohl er es wusste, wollte er es noch einmal aus dem Mund des Fürsten selbst hören. Er wollte wissen, ob er den Mut hatte, es ihm ins Gesicht zu sagen. „Über uns alle? Thyra, Jaris, Daphne, Daryk und mich?“
    „Was soll diese blöde Frage?“, platzte es aus Aras heraus. „Habt Ihr mitten in der Nacht nichts Besseres zu tun, als mich mit solchen Sachen zu langweilen?!“ Er trat näher an Theical heran und fixierte ihn sauer. Doch der Dieb bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Heute würde er sich nicht einschüchtern oder den Mund verbieten lassen. (hoffentlich)
    „Ich finde die Frage durchaus berechtigt“, kam es ihm kühl über die Lippen. „Und wann ich sie stelle, ist egal. Schließlich seht Ihr nicht so aus, als würdet Ihr jetzt ins Bett gehen wollen. Wir sind allein, also der perfekte Zeitpunkt.“
    Zacharas musterte ihn noch einen Moment abfällig, ehe er sich abwandte und zu seinem Schreibtisch lief.
    „Ich habe jedoch keine Lust, eine derart lächerliche Frage zu beantworten!“, sagte er und begann scheinbar willkürlich in einem Buch zu blättern. „Ich habe wichtigeres zu klären.“
    „Schade“, murmelte Theical. Für einen kurzen Augenblick wandte er den Blick zum Boden. Das wäre auch zu schön gewesen.
    „Wenn das alles war...“ Der Fürst zeigte auf die Tür und machte deutlich, dass Theic verschwinden sollte. Doch dieser dachte gar nicht daran.
    „Ich habe noch nicht mal angefangen.“ Er hob den Blick und sah den Größeren nun genau in die Augen. „Wenn Ihr nicht antworten wollt, mache ich das.“ Er atmete tief durch und versuchte die Folgen seiner nächsten Handlungen auszublenden. „Ihr glaubt, wir wären nur lästiges Beiwerk. Lästiges Beiwerk, das mehr Schaden anrichtet, als es für Euch hilfreich ist.“ Theic machte eine neuerliche Pause. Diesmal jedoch, um Luft zu holen. „Aber seht es ein: Ohne uns hättet Ihr nicht mal mehr Euer Reich!“
    „Das ist ...“, setzte Aras an, doch Theical ließ ihn nicht ausreden: „... die Wahrheit!“
    Zacharas zischte wütend.
    „Ich hätte das gut auch alles alleine geschafft!“, blaffte er.
    „Natürlich...“ Theical verdrehte die Augen.
    Der Herzog warf die Arme in die Luft und stampfte sauer um seinen Schreibtisch.
    „Dann rede ich euch alle eben schlecht!“, gab er schließlich stinkend zu. „Aber keine dieser Annahmen ist unbegründet. Ohne meine Führung und meine Anweisungen würdet ihr nur verzweifelt im Nebel stochern! Ihr wärt gar nichts!“ Er lief eine weitere Runde um seinen Schreibtisch, ehe er vor dem Fenster stehen blieb und hinaus in den Himmel blickte. „Das alles habt ihr euch selbst zu verantworten, durch eure respektlose Art. Ich bin für euch doch ebenfalls nur der verwöhnte Außenseiter!“
    Theic verkniff ich den Kommentar zum Thema Respekt, denn davon besaß der Herzog selbst reichlich wenig, warum es dann von anderen fordern?
    „Ihr macht Euch selbst zum Außenseiter!“, meinte er stattdessen mit Nachdruck in der Stimme.
    „Bitte?“, brachte Zacharas beinahe hysterischer als jedes Waschweib hervor. „Ich mache mich zum Außenseiter? Ich habe euch auf der letzten Reise alles bezahlt! Alles! Und ich habe es immer gemacht, ohne etwas von euch zurück zu verlangen! Ihr habt keinen Grund mich wie einen Außenseiter zu behandeln!“
    „Oh ganz klasse. Wollt ihr dafür etwa Applaus?“ Sarkastisch klatschte Theical einmal in die Hand. „Wir haben Euch nie darum gebeten. Ich hätte meine Sachen auch selbst bezahlt, hättet Ihr etwas gesagt.“
    „Im Nachhinein kann das jeder sagen!“, behauptete Zacharas. „Ach, was streite ich darüber überhaupt?! Ihr seid doch sowieso immer alle gegen mich.“
    Theical formte die Hände zur Faust und versuchte die Wut zurück zu würgen. Das konnte unmöglich sein Ernst sein. Sie waren nicht gegen ihn! Aber er vermittelte ständig den Eindruck, er wäre gegen sie.
    „Es ist immer die ganze Welt, nur der Herzog van Júmen nicht. Aber wie kann eine gesamte Welt falsch liegen und nur eine Person richtig?! Habt Ihr Euch einmal gefragt, ob Ihr nicht die Wurzel des Problems seid? Wie ignorant kann ein Mensch eigentlich sein?"
    „Ignorant?“, begehrte der Fürst auf und wandte sich nun wieder vom Fenster ab. „Wäre ich ignorant hätte ich wohl kaum Daphne beschützt", brüstet er sich, als wäre es eine Heldentat.
    „Oh welch glorreiche Leistung! Die Barden sollten ein Loblied darüber dichten!“, brach es aus dem Kleineren heraus. „Ein Lied darüber, wie heldenhaft Ihr Euch ins Schwert geworfen habt.“ Theic widerstand dem Instinkt auszuspucken. Stattdessen verschränkte er die Arme. „Und wo bleiben dann die Lieder über die anderen? Über Daphne, die Euch kaum kannte und dennoch das Tor für die Rebellion zurückeroberte. Sie brach sich Rippen und kugelte sich Gelenke aus. Sie starb. Wann hat sie sich damit gerühmt? Jaris und Thyra wären ebenfalls beinahe gestorben bei der Rückeroberung. Ihr unterschätzt die Leistungen anderer. Das ist respektlos und beleidigend!"
    „Ich ...“, begann Aras, doch Theic fuhr ihm prompt über den Mund.
    „Ich! Genau!“, begann er von neuem. „Merkt Ihr eigentlich noch etwas?! Ausnahmslos jeder Eurer Sätze beginnt mit diesem Wort! Jeder! Zacharas hier, Zacharas dort, dass auch andere Menschen um Euch herum existieren, bemerkt Ihr gar nicht. Das Einzige, das wir dafür verlangen, dass wir Euch helfen ist etwas Respekt und dass man uns nicht nur als Nebenprodukt wahrnimmt!“ Nun war es an Theic den Impuls zum Füßestampfen zurückzuhalten. „Manchmal könnte ich Euch wirklich rhythmisch in die Fresse hauen, wenn das nur etwas bringen würde!“ Theic hatte sich derart in Rage geredet, dass er gar nicht mitbekam, wie Aras herumwirbelte. Einige Male wechselte er schlagartig die Richtung als er ziellos durchs Zimmer stolperte und sich dabei zweimal die Faust ins Gesicht schlug, ehe er geradewegs in seinen Schreibtisch rannte. Erst das Geräusch, das der Herzog dabei verursachte, als die Tischecke in seinen Unterbauch stieß, ließ den Taschendieb verstummen.
    Mit geweiteten Augen sah er den Herzog an, der stöhnend auf dem Tisch liegen blieb.
    „Ähm … “, brachte er noch geistreich hervor.
    „D-Denkt einfach mal über die Worte nach“, stammelte Theic bevor er völlig überstürzt das Zimmer verließ.

    Schon am Abend des selben Tages, an dem sie aus der Taverne weitergereist waren, konnte die Gruppe bereits Ymilburg von weitem erkennen. Die Stadt lag ruhig vor ihnen und Theical wiederstrebte der Gedanke beinahe, die Menschen vor der kommenden Gefahr zu warnen. Sie hatten erst einen großen Kampf und waren wieder zur Ruhe gekommen, und jetzt sollten sie ihnen mitteilen, dass noch ein viel größerer Feind auf sie wartete? Zu gern würde er den Leuten diese Nachricht ersparen. Zumal sie wieder von ihnen verlangen mussten, zu kämpfen.
    "Was nun?", wollte Daphne wissen, als sie auf das Tor zuliefen. "Direkt mit der Tür ins Haus fallen? Wie wollen wir ihnen sagen, was in zehn Tagen passiert, wenn wir das selbst noch nicht so genau wissen?"
    "Vielleicht sollte sich Zacharas erstmal mit seinem Rat beraten", schlug Theic vor. Er sah der Fürsten nachdenklich an, dieser jedoch lief bereits voran, grüßte die beiden Wachleute am Tor nicht einmal, sondern marschierte stur an ihnen vorbei. Kuen dackelte ihm derweil hinterher wie ein treu dummes Tier.So recht konnte Theical noch nichts mit ihr anfangen. Sie war ein Feind, eine Gefangene und dennoch durfte sie sich in ihrem Umfeld aufhalten, als würde sie schon seit Jahren zu ihnen gehören. Davon abgesehen, war sie ihm viel zu gesprächig. Irgendwas an ihr war seltsam.
    "Ich mag sie nicht", grummelte Daphne neben ihm und verschränkte die Arme. Sie war stehen geblieben und sah der Soldatin nach.
    "Da sind wir schon zwei", stimmte Theical zu.
    "Drei." Daryk wandte den Blick ab. "Was machen wir jetzt, solang er versucht seine Stadt zu retten?"
    "Ich will zuerst zu meinem Großvater", murmelte Theic. Das letzte Mal, als er in die Stadt kam, saß dieser im Kerker. Er wollte nur sichergehen, dass es dem alten Mann gut ging und vor allem hatte er vor, dem Alten die ganze Sache so plausibel wie möglich zu erklären. Sicher hatte Habger keine Lust diese Stadt zu verlassen, nachdem er sich gerade wieder eine Existenz aufgebaut hatte.
    "Und ich muss lernen, meine Kräfte zu kontrollieren." Daphne blickte beinahe bedauernd auf ihre Hände, als fürchtete sie sich selbst davor, was sie seit ihrem Tot plötzlich damit anfangen konnte.
    "Ich helfe dir", sprach Daryk.
    Theical konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und entfernte sich mit raschen Schritten von den anderen.
    "Dann sehen wir uns später! Ich komme nach!" Er winkte den beiden zum Abschied, dann rannte er die Straßen entlang. Er war nicht dumm und hatte sehr wohl bemerkt, dass es Daphne in den letzten Tagen nicht gut ging und sie am vergangenen Abend in der Taverne geweint hatte. Ihr hatte er die Probleme nicht anvertrauen wollen, aber dafür offenbar Daryk. Was auch immer es war, seit dem Morgen ging es ihr wieder besser.
    Das änderte jedoch nichts daran, dass auch er noch seine Kräfte trainieren musste. Wenn ihnen wirklich eine Schlacht drohte, könnte er kaum mit einem Haufen Ratten aufkreuzen. Zumindest sollten es größere Schatten sein, vielleicht Menschen. Wobei er sich bei letzterem gar nicht mehr so sicher war, ob er es jemals hinbekam. Menschen hatten einfach einen zu starken eigenen Willen.

    "Euch geht es gut!", stieß Thyra aus, als sie zu den anderen zurückkehrten. Jaris beendete sein Training für einen Moment und sah ebenfalls zu ihnen. "Ich habe mir schon Sorgen gemacht."
    "Ach um uns doch nicht", winkte Daphne mit einem Grinsen ab. Es war ihr anzusehen, dass die Geschehnisse der Nacht sie mitgenommen hatten, aber wenn Theical ehrlich war: Sie hatte es deutlich besser weggesteckt, als er. Er fand ihre neuen Fähigkeiten noch immer unheimlich.
    Thyra schien den Ausdruck in der Stimme der Heilerin ebenfalls zu bemerken, war aber zurückhaltend genug, um nichts zu sagen. Stattdessen wandte sie ihren Blick an Daryk. Irritiert hob sie die Augenbrauen, ehe sie einen kurzen Blick mit Jaris wechselte.
    "Was ist mit deinem Gesicht passiert?"
    Daphne wollte gerade antworten, als Daryk ihr dazwischenfuhr.
    "Lange Geschichte. Wichtiger ist: haben den Kampf alle unbeschadet überstanden?"
    Thyra schnaubte verächtlich und verschränkte die Arme vor dem Körper.
    "Ja, und eine Gefangene haben wir auch gemacht." Sie verdrehte die Augen und deutete mit dem Finger auf einen Punkt irgendwo hinter sich. Erkennen konnte Theic jedoch nichts.
    "Eine Gefangene?", fragte er verwirrt. Kurz warf er Daryk einen Blick zu.
    "Habt ihr etwas aus ihr herausbekommen?", wollte Daphne wissen.
    "Nicht viel", gab nun Jaris von sich. "Sie hat etwas von einer Armee gefaselt, die auf dem Weg hierher."
    "Und irgendwas von einem Anführer namens Bornhold."
    "Klasse", stieß Theic aus. Ihm war das schon wieder viel zu viel. Erst die Flucht vor den Soldaten und nun noch eine Armee, die ihnen im Nacken saß. Das passte ja wieder wunderbar.
    "Wo steckt der Herzog?", wollte Daphne wissen.
    "Der befragt diese blöde Kuh noch." Thyra machte deutlich klar, dass sie nicht viel von der Gefangenen hielt. "Für meinen Geschmack ist die aber schon jetzt viel zu redselig." Sie verschränkte die Arme und begab sich in eine entspannte Haltung.
    Kurz breitete sich eine angenehme Stille zwischen ihnen aus, als scheinbar jeder seine eigenen Gedanken zu der Sache hatte. Als es im Gebüsch raschelte und sich Zacharas ebenfalls wieder zu ihnen gesellte.
    "Und?", fragte Thyra abfällig. Sie machte nicht den Eindruck, als wollte sie wirklich erfahren, was der Herzog aus der Gefangenen noch herausbekommen hatte.
    "Ich will, dass du sie wieder Einkleidest", brachte er nur kühl hervor, anstatt auf die knappe Frage der Jägerin einzugehen. Diese runzelte die Stirn, ehe sie es wütend verzog.
    "Was soll ich? Ihr habt sie ja wohl nicht mehr alle!", keifte sie dem Fürsten entgegen, der augenblicklich einen Schritt zurücktrat, aufgrund des Zorns, der ihm unerwartet entgegenschlug. "Ich bin doch keine Zofe, die Ihr herumschicken könnt, wie es Euch passt!Ich ziehe hier niemanden an. Die ist ja wohl alt genug! Und wenn sie gefesselt ist, dann selbst Schuld!"
    Theic konnte sich ein Grinsen nur knapp verkneifen.
    "Okay, stopp", fuhr Daphne schlichtend dazwischen, ehe ein Streit entstehen konnte. "Dafür ist jetzt nicht die Zeit. Wir haben immer noch die Soldaten im Rücken." Sie blickte in die Runde, musterte jeden. "Und sind wir mal ehrlich. Früher oder später werden sie uns finden."
    "Also weiter nach Ymilburg?
    ", fragte Daryk.
    Theic schüttelte den Kopf. Ihm kam das ziemlich nutzlos vor. Selbst, wenn sie in der Stadt ankamen und alle warnen konnten, was würde ihnen das bringen? Es war die eine Sache, Bauern dazu zu bringen, gegen eine Hand voll Stadtwachen zu kämpfen, aber diese Soldaten waren eine ganz andere Kategorie.
    "Und dann? Wir können nicht gegen eine ganze Armee antreten", meinte er. "Wenn diese Gefangene wirklich die Wahrheit sagt, dann sitzen wir echt tief im Morast."
    Sie sahen sich an und Jaris war der erste, der zustimmend nickte.
    "Habt Ihr Verbündete, die uns helfen können?", fragte der Söldner und sah den Herzog nachdenklich an.
    "Ja habe ich!", brachte Zacharas wütend hervor, zügelte sich dann aber sofort und wandte den Blick etwas ab. "Nur haben wir kein sonderlich gutes Verhältnis."
    Überraschte Theic nicht. Ihn hätte es mehr gewundert, hätte der Herzog nun von einem bunten und fröhlichen Bündnis gesprochen.
    "Wir brauchen jeden, den wir bekommen können, wenn wirklich eine ganze Armee hierher unterwegs ist", sprach Daryk dennoch. "Die typen haben etwas drauf."
    "Aber woher nehmen wir die Verbündeten? Wir haben keine Zeit von Reich zu Reich zu spazieren. Oder hat irgendeiner von euch Brieftauben dabei?" Daphne blickte in die Runde.
    "Brieftauben nicht, aber wir haben Sari." Theical zeigte auf den Donnervogel, der auf einem Ast unweit von ihnen hockte und die Gruppe mit schief gelegtem Kopf musterte, als verstand er jedes Wort.
    "Wir könnten ihn zu meinem Bruder schicken und ihm die Sache erklären", Daphne legte grübelnd eine Hand an ihr Kinn. "Wenn er mit meinem Vater spricht, bekommen wir vielleicht auch von ihm Verstärkung." Sehr überzeugt klang sie nicht. "Ein Versuch ist es wert."
    "Und wenn wir uns zusätzlich noch trennen?", warf Thyra als weitere Alternative ein. "Dann sind wir auch für die Soldaten schwerer zu fassen. Kleinere Gruppen könnten sich besser verstecken", meinte Thyra. "Jaris und ich könnten zu den Elfen gehen", sie machte eine Pause und sah ihren Partner fragen an. "Vielleicht finden wir in ihnen Verbündete .... und vielleicht könnten wir dann auch direkt das Grab suchen." Den letzten Teil sprach sie sehr leise, dennoch verstand es jeder von ihnen. Und auch, wenn Theic sicher nicht der Einzige war, der keine Ahnung hatte, von welchem Grab Thyra da sprach, stellte keiner eine Frage.

    Theical glotzte Daryk eine ganze Weile einfach nur stumm an. Er war über und über mit Blut bedeckt und außer dieser Tatsache schien noch etwas nicht mit dem Brocken zu stimme. Aber Theic schaffte es einfach nicht, diesen Gedanken an irgendwas fest zu machen. In seinem Kopf war da immer noch Daphne, die einfach zu Wasser zerfallen war und sich dann als Pfütze ins Lager bewegt hatte. Erst kam die Frau von den Toden zurück und dann konnte sie plötzlich so etwas.
    "Wir sollten verschwinden!", bemerkte Daryk. Und bei einem Blick auf die Fackeln, die sich ihrer Position näherten und die wütende Rufe, die durch den Wald hallten, nickte Theical schlicht. Keine Frage, Daryks Verschwinden hatte für Aufsehen gesorgt.
    "Folgen wir Avalon", meinte er und deutete dem schwarzen Tier nach. Er war genau in die entgegengesetzte Richtung gelaufen, aus der sie gekommen waren. Das hieß, sie würden ihren Freunden nicht in die Arme laufen und konnten die Soldaten so vielleicht von diesen weglocken. Es waren zu viele für sie zwei und auch immer noch zu viele für ihre kleine Gruppe. Kämpfen war also eine schlechte Idee, solang sich ihre Feinde nicht in kleinere Gruppen aufgelöst hatten.
    Schnell machten sich die beiden Männer also daran, dem Pferd zu folgen und Theical war erstaunt, wie lautlos sich Daryk trotz seiner Größe fortbewegte.
    Was wollten diese Leute überhaupt von ihnen? Ausgerechnet von ihrer Gruppe und warum mussten sie Daryk entführen? Damit hatten sie sich doch nur unnötig Mühe gemacht. Irgendwas war an diesen Typen seltsam. Wobei, er sollte sich nicht beschweren, denn das erste Mal, war nicht er zum Gefangenen gemacht worden. Und im Grunde war es für Daryk sicher auch gut, sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, wie man sich auf der anderen Seite fühlte.
    "Was ist mit Daphne?", brachte Theic flüsternd hervor, während er hinter Daryk herlief.
    Der Kollos zuckte die Schultern. "Als ich aufgewacht bin, lag sie schon erschöpft am Boden."
    Vielleicht war ihr Zauber zu viel gewesen, überlegte Theical.
    "Mich würde eher interessieren, was mit den Mistkerlen passiert ist, die dort herumlagen", murmelte Daryk. "Die sahen aus wie Trockenfleisch, völlig ausgezehrt."
    In ihrer Nähe knackte ein Ast und sofort hob Daryk den Knüppel, den er aus dem Lager mitgebracht hatte. Er wandte sich dem Geräusch zu, während Theical brav einige Schritte zur Seite trat. Er war kaum der Richtige, um an vorderster Front zu kämpfen. Allem voran, weil er nicht kämpfen konnte, obwohl er daran doch in den letzten Wochen fleißig geübt hatte.
    Beide Männer beobachteten aufmerksam den schwarzen Raum zwischen den Büschen und Bäumen, doch niemand zeigte sich, alles blieb ruhig und auch nach mehreren Augenblicken, erklang kein Geräusch mehr.
    "Einbildung?", hauchte Theical.
    "Das glaube ich kaum." Daryk hielt die Keule im Anschlag, entspannte seine Muskeln aber nur mäßig, jeder Zeit bereit, einen feindlichen Angriff niederzuschlagen. "Wir sollten weiter."

    Sie streiften noch eine ganze Weile durch den Wald, bis sie Avalon eingeholt hatten. Der Hengst stand am Ufer eines Flusses, kaum zu sehen zwischen den Zweigen einer Weide. Lediglich einem sachten Leuchten, das direkt von einer Stelle vor seinen Hufen ausging, war es zu verdanken, dass die beiden nicht einfach an dem Tier vorbei liefen. Sie näherten sich dem Pferd.
    Erst, als Theical beinahe neben Avalon stand, erkannte er Daphne, die am Ufer im Wasser lag. Von ihr ging das merkwürdige leuchten aus, das jedoch immer schwächer wurde. Er wollte sich der Diebin nähern, doch Avalon schritt dazwischen und schnaubte wild.
    "Was jetzt?", wollte Theic wissen. Er wich vor dem Pferd zurück und legte Daphnes Kleidung, die er schon mit sich schleppte, seit sich Daphne verflüssigt hatte, neben Avalon ab. Immerhin atmete sie noch, auch, wenn er nicht verstand, warum sie ausgerechnet im Wasser eingeschlafen war.
    "Wir scheinen hier erstmal sicher zu sein", meinte Daryk. Er sah sich um, konnte aber nichts erkennen. "Die Zweige der Weide schützen uns vor zu vielen Blicken."
    Theical hielt es sicher nicht für die beste Idee, aber etwas Anderes blieb ihnen im Grunde nicht übrig.
    "Also verstecken wir uns jetzt hier, und hoffen, dass uns keiner findet?"
    Zur Bestätigung ließ sich Daryk neben Avalon und der schlafenden Daphne nieder, den Blick in den Wald gerichtet.

    Theic glotzte die Schurkin verwirrt an und nahm den Löffel aus dem Mund. „Mein Vater?"
    "Wie ich Daryk schon sagte, wir sind nicht allein. Umgeben von Geistern und als ich ... du weißt schon. Begegnete ich jemanden an deiner Seite. Naja ... eigentlich waren es zwei, aber dein Vater bat mich dir etwas zu sagen!"
    Eine Weile betrachtete Theic Daphne. Er wusste nicht so recht, ob er lachen oder weinen sollte. Tatsächlich war er sich nicht einmal sicher, ob die Schurkin ihn nicht soeben versuchte, über den Tisch zu ziehen, weshalb er in ihren Augen nach dem Witz hinter der Sache suchte. Fündig wurde er jedoch nicht.
    „Du versuchst mich zu verarschen, oder?“, fragte Theic deshalb nach. Daphne musste den Verstand verloren haben, wenn sie wirklich an ihre Worte glaubte. „Mein Vater ist tot.“ Er machte eine kurze Pause. „Genauso wie du es eigentlich sein müsstest."
    “Ich bin aber hier! Vielleicht auch, damit ich all das sagen kann." Daphne schluckte und schien nach den richtigen Worten zu suchen. Tief atmete sie durch. „Ich kenne keine Weise, die ich für geeignet halte, um dir das zu sagen, was ich sagen soll.
    Theical legte den Löffel in die Schüssel in seiner Hand und fuhr sich seufzend über die Nasenwurzel.
    „Ich bin ganz Ohr. Was willst du mir sagen?“ Selbst er hörte aus seiner Stimme heraus, dass ein leichter Vorwurf mitschwang, den er nicht ganz unterdrücken konnte, dafür saß die Skepsis zu tief. Natürlich war Daphne gestorben und nun aus irgendeinem Grund wieder zurück. Wusste er, was sie auf der anderen Seite gesehen hatte? Nein, und vorstellen konnte er es sich auch nicht. Aber schon allein mit dem Gedanken, dass Daphne zurückkam, hatte er seine Probleme. Dass sie auch noch seinen Vater getroffen hatte, der seit Jahren tot war, erschien ihm einfach nur irrsinnig.
    „Magst du dich setzten?", fragte Daphne, anstatt ihm zu antworten.
    Theical sah die Diebin immer noch ausdruckslos an. Wenn er sich sogar setzen sollte. Was würde da wohl kommen? Seine Augen überflogen den Boden und entdeckten einen größeren Stein, auf den er sich kurzerhand fallen ließ, dann hob er fragend die Augenbrauen.
    „Deine Mutter war nicht dort … “, begann Daphne dann zu erklären. Sie gestikulierte etwas zu wild mit den Händen in der Luft herum und schien sich jedes Wort selbst aus der Luft greifen zu wollen.
    Theical stellte die Schüssel neben sich auf den Boden und stützte sich mit den Armen auf den Beinen ab.
    „Meine Mutter?" Er grübelte etwas. Außer seinen Großeltern hatte er nie Familie kennengelernt. Zwar hatten Habger und Jamir oft von ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn gesprochen, aber mehr als diese Geschichten kannte er nicht. Es hieß anfangs immer, sie würden irgendwann zurückkommen. Aber auch nachdem der Krieg endete und die Soldaten zurückkamen, blieben die beiden verschwunden. Natürlich hatten seine Großeltern ihm irgendwann gesagt, dass wohl beide gefallen waren.
    “Mache es mir doch nicht so schwer“, jammerte Daphne. Unruhig begann sie auf und ab zu laufen. „Deine Mutter lebt, Theic ... dein Vater hat sie gesehen. Also nicht direkt gesehen.“ Daphne rang nach Worten. „Er war und ist ständig bei ihr. Aber dort ist es dunkel, deshalb erkennt er immer nur wage Umrisse. Er sprach irgendwas von Mauern und so.“
    Die Information wollte noch immer nicht in seinen Kopf. Das war doch alles Irrsinn. Seine Mutter war gestorben, genau wie seine Großmutter und sein Vater. Genauso wie Daphne …
    „Willst du mir sagen, mein Vater, der vor 25 Jahren gestorben ist, hat dir erzählt, dass meine Mutter, die ich nie kennengelernt habe, noch lebt?"
    „Genau das.“ Daphne nickte heftig. „Deine Großmutter hingegen meinte, dass du zu dünn bist und wir Frauen uns schämen sollten, dass wir allesamt nicht anständig kochen können ... Wie auch immer. Er hofft, dass du deine Mutter suchen würdest."
    Noch immer wusste Theical nicht, ob er der Schurkin glauben sollte.
    „Kannst du das alles auch beweisen?“
    „Warum sollte ich dich belügen? Meinst du, tot gewesen zu sein, war lustig? Dass sich die Angehörigen an mich wandten, weil ich zurück durfte und die Sachen in meine Hand legen, zu denen sie nicht fähig sind? Wenn du einen Beweis forderst, frag ich dich, wie ich dir das beweisen soll?"
    Es stimmte. Einen besseren Beweis als Daphnes Anwesenheit gab es wohl für ihre Worte nicht. Aber wer konnte ihm verübeln, dass er der Diebin nichts glaubte?
    Er zog die Beine an und bettete seinen Kopf auf den Knien. Wenn Daphne wirklich die Wahrheit sagte und nicht fantasierte, dann lebte seine Mutter noch. Das hieß, er hatte noch jemanden außer Habger?
    „Ich habe eine Mutter … “, murmelte er betrübt. „Und ich habe die ganzen Jahre nichts davon gewusst, habe gedacht, sie wäre tot.“
    „Dafür kannst du nichts!", murmelte Daphne und kniete sich zu ihm. Tröstlich blickte sie ihm ins Gesicht. „Sie scheint eingesperrt zu sein, vielleicht wegen ihren Fähigkeiten!"
    „Dass sie eingesperrt ist, macht es nicht besser." Ein Knurren unterdrückend wuschelte sich Theical durch die Haare. Er sprang auf und suchte etwas Abstand zu der Schurkin ehe er sich wieder zu ihr umdrehte. „Bist du dir ganz sicher, dass du mit meinem Vater gesprochen hast?"
    „Schon. Auch, wenn er dir kein Stück ähnlich sah.“ Zwischen einem übertriebenen Husten glaubte Theical die Worte ‚viel größer‘ und ‚kräftiger‘ zu hören. „Aber ihr habt den gleichen Charakter. Genau wie die kleine alte Frau in seiner Begleitung – dürr, braune Augen, weiße Haare und ein sehr freundliches Lächeln. Endres und Jamir, wenn ich mich recht erinnere.“
    Kein Zweifel. Die Schurkin sprach die Wahrheit. Den Namen seines Vaters konnte sie unmöglich wissen, und selbst, wenn er geraten war, dass sie auch mit dem seiner Großmutter richtig lag, konnte unmöglich ein Zufall sein.
    Nun war er es der unruhig umher lief. Wo um alles in der Welt sollte er nur anfangen zu suchen? Ein dunkler Ort mit Mauer? Das grenzte das Gebiet nicht wirklich ein. Seine Mutter konnte sich quasi überall befinden.
    "I-Ich denke, ich lasse dich erst mal in Ruhe." Daphne lächelte verhalten, senkte dann den Blick und lief zurück ins Lager.
    Nachdenklich blieb Theical zurück.