Beiträge von Zarkaras Jade im Thema „Auf der Suche nach der Schatulle von Daris“

    Eine kuriose Seefahrt. Es passierte einiges, das sich der Herzog so nicht ausgemalt hätte. Der Klabautermann, die verrückte Liandra, offenkundige Verlobung und der Tod König Cecil's. Manches war zu erwarten, manches kam unverhofft.
    Die Ermordung des Königs bewegte Aras aber von alledem am geringsten. Es lag nicht am Charakter Cecil's, vielmehr am Desinteresse für die Fehden zwischen Daryk und ihm. Was wiederum nichts mit dem Hünen zu tun hatte, sondern mit der allgemeinen Mentalität des Nordens. Außerdem konnte sich Aras auch nicht an irgendeine Beziehung mit dem König erinnern, weshalb es ihn diesen Vorfall zusätzlich leichter vergessen ließ.
    Dass Daphne und Daryk jemals den Bund der Ehe eingegangen wären, war zu offensichtlich. Für Zacharas war dies nur eine Frage der Zeit, bis sie es geäußert hätten.
    Es erinnerte ihn spontan wieder daran, dass er bei seiner Heimkehr auch um Kuens Hand anhalten will. Sofern sie ihm in der Zwischenzeit treu geblieben sein würde. Oder er über ihre eventuellen Seitensprünge niemals etwas erfahren würde.
    Und wieder suchte ihn Unbehagen heim. Unbehagen, der Unsicherheit größtes Opfer zu werden. Konnte es möglich sein, dass er sich irgendwann doch seiner Grundprinzipien abwenden würde und Frauen und Kinder ebenfalls körperlich misshandeln würde, wie er es bisher nur bei seinen Gefangenen getan hatte?
    Wie sollte er Kuen und die anderen davon überzeugen können, dass er sie wirklich liebt? Was war überhaupt für ihn wahre Liebe?
    Er wusste, dass er Nachwuchs zeugen musste. Zwar hatte er schon einen Sohn, aber dieser war erstens unehelich und zweitens wollte er nichts mit seinem Vater zu tun haben.
    Bisher lebte Aras nur im Hier und Jetzt, ohne wirklich in die Zukunft zu schauen. Ihm ging es immer nur um Macht und Reichtum. Aber all sein Besitz würde im Falle seines Ablebens unweigerlich an seinen Sohn übergehen. Ob er wolle oder nicht. Und wenn er es nicht wollen würde, was würde dann damit geschehen?
    Dieses Risiko wollte Aras nicht eingehen.

    Aber vorerst musste es wohl doch so bleiben, wie es bisher war. Ein paar Tage später kamen sie dann bei Lyc an. Theical war so erleichtert, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Schwer zu sagen, wie lange er noch auf hoher See ausgehalten hätte, bevor er sich freiwillig über die Reling gestürzt hätte. Dementsprechend war er auch einer der ersten, die das Schiff verließen. Sonst immer recht träge und gemütsam unterwegs, sprintete er nun geschwind wie der Wind die Planke hinunter.
    Zacharas ließ sich dagegen viel Zeit und genoss noch jeden Augenblick vom weiten Meer aus jener Schiffshöhe. Ihn hetzte nichts, noch nichts. Und solange seine Kammeraden ihn nicht anmurrten und entnervt stöhnten, war für ihn auch alles in Ordnung. Aber als er sich dann doch auf dem Weg machte, widmete er sich auch hochkonzentriert dem neuen Land. Noch konnte und wollte er keine voreiligen Schlüsse bezüglich der ihm dargebotenen Landschaft machen. Recht karg und öde wirkte es. Windig und kühl. Frieren tat er noch nicht, gewöhnte er sich offenbar schon etwas während der Überfahrt an das rauere Klima des Nordens.
    "Wie wollen wir nun vorgehen?", fragte er spontan in die Runde, die irritierten Gesichter der anderen gekonnt ausblendend. "Daryk kennt mit Sicherheit den Weg, wohin auch immer wir gehen werden müssen."
    Dann wandte er sich Tristan zu, der sich etwas im Hintergrund hielt. "Tristan? Willst du mit uns kommen? Also ich hätte nichts dagegen."

    Wiedermal reckte der König seinen offenbar leeren Krug der Luft entgegen. Und wie abgesprochen erschien eine dem Magier bekannte Gestalt daneben und goss dem König unverzüglich nach.
    Aras traute seinen Augen nicht, als er sie erblickte. Liandra, im Matrosenanzug. Ihr Silberkrönchen durfte natürlich nicht fehlen.
    Beim Einschenken nach vorn gebeugt, rutschte dieses ihr natürlich wiedermal ins Gesicht. Leider konnte sie diese nicht begradigen, da ihre freie Hand hinterm Rücken verweilte.
    Der König zuckte leicht zusammen, als sie ihm sichtlich sanft ins Gesicht blies und somit seine Aufmerksamkeit erhielt.
    Er schmunzelte ihr entgegen, was sie mit einem Kopfnicken quittierte. Anschließend flüsterte sie ihm was ins Ohr uns schaute nebenbei Aras tief in die Augen.
    Ihre Blicke trafen und intensivierten sich sofort. Frech lächelte sie ihm entgegen, während der König immer misstrauischer auf den Herzog schaute.
    Aras begriff es nicht, machte sich aber bereits Gedanken darüber, was dies zu bedeuten hatte.
    Als sie fertig war und wieder vom König abließ, blieb eine gewisse Antipathie zwischen den beiden Männern zurück.
    Kaum, dass Aras sich anderweitig ablenken konnte, erschien nun auch nebenihm Liandra, ebenfalls im Matrosenanzug.
    Sie schenkte dem Herzog nach, obwohl sein Krug noch halbvoll war. Ganz langsam machte sie es, hauchte ihm auch entgegen und gewann ebenso seine Aufmerksamkeit.
    Dann spürte er ihren Atem am Ohr. "Ich habe dem König berichtet, was ihm blühen könnte, wenn er zu lange unter euch weilt."
    "Warum hast du das gemacht?", fragte Aras sofort nach und ergriff ihren Arm, bevor sie ihn wieder zurückziehen konnte.
    "Ich musste es tun. Schließlich steht auch er unter meinem Schutz."
    Verdutzt schaute er sie daraufhin an, ließ ihre Worte nochmal Revue passieren und nickte dann verstehend.
    "Dementsprechend wird er nun auch sehr misstrauisch reagieren", meinte sie weiter, wurde jedoch wider Erwarten weiterhin vom Herzog festgehalten und nun noch intensiver Angeschaut.
    "Ich habe dir gesagt, du sollst dich nicht in mein Leben einmischen, Liandra..."
    "Das habe ich auch nicht gemacht, allerliebster Herzog. Außerdem wird er dir nichts antun. Immerhin schuldest du mir noch einen Tanz."
    Noch bevor er antworten konnte, hatte sie bereits ihre Krone gerichtet und verschwand nahezu augenblicklich.
    Aras wusste sofort, dass er etwas unternehmen musste, bestenfalls dieser Sache entgegensteuern. Aber viele Optionen schien er nicht zu haben, ohne, dass der König Verdacht schöpfen würde. Falls er nicht schon längst Aras im Verdacht hatte. Der Magier war sich immer noch nicht ganz sicher, ob Liandra für die anderen überhaupt sichtbar ist, oder gar für den König. Andererseits hatte Aras sie natürlich sehen können, als sie bei Cecil stand.
    Er suchte den Augenkontakt zur Prinzessin. "Daphne, bist du für einen Moment entbehrlich?"
    Verwundert schaute sie ihn an und ließ anschließend ihren Blick über den Tisch ringsum wandern, bis er beim König angelangt war. Dieser starrte weiterhin in Aras' Richtung. Alle starrten in Aras' Richtung.
    Nach einem kurzen Moment, Aras versuchte sie mit leichten Mimen zu überzeugen, kam sie seiner Bitte nach und erhob sich vom Stuhl.
    Kaum hatten beide den Raum verlassen und die Tür verschlossen, grummelte sie ihn augenrollend an: "Was soll das schon wieder? Was ist los?"
    "Nun ja", murmelte er zögerlich, gar ungewöhnlich für ihn. "Es besteht die Möglichkeit, dass König Cecil von unserem Vorhaben Wind bekommen hat."
    "Wie meinst du das?" Stirnrunzeln. Gefolgt von einem grimmiger werdenden Gesicht. "Hast du es ihm verraten?!"
    "Wieso ich? Ich habe nichts gesagt", beteuerte er seine Unschuld, ihm selbst bewusst, dass es zweifelhaft klang. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die pure Wahrheit zu sagen, so haarsträubend sie auch klingen mochte. "Liandra hat es ihm gesagt."
    Ihr Blick blieb verwirrt. "Wer ist Liandra? Und warum sollte sie es ihm sagen?"
    "Äh, ja... Das ist recht kompliziert zu erklären." Verlegen rieb er sich die Nase. "Liandra bezeichnet sich selbst als Göttin."
    "Göttin?", hinterfragte sie skeptischen Blickes. "Du?" Resignierender Blick, Gesichtsgrätsche. "Du kennst eine Göttin? Persönlich?"
    "Ist das so abwegig?", stöhnte Aras entnervt.
    "Äh, ja?", keuchte sie zurück. "Immerhin bist du Zacharas van Júmen."
    "Sag' das nicht mir, sondern ihr", konterte Aras, selbst verblüfft über jenes Schicksal. "Ich verstehe auch nicht, warum sie mich ständig verfolgt."
    "Na hoffentlich weiß es wenigstens sie selbst. Aber warum sollte sie es ihm nun gesagt haben?"
    "Weil er unter ihrem Schutz steht", merkte Aras prompt an, verdrehte dabei die Augen. Ihm selbst war dieses Bündnis auch nicht recht.
    "Und du weißt das, weil..?"
    "Sie es mir gesagt hat."
    Skeptisch wirkte sie. "Ist das nicht etwas arg sinnlos, es ausgerechnet dir auch zu sagen?"
    Unschuldig, was in diesem Fall vermutlich sogar zutraf, hob er die Hände und schaute sie reuebewusst an. "Ich habe mich nicht drum gerissen, sie als Wegbegleiterin zu bekommen. Das ist allein auf ihrem Mist gewachsen."
    Tiefes entsetztes Stöhnen aus Daphnes Mund. Kopfschüttelnd entgegnete sie ihm: "Du erstaunst mich immer wieder aufs Neue. Egal, was mit dir schiefgeht, es hat immer mit einer Frau zu tun."

    Nachdenklich stand Aras wiedermal an der Reling und blickte aufs Meer hinaus. "Ob Liandra etwas damit zu tun hatte? Was es Teil ihrer Wette? Aber warum sollte sie von einem blinden Passagier gesprochen haben, wenn sie selbst nicht gemeint war..?"
    Thyra riss ihn aus seinen Gedanken. "Es war ein Klabautermann!"
    Aras schwenkte um und sah Tristan an ihrer Seite. Er stimmte nickend zu.
    Nur kurz war der Lord von diesen Worten verwirrt, schien dann aber verstanden zu haben, was genau sie meinte. "Sehr schön!"
    Verwunderte Blicke ihrerseits.
    Aras klärte sofort auf. "Also ich meine, dass es nur ein Klabautermann ist..."
    "Nur ein Klabautermann?", brachte sie skeptisch entgegen. "Was hast du dir denn Schreckliches vorgestellt, was es sein soll?"
    "Äh... Ich meine, natürlich es schlecht, dass hier ein Klabautermann herumschleicht, aber es ist schön, dass ich mal einem begegnen darf."
    "Aber du kannst ihn doch gar nicht sehen", konterte Thyra, während Tristan folgend fragte: "Oder könnt Ihr etwa doch?"
    "Keine Ahnung..." Tiefe Denkfalten auf Aras' Stirn. "Die sind doch normalerweise für uns unsichtbar."
    "Eben drum haben wir dich aufgesucht", entgegnete die Jägerin.
    "Aber wie kommt ihr denn überhaupt darauf, dass es ein Klabautermann war?", hinterfragte der Lord deren Anliegen. "Schließlich sind diese Wesen unsichtbar für uns. Also woher wollt ihr wissen, dass es einer ist."
    "Er hat ihn gesehen", meinte Thyra mit Fingerdeut zum Soldaten, wirkte dann aber etwas unsicher. "Stimmt doch, oder?"
    Nachdenklich beäugte der Magier ihn von oben bis unten. Aber er konnte nichts an ihm entdecken, was auf Zauberei oder Hexerei hindeutete.
    "Ich weiß nicht viel über Klabautermänner oder ähnliche Wesen, obwohl ich mal einen Kobold in meiner Burg hatte. Aber solltest du, Tristan, nicht eigentlich von ihm verzaubert worden sein, damit du ihn vergisst?"
    "Er hat es versucht, glaube ich..."
    Kurz lachte Aras auf. "Man möge fast glauben, du seist gegen solche Magie immun. Was aber töricht wäre..."
    "Wie sieht es nun aus?", unterbrach Thyra seine lauten Gedanken. "Gibt es einen Zauberspruch oder ähnliches, um den Wicht zu fangen."
    Aras nickte. "Es gibt Magie, die solche Wesen gefangen halten kann."
    Beinahe hätte Thyra einen leisen Jubelschrei ausgestoßen, da sprach Aras weiter: "Aber leider beherrsche ich diese Art von Magie nicht."
    Und dann kam wieder dieses enttäuschte Stöhnen, welches er schon zu oft vernehmen musste. Doch wusste er sich und den anderen trotzdem zu helfen.
    Mit erhobenem Finger sprach er weiter: "Aber ich könnte einen Trank herstellen, welcher ihn zeitweise daran hindern kann, Zauberei zu wirken."
    "Dann macht das..."
    "Das wiederum könnte sich als leicht knifflig erweisen", unterbrach sie nur ungern, jedoch erforderlich. "Einige der Ingredienzien sind leicht zu besorgen, andere wiederum nicht."
    Grübelnd versuchte er, die Rezeptur in seinem Gedächtnis abzurufen. "Salz, Elfenbein und Nickelspan braucht man. Tinte vom Tintenfisch, dann noch Korallenkalk, Schneckenschleim und Schuppen einer Meerjungfrau."

    Nach dem Frühstück begab sich Aras über Deck und widmete sich wieder seinen Forschungen. Es gab viel zu entdecken, was auf dem ersten Blick vielleicht nur als Alltägliches wahrzunehmen war. Sicherlich war es weitehend genau das, aber für einen Gelehrten, Alchemisten und Zauberkundigen war es weitaus mehr. Viele Fragen stellte er sich. Wieso gibt es Wellen und warum schwimmt Holz eigentlich auf Wasser? Wie verhielt es sich mit seiner Theorie eines Unterseebootes? Sonne und Mond. Sternenbilder und deren Bedeutung für sie Seefahrt.
    Aber auch über andere Dinge machte er sich Gedanken. Dinge, die man vielleicht nicht jedem erzählen sollte. Gottheiten und jene, die sich welche nennen. Besonders hervor stachen für ihn dabei Liandra und Selchior. Da er mit diesen am direktesten Kontakt hatte. Und auch nicht sonderlich erfreulichen Kontakt, möchte man ungemein behaupten.
    Ob es dem Lord bewusst werden sollte oder nicht, dass seine Forschungen ihn vielleicht sogar gleichsam geisteskrank wie Selchior machen könnte, stand noch in den Sternen. Dies konnte wenn überhaupt nur der Wüstenkönig selbst beantworten, sofern er es begreifen würde.
    Der Kapitän der Calypso war dem Herzog als Zeitgenosse oder eher Nebendarsteller ganz recht. Auch wenn der Kapitän sich nicht wirklich mit Aras unterhielt, oder auf seine Grübeleien einging.
    Während der Magier mal wieder an der Reling stand und das blaue, weite Meer bestaunte, sich ab und an Notizen machte und heimlich ein neckisches Bildchen von Kuen zu zeichnen versuchte, geschah das, was einfach zu erwarten war. Jenen Wesen, welches sich nun ihm verschrieben hatte, offenbarte sich wieder und gesellte sich frohlockend mit zu ihm an die Reling. Jene Person, mit pechschwarzen Haar und dem zu groß geratenen silbernen Krönchen.
    Sie stellte sich neben ihn, ruckte sich ihren schiefen Gürtel wieder zurecht und machte dem Lord schöne Augen. Was nicht sonderlich schwer war, bei diesem knalligen Grasgrün, welches nahezu jeden schwachen Geist hypnotisieren konnte.
    Sehr vertieft war Aras in die Zeichnung, welche Kuen in einer gewagt pikanten Pose darstellte.
    Und frech, wie Liandra war, rutschte sie näher an ihn heran, stielte provokant auf die Zeichnung und sprach: "Du scheinst dich ja recht gut mit der weiblichen Anatomie auszukennen."
    Sich heftig erschreckend zuckte Aras zusammen, verkrampfte regelrecht und presste sich das Buch instinktiv fest an die Brust. Erst dann schweifte sein Blick zu Liandra rüber, versuchte das visuell Erkannte im Kopf abzurufen und verfiel dann in eine wütend, gar zornige Gefühlsregung. "Du schon wieder!"
    Sie nickte mit leichter Verbeugung und fuhr sich beim wieder Aufrichten des Kopfes angedeutet über die Krone, um die Hand im übertriebenen Bogen auschwingen zu lassen. "Ich könnte jetzt fragen, was du gerade machst, aber es interessiert mich eh nicht", sagte sie, drehte der Reling den Rücken zu und machte über diese ein weites Hohlkreuz, sodass sie beinahe mit dem Rücken darauf wippte. "Trotzdem bitte ich dich der Höflichkeit halber, diese für mich unwichtige Frage doch als geäußert wahrzunehmen."
    Völlig verwirrt starrte Aras sie daraufhin an. Aber sie grinste nur weiter und versuchte ihn somit zum Antworten zu provozieren.
    "Ist die Pose so richtig dargestellt?", fragte sie und versuchte nun noch ihren linken Arm um ihren Nacken zu winden.
    "Was willst du?", plauzte er raus und steckte sein Notizbuch weg, um sich folglich der selbsternannten Göttin zu widmen. "Liandra, was willst du schon wieder von mir?"
    Leicht die Augen verdrehend, nahm sie wieder bequemere Haltung an, machte ein grübelndes Gesicht und tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. "Zwei sehr gute Fragen, Herzog..."
    "Zwei?", stutzte Aras.
    Doch prompt erklärte sie sich. "Naja du hast gefragt, was ich will und was ich von dir will. Erstens würde ich gern mehr Kleider haben wollen und zweitens will ich von dir nichts geringeres als deine Aufmerksamkeit."
    "Für was?", fragte er weiter und schaute sie interessiert, wenn auch skeptisch an.
    "Ich muss doch immer hübsch aussehen", erwiderte sie und fuhr sich dezent an der Schläfe entlang.
    Verwirrung zeigte Aras' Gesichtsausdruck.
    Liandra schreckte auf, hickste kurz und hielt sich dann verlegen die Hand vor den Mund, um ihr leises Kichern zu verbergen. "Achso, du meinst, warum ich dich brauche."
    Dann schaute sie sich verdächtig um und flüsterte: "Es befindet sich jemand an Bord, der nicht ist, was er vorgibt, zu sein."
    Entnervtes Stöhnen seinerseits. "Ach wirklich?", spöttelte er schiefen Blickes, wandte sich schließlich von ihr ab und öffnete wieder sein Buch.
    Liandra seufzte mit hängenden Schultern. "Zacharas, mein mir liebster Herzog, höre mir doch zu, wenn ich dir sage, dass wir einen blinden Passagier haben..."
    "Vermutlich bist du es ja selbst", konterte er.
    "Zacharas, du alter Charmeur." Amüsiert winkte sie ihm ab. "Ich bin natürlich nicht gemeint. Eine Gottheit ist nie unerwünscht."
    "Na wenn du das sagst", meinte er und wollte sich abermals seinem Buch widmen.
    "Hach", stöhnte sie verträumten Blickes, "wenn ich keine Gottheit wäre, würde ich dich sofort heiraten, Lieblingsherzog."
    Sehr skeptisch beäugte Aras sie eingehend. Wie sie sich leicht auf die Unterlippe biss, dabei ihren Blick über den Himmel wandern ließ und nebenbei schief hängenden Gürtel und verrutschte Bluse zurechtrückte. Sie säuselte und schniefte, als würde das Geäußerte sie tatsächlich beschäftigen.
    Doch Aras blieb misstrauisch. "Du meinst das nicht ernst, oder?"
    Aber sie reagierte nicht darauf und starrte weiter verträumt in den Himmel. Sie wippte auf und ab, summte vor sich hin und richtete die Krone neu, welche ihr weit in den Nacken gerutscht war.
    Dem Magier wurde es zu lästig. Er gab ihr einen sanften Schups gegen die Schulter, welcher sie endlich doch aus ihrer Träumerei riss.
    "Meinst du das ernst?", wiederholte er seine Worte an sie, folglich trafen sich ihre Blicke.
    Dann verzog sich ihr anfangs leicht geöffneter Mund zu einem mit Grübchen besetzten Schmunzeln. "Natürlich meine ich das nicht ernst. Da kenne ich deutlich adrettere Herzöge als dich, die mir das Wasser reichen könnten."
    "Darüber lässt sich streiten", konterte Aras augenrollend, "welche Partei hier wem nicht das Wasser reichen kann."
    "Das finde ich jetzt aber sehr gemein", seufzte sie gespielt traurig und wischte sich eine imaginäre Träne aus ihrem Auge. "Dabei habe ich so viel für dich getan, Zacharas."
    Verunsichert stand der Lord da und fühlte sich leicht beobachtet von den Matrosen. Ob Liandra für die anderen Leute hier vielleicht auch sichtbar war? Oder wirkte es wieder wie ein Selbstgespräch?
    "Bisher hast du nichts für mich getan. Zumindest fällt mir nichts ein..."
    Augenverdrehend jaulte sie: "Dann eben was ich für dich getan hätte, tun werde oder getan haben könnte, wäre es anders gekommen, was dir bisher widerfahren ist."
    "Dann bitte ich dich, Liandra, für die Zukunft solche nicht ernst gemeinten Behauptungen zu unterlassen."
    Sie nickte einvernehmlich und reichte ihm prompt die Hand. Perplex versuchte er diesen schnellen Gefühlswechsel zu begreifen, und ebenso diese entgegenkommende Geste.
    Er zögerte.
    Sie wartete weiter, sie provozierte weiter. Süßes Lächeln; Augenaufschlag; verlegene Körperhaltung.
    Bis er letztlich doch nachgab und unter Seufzen vorsichtig ihre Finger zum Handschlag ergriff.
    Kaum umgriffen beider Hände, murmelte sie beschwingt: "Wir machen eine Wette."
    Sofort schnippte seine Hand zurück und verschaffte sich zwischen ihnen beiden etwas mehr Abstand. Aras protestierte. "Mit dir werde ich niemals eine Wette eingehen!"
    "Papperlapapp", entgegnete sie abwinkend. "Wir machen es trotzdem."
    "Nein!", widersprach er.
    Und sie noch lauter: "Doch!"
    Er schüttelte den Kopf. "Ich, als Mensch, habe da auch ein Mitspracherecht..."
    "Ich bin eine Lady", konterte sie hochnäsig und mit rausgestreckter Brust. "Ich darf das... Außerdem hast du eh keine Wahl, weil ich es sowieso machen werde. Und du kannst dich nicht dagegen wehren."
    Entnervtes Stöhnen. "Dann unterbreite mir die Wette, wenn es dir so sehr am Herzen liegt, werte Lady."
    Selbstgefällig, schlussendlich doch gesiegt zu haben, verkündete sie ihm stolz den Wetteinsatz. "Wenn ich gewinne, was ohnehin außer Frage steht, schenkst du mir einen Tanz vor versammelter Mannschaft. Und wenn du gewinnst, was im Bereich des Möglichen liegt, dennoch unter den aktuell gegebenen Umständen nahezu an der Unwahrscheinlichkeit grenzt, werde ich dir ein Geheimnis bezüglich Kuen verraten."
    "Das ist inakzeptabel!", maulte er.
    "Warum?", fragte Liandra verwundert nach. "An sich ist doch beides gut für dich."
    "Was soll an solch einer Blamage, mit dir zu tanzen, positiv sein?"
    "Immerhin kannst du dann damit angeben, mit einer echten, berühmten und gut aussehenden, weiblichen Gottheit getanzt haben zu dürfen." Fröhlich grinste sie ihn an, rieb sich dann aber ganz verlegen über den Nacken und säuselte pfeifend: "Ich weiß, Bescheidenheit ist meine Stärke."
    "So etwas kann nur eine Gottheit glauben."
    Sie ging einen großen Schritt näher auf ihn zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter und blickte tief in seine Augen. Gleichsam ließ auch er sich hinreißen und fixierte sich auf ihre, recht sonderbar grasgrünen Augen. Dann fragte sie, den Kopf dabei in leichte Schräglage gebracht: "Und du bist wirklich sicher, dass du Kuen heiraten willst?"
    Aras ging voll drauf ein, ließ sich nicht weiter von ihr einnehmen und antwortete: "Wenn du das schon hinterfragst, werde ich es erstrecht tun."
    "Auch wenn ich dir beweisen könnte", fuhr sie fort und rieb sich zärtlich die Nasenspitze, "dass sie dir nicht treu ist?"
    Beleidigt fühlte sich der Magier, dies zu Ohren zu bekommen. Und dann auch noch so dreist, als wäre es Gang und Gäbe, dass ihm die Frauen untreu wären.
    "Das werde ich nicht glauben, dass Kuen mir dies jemals antun würde!"
    "Kannst du es wissen?"
    "Es ist mir egal, ob ich es wissen kann", erwiderte er und riss sich von ihr los. "Ich muss sie lieben und daran glauben. Es erhält meine Magie aufrecht."
    Daraufhin winkte sie ihm ab. "Träumerei und Spinnerei waren dir schon immer eigen, Herzog... Ich bin ohnehin davon überzeugt, dass du auf deiner Reise nach und durch Lyc wieder eine Frau kennenlernen wirst, die dich gleichsam überraschen wird."
    "Ich bleibe bei Kuen und sie bei mir!", stellte er mit den Füßen stampfend klar. "Ich bin davon überzeugt!"
    "Es liegt nicht in meinem Interesse, dir deine Liebschaften mies zu machen", meinte sie weiter und wagte einen neuen Annäherungsversuch. Nun sehr offensiv und direkt. Sie schlang regelrecht ihren Arm um seinen Hals und presste ihre Hüfte fest an seine. "Kannst du mir nochmal genau schildern, wie ihr euch kennengelernt habt?"
    Perplex zuckte er zusammen und versuchte die Situation klarer zu deuten. Als er dann merkte, dass sie weitere Annäherungsversuche machte -warum auch immer sie dies tat, stand in den Sternen- zog er sofort einen Schlussstrich und windete sich mit gekonnter Drehung aus ihrem Arm heraus, welchen er dabei mit verdrehte, woraufhin sie sich auch verrenkte. Sie lösten sich wieder voneinander und standen sich erneut, aber diesmal neutraler gegenüber.
    "Ich bin nicht verpflichtet, dir das mitzuteilen", verkündete er sein vermutlich in den Augen eines Gottes wenig wirksames Recht. "Außerdem ist es meine Sache, in wen ich mich verlieben möchte..."
    Plötzlich hörte er Thyra nach ihm rufen. "Aras? Willst du mitmachen?"
    Wie ferngelenkt wich sein Blick von Liandra ab, rüber zur Jägerin. Sie versuchte ihn mit Winken zum kommen zu animieren.
    Darin sah Aras seine vorerste Rettung vor der nervtötenden Göttin und ihrer hirnrissigen Behauptungen.
    "Es tut mir leid, Liandra, aber Thyra verlangt nach mir", sagte er mit einem spöttischen Lächeln und begab sich langsamen Schrittes auf Thyra zu.
    "Denke an meine Worte", rief Liandra ihm noch hinterher. "Eine Person spielt hier ein falsches Spiel." Dann war sie mit einem Fingerschnips verschwunden.

    Die Reise hatte begonnen, das Schiff hatte abgelegt. Mit über dreihundert Mann Besatzung stachen sie in See. Zweihundert Matrosen und einhundert Krieger. Das Schiff war randvoll mit allem nötigen, was man für solch eine Reise brauchte und vielleicht auch nicht brauchte.
    Viele Stunden waren sie schon unterwegs, die genaue Reisedauer war wie immer schwer zu definieren. Bisher war es eine ruhige Fahrt mit wenig Wellengang, aber ausreichend Wind, um zügig voranzukommen.
    Aras war fasziniert von allem, was um ihn herum geschah. Ob nun die an der Takelage arbeitenden Matrosen, oder Soldaten, die ihre Runden liefen. Schnell fand Aras seinen Platz am Bug. Mit Buch und Schreibkohle in den Händen, stützte er sich auf der Reling ab und ließ sich die seichte Brise durchs Haar wehen. Das leise Rauschen des Wassers, Kreischen vereinzelter Möwen und Knarzen der Dielen unter ihm, verschafften ihm eine besondere Atmosphäre, die er versuchte, in Schrift festzuhalten. Viele Notizen machte er sich über diverse Dinge, die ihm in den Sinn kamen oder auffielen. Den Sonnenstand verfolgte er, wie auch den Horizont. Er bildete sich ein, in der Ferne eine kleine Insel zu sehen, welche er aber noch nicht in seine vorerst provisorische Karte einzeichnete. Erst wollte er ganz sicher sein, dass es wirklich eine Insel war und nicht etwa nur eine Spiegelung im Wasser.
    Wie er sich so umsah, bemerkte er Theical, der sich langsam seiner Position näherte. Unsicher wirkte der kleine Mann, aber gleichsam auch strebsam.
    "Theical", begrüßte er den kleinen Mann mit fröhlichem Lächeln und reichte ihm die Hand. "Macht dich das Schwanken immer noch nervös?"
    Er nickte angedeutet und klammerte sich vorsichtig an der Reling fest. "Ich hätte die Reise nicht antreten sollen."
    "Ach, mit der Zeit gewöhnt man sich daran", fügte Aras an und machte sich weitere Notizen im Buch.
    "Du hast leicht reden!"
    "Es liegt daran, dass du nicht schwimmen kannst, nicht wahr?"
    Misstrauisch beäugte Theical den Lord darauf. "Los, mache schon deine Witze darüber."
    Aras schmunzelte und winkte ihm ab. "Nein, darüber mache ich keine Witze mehr. Erstrecht nicht auf hoher See."
    Schweigen brach aus. Verständlich. Hatten sich Theical und Aras auch sonst nicht viel zu sagen. Was hätte der Meistermagier auch schon Wichtiges mit dem Schattenbändiger besprechen können? Spontan kam dem Lord nur genau das in den Sinn, was sie beide am ehesten verband.
    Ungewohnt schwer fiel es Aras, den folgenden Satz zu bilden: "Wenn du irgendwie Hilfe brauchst, wegen deiner Schattenmagie, vielleicht kann ich dich etwas unterstützen." Im Nachhinein bereute Aras es schon, dies gesagt zu haben. Er wusste einfach nicht, wie Theical darauf reagieren würde und ob es überhaupt noch in dessen Interesse lag.
    Nach weiteren Momenten des Schweigens und Anstarrens, verkündete Theical dann doch etwas: "Ich bin mal wieder weg." Dies gesagt, entfernte er sich von der Reling und ging von dannen.
    Kurz schaute Aras ihm hinterher. "Vermutlich ist er seekrank und wollte nicht länger das offene Meer betrachten."
    Mit leichten Bedenken, den kleinen Mann vielleicht doch gekränkt zu haben, blickte er wieder aufs Wasser hinaus und machte sich weitere Notizen in sein Buch.
    "Aye Herzog!", erklang eine junge Frauenstimme hinter ihm, die dem Lord zwar bekannt vorkam, er sie aber nicht spontan zuordnen konnte. Doch als er sich umdrehte, um einen kurzen Blick zu riskieren, traute er seinen Augen nicht. Kurzes schwarzes Haar, breites Grinsen und silbernes Krönchen auf dem Kopf.
    "Liandra?", stieß er heiser aus und setzte ein betrübtes Gesicht auf. Irgendwas sagte ihm, dass diese Begegnung nichts Gutes zu bedeuten hatte.
    Mit stolzem Schritt stampfte sie auf ihn zu und nebenher immer mit den Hacken ihrer Stiefel auf. Sie trug einen Matrosenanzug, ähnlich der Matrosen hier an Bord. Aber das Krönchen war trotzdem nicht zu übersehen.
    "Natürlich bin ich es", antwortete sie augenrollend und richtete ihre Kopfbedeckung wieder. "Hast du mich schon vermisst?"
    "Nicht wirklich", grummelte er leise und wandte sich wieder dem Meer zu.
    Liandra trat neben ihn an die Reling, legte ihren Arm um ihn und schmiegte sich an seine Seite. Ihn kurz in die Hüfte knuffend sprach sie weiter und grinste dabei über beide Ohren: "Ich wollte mich mal erkundigen, wie es meinem Lieblingsherzog so geht..."
    "Lieblingsherzog?", stellte er es schiefen Blickes infrage und rutschte einen guten Meter von ihr weg, um weiter an seiner Zeichnung zu arbeiten.
    "Natürlich!", erwiderte sie und rutschte sofort nach. "Also ich mag dich."
    "Offensichtlich ist das so, Liandra..." Kaum hatte er diesen Satz gesagt, griff sie nach dem Buch und entriss es ihm. Aras' Hände wanderten hinterher, er wollte es wieder zurückhaben. Zu flink war sie und klemmte sich das Buch schnell zwischen die Beine. Hochnäsig und mit rausgestreckter Brust präsentierte sie sich und grinste frecher als jemals zuvor. Aras verharrte in angestrengter Position mit halb ausgestrecktem Arm und schaute sich ängstlich um. Zum Glück schien ihn keiner anzuschauen oder auch nur ansatzweise Andeutungen von Verwirrung zu machen. Dennoch war es dem Lord unsagbar peinlich, in dieser lächerlichen Lage zu stecken und von Liandra so provokant vorgeführt zu werden.
    Mürrisch flüsterte er: "Gib' mir das Buch wieder, oder..."
    "Oder was?"
    Gute Frage ihrerseits. Was sollte er nur tun? Laut rufen, damit sie wieder spurlos verschwand und Aras als Depp dastand?
    "Gib' mir einfach das Buch wieder! Das ist ein Geschenk von Maria von Braun!"
    Grübelnd tippte sie sich ans Kinn. "Das ist ein gutes Argument." Dann griff sie wieder nach dem Buch und gab es ihm zurück. Ein kurzer aber intensiver Blickaustausch und sie sprach weiter: "Übrigens wollte ich dir noch sagen, dass ich mit Freuden euren Kampf gegen Calypso und ihre Sklavinnen verfolgt habe!"
    Misstrauisch beäugte er sie daraufhin. "Sag' jetzt bloss, du hast da auch was gedeixelt. Wenn dem so ist, dann schwöre ich dir..." Vorsichtig ballte er seine Hand zur Faust und grimmte sie immer misstrauischer an.
    Unschuldig hob sie die Hände. "Ich spiele jetzt mal wieder die Furchtsame, die Angst vor deiner Magie hat, auch wenn du mir keinerlei Schaden zufügen kannst."
    "Fordere es nicht heraus!", konterte er, konnte aber nicht gänzlich ernst bleiben.
    "Ich muss zu meiner Verteidigung sagen, dass ich auf euch gesetzt habe."
    Da machte er große Augen. "Was habt Ihr?!"
    Liandra redete unverzüglich weiter, mit einer Freude und Überzeugung, dass man echt vermuten musste, sie sei verrückt. "Zu meinem Glück habt ihr dann auch gewonnen. Nun ist Selchior mir etwas schuldig. Er hat nämlich auf Calypso gesetzt."
    Nun war er komplett fassunglos und ließ prompt das Buch fallen. "Wie bitte?! Selchior?!" "Wie verrückt muss man bitteschön sein, um mit ihm..?" Kopfschüttelnd versuchte er auf diese Situation klarzukommen. Was war das nur für eine Göttin, die ihn auserwählt hatte? "Sehr beruhigend, dass Ihr auf unsere Leben Wetten abschließt, Liandra."
    "Sei mal nicht so zynisch, Herzog. Immerhin war ich ja auf deiner Seite."
    "Ich frage mich gerade, ob Ihr, Liandra, mir geholfen hättet, wäre ich tatsächlich in Lebensgefahr gewesen!"
    Die Augen verdrehend entgegnete sie darauf: "Bisher hat doch auch immer alles ganz gut ohne göttliche Hilfe funktioniert."
    Sprachlos war er, da fehlten ihm die Worte. Nur noch enttäuschtes Kopfschütteln brachte er ihr entgegen.
    Plötzlich schreckte sie auf, blickte sich um und richtete ihr Krönchen wieder. "Ich verabschiede mich mal wieder. Vielleicht sieht man sich später nochmal." Mit einem Fingerschnipp war sie verschwunden.
    Dafür kam nun Tristan in seine Richtung.
    "Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mich zu Euch geselle, Herzog?"
    Verunsichert starrte Aras in Tristans Augen, schüttelte dann aber den Kopf. "Nein, natürlich nicht. Ich freue mich sogar sehr darüber, immer ein nettes Gespräch führen zu dürfen."
    Leicht schielte Tristan auf Aras' Buch. "Verzeiht mir meine Neugier, aber was schreibt Ihr da Besonderes?"
    "Ich..?", fragte Aras verwundert, hätte er nicht gedacht, dass sich jemand wirklich dafür interessiert. "Nur Gedankengänge und Überlegungen."
    Ob Tristan Liandra auch gesehen hatte? Oder hatte er vielleicht nur Aras gesehen, wie er vermutlich nur mit sich selbst sprach? Der Lord wusste noch nicht, ob Liandra nur für ihn sichtbar war, oder jeder ihre Anwesenheit vernehmen konnte. Die Frage war auch, was nun besser gewesen wäre. Sicherlich, für Aras wären beide Optionen peinlich gewesen. Und wollte der Herzog vielleicht auch tief im Innern, dass jemand anders Liandra auch gesehen hatte?
    Die Stille wurde Aras zu peinlich, weshalb er einfach drauf los redete. "Ich bin gerade dabei, eine Theorie aufzustellen. Gut, eher Überlegungen."
    Tristan reagierte nicht darauf und schaute den Lord nur verwundert an.
    Aras redete weiter: "Habt Ihr Euch schon mal gefragt, wie die tief das Meer ist?"
    "Vermutlich nicht in dem Zusammenhang wie Ihr es meint", entgegnete Tristan nach kurzem Überlegen. "Man könnte es doch ausloten."
    Verstehend nickte der Magier, tippte anschließend auf sein Buch und grübelte weiter. "Ich würde aber auch gerne wissen, wie es dort unten aussieht. Vergleichbar mit dem Wattboden vielleicht?" Dann stieß er den jungen Ritter leicht an. "Was meint Ihr, Tristan? Wie könnte es dort unten aussehen?"
    "Ich weiß nicht so genau. Ist es überhaupt wichtig, dies zu wissen? Auf Anhieb sehe ich keinen wirklichen Nutzen darin, mehr über die Tiefen des Meeres erfahren zu müssen... Oder meintet Ihr einfach meine Vorstellung davon?"
    "Exakt!", antwortete Aras knapp. "Was würdet Ihr Euch wünschen, dort sehen zu können?"

    "Eine schwierige Frage, die Ihr da stellt. Spontan kann ich das nicht beantworten..."
    "Müsst Ihr auch nicht", warf Aras ein und schenkte ihm ein erneutes fröhliches Lächeln. Dann stelle er Überlegungen an. Sein Wissen war weitreichend, er hatte ein gutes Verständnis von diversen Dingen. Mechanik, Alchemie, Naturkunde und vor allem Magie. "Vielleicht könnte man eine Apparatur bauen, mit der es möglich wäre, unter Wasser zu atmen." Dann kam ihm der Geistesblitz! "Man müsste ein Schiff bauen, das ab- und auftauchen kann. Bestenfalls aus Metall und kugelförmig, damit sich das Gewicht des Wassers gleichmäßig verteilt. Natürlich ist das nicht ganz ungefährlich."
    Verdutzt starrte Tristan ihn an. "Ihr würdet das doch nicht versuchen, oder?"
    "Sicherlich würde ich das. Die Mittel dazu hätte ich."

    Die Abreise stand bald an. Daphne war anscheinend immer noch zu schwach und erschöpft. Denn Daryk war auch nirgends am Hafen zu sehen. Auch wenn Zacharas noch immer einige Schmerzen im Rücken hatte und die Schnittwunden nur dürftig behandelt wurden, wollte er es sich nicht nehmen lassen und fleißig mit anpacken. Was waren schon ein paar Schmerzen im Verhältnis zu den Qualen, die Daryk und Daphne in diesem Kampf erleiden mussten.
    Viel hatte Aras nicht zu erledigen, was nicht auch während und nach der Reise hätte gemacht werden können. Einen Brief verfasste er, an Kuen gerichtet. In diesem wollte er ihr mitteilen, dass er doch länger als geplant wegbleiben würde. Sie sollte sich aber gedulden und keine Sorgen um ihn machen. Den Brief überreichte er dann dem Kapitän seines kleinen Kutters, da dieser zeitgleich mit ihnen abreisen wollte.

    Während Aras mit Sack und Pack ein vorerst letztes Mal über den Flur wanderte, wurde er von Maria abgefangen. "Lord Zacharas", hörte er ihre Stimme hinter sich.
    "Ja bitte, Herzogin?" Er setzte den Jutesack ab und begrüßte sie mit einem leichten Händedruck.
    "Hättet Ihr kurz Zeit für mich?"
    Leicht verwundert schaute er sie an. "Ja, ich denke schon."
    "Ich wollte Euch nochmal persönlich danken, mitgeholfen zu haben, meine Tochter vorm Tod zu bewahren." Prompt überreichte sie ihm das Buch in ihren Händen. Dankend nahm er es entgegen und betrachtete den wundervoll verzierten, schwarzen Einband, mit Goldornamenten versehen und der Aufschrift "Notizbuch".
    "Ich habe gehört, Ihr lest und schreibt gern", fügte sie an und beäugte ihn erwartungsvoll.
    Erstaunt öffnete er das Buch und blätterte durch die leeren Seiten. "Oh, danke vielmals! Das ist ein wirklich praktisches Geschenk, Maria!"
    Mit neutralem Gesichtsausdruck sprach sie weiter: "Ich wollte noch etwas anderes mit Euch besprechen..."
    Aras horchte gespannt auf.
    "Es ist mir schon etwas peinlich", fuhr sie fort und presste fest die Lippen aufeinander.
    Aras animierte sie zum Weitereden. "Was kann Euch schon so peinlich sein, dass Ihr mit mir nicht darüber sprechen könnt?"
    "Ich wollte mich aufrichtig bei Euch entschuldigen für meine anfänglichen Worte bezüglich Eurer zukünftigen Verlobten."
    "Was genau meint Ihr?"
    "Es war nicht ich, die da zu Euch sprach. Es lag an Calypsos Fluch. Ich bereue zutiefst meine angreifenden Worte, die ich von mir gab."
    "Oh, ich verstehe." Grübelnd ließ er seinen Blick über den Flur schweifen. "Das klingt logisch in meinen Augen."
    Maria sprach weiter. "Mir ist es egal, welchem Hause Eure zukünftige Gemahlin entstammt. Solange Ihr miteinander glücklich seid, euch respektiert und liebt, ist mir jede Frau für Euch recht. Ob sie nun Adelstochter sei oder nur einfache Schankmaid. Hauptsache, Ihr fandet Euer Glück in ihr."
    "Danke...", sagte Aras verblüfft und gab sich verlegen. "Es freut mich, dass Ihr mir in dieser Hinsicht doch Zuspruch schenkt."
    "Ich hatte nicht das Recht, Eure Entscheidungen in dieser Hinsicht anzuzweifeln."
    Behutsam verstaute er das Buch in seinem Jutesack. "So sehr ich mich auch noch länger mit Euch unterhalten würde, Maria, muss ich nun aber wirklich mit beim Beladen des Schiffes helfen."
    "Dafür habe ich vollstes Verständnis, Zacharas. Ich hoffe, unsere gesellschaftliche Partnerschaft wird noch lange erhalten bleiben."
    "Liegt ganz in meinem Interesse, Maria!", erwiderte er, schulterte seinen Sack wieder, schenkte ihr noch einen sanften Händedruck und folgte dem Flur Richtung Ausgang.

    Draußen angekommen, erblickte er viele Matrosen und Soldaten, die wild herumwuselten und allerhand Utensilien umherschleppten. Fässer, Kisten und Leinensäcke. Waffen und Munition. Nahrungsmittel und Wasser.
    Seine Truppe war auf Anhieb nicht zu sehen, vermutlich waren sie beim Schiff.
    "Kommt dies hier auch auf die Calypso?", fragte Aras einen Matrosen und zeigte auf eines der Eichenholzfässer, die neben dem Karren in Reihe aufgestellt waren.
    "Aye!"
    Beherzt griff der Magier nach dem nächsten Fass, kippte es vorsichtig um und bewegte es rollend vorwärts. Dass er nicht besonders schnell war, war zu erwarten, dennoch war jede helfende Hand nützlich. Die Matrosen überholten ihn zwar und begrüßten ihn jedes Mal mit einem "Aye Herzog!", was ihn aber nur umso mehr anspornte.

    Auf halber Strecke, er konnte nun endlich seine Truppe am Schiff ausfindig machen, wurde er von einem Ritter auf hohen Ross angesprochen. "Entschuldigt. Fährt eines dieser Schiffe nach Lyc? Ich brauche eine Überfahrt und würde auch dafür bezahlen…"
    Verdutzt schaute Aras rauf zum berittenen Fremden. Für den Lord sah er eigentlich nicht so aus, als hätte er danach fragen müssen.
    Er stoppte das rollende Fass, stellte sich mit gegrätschten Beinen darüber und wandte sich dem Reiter zu: "Wer möchte das wissen, wenn ich fragen darf?" Freundlich lächelnd hielt der Lord sich die Hand schützend über die Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden. "Entschuldigt meine direkte Frage, aber mir ist in letzter Zeit recht viel Negatives widerfahren, was nicht selten mit Soldaten zu tun hatte."
    Leicht verunsichert wirkte der Fremde.
    Aras blickte zum Schiff hinüber, wo seine Kameraden standen und beim Beladen mithalfen. Er haderte, geriet ins Wanken. Was war nun richtig und was falsch?
    Zögerlich rieb er sich sanft über den Hals und schwenkte immerzu zwischen dem Fremden und dem Schiff hin und her.
    "Kann es sein, dass Ihr gar kein Matrose seid?", fragte der Reiter.
    Aras schüttelte den Kopf, schnaufte tief und erwiderte: "Ich mache jetzt einfach Nägel mit Köpfen!" Dann zeigte er dezent zum Schiff rüber, wie auch auf sich selbst. "Es reist ein Schiff nach Lyc. Aber ich kann leider nicht bestimmen, ob Ihr mitreisen dürft. Ich bin Zacharas van Júmen, Herzog von Ymilburg..." Spontan wanderte seine Hand in die rechte Seitentasche, um den Zauberstab provisorisch zu umgreifen. "Und Ihr seid?"
    "Verzeiht meine Unhöflichkeit, Herzog von Ymilburg. Mein Name ist Tristan." Der Reiter blickte zum Schloss und dann wieder zu Aras. "Ich bin hier in Delyveih, oder?"
    "Ja, das seid Ihr gewiss", bestätigte der Magier. "Ich war hier zu Besuch. Und bald gehe ich auf Forschungsreise..."
    "Forschungsreise? Also ist es eine private Expedition?"
    Stirnrunzeln. "Keine Expedition. Ich weiß den wahren Grund für die Reise nicht. Den wollte mir niemand verraten. Ich nenne es nur Forschungsreise, weil ich das ja auch mitunter tun werde."
    Einen Moment herrschte Schweigen. Dann sprach Aras ganz unverblümt: "Wisst Ihr was? Kommt einfach mit und fragt die anderen. Vielleicht können die Euch mehr Auskunft geben." Gesagt, getan. Aras warf sich seinen Jutesack wieder über die Schulter und führte Tristan mit samt dem Fass zum Schiff.

    Aras war sehr überrascht, als er Daryk in dieser besonderen Rüstung sah. Ebenso war er überrascht, dass Daryk nun auch Magie zu beherrschen schien. Viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf, was es mit dieser Besonderheit auf sich haben konnte. Der Hüne selbst schwieg dazu, aber Aras konnte sich einen neckischen Kommentar dazu nicht verkneifen. "Du bist auch immer für Überraschungen gut, oder?" Nach einem resignierenden Blick fügte Aras an: "Aber lass uns jetzt erstmal Daphne retten."
    Für den Kampf vereinbarten sie wortlos und spontan, ihre Zwiste beizulegen und gemeinsam gegen diese Monster anzutreten. Daphnes Rettung hatte höchste Priorität, obgleich das Helfen der anderen Leute nicht weniger wichtig war. Schnell fuchsten sie sich in den Kampf hinein und brachten jeder für sich ihr Können mit ein. Jaris und Daryk, die wohl mit die geschicktesten Schwertkämpfer unter allen anwesenden, Thyra, welche mit dem Bogen auch unübertrefflich schien und Theical mit Aras zusammen, deren gemeinsame Magie hier sehr nützlich wurde. Jaris dagegen hielt sich mit seinen Blitzen sehr zurück, wofür Aras großes Verständnis hatte. Wusste der selbsternannte Meistermagier gut über die Gefahren in Verbindung mit Wasser bescheid.
    Ohne Blessuren kam Aras schon früh im Kampf nicht davon. Diese Ungeheuer waren sehr aggressiv und agil. Sie sprangen regelrecht aus dem Wasser und fegten mit ihren scharfen Krallen um sich. Im Nahkampf war Aras nicht gut zu gebrauchen, was hier leider nicht gänzlich zu vermeiden war. Einige Schnittwunden an den Armen und Beinen musste er in Kauf nehmen, was aber nichts im Vergleich zu den Wunden war, die er seinen Feindinnen zufügte.

    "Aras, hast du eine Idee?", rief Jaris ihm zu.
    Er wusste nur eine, die in dieser Situation am ungefährlichsten für Daphne war.
    Während er weiter seine Zauber gegen die Wasserleichen sendete, suchte er im eifer des Gefechts ab und an nach Calypso. Irgendwo musste diese Hexe sich aufhalten. Sie musste in der Nähe Daphnes sein, soviel durfte er vermuten. Die wilden Frauen ließen ihm kaum eine ruhige Sekunde, verwickelten ihn ständig in einen Kampf. Doch solange er sie auf gebürtigen Abstand halten konnte, war ihm jedes dieser Monster recht. Mit Flammenstößen, Druckwellen, die Wasser und Sand aufwirbelten, und vielen weiteren Zaubern, vernichtete er viele der Frauen. Trotz der vielen Einzelkämpfe, in die er und seine Kameraden verwickelt wurden, wagte er zu behaupten, sich in diesem Moment fest in die Truppe integriert zu fühlen. Er wusste, dass er in solchen Situationen eine große Hilfe sein konnte. Und so wollte er auch genügend handeln, um all seine Kraft und all sein Wissen miteinzubringen. Wo er nur konnte, half er aus. Mit ausgestreckten Armen drehte er sich im Kreis und führte einen Tanz aus Feuer und Schatten vor. Sich drei der um ihn herumstehenden Bestien als Ankerpunkt wählend, steckte er sie in Flammen und verband die Feuerstränge miteinander, sodass ein brennendes Dreieck entstand, welches er anschließend weiterführend mit seinem weit über den Kopf hinausgestreckten Zauberstab verband. In dieser brennenden Pyramide steckend, watete er langsam durchs Wasser und schleppte die langsam verkohlenden Wasserleichen mit sich, als währen sie fest an ihn gekettet. Seine Kameraden wichen etwas zurück von ihm und machten ihm genügend Platzt. Zwar gelang es ihm, seine Magie im Zaum zu halten, sie räumlich zu begrenzen, jedoch war die immense Hitze des Feuers weit zu spüren. Die Feinde versuchten weiter, ihn anzugreifen, doch wurde jede dieser Bestien, die das Feuer berührte, ebenfalls angekettet und bildete eine neue Verstrebung. Aber Aras musste sich dadurch leider immer mehr konzentrieren, was ihn langsamer machte. Jene Wasserleichen, die dadurch gänzlich dahingerafft wurden, lösten sich automatisch aus der Formation und trieben tot im Wasser
    "Aras, versuche Daphne zu helfen!", vernahm er Jaris' Stimme gedämpft war.
    Wieder wanderte sein Blick gezielter auf die Prinzessin, die immer noch regungslos im Wasser trieb. Aber er erkannte auch, dass sich etwas Ungewöhnliches in ihrer Nähe aufhielt. Es war Calypso, sie schien in menschlicher Form zu sein. Aras sah seine Chance, löste das flammende Gebilde auf und richtete augenblicklich seinen Zauberstab auf Calypso. Mit einem gezielten Schuss, sendete er ihr einen Schattenblitz entgegen. Doch er verhelte sein Ziel. Die Hexe verbarg sich augenblicklich wieder in ihrer Wasserform und ließ den Schattenblitz im flüssigen Nass verebben.
    Er versuchte nun, Daphen direkt zu beeinflussen und konzentrierte sich auf sie. Nur kurz gelang es ihm, sie aus dem Wasser schweben zu lassen und einen knappen Meter weiter zu sich zu holen, bevor sie vom Wasser erhascht und zurückgezogen wurde. Es war Calypso, die Daphne ihm wieder entriss. Er versuchte es erneut, seine Gefährtin aus den Fängen Calypsos zu befreien und konzentrierte sich nun noch mehr darauf. Aber wieder wirkte Calypso ihm entgegen. Sie war wirklich stark, jedoch weckte das in Aras nur den Ehrgeiz, es weiterhin zu versuchen und sich noch mehr hineinzuhängen.
    "Wenn du mich sie nicht retten lässt, muss ich eben gegen dich antreten!"
    Dann versuchte er die Levitation auf das Wasser um sie herum anzuwenden. Dies erwies sich als äußerst schwer, da Wasser keinen wirklichen Ansatzpunkt bot. Während er weiterhin vereinzelte Wasserleichen mit spontanen Schockzaubern abwehrte, versank er immer tiefer in die Konzentration und konnte schlussendlich doch etwas Festes im wilden, aufgewirbelten Wasser erhaschen, dass sich stark zu wehren versuchte. Er wägte ab und kam zum Entschluss, dass er es schaffen könnte, sich Calypso direkt zu widmen, jedoch für den Preis, selbst ein wehrloses Opfer für all das Geschehen um ihn herum zu sein.
    Aber sollte er es versuchen? Sollte er sich in potentielle Gefahr begeben, nur um etwas zu versuchen, was vermutlich sowieso nicht funktionieren würde? Sein Ehrgeiz war zu groß! Er wagte es. Sollte dies eine weitere Prüfung für ihn sein? Wie oft begaben sich schon die anderen in große Gefahr, um einander zu helfen? Und wieviele dieser Gefahren waren für Aras gefährlich genug? Er war kein Mann, der zurückwich, sich verkroch oder ängstigte. Er wollte nie etwas fürchten.
    Einen letzten Gegenschlag übte er aus, um sich für ungewisse Zeit die lästigen Töchter Calypsos vom Halse zu halten. Mit einer gewaltigen Druckwelle, drängte er das Wasser unter sich weg und verschaffte sich somit einen wasserfreien Krater von knappen drei Meter Durchmesser, in welchem er nun auf dem schlammigen Untergrund stand. Um ihn herum die Wasserwand zwei Meter aufgetürmt. Ein kühner Blick hinein und verschwommen konnte er die anderen wahrnehmen. Er richtete seine Hände gen offenes Meer, auf Daphnes Position, und konzentrierte sich wieder auf die unbekannte Macht im Wasser. Er konnte Calypso erhaschen und teilweise umfassen. Doch musste er sich so stark konzentrieren, dass er regungslos dastand und mit den FIngern leicht die Wasserwand berührte. Es gelang ihm, die Hexe im Wasser zu lenken und leicht zu beeinflussen. Sie wehrte sich stark und versuchte sich in Daphnes Umgebung noch mehr zu verbergen. Nur schwer konnte er diese beiden Frauen voneinander getrennt halten, was dieses Unterfangen auch so kompliziert machte. Nur kurz hätte er aus den Gedanken gerissen werden müssen und schon hätte er Daphne anstatt Calypso wieder fixiert und würde selbst vom Wasser überrollt werden.
    Er zwang die Hexe dazu, sich von Daphne zu entfernen und zog sie näher zu sich heran. Jedoch wirkte sie entgegen und zog nun ihn näher an sich. Kurz verlor er den Halt und machte einen Ausfallschritt. Aber er fing sich wieder.
    Eine gefühlte Ewigkeit schien zu vergehen, bis es ihm endlich gelungen war, sie in ihre menschliche Form zu drängen. So sehr hatte er sie schwächen können. Aber auch ihn selbst schwächte es zu sehr. Er brach zusammen und das Wasser umspülte ihn. Er wollte sich wieder aufrappeln, doch plötzlich wurde er an den Beinen gepackt und ins Wasser gedrückt. Die wilden Frauen überwältigten ihn. Sein Gesicht wurde in den Schlammigen Boden in knapp einem Meter tiefem Wasser gepresst. Aras drohte zu ersticken. Das Gewicht von guten neun Frauen lag auf ihm und queckte ihn immer tiefer in den weichen Untergrund, bis sein Kopf fast komplett im Sand verschwunden war. Schmerzen in Rippen und Waden von eindringenen Krallen und Zähnen. Atemnot...
    Er sah sich verloren. Seine Magie konnte nichts ausrichten gegen die Hexe. Er war zu schwach.

    Dann, plötzlich, spürte er, wie zwei Gestalten neben ihm standen und ihn am Bein packten. Aras verschwand langsam in Ohnmacht, konnte sich nur noch mühevoll in der Welt des Bewusstseins halten. Die Last auf ihm wurde geringer, keine Krallen bohrten sich mehr in seinen Rücken. Dann wurde er selbst mit einem kräftigen Ruck aus dem Wasser gezogen und aufgerichtet. Es waren Daryk und Jaris, die zu ihm geeilt waren. Während Aras langsam wieder zu Bewusstsein kam, sah er die beiden Männer die Monster abwehren, die dem Magier zuvor noch das Leben nehmen wollten.
    "Geht es dir gut?", fragte Jaris und verteilte munter weiter Schwertstiche.
    Ganz außer Atem war Aras, krümmte sich leicht und stammelte: "Danke... ihr habt... mich gerettet! Ja, es geht mir gut. Ich muss nur...", eine kurze Handbewegung und er schleuderte eine heranschnellende Wasserleiche ins offene Meer raus, "kurz verschnaufen..."
    Einen schiefen Blick erntete er vom Hünen, den er nur schwer deuten konnte.
    Aras sprach weiter: "Ich konnte Calypso schwächen, aber töten können wir sie bestimmt nicht."

    Zehn Tage dauerte die Reise. Noch länger hätte es Aras nicht ausgehalten. Was zum Teil an der Besatzung lag und anteilig an der Reise an sich. Jeden Abend eine Flasche Rum zu vernichten, ging mit der Zeit auf seine Kondition. Langweilig wurde es auch recht schnell, Tag ein Tag aus nichts weiter als Bäume, Felsen und Strände zu sehen. Das ständige Schwanken des Bootes bescherte ihm auch die letzten Tage Bauchgrummeln und Übelkeit. Vielleicht lag es aber auch am einseitigen Essen, dass der Koch ihnen tagtäglich vor die Nase setzte.
    Dennoch war er im Großen und Ganzen zufrieden mit der Flussfahrt. Von den Fischfrauen bekamen sie auch keinen Besuch mehr. Dabei hätte er zu gern eines dieser Wesen eingefangen und genauer studiert. Bei den Naga blieb es ihm ja bereits zweimal verwehrt.

    Am frühen Nachmittag traf er in Delyveihs Hafen ein und wurde von Wilfred und Maria empfangen. Sofort merkte Aras, wie die beiden tickten und zueinander standen. Endlich traf er die alten Handelspartner seines Vaters persönlich. Sein Dankesgeschenk für die militärische Unterstützung bei der Verteidigung seiner Stadt wurde auch mit Freuden entgegengenommen. Zwar war es nicht viel, was Aras ihnen mitgebracht hatte -nur ein Beutel voll Schmuck und Edelerz- aber er bestätigte ihnen, dass er bei seiner Rückkehr nach Ymilburg weiteres Edelsteingut nach Delyveih transportieren lassen würde. Viel mehr fiel ihm nicht ein, was er ihnen hätte bieten können, um die entstandenen Schulden zu begleichen.
    Den Fischern wurde für diesen Tag auch gewehrt, im Hafen zu verweilen, da sie ohnehin neuen Proviant brauchten. Sie erkundeten ein Wenig den Hafen, die Lokalitäten und die Gärten.

    Aras war beeindruckt von dieser Stadt, obgleich er vom Kai aus längst nicht alles überblicken konnte. Ihm gefiel dieser Baustil, mit den vielen Säulen und offenen Räumlichkeiten. Alles sehr hell und schlicht gehalten. Seine Stadt dagegen war das komplette Gegenteil. Alles recht erdrückend und düster. Dennoch fühlte er sich in Ymilburg wohler. Es war seine Heimat, sein Leben.
    Zu sehr vergleichen sollte man diese beiden Städte trotzdem nicht, da auch Delyveih einige Defizite in Sachen Ressourcen hatte. Kaum Bäume konnte Aras hier entdecken, von einem Wald ganz zu schweigen. Der Schiffsbau kostete bestimmt allerhand des nachwachsenden Gutes. Leider konnte er sich nicht verkneifen, Wilfred darauf hinzuweisen, dass es viel mehr Baumbestände geben muss. Vielleicht konnte dies ein weiteres Handelsgut sein, in welches Aras mit investieren könnte.
    Während der eingehenden Rundführung, kam auch die Truppe dazu. Verhalten blieb die Begrüßung. Daphne fragte scherzhaft nach, ob Zacharas sie so sehr vermisst hat. Dies bestätigte er.
    Beim abendlichen Dinieren an, kamen sie mehr ins Gespräch und Aras erfuhr einige Neuigkeiten von seiner Truppe und dem Adelspaar. Das spontan aufgetretene Missverständnis wegen Wilfred klärte sich auf. Die Prinzessin verlies Ymilburg wegen ihres kranken Vaters, der nun aber recht gesund wirkte. Ihre Heilkräfte waren im Spiel, welche Wilfred wieder neues Leben gaben. Die Schiffsweihe wurde auch angesprochen. Aras war gespaltener Meinung, ob es sich anbrachte, Daphne diesbezüglich zu gratulieren. Denn der Name Calypso war schon recht makaber, für ein Schiff, das als Geschenk für Daphne galt.
    Aber auch intimere Details, Aras' Vergangenheit betreffend, wurden angesprochen. Nichts, wofür er sich schämen sollte. Die Truppe fand es anscheinend auch interessant, zu erfahren, dass Zacharas van Júmen als Kleinkind bereits schon mal in Delyveih war und sogar Daphne zu Gesicht bekam. Zwar war sie damals nur knapp ein Jahr alt und er nur ein Jahr älter, aber Augenkontakt durften sie schon haben. Schon als Kind sollte er gierig gewesen sein, vor allem nach Muttermilch. Einige der Hebammen und Zofen, die sich damals um ihn kümmern mussten, waren auch heute noch in Delyveih untergebracht. Er sollte sich angeblich auch mal in Marias Ausschnitt erbrochen haben.

    Nach dem Essen ließ er sich sein Zimmer zeigen und begab sich in die Bibliothek. Er wollte an diesem Tag nicht mehr so viel in Angriff nehmen. Entspannung musste ihm nun einfach gegönnt werden, nach dieser anstrengenden Reise.
    Doch schon wenige Minuten nachdem er in der Bibliothek stöbern durfte, gesellte sich Herzogin Maria zu ihm. Schon bei der Begrüßung am Hafen bemerkte er, dass diese Frau seinem früheren Gemüt gar nicht so unähnlich war. Wie der Lord es sofort ahnte, gönnte sie ihm keine weitere Minute Ruhe und verwickelte ihn zugleich in ein Gespräch.
    "Wie ich vernehmen durfte, war meine Tochter einige Zeit lang bei Euch untergebracht." Resignierend schaute sie zu ihm rüber und beobachtete ihn, wie er in einem der Bücher blätterte.
    "Ja, das stimmt, Werte Herzogin Maria", erwiderte er prompt und klappte das Buch wieder zu. Der Inhalt war nicht das, wonach er suchte. "Aber ich kann Euch versichern, dass keine engere Beziehung eingegangen wurde..."
    "Und warum nicht, wenn ich fragen darf?" Sie wurde offensiver und drängte ihn etwas ans Bücherregal.
    Leicht erschrocken blickte er auf und musterte ihr Antlitz. "Wie mein Ihr?"
    Schmatzend sprach sie weiter: "Sie ist gutaussehend und nett, es wäre doch eine passende Gelegenheit, um ihre Hand anzuhalten." Sie blickte auf seine Finger. "Wo Ihr doch selbst auch noch ledig seid..."
    "Moment!", unterbrach er sie sofort und ging auf Abstand. "Nun muss ich aber eine Sache sofort klarstellen! Ich habe zur Zeit bereits eine Frau an meiner Seite. Auch wenn die Verlobung noch nicht bekanntgegeben wurde..."
    "Ach, ist das so?", hinterfragte sie seine in ihren Augen anzuzweifelnde Aussage und kam ihm wieder einen Schritt näher, bis sie nah an seinem Ohr stand. "Wer ist denn die Glückliche? Aus welchem Hause stammt sie denn?"
    Verwundert schaute Aras drein, sah sich kurz um und entdeckte eine merkwürdige junge Frau am anderen Ende des Ganges. Ihre Aufmachung war recht sonderbar, aber Aras machte sich nichts draus. Was er in diesem Moment suchte, wusste er selbst nicht einmal, aber irgendwas bewegte ihn dazu, sich umzusehen.
    Als er keinen ersichtlichen Grund fand, wandte er sich wieder Maria zu. "Haben die anderen Euch noch nichts davon erzählt? Kuen Neyt ist ihr Name. Sie ist Kerzenzieherin von Beruf und eine ausgezeichnete Soldatin..."
    "Kerzenzieherin?" Runzelfalten auf Marias Stirn sagten bereits alles aus, dennoch fragte sie intensiver nach: "Sie ist gar nicht adligem Blutes?"
    Aras schüttelte den Kopf.
    "Und mit solch einer Frau gebt Ihr Euch zufrieden?"
    "Warum denn nicht?", wollte Aras wissen und schnappte sich ein neues Buch aus dem Regal. "Nur weil sie aus bürgerlichen Hause stammt, ist sie doch trotzdem berechtigt, meine Frau zu werden. Mein Vater tat dies auch, ebenso auch mein Großvater."
    "Eures Vaters Frau starb ja auch kurz nach Eurer Geburt", argumentierte sie lachend und warf ihm einen abschätzigen Blick zu. "War nicht anders zu erwarten von einer Hofmagd."
    "Dies verbitte ich mir, Maria!" Stur klappte er das Buch mit lautem Knallen zu und schlug es in seine hohle Hand. "Meine Mutter war eine ehrenvolle und liebenswürdige Frau."
    "Von Eurem Vater können diese Worte nicht stammen... Ihr könnt Daphne ja trotzdem heiraten und Kuen als Mätresse anstellen..."
    Da machte er große Augen. Er hätte mit vielem gerechnet, aber niemals mit solchen frevelhaften Behauptungen. "Nein, das geht zu weit! Darauf werde ich mich nicht einlassen!"
    "Ich kenne zwar Euer Reich nur flüchtig", fuhr sie fort und rieb sich leicht über die Lippen, „aber ein schlechter Ehemann wäret Ihr bestimmt nicht."
    "Das will ich nicht bestreiten, Maria. Daphne würde es an meiner Seite gut ergehen. Dennoch würde ich sie niemals zur Heirat zwingen... Daphne ist für mich wie eine Schwester, die ich nie hatte. Ich kann sie nicht heiraten!"
    Und mit diesen Worten, klemmte er sich das Buch unter die Achsel, stampfte wütend zum Tisch hinüber, schnappte sich ebenso die Bücher dort und verließ die Bibliothek. Doch auf halber Strecke wurde er hinter dem nächsten Regal von seiner Truppe überrascht, die ihn nur verdutzt anglotzten. Zacharas blieb kurz stehen, schaute zurück zu Maria und dann wieder zur Truppe.
    "Habt ihr alle schön gelauscht?"
    Keine Reaktion von seinen Leuten.
    Also lief er weiter und kümmerte sich nicht mehr um die Sachen, die hinter ihm in der Bibliothek geschahen oder geschehen werden. Für ihn war das Gespräch beendet. Er wollte nur noch auf sein Zimmer und den restlichen Abend mit dem Lesen der Bücher verbringen. Den Weg zu seinem Zimmer hatte er sich schon beim ersten Mal gemerkt.
    Schnaufend und völlig erschöpft von dem ganzen Stress schloss er hinter sich die Tür und ging zum Schreibtisch rüber. Die Bücher dort drauf fallen gelassen, ließ auch er sich kurz auf den Stuhl fallen und atmete erstmal kräftig durch.
    "Diese Frau macht einen fertig!" Hart klatschte er das obere Buch vor sich auf den Tisch und klappte es auf. Seine Gedanken an das Gespräch und die kurzen Begegnungen davor beschäftigten ihn nun. "Kann man mich und Daphne auch einfach mal selbst entscheiden lassen, wen man heiraten möchte? Ständig werden meine Entscheidungen in Sachen Liebe angezweifelt..."
    Schleichend begab er sich zum Bett rüber und machte es sich darauf bequem. "Ich kann Daphne nicht heiraten. Ich will Daphne nicht heiraten. Wir sind zu verschieden, das kann niemals gutgehen..." Vertieft in sein Buch, bemerkte er nicht, wie draußen auf dem Flur reges Treiben herrschte. Dann wurde plötzlich seine Zimmertür aufgeschlossen und der Diener kam herein. Ihm folgend eine junge, leicht bekleidete Dame. Langes, wallendes rotes Haar, weißes Kleid und barfüßig.
    Und ehe sich Aras dazu äußern konnte, war der Diener schon wieder verschwunden und schloss die Tür wieder zu. Der Lord betrachtete die junge Dame aus den oberen Augenwinkeln, während er halb ins Buch linste. Sie stand nur da und schaute sich etwas um. Aras sagte nichts, wusste er ohnehin, was sie hier verloren hatte. Schweigen herrschte in seinem Zimmer, denn er vertiefte sich wieder ins Buch.
    Dann erklang ihre zierliche Stimme. "Ich bin Clara. Ihr dürft über mich verfügen, Herzog. Ihr wollt doch wohl nicht schlafen gehen, ohne Euer Gastgeschenk auszupacken, oder?" Prompt streifte sie sich ihr Kleid von den Schultern und präsentierte sich dem Herzog gegenüber nackt.
    Verwundert, aber nicht unbeeindruckt, glotzte er sie skeptisch an. Dennoch wandte er seine Blicke von ihr ab und widmete sich wieder dem Buch.
    Sie kam näher ans Bett und sprach mit betörenden Zungen zu ihm: "Gastgeschenke dürft Ihr nicht ablehnen, dies würde als Beleidigung gelten."
    "So gern ich Gastgeschenke auch annehme, dieses hier lehne dankend ab."
    Sie stellte sich vors Bettende, die Arme dabei hinterm Rücken versteckt. Gespielt schüchtern und unschuldig blickte sie ihn an, biss sich leicht auf die Unterlippe und sprach weiter: "Wollt Ihr mich, armes junges Ding, etwa so hier stehen lassen?"
    Kurz linste er übers Buch hinaus, überlegte mit starrendem Blick und erwiderte kalt: "Du kannst dich doch auf einen Stuhl setzen."
    "Ihr kennt vermutlich meine Mutter. Sie erzählte mir oft von Euch, wie sie Euch durch die Gärten trug."
    Nun betrachtete er sie etwas eingehender im Gesicht. Nun, wo sie es erwähnte, erkannte er schon eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Frau, die ihm vage in Erinnerung geblieben war. Ein richtiges Bild zu ihr hatte er aber nicht.
    Naserümpfend erwiderte er prompt: "Dann schon mal grundsätzlich nicht, meine Teuerste!" Dann steckte er die Nase wieder ins Buch und hielt es sich extra dicht. "Mit Frauen, die meine Halbschwestern sein könnten, verkehre ich grundsätzlich nicht!"
    Kurz kniff sie die Augen zu, lächelte ihm zu und sprach: "Da kann ich Euch beruhigen, Zacharas, ich bin kein Erzeugnis Eures Vaters." Dies geäußert, begann sie, auf das Bett zu kriechen und sich von unten her ihm zu nähern. Obwohl er im Buch vertieft war, merkte er ihre Annäherung und zog die Beine schnell an. Als sie seine Füße ertappte und sich mit ihren Fingern langsam an seinen Knöcheln und Unterschnenkeln hinauftasten wollte, riss er sich hoch und erhob sich vom Bett. Sie kroch ihm nach, doch er war flink und schon nach kurzen Augenblicken zur Raummitte geeilt.
    "Ich hörte, Ihr seid ein passabler Zauberer."
    "Hast du das?", hinterfragte er und hob ihr Kleid auf. Beim näheren Betrachten dieses Stück Stoffes, fragte er sich, warum sie überhaupt etwas angezogen hatte. Es verhüllte eh nur das Nötigste. Anschließend ging er zum Schreibtisch rüber, wo die anderen Bücher lagen.
    "Ihr würde gerne Euren Zauberstab sehen", gab sie forsch wieder und erhob sich mit einer gekonnten Drehung von der Bettkante. Während sie am Bettgestell entlangschritt, ließ sie ihre Hand über dieses gleiten und zeichnete mit den Fingern geschwungene Wellen. "Wo versteckt er sich denn?"
    "Das, Clara, werde ich dir garantiert nicht verraten." Er legte vorsichtig ihr Kleid über die Stuhllehne und schnappte sich ein neues Buch. Sie näherte sich mit großen Schritten ihm und legte ihre Hände ruhend auf seinen Schultern ab. Leicht begann sie, diese zu massieren und schmiegte sich an ihn. Aras ließ das immer noch kalt, er machte eine Drehung und löste sich so von ihr.
    Aber ihre Hände wannderten mit und ergriffen seine Hüfte. "Ist er etwa unter Eurer Robe?"
    Ihm wurde das zu bunt. Vorsichtig ergriff er ihre Handgelenke und befreite sich aus ihren Fängen. Leicht angewidert schaute er sie an und deutete zum Kleid. "Ziehe dich wieder an, Clara. Ich bin vergeben und werde mich nicht auf einen Seitensprung einlassen!" Wieder legte er sich aufs Bett und nahm bequeme Stellung ein. "Ich liebe Kuen und werde sie nicht durch eine Zofe oder leichte Dame ersetzen. Schnapp dir ein Buch und suche dir einen Platz zum Lesen."
    "Dann wähle ich den freien Schlafplatz neben Euch..." Kaum wollte sie sich neben ihn legen, versperrte er diese Seite bereits mit seinen Beinen.
    Ein Kopfschütteln sollte ihr signalisieren, sich nicht weiter zu nähern. Doch sie ignorierte es und nahm trotzdem Platz. Sanft klammerte sie sich an sein Bein und griff nach dem Buch in seinen Händen. "Das Buch braucht Ihr nicht, Herzog van Júmen."
    "Unterlass das!", murrte er sie an und entriss es ihr wieder, um sich anschließend wieder zu erheben und erneut zum Tisch rüberzugehen. Ihre Blicke folgten ihm.
    Er ruckte den Stuhl etwas vor, deutete darauf und sprach: "Entweder du setzt dich hierhin und bist still, oder du verlässt den Raum."
    "Wie wäre es denn, wenn Ihr Euch auf den Stuhl setzt und ich Euch massiere?"
    Kurz überlegte er, denn verspannt fühlte er sich schon. Jedoch begriff er schnell, dass sie ihm vermutlich nicht nur den Hals und Rücken massieren wollte. So sehr er dies generell befürwortet hätte, wollte er solcherlei Aktivitäten lieber von einer ihm vertrauteren und sympathischeren Frau durchführen lassen.
    "Nein danke, Kuen kann das gut genug."
    Augenrollend erwiderte sie: "Sie ist nicht hier, also ziert Euch nicht so!"
    Sie kroch vom Bett und stakste hochbeinig zu ihm rüber. Er betrachtete sie nicht, ihm war dieses forsche Verhalten zuwider. Grundsätzlich hatte er nichts dagegen einzuwenden, jedoch wusste er um die Konsequenzen.
    "Ich ziere mich gar nicht, wertes Fräulein. Ich weiß einfach, dass es falsch ist."
    "Was ist an diesem Anblick falsch?", fragte sie nach und stellte sich breitbeinig, mit in die Hüften gestemmten Armen vor ihn hin. Ein freches Schmunzeln zierte ihr Gesicht.
    Aras blieb konsequent und ruckte ihr den Stuhl rum. Mit einem großen Satz stolperte sie auf ihn zu, kletterte auf die Sitzfläche des Stuhls, verfing sich im Kleid, klammerte sich mit den Händen an seinen Schultern fest und warf ihn rücklings zu Boden. Der Stuhl samt ihr fielen mit um und landeten auf ihn. Völlig perplex schaute Aras an sich herab, erblickte die nackte Frau auf ihm, wie sie sich hektisch am Stoff der Kutte hinaufziehen wollte, und drückte ihr die Hände sanft gegen die Stirn. Sie zog sich hoch und stemmte sie nach unten.
    "Unterlass das, habe ich gesagt!"
    "Ziert Euch nicht so, Herzog! Nur ein kurzer Ruck und es ist geschehen."
    "Ich bin vergeben! Ich will keine andere Frau mehr!"
    Als sie anfing, plötzlich ihre Hände in seine Seitentaschen zu stecken -vermutlich wollte sie seinen Zauberstab ertasten- reichte es Aras endgültig. Er schloss die Augen, konzentrierte sich und ließ Clara schweben. Sie schrie und kreischte, krallte ihre Finger in seinen Stoff und zappelte hektisch mit den Füßen. Doch nach einigen Sekunden erstarrte sie komplett und konnte nur noch leises Brummen von sich geben. Fest waren ihre Finger in seiner Kutte gekrallt, je höher er Clara anhob, umso weiter wurde der Stoff gedehnt. Er öffnete die Augen, sah sein regungsloses Opfer über ihm schweben und ließ sie kurz ihre Finger bewegen können. Sie löste sich komplett von ihm und er buchsierte sie an die Decke. Die Hände lenkte so, dass sie ihren Schambereich verdeckten. Ängstlich starrte sie ihn mit großen Augen an und versuchte krampfhaft lautere Töne herauszubekommen.
    Der Meistermagier erhob sich von der liegenden Position, fischte ihr Kleid vom Boden auf und ließ es ebenso nach oben schweben. Nun grinste er sie belustigt an und wickelte grob das Kleid um ihre Hüfte. „Ich habe doch gesagt, du sollst das unterlassen! Ich habe dir gesagt, ziehe dich wieder an! Hast du verstanden?"
    Sie nickte leicht.
    Er vergewisserte sich noch einmal. "Verlässt du nun mein Zimmer und lässt mich in Ruhe und alleine schlafen?"
    Sie nickte erneut.
    "Gut so." Dann ließ er sie vorsichtig wieder hinab, stellte sie auf den Füßen ab und löste komplett den Zauber von ihr. So schnell konnte er gar nicht schauen, da warf sie sich das Kleid über und hatte den Raum verlassen. Der Herzog war zufrieden, keiner verletzt und niemand sonst hatte es anscheinend mitgekriegt. Für den Lord ein perfektes Ergebnis. Auch, wenn er nicht gänzlich stolz auf sich war -immerhin wandte er an einer Frau seinen Levitationszauber an- fühlte er sich trotzdem im Recht, dies gut gelöst zu haben. Nun konnte er schlafengehen. Er ging nicht davon aus, dass ihn so schnell noch mal eine dieser Frauen auflauern will.
    Er zog sein Nachtgewand an, schüttelte die Bettdecke nochmal frisch auf und legte sich mit einem Buch in seinen Armen schlafen. Die Augen schlossen sich und er schlief ein...

    ...Mitten in der Nacht war es. Plötzlich polterte es in seinem Zimmer und ein greller Schein riss ihn unsanft aus seinem Schlaf. Er wachte auf und blickte in den ungewöhnlich erleuchteten Raum. Ein flackerndes Licht, hervorgerufen von vielen kleinen Kerzen, die im Raum herumschwebten. In der Raummitte stand eine Frau. Es war dieselbe Frau, die er vorhin kurz in der Bibliothek gesehen hatte.
    Gleiche Größe wie er und gute Proportionen. Sie trug eine schwarzweiße, längsgestreifte Bluse und darüber eine hellgraue Corsage. Ihre langen Beine wurden von einer weißen, leicht transparenten Strumpfhose bedeckt, über welcher sie eine kurze, dunkelblaue Hose trug, die ihr bis zu den Knien reichte. Um die Hüfte trug sie locker einen viel zu weiten, goldenen Gürtel, an desssen zahlreichen Ösen und Schlaufen Goldplättchen und Silberperlen hingen. Der Gürtel war nur durch die linke Schlaufe der Hose gezogen, um ihn halbseitig auf richtiger Höhe zu halten. An den Füßen trug sie hellbraune, elegante Lederschuhe mit dunkelschwarzen Schnürsenkeln und jeweils ein kleines Silberglöckchen an den Säumen, die bei jeder Bewegung läuteten. Ihre Unterarme waren vom Blusenstoff unbedeckt. Dafür hingen um ihre Handgelenke kleine Kettchen aus Weißgold. An beiden Mittelfingern steckte ein Bernsteinring. Ihr Gesicht hatte etwas verspieltes. Grasgrüne Augen, volle Wimpern, spitzzulaufende Nase und einen mit königsblauem Lippenstift verzierten Mund. Nah anliegende Ohren, leicht errötete Wangen. Ihr pechschwarzes, kurzgeschnittenes Haar wurde von einem silbernen Krönchen verziert, das ihr offensichtlich auch etwas zu groß geraten war. Das Krönchen war bestückt mit fünf feuerroten Rubinen, die ringsum angebracht waren.
    Und in dieser Aufmachung stand sie mitten im Raum und glotzte den Lord an. Verständlich, dass dieser sich gleich erkundigen musste. "Wer seid Ihr? Was wollt Ihr hier?"
    "Ich bin Liandra!", verkündete sie ihren Namen und riss frohlockend ihre Arme in die Höhe. Sich auf der Hacke drehend, pfiff sie wie ein Vögelchen und tänzelte leicht um sein Bett herum. Vollkommen verwirrt verfolgte er das Schauspiel, welches offensichtlich eine echte Inszenierung darstellen sollte.
    Irgendwann blieb sie dann abrupt neben ihm stehen und grinste ihn breit an. Aras wich leicht zurück, er fühlte sich etwas bedroht von dieser Frau. Aber sie grinste immer weiter und beugte sich immer mehr zu ihm hin. Bis sie eigentlich aufs Bett hätte fallen müssen, so schief stand sie da. Aber sie kippte nicht vorn über, sondern stand auf den Zehenspitzen und schien von einer Magie so gehalten zu werden. Aras selbst war es nicht, der sie verzaubert hatte. Eine gute Minute verging, beide starrten sich an und rührten sich kein Stück.
    Dann presste sie aus ihren Zähnen hervor: "Könntest du etwas Platz machen, ich kann mich kaum noch halten..."
    Er starrte sie weiterhin an, machte aber keinerlei Anstalten in diese Richtung. "Ich... was..? warum..?"
    "Das war keine Frage, sondern eine Aufforderung..."
    "Ich kenne Euch nicht mal! Warum sollte ich für Euch weichen?"
    Urplötzlich wurde Aras zur Seite geschoben und Liandra ließ sich auf die freie Fläche fallen. Sie landete mit dem Bauch auf der Bettkannte, das Gesicht in die Matratze gedrückt und die Beine waagerecht baumelnd. Alamiert zückte Aras unverzüglich seinen Zauberstab, beugte sich auf und hielt ihn ihr entgegen. Obwohl er sah, dass sie noch mit sich zu kämpfen hatte, drückte er ihr den Stab leicht an den Kopf und sagte: "Noch ein fauler Zauber und um Euch ist es geschehen!"
    Vorsichtig hob sie die Hände an, kippte etwas nach hinten und setzte mit den gestreckten Beinen auf. Ihr Kopf ging in den Nacken und sie schaute direkt auf den Zauberstab. Mit schielendem Blick, gespitztem Mund und eingezogenene Wangen, säuselte sie leise: "Es wird bei mir zwar keine Wirkung haben, aber trotzdem zeige ich dir mal angemessenen Respekt."
    "Wie bitte?", hinterfragte er skeptisch und blickte in ihre grasgrünen Augen, die sehr einnehmend und betörend auf ihn wirkten. Sie zwangen ihn zum Senken des Zauberstabs, was er nur leidlich verfolgen konnte. Er konnte sich nicht dagegen wehren, von ihr abzulassen. Als Aras ihn wieder in seiner Seitentasche verschwinden ließ, riss sich Liandra hoch und nahm mit einer gekonnten Drehung auf der Bettkannte Platz. Ihm halb zugewandt, buchsierte sie ihre zierlichen Hände im Schoß, blickte ihn schief an und schnaufte leise.
    Aras richtete sich auch etwas auf. "Und nun nochmal von vorn. Wer seid Ihr und was wollt Ihr von mir?"
    "Also ich bin Liandra, die Göttin der Adligen und jener, die es sein wollen!", erwiderte sie mit breitem Grinsen, rückte sich ihr silbernes Krönchen zurecht und hielt ihm anschließend den Zeigefinger auf die Brust. "Und du bist Zacharas van Júmen, der Herzog von Ymilburg, aus der Provinz Maretstein. Sohn von Melchior und Ella van Júmen."
    „Eine Göttin?“, fragte er skeptisch und schenkte ihr nur abwertende Blicke. "Das soll ich Euch nun glauben?"
    Ihre Mundwinkel fielen nach unten, betrübt schaute sie drein. Leichte Verunsicherung sendeten ihre Augen aus, unterstützt von schüchternem Reiben über ihre Arme. "Sollen solltest du das schon", erwiderte sie mit dicken Pausbacken nickend. "Denn es ist die Wahrheit."
    "Beweist es mir!"
    Hart rollte sie die Augen und stöhnte. "Immer wollen alle einen Beweis für meine Göttlichkeit... Gut, dann beweise ich es dir. Schließe die Augen!"
    Aras tat es, wenn auch widerwillig und mit Vorsicht.
    Einige Sekunden vergingen.
    "Und nun öffne sie wieder!"
    Er riss sie auf, starrte immer noch in das gleiche Gesicht und ließ seine Augen durchs Zimmer schweifen. Aber nichts Ungewöhnliches konnte er entdecken. "Was soll ich nun sehen? Ist doch alles wie vorher."
    "Ich habe auch nicht gesagt, dass ich etwas verändere", entgegnete sie und wischte sich über die Lippen. Sie erhob sich vom Bett, drehte sich zu ihm und rückte abermals ihr Krönchen zurecht. Dann schnippte sie in die Finger und verschwand spurlos. Nur wenige Sekunden später tauchte sie mit einem erneuten Fingerschnippen auf der anderen Bettseite wieder auf, trug nun aber ein hellgelbes Ballkleid, mit silbernem Hüftband und goldenen Schuhen. "Findest du mich hübsch so?"
    Keine Reaktion seinerseits.
    "Anscheinend nicht..." Dann schnippte sie wieder in die Finger und verschwand erneut, um wenige Sekunden später abermals aufzutauchen, diesmal am Bettende, breitbeinig und mit einer Hand in die Hüfte gestemmt, während die andere Hand die schnippende Geste zeigte. Nun trug Liandra eine graue Kapuzenrobe und war barfuß. "Ist dies mehr nach deinem Geschmack? Immer noch nicht?"
    Abermals verschwand sie und kam wieder zum Vorschein. Diesmal baumelte sie kopfüber an der Decke, die Füße in einer Querstrebe verkeilt und war in dicke Felle eingepackt. Wie eine Wilde sah sie darin aus, alleinig ihre schiefsitzende Krone machte sie etwas kultivierter. Sie blickte hinab zu ihm und fragte erneut: "Glaubst du mir jetzt?" Kaum gesagt, verschwand sie wieder und tauchte direkt neben ihm auf dem Bett wieder auf, im purpurnen Nachthemd. "Oder soll ich..?"
    Aras wollte sich aufrichten, da erschien sie plötzlich in hockender Position -in schwerer Eisenrüstung- auf ihm und presste ihm die Hände auf den Brustkorb. "...etwa noch direkter werden?"
    Das schwere Gewicht erdrückte ihn, er sank tief in die Matratze ein. Schmerzgeplagt verkrampfte er und wollte sie irgendwie von sich herunterstemmen. Doch sie verharrte auf ihm und lehnte ihren Oberkörper sogar noch zusätzlich auf ihn. "Schenkst du jetzt dem etwas Glauben, Herzog?"
    Er nickte energisch. Aber eher, um aus dieser erdrückenden Lage herauszukommen, als ihrer Aussage zuzustimmen.
    Sie verschwand wieder von seinem Körper und stand wieder in ihrer ursprünglichen Aufmachung in der Raummitte.
    Nach Luft schnappend presste er heiser heraus: "Und was genau wollt Ihr nun von mir?"
    "Zuerst einmal würde ich mich freuen, wenn du mich duzen würdest."
    "Beim nächsten Mal vielleicht."
    "Und weiterführend habe ich zu Ohren bekommen, dass du dich bessern willst."
    Verdutzt blickte er drein, rieb sich leicht den Bauch und fragte: "Und Ihr seid nun hier, um Euch zu vergewissern, ob dies wirklich so ist?"
    "Könnte man so sagen", erwiderte sie mit gespitzten Lippen und verdrehte verträumt die Augen. Ein hektischer Ruck, gefolgt von einer schnellen Drehung und sie ging in den Ausfallschritt, um dann mit leicht gebückter Haltung auf Aras zu zeigen.
    Laut rief sie auf: "Du kannst wirklich von Glück reden, dass du Marias Angebot abgelehnt hast..." Ein lauter Händeklatscher folgte, mit erneuter Drehung. "Das hätte sonst recht peinlich für dich enden können." Dann sprang sie mit einem Satz aufs Bettgestell und balancierte darauf herum.
    "Inwiefern?", fragte Aras nach und spielte mit dem Gedanken, Liandra einen kurzen Stoß gegen die Knöchel zu geben.
    "Sagen wir mal so...", fuhr sie fort und wiegte mit ihren Armen das Gleichgewicht, "ich habe deine Freunde in die Bibliothek geführt, dass sie euer Gespräch auch noch rechtzeitig zu hören bekommen."
    "Was habt Ihr!?" Sofort riss er sich hoch, dabei fing das Bett an zu wackeln und Liandra verlor das Gleichgewicht. Auf einem Bein strauchelte sie umher und versuchte mit den Händen nach ein paar herumschwebenden Kerzen zu greifen. Diese gaben jedoch nach und konnten ihr Gewicht nicht halten. Liandra rutschte gänzlich weg und landete hart auf dem Boden.
    "Wieso habt Ihr das getan!?"
    Sofort rappelte die vermeinliche Göttin sich wieder auf, richtete ihr Krönchen und zupfte etwas an ihrer Hose herum. Dann klopfte sie sich mit sanften Schlägen den Hintern vom Staub frei und richtete ihre Corsage wieder aus, sodass ihr Busen wieder richtig saß.
    Aras war außer sich und wollte aus dem Bett kriechen, doch sie machte bereits eine Handbewegung und drücke ihn zurück ins Bett. Leicht kichernd sprach sie dann: "Bleibe ruhig liegen, Herzog, ich wollte eh gerade gehen!" Mit diesen Worten, ruckte sie erneut ihr Krönchen zurecht, schnippte mit den Fingern und verschwand nun endgültig.
    Urplötzlich überkam Aras die Müdigkeit und er fiel binnen Sekunden in einen tiefen Schlaf.

    Am nächsten Tag begann er wie angekündigt seine Reise. Jedoch nicht zu Pferd oder in der Kutsche, gar zu Fuß, sondern in einem Boot. Eines der ganzgebliebenen Fischerboote am See suchte er sich, samt Besatzung, aus. Er wollte schon immer mal wieder auf dem Wasser unterwegs sein, bestenfalls auch in freiem Gewässer. Umso mehr beflügelte es ihn, als die Matrosen ihn mit Stolz auf ihrem Kutter aufnehmen durften. Es freute sie ungemein, den Herzog nach Delyveih zu eskortieren und vielleicht nebenbei sogar selbst ein kleines Abenteuer zu erleben. Aras konnte ihnen natürlich nicht zu viel versprechen, aber eine gute Entlöhnung war das Mindeste.
    Zu sechst waren sie an Bord, Zacharas eingeschlossen. Ein Kapitän, drei Matrosen und der Koch, den alle nur als Koch bezeichneten. Vermutlich hatte er nicht mal einen Namen, sondern tat nichts anderes als Essen zuzubereiten.

    Am Abend des zweiten Tages seiner Reise legten sie am Flussufer, nahe einer Felswand, an. Für heute sollte die Reise zuende sein, erst nach Mitternacht oder am frühen Morgen -käme auf den Zustand des Kapitäns, nach einer Flasche Rum, an- würde es weitergehen. Zacharas nahm es gelassen. Während die Matrosen das Boot festmachten, beschäftigte Aras sich abermals mit seinem Jutesack. Ungeduldig wühlte er in diesem herum und tastete ständig seine Taschen ab. "Wo ist die nur hin?" Fuchsteufelswild würde er langsam und stampfte wütend mit dem Fuß auf. Den Stoff des Sacks hart zerrend und ihn herumwirbelnd, kippte er ihn schließlich aus. Viele Utensilien plumpsten heraus, davon nicht wenige für Laien unnütz wirkend. Schreibzeug, Keramikdosen, Schriftstücke, eine Unterhose, Nadel und Garn. Etwas Brot, halbabgebrannte Kerzen, bunte Steine und Pergamentrollen.
    "Verflixt nochmal, wo ist die verdammte Karte!" Mit beiden Händen kramte er im Gerümpelhaufen umher. Und dann umklammerte seine rechte Hand die eine Schriftrolle ganz gezielt. Erleichtert atmete er auf und begutachtete sie. "Wusste ich's doch, dass ich sie mitgenommen habe."
    "Jetzt muss ich nur noch wissen, wo die anderen Karten abgeblieben sind."
    "Alles in Ordnung, Herzog?", fragte Finn der Matrose, ihn dabei leicht von der Seite anrempelnd.
    Verdutzt glotzte Aras ihn an. "Ja! Warum denn nicht?"
    Der Mann deutete nach unten. "Was genau habt Ihr denn gesucht? Ihr suchtet doch etwas, oder nicht?"
    "Meine Seekarte von Delyveih", entgegnete Aras und präsentierte sie ihm kurz. "Zwar etwas ausgefranst und angefressen, aber noch gut genug erhalten, um sie als nützlich anzusehen."
    Skeptischen Blickes erwiderte Finn: "Wenn Ihr das sagt, wird es wohl so sein..."
    Tief brummte Aras zurück: "Man möge meinen, als Seemann verstünde man den Wert einer Seekarte..."
    Plötzlich sprang die Tür zur Kajüte auf, ein Kopf kam zum Vorschein und rief: "Essen ist fertig!"
    Wie ferngelenkt schwenkte der Matrose um, setzte ein breites Grinsen auf und rieb sich die Hände. "Endlich mal eine gute Tageszeit. Die Essenszeit!" Schnurstracks stiefelte er los und beachtete den Lord nicht weiter.
    Aras wiederum runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und beugte sich dann runter. Er stopfte seine Klamotten wieder in den Jutesack, schulterte ihn anschließend und begab sich an die Reling. Er wollte unbedingt einen dieser Äpfel erhaschen, die ihm schon die ganze Zeit über ins Auge stachen. Auf Zehenspitzen und bis zum Äußersten gestrecktem Arm, erreichte er eine Frucht und zupfte sie ab. Nach kurzem Begutachten, war er sich sicher, dass dies ein Leckerbissen sein würde. Während er sich den Apfel am Stoff sauberrubbelte, begab er sich in Richtung Kajüte. Je näher er der Tür kam, umso lauter wurden die lachenden Geräusche der hungrigen Seebären. Vermutlich genauso verfressen.
    Die Tür war recht niedrig, weshalb Zacharas seinen Kopf tief senken musste. Drinnen herrschte spärliches Licht wackelnder Öllampen. Knarzende Dielen und klapperndes Gerümpel an den Wänden, erzeugten gleich die gewisse Atmosphäre für solch einen Ort, an dem man ungern länger als nötig verweilen wollte.
    Laut klapperten die ausgemergelten Bootsmänner mit ihrem Besteck auf dem zerkratzten Holztisch umher und brüllten sich gegenseitig ihren Hunger entgegen.
    "Was gibt es denn heute?", fragte Aras in den Raum hinein, sah aber bereits angedeutet die heutige Mahlzeit auf einem der Teller. "Pökelfleisch und Sauerkraut..."
    "Und dazu ein Fläschchen Rum!", fügte Kapitän Elbert an.
    Aras machte es sich bequem, sofern man dies zwischen diesen Männern so nennen konnte, und nahm sich eine große Portion Sauerkraut aus dem Topf.
    "Kein Fleisch?", kam vom Mann neben ihm, der sich genanntes gleich aus dem Topf angelte.
    "Ich nehme lieber einen Apfel dazu", erwiderte er und präsentierte den eben draußen gepflückten. "Und etwas Brot."
    Schiefe Blicke erntete er daraufhin. "Aber Rum nehmt Ihr schon einen Schluck, oder?"
    Kurz überlegte er, schob dann aber seinen Becher zum Kapitän hin und deutete hinein. "Nur halbvoll bitte."
    "Halbvoll gibt's hier nicht!", erwiderte er und goss randvoll ein. "Ganz oder gar nicht!"
    "Herzog?", verlautete der Koch und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. "Wie kommt es überhaupt, dass Ihr nicht wie die anderen zu Fuß unterwegs seid, sondern mit dem Boot nach Delyveih reisen wollt?"
    Sich das Kinn reibend erwiderte Aras: "Ich brauchte mal Abwechslung." Dann biss er beherzt in den knackig, spritzigen Apfel und drehte sich Krautfäden auf der Gabel zurecht. "Außerdem will ich mal ans Ziel kommen, ohne große Zwischenfälle..."
    Strinrunzelnd fragte der Koch weiter nach: "Ach, ist das sonst anders?"
    "Häufig", züngelte Aras aus dem Mundwinkel und setzte ein Schmunzeln auf. "Aber ich will nicht leugnen, dass einige Zwischenfälle... recht prikelnd waren..."
    Ein tiefes Raunen ging durch die Runde und mehrdeutig anspielerische Geräusche untermalten dies. "Erzählt uns Details, Herzog!" "Handelt es von Frauen?" "Wilde Biester?"
    Doch Aras machte nur eine tilgende Handgeste und sagte augenverdrehend: "Ich schweige lieber und genieße!"
    "Herzog?", fing nun Hug an. "Könnt Ihr uns etwas vorzaubern?"
    "Wie bitte? Was?"
    "Ähm..." Er wischte mit den Händen in der Luft herum. "Uns einen kleinen Zauber präsentieren... Eine Flamme oder so..."
    "Achso... Ja, gern!" Und prompt zückte Aras seinen Zauberstab und ließ eine kleine Feuerkugel entstehen, die er mittig über dem Tisch platzierte. Neugierig wie ein kleiner Junge griff Hug in die Flamme hinein und schrie laut auf. "Herr Gott, das brennt ja wirklich!"
    Lautes Gelächter brach aus und Aras ließ die Kugel wieder verschwinden. Mit breitem Grinsen entgegnete er dem Matrosen: "Hast du etwa wirklich an meiner Magie gezweifelt?"
    Kopfschütteln. "Nnneiiin, mmmeinnn Lorrrd", stammelte er unter ständigem Pusten seiner Hand und ruckte angestengt auf seinem Stuhl herum. Im Affekt versenkte er dann die glühende Hand im Sauerkraut seines Tellers, das zwar nicht besonders kühlte, aber trotzdem den Schmerz linderte.
    Nun meldete sich auch Michel, der jüngste im Bunde, zu Wort: "Verzeiht meine törichte Frage, aber meint Ihr wirklich, die Soldatin sollte in Eurer Burg frei herumlaufen dürfen?"
    Verwundert beäugte Aras ihn und fragte provokant zurück: "Warum sollte sie es nicht dürfen?" Messer und Löffel aufgerichtet, schaute er den Burschen schief an und animierte ihn somit zum Weiterreden. Doch seine Kameraden rochen den Braten bereits und deuteten zum Themenwechsel an.
    Aber Michels Antwort kam schon: "Immerhin gehörte sie zum Feind..."
    Mit langgezogener Schnute, vollkommen verblüfft über diese Ehrlichkeit, entgegnete der Lord: "Schön, dass es sich so schnell herumgesprochen hat. Man fragt sich nur, wem dieses lose Mundwerk gehörte."
    Da hob Michel unschuldig die Hände. "Ich habe nur wiederge..." Hugs Hand konnte ihm geradeso noch den Mund zuhalten.
    Doch Aras konnte sich den Rest ergänzen. "Ist es nicht meine Angelegenheit, mit wem ich verkehren möchte?" Neugierig wartete er auf die Antwort.
    Beschämte Blicke von der Besatzung.
    "Immerhin müsst ihr ja nicht mit ihr auskommen", sprach Aras weiter und verdrehte spitzbübisch die Augen. "Zumindest noch nicht..."
    Deren Gesichtern war anzusehen, dass deren Gedanken bereits im vollen Gange waren. Und der Lord kostete es richtig aus, alle anwesenden schaudern zu lassen.
    Doch irgendwann konnte sich Michel nicht mehr zurückhalten und plautzte es heraus: "Habt Ihr etwa vor, sie fester bei Euch aufzunehmen?"
    Ein überzeugtes Nicken des Lord bestätigte es. Daraufhin stopfte sich der junge Mann ein großes Stück Pökelfleisch in den Mund. Aras beäugte ihn eine Weile, wie auch die anderen Männer ihn beobachteten. Aber nichts weiter geschah.
    "Ist das so überraschend? Verblüfft euch nun die Tatsache, dass ich eine Frau gefunden habe, die mich auch will, oder dass es explizit diese Art Frau ist?"
    Resignierender Blick des Jungen. Nachdem er sein Essen heruntergewürgt hatte, antwortete er: "Ich werde immer im Hinterkopf behalten, dass sie mal der Feind war."
    Hart schlug der Kapitän die Faust auf den Tisch und knurrte ihn an. "Bist du jetzt still!?"
    "Aber es ist doch trotzdem meine Entscheidung, wen ich lieben will", konterte Aras gelassen und steckte sich genüsslich das Sauerkraut in den Mund. Leicht schlürfend und schmatzend sprach er weiter: "Ich meine, ich würde auf nichts gegen deine Verlobte sagen, wenn sie dich zuvor hätte ermorden wollen... Immerhin ist es dein Leben und du hättest deutlich weniger zu verlieren!"
    "Mein Lord", appelierte Kapitän Elbert an ihn mit betenden Händen. "Bitte ignoriert Michels Worte... Er ist zu jung, um das zu begreifen..."
    Darauf antwortete der Junge nicht und blickte nur beschämt auf seinen Teller. Auch die anderen drei Männer bedeckten ihre Häupter und widmeten sich ihren Tellern und Krügen.
    Zacharas war aber noch lang nicht fertig mit seiner Ansage. "Ich mag mich vielleicht in den letzten Wochen charakterlich stark gewandelt haben, aber trotzdem kann ich immer noch streng sein, wo es angebracht ist. Kuen könnte meine zukünftige Gemahlin werden und somit eure Herzogin! Behaltet das mal in euren Hinterköpfen, wenn ihr versucht, Kritik gegen sie oder mich zu üben. Auch wenn ich vorhabe, keine Sklavinnen mehr zu halten, werden trotzdem im Kerker stets Plätze frei sein... Wenn weiterhin jemand etwas dazu zu sagen hat, sollte er schweigen und bitte den Raum verlassen!"
    Dann erhob sich der Bub, blickte noch einmal ringsum und ging wortlos wieder an Deck. Finn erhob sich gleich danach und verließ ebenso die Kajüte, mit den Worten: "Ich bin auf Eurer Seite, mein Herzog, darum werde ich mir den Jungen jetzt nochmal zur Brust nehmen."
    Dann brach Schweigen aus. Alle starrten sich gegenseitig an und keiner schien wirklich zu wissen, wer nun auf wen böse war oder nicht. Zacharas selbst war nicht wütend auf die Besatzung oder jemand speziellen. Aber es kränkte ihn etwas, dass stets an seinen Entscheidungen gezweifelt wurde. Sicherlich, er wusste auch nicht, ob Kuen ihm wirklich treu bleiben würde oder sie gar die Wahrheit sprach und nicht vielleicht doch noch dem Feind angehörte. Eine Spionin, darauf spezialisiert, sich heimtückisch einzunisten und so an Informationen zu kommen.
    Aber andererseits musste er ja irgendjemanden vertrauen können und müssen, um nicht paranoid zu werden. Er wusste nicht mal mehr, ob er seiner Truppe vertrauen konnte. Ob sie ihm vertrauten, ihm vielleicht sogar deren Leben anvertrauen würden. Oft genug bewies er ja in der Vergangenheit, dass er gesellschaftlich recht verdrehte Ansichten hatte. In den letzten Tagen zweifelte er immer mehr und immer stärker an sich selbst, seinen Entscheidungen und seiner Glaubwürdigkeit. Sogar in diesem Moment zweifelte er wieder an seiner Reaktion gegenüber Michel. War der Lord zu streng gewesen, zu herrisch, zu erhaben? Konnte er überhaupt alles im Leben wiedergutmachen, was er verbrochen hatte? Würde vielleicht sogar sein Tod am Ende mehr Frieden und Ruhe bringen, als er in seinem ganzen Leben versucht hatte zu erreichen?
    Viel Leid hatte er den Menschen angetan. Frauen schlecht behandelt und Männer für Taten bestraft, die andere aus Kulanz hätten ignoriert. Alleinig zu Kindern war er nicht schlecht, jedoch auch nicht überschwinglich nett. Er hatte Autorität, die ihm keiner streitig machen wollte. Aber zu welchem Preis..?

    "Also", versuchte Hug wieder ein Gespräch aufzunehmen, "ich sehe das genauso wie Ihr, mein Herzog!"
    Elbert nickte energisch. "Ja, genau! So schlecht finde ich Kuen gar nicht." Dann versuchten sie sich verkrampft etwas aus den Fingern zu saugen, während Aras sie nur skeptisch anstarrte. "Sie sieht passabel aus... und..." "Ja... ähm... Sie ist blond..." "Gut gebaut! Schöne Zähne... Nett..."
    "Hört schon auf mit euren Schleimereien", unterbrach er sie abwinkend. "Ich habe mich nun so entschieden, also müssen wir auch alle da durch..."
    Plötzlich erklangen seltsame Gesänge. Zuerst ganz leise und unscheinbar, dann immer lauter und klarer werdend. Wie Lockrufe klangen sie.
    "Was ist das?" Sie schauten sich gegenseitig an und sprachen im Chor: "Michel!"
    Sofort sprangen sie auf, ließen alles stehen und liegen und rannten an Deck. Draußen angekommen, erblickten sie Finn halb über die Reling gelehnt, wie er seine Arme angestrengt hinausstreckte. Sofort stürmten alle zu ihm hin. Doch als sie sahen, warum er in solch einer merkwürdigen Pose dort stand, schienen sie absolut gar nichts mehr zu verstehen. Michel hing draußen am Boot und hielt sich krampfhaft an Finns Arm fest. Ohne weiter drüber nachzudenken, kamen Aras und Hug ihnen zu Hilfe und zogen den Burschen wieder hinauf. Der Kapitän schaute derweil hektisch das Boot ringsum ab.
    Kaum war Michel wieder auf sicherem Boden, kauerte er sich zusammen und krallte seine Finger ins strubbige Haar.
    "Was ist passiert?" "Was waren das für Stimmen?"
    "Fischfrauen!", stammelte Michel. "Fischfrauen!"
    "Fischfrauen?", fragte Aras verwundert nach und wagte einen kurzen Blick ins Wasser. Es war aufgewühlt, was aber auch am Boot selbst liegen konnte. Ihm kam nur eines in den Sinn. "Naga? Hier? Überlebende?"
    "Michel, was genau ist passiert? Wie genau sahen sie aus?"
    Er zitterte am ganzen Körper und kauerte sich immer mehr zusammen. Winselnd und schluchzend stieß er immer wieder dieses eine Wort aus. "Fischfrauen! Fischfrauen! Nichts ist passiert... Ich blickte ins Wasser und sie schauten mich an."
    "Wie sahen sie aus? Waren es wirklich Frauen? Oder hatten sie etwas fremdartiges an sich?"
    "Frauen! Frauen!"
    "Was denn nun?", stieß Hug genervt aus. "Fische oder Frauen? Und was hattest du überhaupt dort zu suchen?"

    "Ich habe nichts gemacht, nur reingeschaut! Die haben mich überrascht und vor Schreck bin ich abgerutscht... Es waren Frauen! Defintiv Frauen!"
    "Also keine Fische?", fragte Aras nochmals explizit nach. Und Michel bestätigte es. Frauen und keine Fische. Da Aras die Besatzung ungern beunruhigen wollte, jedoch es auch nicht drauf ankommen lassen wollte, suchte er den Kapitän auf und erklärte ihm grob die Situation. Die Anspielung auf die Naga ließ Aras dabei außen vor. Doch Elbert verstand bereits, worauf er hinauswollte und beschloss, die Reise unverzüglich fortzusetzen.

    Verkrampft nahm Aras wieder Platz auf seinem Stuhl, bevor Kuen kopfschüttelnd auf ihn zu stiefelte.
    "Verräterfreundin hat er mich betitelt!", murrte sie und zeigte provokant zur Tür. "Habt Ihr gehört, wie er mich genannt hat?!"
    "Lass' doch gut sein", bewertete er abwimmelnd und lehnte seine Unterarme auf dem Tisch ab. "Es ist verständlich, dass er diesbezüglich so in Rage ist..."
    "Aber das ist noch lange kein Grund, mich mit reinzuziehen!"
    "Es ist ja nicht so, dass er keine Kritik verkraftet", meinte Aras und schob ein paar Bücher zur Tischecke. "Er hat halt nur noch keinen Weg gefunden, mit seiner Vergangenheit abzuschließen... Jeder hat mal diese Phase, an der es sich entscheidet. Dank dir, Kuen, konnte ich meine überwinden. Natürlich trugen auch Daphne und Theical ihren Teil dazu bei..."
    "Das ist mir egal, was für eine Phase er durchmachen muss! Nur weil er der körperlich Stärkste hier ist, ist er noch lange nicht berechtigt, dies jedem unter die Nase zu reiben..."
    Erstaunt blickte Aras drein. "Ach, du meinst die Oger-Sache."
    Sie nickte kräftig. "Es beleidigt mich zutiefst, wenn man den ganzen Sieg nur auf dieses eine Ereignis münzt."
    "Kuen, beruhige dich wieder." Er deutete auf die Bücher hin. Sie rubbelte sich kurz übers Gesicht und nahm sich dann die Bücher, um sie rüber zum Regal zu bringen.
    Aras sprach weiter: "Gönne es den Leuten, denn sie sehen nur das Außergewöhnliche."
    "Außergewöhnliche?!", hinterfragte sie harsch und stopfte wütend die Bücher in die freien Lücken. "So einiges war außergewöhnlich in dieser Schlacht. Habt Ihr das Gewitter bemerkt? Die Wassermagie der Prinzessin oder die Meisterschützin? Sogar Eure Tat am See war eine Erwähnung wert."
    "Kuen, ich bin mir ziemlich sicher, Daryk schmerzt es ebenso sehr, dass er nur an seinen schrecklichen Taten gemessen wird und nicht an seinen guten."
    "Schön, dass Ihr so denkt", konterte Kuen und ließ das letzte Buch in der Sammlung hart zu Boden fallen. Aras schreckte sofort rum und starrte sie verdutzt an.
    Sofort hob sie es wieder auf, rollte dabei aber mit den Augen. "Ich möchte auch mal gelobt werden. Ich möchte nicht ständig bei anderen im Schatten stehen und munter Beifall klatschen."
    "Also ich bin stolz auf deine Leistung, Kuen."
    Stöhnend entgegnete sie: "Nicht Ihr sollt mich loben, sondern die anderen."
    "Macht es so einen großen Unterschied?"
    "Für mich macht es das."
    Tief schnaufend stützte er seinen Kopf auf der Hand ab und wagte einen flüchtigen Blick zur Tür. "Ich sehe meinen Fehler ein. Ich hätte Daryk gar nicht erst dieses Angebot machen sollen. Anscheinend kann ein Fluch niemals gut enden."
    Von Kuen kam keine Reaktion darauf.
    Aras sprach weiter: "Darum werde ich ab sofort niemals wieder einen Zauber an irgendjemanden anwenden."
    Daraufhin schaute sie ihn verdutzt an, sagte aber immer noch nichts.
    "Und das Finsternispulver werde ich auch wieder einziehen."
    Nur ein hartes Naserümpfen ihrerseits.
    "Am Ende schaden sie sich doch wieder nur selbst und mir wird es vorgehalten." Mit diesen Worten erhob er sich von seinem Stuhl, ging zur Tür und trat kurz aus. Er blickte zu den Wachen, winkte sie heran und verkündete: "Wenn Daryk später wieder in die Burg will, lasst ihn einfach. Ich möchte keinen unnötigen Zwist mit ihm."
    Ohne Widerworte oder andere Anspielungen bestätigten sie nickend und bezogen wieder Stellung. Aras ging wieder in sein Zimmer und schloss die Tür. Anschließend leistete er Kuen in den Regalen Gesellschaft.
    "Herzog?", flüsterte sie zögerlich und knetete leicht die Schriftrolle in ihren Händen.
    Er betrachtete sie aus den Augenwinkeln und deutete zum Weiterreden an.
    Nach kräftigem Schlucken sprach sie weiter: "Hättet Ihr den Fluch auch bei mir angewandt, hätte ich es Euch erlaubt oder drum gebeten?"
    "Definitiv nicht!", bestätigte Aras sofort und griff beherzt nach ihrer Schriftrolle. Nach kurzem Betrachten stelle er fest, dass sie ihm völlig unwichtig war, also bugsierte er sie wieder im freien Regalfach.
    Kuen musterte ihn eingehend, versuchte seine Gesten zu deuten. Etwas betrübt schaute er drein, aber nicht wütend oder verärgert. "Warum nicht?"
    "Weil du eine Frau bist", erwiderte er trocken und zählte leise die Bücher ab. "Ich tue Frauen kein körperliches Leid an."
    Sie nickte angedeutet. "Und bei Euch selbst?"
    Da schüttelte er den Kopf und winkte ab. "Viel zu riskant! Bei mir hätte er immer die negative Wirkung."
    Stirnrunzelnd fragte sie nach: "Warum? Nicht falsch verstehen, aber ich habe Euch in der Schlacht stets besonnen und mutig erlebt."
    "Da ich die Nachteile kenne, hätte ich sie sofort reflektiert, sobald man mich verletzt hätte."
    Da lachte sie dezent. "Irgendwie kann ich das nicht glauben, Herzog."
    "Es ist ja nicht so, als hätte ich es noch nie getan", erwiderte er daraufhin. "Ich war fünfzehn, da habe ich den Fluch entdeckt. Und wie man das so als junger Bursch macht, probiert man alles an sich selbst aus."
    Skeptisch schaute die drein. "Ihr habt Euch mit fünfzehn Jahren selbst verflucht?"
    Aras nickte und erzählte weiter. "Anfangs lief alles gut, ich fühlte mich recht normal. Bis ich mich durch einen dummen Zufall am Finger geschnitten hatte... Sofort spürte ich den Schmerz und steigerte mich immer mehr hinein."
    Immer größere Augen machte Kuen und suchte Halt am nächstgelegenem Regal. "Was genau geschah?"
    "Ich sperrte mich ein und kauerte mich unter den Tisch. Einen ganzen Tag lang winselte und jammerte ich. Alles tat mir weh, ich konnte mich nicht mehr bewegen. Und ständig plagten mich grässliche Bilder..."
    "Und wie ging es aus?"
    "Irgendwann wurde ich ohnmächtig und fiel in einen tiefen Schlaf. Als ich wieder aufwachte, war bereits nächster Morgen und die Wachen hatten meine Tür eingetreten."
    Ihr stockte kurzzeitig der Atem. Beherzt griff sie sich an die Kehle und rieb sich sanft daran. "Das verstehe ich aber nicht... Warum wendet ihr dann trotzdem weiterhin diesen Fluch an, wenn er Euch selbst doch so sehr schadet?"
    "Weil er bei anderen ähnlicher Willensstärke positiv wirkt." Dies gesagt, verließ er die Regale und Kuen und ging wieder zu seinem Tisch rüber. Sie glotzte ihn nur verblüfft an, während ihre Hände ferngelenkt über die Buchrücken strichen. Aras bemerkte ihre Verwirrung und bat sie mit lockender Geste zu sich ran. Nach tiefen Durchatmen kam sie der Bitte nach und nahm auf der Tischkante Platz.
    Aras begann zu erzählen. "Ich leugne nicht, dass ich den Fluch auch gerne mal an Gefangenen angewendet habe. Meine Vermutung schien sich bestätigt zu haben, dass er die Opfer schwächt... Bis einer dabei war, der ähnlich wie Daryk keine Angst zu kennen schien. Bei ihm hatte es den umgekehrten Effekt, er wurde immer stärker dadurch."
    "Und was ist mit ihm geschehen?"
    "Nichts weiter. Ich habe den Fluch ausklingen lassen und konnte den Gefangenen wieder normal verhören."
    "Und warum habt Ihr ihn nun auf Daryk angewendet?"
    "Er kam mir stark genug vor, diese Strapazen zu überstehen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er sich mit einem Oger anlegt, oder dass Daphne keine Verfluchten heilen kann. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich den Vorschlag nicht gebracht."
    "Also Daphne ist daran garantiert nicht schuld", entgegnete sie schmollend.
    "Ich gebe ihr auch meine Schuld dafür. Das hätte mir ebenso passieren können, wäre ich der Heilmagie mächtig."
    "ich möchte auch nicht mehr, dass Ihr eure Freunde verflucht. Die setzen ihre Kräfte schließlich auch nicht gegen ihresgleichen ein..." Kurz unterbrach sie sich selbst, fügte dann aber an: "Außer natürlich Daphnes heilende Magie. Die ist ja schließlich gut für uns..."
    "Kuen", sprach er und nahm ihre Hand, "keine Magie ist gänzlich gut oder böse. Ich hätte ebenso gut Thyra mit einem Feuerball treffen können, oder Theical wäre in einen meiner Schattenblitze gelaufen. Dann wären sie mir diesbezüglich böse gewesen. Es kann alles passieren. Ebenso hätte Jaris mich mit einem Blitz treffen können."
    "Aber es ist nicht passiert", widersprach sie und schlug sanft ergriffene Hand auf den Tisch. "Immer passiert den anderen etwas wegen Eurer Magie. Und das macht mich traurig. Ich weiß, dass Ihr es nicht böse meintet, ihr es Daryk nicht wünschtet. Aber ständig habt Ihr das Pech."

    ***

    Am nächsten Tag war der große Abschied. Die Nordmänner reisten wieder ab. Da durfte der Lord natürlich nicht fehlen. Zusammen mit Kuen bedankte er sich nochmal bei allen, besonders bei Yorick, Arthur und Thorvid. Seiner Truppe dankte er auch für die großzügige Hilfe, was sie ihm auch mit dezent freundlichen Blicken wiedergaben. Nur mit Daryk fühlt er sich noch nicht so recht verbunden, weshalb er ihn auch keine Worte schenkte, aus Angst, wieder etwas Falsches zu sagen.
    Als Daphne ihr Pferd holte und verkündete, auch nach Delyveih zu reisen, wollten natürlich auch die anderen gleich mitkommen. Aber Zacharas dankte ab. Seine Gründe waren diesmal wirklich berechtigt. Der verachtende Blick Daryks hatte damit aber nichts zu tun. Dem Lord war bewusst, dass der Ogerschlächter auf der Reise über ihn herziehen könnte. Jedoch wollte und konnte Aras dies nicht verhindern. Der Abschied war kurz und ohne viele Worte. Kuen hielt sich auch zurück, was ihr aber sichtlich schwerfiel.

    ***

    Ein paar Tage später abends saß Aras wieder im Schlafzimmer auf seinem Stuhl und las sich nochmals sein Geschriebenes durch. Ein Brief an die Elfen, in welchem er ihnen nochmals nachträglich seinen Dank verkündete. Zacharas wusste nicht, ob er persönlich nochmal dort vorbeikam, darum wollte er den Brief am Folgetag mit einem Boten verschicken lassen.
    Viel dachte der Lord in den letzten Tagen über alles nach, was ihm und Kuen vorgeworfen wurde. Sprach aus Daryk noch der Fluch? Oder waren es seine wahren Empfindungen?
    Aras konnte es nicht leugnen, dass er von Daryk nie sehr viel hielt. Auch nun zweifelte er an seiner Entscheidung, sich beim Hünen entschuldigt zu haben. Sicherlich war die Entschuldigung ehrlich gemeint und auch nötig. Jedoch befürchtete er, dass dies mit der Fluch-Aktion verspielt worden war.
    Zacharas wollte Daryk nie damit schädigen oder ihm das Leben erschweren. Ebenso wenig wollte er damit Daphne beunruhigen oder gegen sich aufhetzen. Es war nie so geplant vom Lord und trotzdem war es nun geschehen.

    Kuen lag derweilen in ihrem Bett und starrte die Decke an. Ein weißes Nachthemd trug sie, welches Zacharas ihr neu gekauft hatte. Sonst hatte er nur Damenbekleidung verschiedener Frauen, mitunter einiger Sklavinnen. Er lag immer viel Wert darauf, dass sie ordentlich eingekleidet waren, sofern er sie nicht unbekleidet herumlaufen ließ.
    Mit Schmuck hätte er auch bieten können, doch lehne Kuen dies vorerst ab. Seine Reichtümer wollte sie nie. Weder gestohlen, gekauft oder geschenkt.
    "Wann wollt Ihr morgen los?", fragte sie in die Stille des Raumes.
    Kurz hielt er inne und drehte sich anschließend zu ihr um. "Gegen Mittag vermutlich."
    Ein flüchtiger Blick von ihr mit nach hinten gestreckten Kopf, gefolgt von einem leichten Schmunzeln.
    Aras schmunzelte zurück. Freute er sich so sehr darüber, Kuen bei sich zu haben. Sein Schriftstück legte er sogar für einen Moment nieder, was wahrlich zeigte, dass sie ihm mehr bedeutete als alles andere.
    Doch ihre Geste war nur von kurzer Dauer. Wieder starrte sie nach oben und zog sich die flauschige Decke mehr zum Hals hoch.
    Sie gähnte und schmatzte provokativ laut, schniefte kurz und räusperte sich.
    Aras reagierte nicht drauf, sondern wandte sich wieder dem Schriftstück zu. Er wusste, dass sie nicht müde war, sondern sich nur profilieren wollte, um ihn aus der Reserve zu locken. Auch wenn er sich grundlegend geändert hatte und auch fortführend ändern wollte, ließ er sich diesbezüglich nicht so schnell auf einen Kompromiss ein.
    Kaum setzte er wieder die Feder an, redete sie weiter: "Und wann seid Ihr wieder zurück?"
    Er setzte ab, verharrte erneut und ließ sich wieder dazu hinreißen, die Feder beiseite zu legen.
    Und sie sagte weiter: "Nur, um grob abschätzen zu können, ab wann ich mir Sorgen machen sollte." Ein Grinsen konnte sie sich nicht verkneifen.
    "Mache dir meinetwegen keine Sorgen, Kuen." Er erhob sich und ging zu seinem Bett rüber, das nur zwei Meter neben ihrem stand. Leicht schüttelte er das Kissen auf und schob die Decke etwas zur Seite, um sich auf die Bettkante zu setzen. Seine Sandalen ausziehend sprach er weiter: "Bisher bin ich immer lebendig nachhause gekommen."
    "Ach wirklich?", spöttelte sie frech und drehte ihren Kopf zu ihm. "Das hätte ich nun nicht erwartet."
    Nur aus den oberen Augenwinkeln betrachtete er sie daraufhin skeptisch. "Ich muss eh nochmal mit dir Reden bezüglich morgen reden, Kuen." Anschließend nahm er im Bett Platz und warf sich die Decke über.
    "Ihr meint, ob ich Euch verlassen werde?", fragte sie und stützte sich seitlich auf dem Kissen ab. "Wenn ich niemals innigere Nähe zu Euch wollte und mich einfach davonstehle?"
    "Natürlich kann ich dich hier nicht festhalten..."
    "Ihr wisst, ich gelte in Bornholds Reich als vogelfrei. Ich kann nirgendwo sonst hin."
    "Das ist mir bewusst. Dennoch weiß ich nicht, ob ich dir wirklich in diesem Maße vertrauen kann."
    "Liebt Ihr mich nur, weil ihr wieder zaubern könnt, oder auch generell?"
    "Schwer zu beantworten... Einerseits trug dein Kuss viel dazu bei. Andererseits hätte ich mich vermutlich auch so in dich verliebt."
    "ich weiß nicht, ob mir das als Antwort reicht..."
    "Eines ist sicher", führte er fort und richtete sich erneut auf, "ich werde dich solange lieben, bis du mich wirklich verrätst..."
    "Keine Sorge, das werde ich nicht."
    "Warum denkst du das?", hinterfragte er interessiert.
    "Ich verspreche Euch, ich werde hier auf Euch warten..." Dann grinste sie ihn frech an. "Unter einigen Bedingungen."
    Skeptisch war sein Blick auf sie gerichtet. "Und die wären?"
    Mit spitzen Lippen und verträumten Blick sagte sie: "Bleibt bitte so, wie Ihr nun seid."
    Er schänkte ihr ein Lächeln und nickte. "Ich werde mich bemühen, dies einzuhalten..."
    "Nicht nur bemühen, Herzog!", ermahnte sie ihn im freundlichen Ton. "Ihr werdet es tun! Keine Diskussion!"
    "Ja, ist doch gut. Ich werde es tun."

    "Desweiteren verlange ich, dass Ihr nie wieder Eure Magie an mir anwendet!"
    "Hätte ich es nicht getan, wärst du jetzt tot."
    "Ihr wisst, wie ich das meine... Und zu guter Letzt verlange ich, dass Ihr mir ein neckisches Geschenk mitbringt, bei Eurer Heimkehr."
    "Da ich vermute, dass meine Heimkehr in einem Stück und als ganzer Mann dies nicht erfüllen mag, ziehe ich in Betracht, dir ein materielles Geschenk mitzubringen."
    Sie bestätigte es kopfnickend.
    "Aber ich habe auch einige Bitten an dich", entgegnete nun Aras. "Duze mich in Zukunft. Wir sind schon lange über die nur Bekanntschaft hinaus."
    "Gut, wenn Ihr... du es wünschst..."
    "Bitte bleibe mir treu in meiner Abwesenheit."
    "Das kann ich nicht versprechen", gab sie sofort zurück und kniff verschmitzt die Augen zusammen. "Ihr... du kannst es eh nicht kontrollieren, was ich in deiner Abwesenheit alles mache."
    Gespielt mürrisch kniff er ebenfalls die Augen zusammen. "Natürlich kann ich das nicht kontrollieren. Aber ich brauche dich. Ich will nicht noch einmal von einer Frau enttäuscht werden."
    "Ja, ich werde mir Mühe geben, dir treu zu bleiben."
    "Und bitte setze dich nie wieder ohne meine Erlaubnis auf meinen Thron."
    Unschuldig hob sie ihre Hände und verdrehte hart die Augen. "Ich dachte halt, ich wär allein..."
    Ein skeptischer, aber nicht ernst gemeinter Blick von ihm.
    Was sie nur konterte mit: "Und außerdem war ich erschöpft vom vielen Gelaufe."
    "Gute Nacht, Kuen."
    "Gute Nacht, Herzog."
    Gerade wollte er die Augen zumachen, da ertönte wieder ihre Stimme: "Und ich soll wirklich nicht mitkommen?"
    Ein letztes Aufstöhnen seinerseits. "Nein! Du bleibst hier und behältst den Wiederaufbau der Stadt im Auge."
    Anschließend herrschte wirklich Ruhe und beide schliefen gemütlich ein.

    In der Ferne erblickte Aras eine große Menschenansammlung, die sich schleppend zur Westmauer begab. Es waren einfache Bürger. Frauen und Kinder, die ziellos umherirrten. Die wenigen Wachen in der Nähe schienen nicht aufschließen zu können, um sie alle zu beschützen.
    "Ich muss dort hin!", meinte Aras und zeigte in gemeinte Richtung.
    "Seht, der See!", rief Kuen mit weit aufgerissenen Augen. "Unruhiges Wasser ist nie ein gutes Zeichen!"
    Sofort schwenkte Aras zu Daphne um, doch sie zuckte mit den Schultern. "So weit reicht meine Magie nicht."
    "Selbst wenn dort der Feind ist, kommt er nicht weit", warf Jaris ein. Daryk bestätigte es. "Bevor die den See überquert haben, sind die schon längst tot."
    "Aber die Boote", meinte Aras weiter. "Die Leute sind auf dem See ungeschützt!"
    "Zacharas hat vermutlich recht", fügte Kuen an. "Egal, was sich dort befindet, es wird kein Boot passieren lassen."
    Aras wandte sich wieder Daphne zu. "Willst du mitkommen zum See? Vielleicht kannst du dort mit aushelfen."
    Kurz grübelte sie und stimmte ihm dann zu. Gemeinsam entfernten sie sich von der Zinne und suchten die nächste Treppe auf. Aber Kuen stellte sich ihnen in den Weg. "Ihr wollt euch mutwillig in Gefahr begeben. Das kann ich nicht zulassen!"
    Energisch deutete Aras auf den See und drängte sie etwas zur Seite. Doch sie blieb hartnäckig und versperrte ihnen weiterhin den Weg. "Ich komme mit euch! Ich habe geschworen, Zacharas zu beschützen!"
    "Es ist zu gefährlich für dich, Kuen..."
    "Ihr tragt keinerlei Rüstung und habt keinerlei Nahkampferfahrung", konterte sie ihm mit aufgedrücktem Finger. "Ich will helfen wo ich nur kann. Hier oben auf der Mauer kann ich nichts bewirken."
    Schnaufend senkte er den Kopf.
    Daphne lenkte ein: "Gut, dann komm mit."
    Fröhlich grinsend ließ sich Kuen das nicht zweimal sagen, setzte sich den Helm auf und folgte ihnen die Treppe hinunter. Mit sicherem Geleit gingen die drei mit ein paar weiteren Wachen zum westlichsten Torhaus auf der Anhöhe. Es war der kürzeste und sicherste Weg zum See. Und wie Aras es von der Mauer aus gesehen hatte, schien der westliche Teil der Unterstadt noch halbwegs sicher zu sein.

    Kaum betraten sie die Unterstadt, huschten schon die ersten feindlichen Soldaten aus der nächsten Straßenecker hervor. Ein gezielter Treffer und der erste flog im hohen Bogen durch die Luft und landete unsanft auf einem unbestimmten Häuserdach. Kuen zückte ihr Schwert, doch waren Daphne und Aras schneller und sendeten bereits ihre Magiefertigkeiten gegen die anstürmenden Meuterer. Feuerbälle zum Abfackeln und Wasserstränge zum Löschen, Herumwirbeln und Wegstoßen. Wild flogen Daphnes Arme umher und schlugen die Peitschen flüssigem Nass um sich. Vom Burgwall zischten Pfeile hinab und dezimierten weitere Soldaten. Kaum einer kam auch nur näher als fünf Meter, was Kuen etwas kränkte. Es war ihr anzusehen, dass sie sich leicht überflüssig fühlte, zwischen diesen beiden Magiekundigen.
    Und Aras fiel nichts Besseres in den Sinn, als die Frage: "Was für eine Torte sie wohl haben wollen?"
    "Wie bitte?", hallte es kurz von beiden Damen zu ihm hindurch, gefolgt von verdutzten Gesichtern.
    "Für die Hochzeit von Thyra und Jaris", meinte Aras weiter und schleuderte im gleichen Atemzug weitere Feuerbälle und Schockzauber auf die Gegner ein.
    "Wir befinden uns in einem Kampf und Ihr denkt über die Hochzeitsfeier nach?", warf Kuen ein und wollte ihm angedeutet mit dem Schild auf den Hinterkopf schlagen.
    "Wann denn sonst, wenn nicht jetzt?", konterte er zurück und elektrisierte im gleichen Atemzug ein paar Soldaten, deren Köpfe Daphne mit ihren Tentakeln zusammenstoßen ließ.
    Aras kam die Eingebung wie gerufen: "Kirsch-Erdbeere fände ich gut, mit schön viel aufgeschlagener Sahnebutter."
    "Keine Ahnung, was Ihr von uns wollt", warf Kuen völlig perplex ein und wagte sich nun etwas offensiver voran.
    "Sommerliche Blumengestecke mit bunten Schleifen verziert", sprach der Lord weiter und lenkte sich mit ein paar Schattenblitzen ab. Das viele Grübeln über die Hochzeitsfeier strengte seinen Kopf recht stark an.
    "Sonnenblumen!", erwiderte Daphne prompt, als sie kurz von der Namensgeberin geblendet wurde. "Und mal wieder anständige Kleidung. Einmal wieder sauber und ordentlich aussehen!"
    "Kuen, was meinst du dazu?", fragte Aras interessiert und schenkte ihr kurz einen Augenblick. Kuen dagegen zuckte nur mit den Schultern und stach nebenher die Männer einzeln ab. Mit dem großen Schild parrierte sie die wenigen Schläge der Angreifer, welche selbst schon extrem erschöpft wirkten.
    "Welchen Raum nehme ich nur dafür?", murmelte Aras vor sich hin und versank kurz tiefer in Gedanken. Während er reihum Sachen in die Luft sprengte und Schockzauber verteilte, nebenher noch Daphnes Wassermagie mit Blitzen unterstützte, fiel sein Blick auf die Ymilburg, die unter ständiger Belagerung stand. Ein Seufzen entglitt ihm, was er aber mit Schulterzucken beantwortete. "Es wird sich schon ein geeignetes Plätzchen dafür finden."
    "Die Burg scheidet erstmal aus", erwiderte Daphne grinsend.
    Aras nickte bestätigend. "Zur Not veranstalten wir das Fest auf dem Anger."
    "Zacharas, ich wollte Euch schon des Öfteren fragen", fing Kuen ein neues Thema an, "was es mit diesem Amulett auf sich hat, das Ihr ständig bei Euch habt."
    Verdutzt schauten sich Daphne und Aras kurz an, schwiegen aber dazu.
    "Es ist kein Andenken an Engel oder sonst jemanden, soviel weiß ich bereits..."
    "Nun ja", ließ sich Aras nun doch zu einer Antwort erweichen, "das ist ein Geisteramulett."
    "Was ist das?", hinterfragte Kuen skeptisch des Lords kryptenhafte Äußerung und ließ ihren Unmut über diese Verwirrung gleich am nächstbesten Feind aus.
    "Damit kann man einen Geist rufen. Du sagst laut seinen Namen und er kommt vermutlich."
    "Und wie heißt der Geist?", fragte Kuen weiter.
    Mit Räuspern erwiderte er leise: "Acrylon."
    "Ihr habt genuschelt!", erwiderte seine Geliebte und fing an frech zu lachen. "Sprecht etwas lauter und deutlicher..."
    Da musste auch Daphne kurz lachen, was die Gegner so hart irritierte, dass sie nur dumm wie Ölgötzen dastanden.
    "Rebhuhn an Birnensoße und dazu Kräuterbrot", schlug Daphne ein Gericht für die Hochzeit vor und schmatzte angedeutet.
    "Wildschweinsbraten mit Pellkartoffeln und Krautsalat!", gab auch Kuen nun einen Einfall von sich.

    Schritt für Schritt kämpften sie sich durch die Straßen und Gassen, redeten weiter über die Hochzeit und andere organisatorische Dinge. Sogar einigen Feinden war dieses Gerede etwas suspekt, was sie weiterführend sogar aus deren Konzept brachte. Umso leichteres Spiel hatten die drei dann und Kuen bekam auch noch ettliche Gegner ab. Irgendwann erreichten sie dann die Menschenmenge, die schon vom Weiten den dreien zujubelte und mit Eifer um Rettung erbat. Konnten die verblieben Wachen um sie herum nur wenig Schutz bieten, während die äußeren Reihen der Bauern und Bäuerinnen sich mit Mistgabeln und Schaufeln zusätzlich den Angreifern zur Wehr setzten.

    Erst als die Drei das Gedränge komplett erreichten, sahen sie, was das Problem war. Zwischen ihnen und dem Tor schnitten mehrere Reihen feindlicher Schwertkämpfer ihnen den Weg ab. Die Bogenschützen auf den Wällen hatten schon die ganze Zeit auf sie geschossen, konnten jedoch nur wenig gegen deren Rüstungen ausrichten. Selbst hinuntergeworfene Steine und Speere konnten nicht viel ausrichten.
    Aras visierte an und fegte mit einem Wisch die ersten Zwanzig hinfort, während Daphne einige andere mit Wasserspeeren bewarf. Kuen blieb etwas im Hintergrund und passte nur auf, dass sich keiner zu weit vortraute. Gemeinsam schafften sie es dann mit wenigen Verlusten die Schwertkämpfer vorerst in die Flucht zu schlagen und somit den Weg zum Tor freizuräumen.
    "Öffnet das Tor!", schrie Kuen den Wall hinauf und stampfte nebenher nördlich der Bürgermeute umher, vereinzelte Angreifer aus der Nebenstraße überwältigend und zurückdrängend.
    Aras begab sich an das hintere Ende und beschäftigte dort die Gegnermassen mit seinen Feuerbällen und Schockzaubern. Und Daphne sicherte den südlichen Teil mit ihrer Magie ab. Nahezu sekündlich rief Aras eine Salve magischer Geschosse hervor und schleuderte sie den Angreifern entgegen.
    "Fruchtpudding für die Kinder", stammelte er vor sich hin, verschwendete dabei keinen Blick zum Tor. Er musste sich voll und ganz auf die Soldaten fixieren, die garantiert sehr erpicht drauf waren, den Lord zu erhaschen. Aras wusste, dass seine Aktion mitten im Getümmel riskant war. Aber er war kein Feigling, er brauchte die Herausforderung! Er vertraute seiner und Daphnes Magie, wie auch dem Geschick Kuens. Die anderen hatten schon genug vollbracht, während Aras nur zusehen und bangen konnte. Sicherlich, ein paar Soldaten und Bogenschützen hatte er auch zur Strecke gebracht. Dennoch schien sein Einsatz in Anbetracht der nahezu wundersamen Taten seiner Truppe noch zu gering.
    Mit Drängen und Quetschen rannten die Bürger aus der Stadt und verstreuten sich am Ufer in alle Richtungen. Aras und Kuen waren die letzten beiden, die das Tor passierten, bevor das Gatter wieder heruntergelassen wurde.
    Sie erreichten das Seeufer, doch es war bereits geschehen. Viele der Boote waren schon unterwegs zum anderen Ufer und befanden sich mittig des Sees. Deutlich konnte Aras erkennen, wie das Wasser immer unruhiger um den Booten herum wurde. Beinahe ein Strudel entstand, der alles einfing.
    Sofort stürmten sie zum nächsten freien Boot und banden es los. Im Schlepptau waren weitere Flüchtlinge, aber Aras scheuchte sie hinfort. "Bleibt am Ufer und wartet! Wir müssen den anderen helfen!"
    Die Meute war in Panik und wollte nicht auf Aras hören. Die Boote wurden überbesetzt und ebenfalls losgebunden. Mehr als Worte wollte und konnte der Lord seinem Volk nicht entgegenbringen. Nun noch die Magie gegen sie einzusetzen, um sie daran zu hindern, die Stege zu verlassen, wäre falsch gewesen. Aber was war falscher? Die Bürger der vermeintlichen Gefahr auf dem See oder an Land auszusetzen? Er wollte keine Boote zerstören und vermutlich dadurch noch mehr Schaden anrichten als unbedingt nötig. Er ließ sie rudern und schnappte sich eines der Paddel. Kuen und Daphne taten es ihm gleich und ruderten so kräftig sie konnten. Kuens verdutzter Blick zeugte davon, dass sie noch immer nicht verstanden hatte, was Aras vermutete und fragte nochmal nach: "Warum wollt Ihr die Stadt verlassen?"
    "Ich will nicht die Stadt verlassen. Dort draußen sind Naga!"
    "Nager?", fragte Kuen verwundert nach. "Was ist so schlimm an Bibern?"
    "Keine Nager", korrigierte Daphne sie und lehnte sich noch mehr ins Paddel.
    "Schlangenwesen mit menschlichem Oberkörper", erklärte Aras, hielt währenddessen immer ein Auge auf die Seemitte und eines auf die unmittelbare Umgebung des Bootes. "In der Wüste sind wir mal welchen begegnet. Sie stammen wohl aus der südlichen Wüstengegend."
    "Aber was machen die bei uns im Wasser?", fragte Kuen entsetzt nach und ruderte immer schneller. "Die müssen wirklich keine Skrupel haben, wenn die sogar aus der Wüste hierherkommen."
    "Auch wenn die aus der Wüste kommen, können die ebenso im Wasser leben. Und ich muss dir recht geben, Kuen. Sie sind tatsächlich sehr gefährlich."
    "Und wenn es nur Fische sind..?"
    Aras schüttelte den Kopf und legte kurz das Paddel beiseite, damit er sich mehr auf den See konzentrieren konnte. Und plötzlich erblickte er etwas kurz die Seeoberfläche streifend. Eine Flosse oder ähnliches. Aber viel zu groß für einen Fisch.
    "Zesnar liegt südlich der Daris-Wüste und wie ich Bornhold einschätze, ist er ein mächtiger Mann. Wenn er schon Oger unter seine Fittiche nehmen konnte, warum nicht auch Wassermonster oder gar geflügelte Bestien?"
    Und dann geschah es...
    Die vordersten Boote wurden urplötzlich zum Kentern gebracht. Viel konnten Aras, Daphne und Kuen noch nicht erkennen, aber es lauerte tatsächlich etwas im Wasser, das seiner Beschreibung nahekam. Laute Schreie ertönten, Hilferufe und aufwühlendes, plätscherndes Wasser. Der Strudel erfasste ihr Boot, sie kamen gegen die Strömung nicht an. Daphne wollte sofort mithilfe ihrer Magie gegensteuern, doch Aras ermahnte sie im ruhigen Ton: "Lass uns ruhig vom Sog erwischen und schneller in die Mitte treiben."
    "Das könnte turbulent werden, Aras. Ich kenne mich mit solchen Ereignissen aus..."
    "Das ist kein natürlicher Sog und das weißt du auch..."
    Wieder wurde ein Boot umgeworfen, überall flogen Holzsplitter und Menschen herum. Dann linste ein Kopf aus dem Wasser, direkt neben Aras. Kiemen und Schlangenaugen, wie auch schuppige Ansätze und eine mit Stacheln versehene Rückenflosse, die sich bis hinauf zum Schädel zog. Messerscharfe Reißzähne fauchten Aras an. Reflexartig schleuderte der Magier dem Wesen einen Blitz entgegen, woraufhin es einen gewaltigen Satz nach hinten machte und davon schwamm. Viel Wasser wühlte es dabei auf und schnellte zu einem anderen Boot hin, um dessen Insassen in Angst zu versetzen. Was in der Ferne mit den anderen Booten geschah, mussten sie ausblenden, denn es zeigte nur Schreckliches.
    Daphne stand auch schon bereit und ballte ihre Magie in Form von einem großen Wasserbogen, der sich steuerbordseitig über den Kahn ins Wasser erstrecke. Kuen hörte auf zu paddeln. Sie war so erschöpft, in voller Rüstung kein Wunder. Während das Boot weiter davon trieb, entledigte sie sich erstmal von Helm, Schwert und Schild, um kräftig durchzuatmen.
    Doch wurde ihr keine Pause gegönnt, denn schon kamen mehr Naga auf sie zu. Umzingelt von geschätzt zwanzig Schlangenwesen wussten sie nur einen Ausweg. Aras machte sich bereit, nahm Defensivhaltung an und provozierte die Angreifer mit vereinzelten Schüssen aufs Wasser. Daphne schlängelte den Bogen langsam um den Kahn, um somit einen eigenen kleinen Strudel zu erzeugen, der es den Schlangenwesen erschweren sollte, die Reling zu erklimmen.
    Kaum griff Kuen wieder nach ihrem Schwert, attackierten die Naga das Boot. Mit hechteten Sprüngen schossen sie pfeilartig aus dem Wasser, ihre Klauen und Holzspeere voran, und stürzten sich auf sie. Was von Daphnes Wassertentakel nicht erfasst wurde, wurde sofort von Aras' Zaubern erwischt und wieder ins Wasser getrieben. Zeitgleich wehrte Kuen andere ab und rammte dem erstbesten Naga ihr Schwert in die Brust. Mit gekonnter Drehung schnitt sie ihn entzwei und erwischte gleich noch den nächsten. Sofort schnippte Aras' Hand nach hinten und verpasste den nächsten beiden Schlangen einen Blitzschlag. Gemeinsam kombinierten sie ihre Fähigkeiten. Zacharas erzeugte nun auch einen Feuerbogen, ließ ihn ebenso um das Boot kreisen -jedoch um einiges schneller- und verdrillte beide Elemente ineinander. Während der Kahn immer stärker vom Strudel in Rotation versetzt wurde, stellte sie Kuen nun einfach an die Reling und schlug auf die Naga ein, die es auch nur wagten, ihren Körper aus dem Wasser zu strecken.
    Allmählich erschöpfte Daphne und ihre Wassertentakel riss ab. Aras war sofort zur Stelle und stellte sich mehr mittig, um der Wassermagierin mehr Schutz zu bieten, um sich zu erholen. Ihm war bewusst, dass er selbst auch nicht mehr lange durchhalten würde. Er musste sich etwas einfallen lassen, denn die brennenden Protuberanzen zehrten viel seiner Kraft auf.
    "Kuen, richte deinen Schild über Daphne aus", rief er schnell und bewegte sich ebenso zu ihr rüber. Ohne Zögern kam sie seiner Aufforderung nach und kauerte sich über ihr zusammen. Dann ließ Aras die Feuerstränge los und zielte auf die Steuerbordseite. Kaum wollten die Naga dort auf sie zu springen, schleuderte er ihnen eine Druckwelle entgegen, woraufhin sie wiedermals im hohen Bogen hinfort katapultiert wurden. Die Holzsplitter und andere Utensilien, die ebenfalls durch die Luft gewirbelt wurden, ließ der Meistermagier sofort gegen sie prallen, um sie zu durchlöchern.
    Er hätte noch viel mehr mit ihnen angestellt, doch schon kamen weitere von der anderen Seite und überwältigten das Trio. Sie drohten sie unter ihren Körpermaßen zu erdrücken, doch Aras' nächster Zauberspruch war bereits zur Stelle und schleuderte alle samt in die Höhe. Die Wucht war so gewaltig, dass das Boot ein gutes Stück hinabsank, um nur Sekunden später wieder aufzusteigen. Weitere Naga folgten, vereinzelt, welche leichter abgewehrt werden konnten. Kuen rappelte sich wieder auf und kämpfte weiter. Den Schild ließ sie Daphne zum Schutz da.
    Waffenhiebe hier, Magie dort. Ein nicht endender Strom aus Naga ereilte sie. Zurückgeschleuderte besannen sich erneut und griffen wieder an, selbst die Kopflosen und anderen Toten zuckten noch vor sich hin und schlugen mit ihren Klauen um sich.
    Nur wenige Augenblicke richtete Aras gen Westen, zu den anderen Booten. Sie schienen freie Bahn zu haben. Aber dann erkannte er, warum dies so war. Alle Naga hatten es nun auf den Lord abgesehen. Als hätten sie gewusst, dass er sich ihnen persönlich annehmen wollen würde.
    Noch eine ganze Weile kämpften sie Seite an Seite gegen die nicht gerade intelligent wirkenden Monster, doch sollten sie sich mächtig geirrt haben. Plötzlich krachte es gewaltig und die Holzdielen unter sich gaben nach. Regelrecht zerfetzt wurde der Kahn. Weit hinauf wurde alles gerissen. Aras, Kuen, Daphne, Trümmerteile, Körperfetzen, Wassermassen und unzählige Naga. Wie eine gewaltige Fontäne schossen sie empor und rissen alles mit sich.
    Instinktiv versetze Zacharas seine Geliebte in Levitation und fing ihren Fall ab.
    Kuen war außer sich und schrie im Wahn: "Acrylon, Acrylon!"
    Aras realisiert es erst nicht, er war zu sehr auf sie fixiert. Doch plötzlich schoss ein greller Strahl aus seiner Brust heraus, zuchfetzte seine Robe und ließ das Amulett wie von Geisterhand herauswedeln. Noch im Fall erkannte er, was Kuen getan hatte und versuchte wenigstens noch ihres und Daphne Fall zu entschleunigen. In der Luft manifestierte sich der grelle Nebel zum Acrylon, ungeheur mächtig und gewaltig! Seine vier Arme mit den vier Säbeln brachten sich sofort über seiner linken Schulter in Stellung und zeichneten einen großen Halbkreis unter sich.
    "Welcher Tölpel hat mich gerufen?!", schrie er mit tiefer, finsterer Stimme und die Säbel schnitten alle samt durchs Wasser, erzeugten eine gigantische Fontäne -beruhend auf den harten Einschlag- und rissen die Wasseroberfläche mit sich. Alle Naga, die sich zuvor im Bereich des Bootes aufhielten, wurden von den Säbeln erfasst, filetiert und scheibchenweise in der Luft verteilt. Wie ein Felsen krachte er in den See und erzeugte eine drei Meter hohe Welle, die sich ringförmig ausbreitete. Aras klatschte nur wenige Momente später auf. Ungeheure Schmerzen plagten ihn sofort, die er aber versuchte zu ignorieren. Gebrochene Knochen und harte Prellungen waren nicht auszuschließen, dennoch hielt er den Schmerzen stand und sandte seine ganze Konzentration weiterhin auf die Damen. Wenigstens Kuen wollte er ans sichere Ufer transportieren. Daphnes Fall war leider nicht aufzuhalten, aber er versuchte ihn bestenfalls zu verlangsamen.
    Laut kreischte seine Geliebte, fluchte und winselte. Sie hatte ihm schon oft gesagt, dass sie ungern von Magie berührt werden wollte. Umso heftiger reagierte sie nun, von seiner levitierenden Kraft gesteuert zu werden.

    "Ich habe geschworen, Euch zu beschützen!", erwiderte Kuen und kniete ehrfürchtig vor ihm nieder. Aras gefiel ihre Einstellung. Jedoch nicht ihre Haltung.
    Mit kurzem Handzeichen deutete er ihr an, sich wieder zu erheben. "Du brauchst nicht vor mir knien, um mir deine Treue zu beweisen, Kuen."
    Sie kniete weiter und verneigte noch tiefer ihren Kopf. "Es ist das Zeichen von Respekt und Treue Euch als Herzog gegenüber." Dann blickte sie kurz auf und schenkte ihm ein Lächeln. "Respekt und Treue Euch als Mann gegenüber werde ich in der Schlacht zu jeder freien Minute zollen."
    Er lächelte spontan zurück und reichte ihr die Hand. Ohne weitere Worte kam sie seiner Bitte nach und erhob sich wieder, um sich anschließend sanft von ihm umklammern zu lassen. Brust an Brust blickten sie sich in die Augen und schwiegen. Nur sie zwei und die Stille des Raumes waren anwesend. Doch die Betrübtheit ereilte Aras schnell wieder. "Ich möchte nicht, dass dir etwas geschieht..."
    "Das möchte ich ebensowenig für Euch", gab sie zurück und schaute verlegen weg. "Liebt mich als Frau und nicht als Kriegerin. Dies kommt unser beider Sehnsüchte nach."
    Kurz kehrte er in sich, dachte über ihre Worte nach und ließ sich zu einem Bekenntnis hinreißen: "Ich will nicht schon wieder eine Frau verlieren, die mir etwas bedeutet..."
    "Ich verstehe Eure Sorge um mich", erwiderte sie seufzend, legte ihm dann aber die Hand auf die Brust. "Jedoch habe ich mich dafür entschieden, Zacharas."
    Reuend, sie so schnell in sein Herz geschlossen zu haben, entgegnete er es mit dezenter Abweisung und stieß sie vorsichtig von sich weg. Sie bemerkte sein Unbehagen, wie auch den Ernst darin, gab sich aber mit dieser ausweichenden Geste nicht zufrieden. Zögerlich suchte ihre Hand die seine, beider Finger griffen ineinander und Kuen zog sich erneut an ihn heran. Sein Blick blieb abgewandt, ihrer dagegen suchend.
    "Ihr könnt nun wieder zaubern. Nutzt dies weise und beschützt das Leben derer, die ebenso Eures schützen wollen."
    "Ich sah dich sterben, letzte Nacht in meinen Träumen... Sterben, durch die Hand des Feindes... Ich konnte dich nicht retten..."
    "Ich sah dasselbe für Euch, Zacharas... Doch sind es nur Träume. Mich selbst habe ich oft genug im Traum sterben sehen, jedoch nahm ich es nie wirklich ernst."
    Kopfschüttelnd erwiderte er: "Ich nehme es auch nicht ganz ernst, dennoch besteht die Möglichkeit, dass..."
    Mit auf seine Lippen gepressten Zeigefinger unterbrach sie ihn und setzte selbst an. "Sollte ich in der Schlacht fallen, fällt die Soldatin in mir. Doch die Frau bleibt unversehrt. Die Frau, die Euch die Treue geschworen hat."
    Er nickte nur zustimmend.
    "Lieber sterbe ich für einen guten Freund als für einen Herzog", erwiderte sie leicht erbost, kleine Kräuselfalten auf der Stirn unterstützten es. Dennoch zeugte ihr Gesicht von Nachgiebigkeit. "Aber ziehe ich es vor, überhaupt nicht zu sterben..." Zärtlich schmiegte sie sich an ihn und legte ihre Arme um seinen Hals, um ihm Kraft und Trost zu spenden. Dankend dafür, griff seine Hand in ihr weiches Haar und drückte sanft ihren Kopf an seinen.
    "Habt Vertrauen!", sprach sie. "Wir werden siegen, das verspreche ich Euch... Mögen wir noch so große Verluste zählen und mögen wir noch größere Qualen erleiden, am Ende ist es der Glaube, der Siegt!"
    "Kuen, wenn ich bereits wüsste, es würde unser Sieg sein und du würdest nicht dabei umkommen..."
    "Ich verspreche Euch, ich werde nicht fallen!" Wieder trafen sich ihre Blicke und wieder suchten sie einander die Gedanken. Schmunzelnd zeigte sie ihm die Ironie in ihren folgenden Worten: "Eher fliehe ich und warte auch Euch."
    Er schmunzelte zurück. "Was anderes hätte ich dir auch nicht geraten." Dann setzte er zum Kuss an. Kuen machte keinen Hehl drauß, sie streubte sich nicht dagegen. Auch wenn sie ihm noch keine Liebe gestehen wollte, empfand sie gewisse Zuneigung zu ihm, die ihr Kraft und Geborgenheit gab. Was folgte, war der Kuss, den sich Aras schon wenige Stunden nach dem ersten ersehnte, sie ihm jedoch während der letzten Tage verweigerte. Doch an diesem Vorabend ergab sie sich ihrer, entfachten, angestauten Gefühle.
    Es war kein besonderer Kuss, eher einer dezenten Berühung der Lippen gleich. Jedoch interpretierten sie beide eine Menge dort hinein. Wie zwei Seelen, die jahrelang ziellos umherirrten und nun doch endlich zueinandergefunden hatten. Sollten sie schon bald wieder entzweit werden? Dieser Kuss sollte jene Zweifel beseitigen.

    Plötzlich öffnete sich knarzend die Tür und Steffan, Zacharas' neuer Diener, trat herein. Sofort bedeckte er sein Gesicht und blickte reuend zu Boden. "Verzeiht, mein Lord. Ich wusste nicht, dass..."
    Kuen löste sich sofort von Aras' Lippen, schwenkte augenrollend zum Diener um und sagte: "Bildet Euch nichts drauf ein, junger Bursch!" Anschließend wandte sie sich wieder Aras zu, der etwas skeptisch den jungen Mann betrachtete, aber sich spontan auch wieder ihr zuwandte. Gedanken und tiefe Blicke tauschten sie aus, bevor Kuen sich endgültig vom Lord löste.
    Steffan nahm dies als Ansatz, sich kundzutun. "Mein Herzog, die feindlichen Soldaten haben im Wald ihre Lager aufgeschlagen. Jaris, Ser Daryk, Theical und die Männer aus dem Norden sind bereits auf dem Weg zur Burg."
    Zuerst nickte Aras, doch wurde dann stutzig, als zwei Namen nicht fielen. "Der Rest meiner Truppe?"
    Mit weit aufgerissenen Augen stammelte er vor sich hin: "Ich... äh, ich wusste nicht, da-dass auch, nun ja, Frauen... erwünscht sind..."
    Tief schnaufte Aras, entgegnete aber sachlich: "Sie gehören dazu, also sind sie auch erwünscht."
    Steffan wirkte leicht irritiert von dieser Äußerung und rieb sich schüchtern die Hände. Ein skeptischer, jedoch ehrlicher Blick zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. "Einst habt Ihr aber gesagt, Frauen könnten keine komplexen Entscheidungen treffen..."
    "Was einst war, war einst", gab Aras zurück. "Daphne und Thyra haben sich schon oft bewiesen. Ich würde mich schlecht fühlen, sie nicht dabei anwesend zu haben."
    Die Blicke der beiden Männer intensivierten sich. Doch wollte Steffan dem Lord ungern widersprechen. Erstrecht nicht, wenn die Anweisungen sogar zur Abwechslung mal passabel klangen.
    "Ich werde sofort aufbrechen und sie ersuchen..." Mit diesen Worten verabschiedete Steffan sich und sprintete los.
    Aras wandte sich wieder Kuen zu und sagte weiter: "Dann sollten wir uns auch schnell zum Versammlungsraum begeben, um sie gebührend zu empfangen."

    ***

    Der neue Tag brach heran. Der Tag der Entscheidung. Alle hatten Stellung bezogen. Bogenschützen auf den Mauern und Türmen, zusammen mit Daphne und Thyra, die vermutlich den größten Beitrag leisten würden. Jaris, der ständig auf und ablief und ungeduldig darauf wartete, dass sich Leitern und anderes Belagerungsgerät aus der Waldlichtung wagen würde.
    Viele Soldaten standen hier, kaum jemand war ernsthaft bereit für diese Schlacht. Bauern, Aristokraten, Frauen und Kinder... Alle leisteten ihren Dienst, alle waren am Krieg beteiligt. Wenn auch nicht durchweg aktiv.
    Die Minen waren bis auf zwei Zugänge in der Stadt vollkommen versiegelt worden. Alle, die aktuell nicht kämpfen konnten, wurden dort untergebracht. Der momentan sicherste Ort.
    Wenn es unter den Ymilburgern jemanden gab, der nur ansatzweise in solchem Maße kampferprobt war, waren es Aras und Kuen. Doch konnten sie beide allein keine solche Armee bezwingen. Dem Lord war voll bewusst, dass die Schlacht um seine Stadt nur der Anfang sein würde. Umso mehr spornte es ihn an, noch viele Male sein Können beweisen zu dürfen, Feinde zu bezwingen und seine Taten der Vergangenheit wiedergutzumachen.

    Nur wenige Meter von ihm entfernt, am Fuße der Mauer, stand Daryk, etwas abseits der Speerphalanx. Aras hockte oben, auf der obersten Treppenstufe, und sprach seine beschwörenden Worte auf Daryk nieder. Seit einigen Stunden tat er dies bereits, hatte seither nichts gegessen oder getrunken. Kein ruhiges Auge fand er in der letzten Nacht, er verbrachte den Großteil mit den Vorbereitungen für den Zauber. Aber ob er stark genug war und lange genug anhalten würde, würde sich erst noch zeigen. An dem Ritter selbst zweifelte Aras keine einzige Sekunde.

    Aus dem Augenwinkel erspähte er Kuen, die siegessicher nahe ihres eigenen Bataillons stand. Die vielen Gedanken und Gerüchte seiner Gefährten ihr gegenüber, musste er ausblenden und ihr einfach genügend Vertrauen schenken, um sich zu beweisen. Außerdem, nun, wo sie gegenüber Bornholds Truppen als vogelfrei galt, war sie teils wirklich an Aras und die anderen gebunden. Anfangs war er gespaltener Meinung darüber. Doch bedeutete es für sie weiterführend auch, dass sie vielleicht auch in ihrer Heimat nicht mehr sicher war.
    Rüstungsklappern, stampfende Schritte, das leichte Säuseln der Brise, die sich ihre Wege durch die Spalten und Gassen suchte. In der Ferne ein letztes freies Glockengeläut, welches spärlich die Anspannung in der Luft zu verdrängen suchte. Gackerndes Federvieh, das Rauschen des Flusses und Blättergeraschel...
    Alles wirkte so friedlich auf dem ersten Blick, doch lauerte im Wald vor der Stadt der Feind, dessen geringste Sorgen all diese kleinen, neckischen Idyllen waren.

    Dann, ohne Vorwarnung, ertönte das Horn.
    "Sie kommen!", rief Thyra von hoch oben im Turm.

    Zacharas suchte den Schutz der Nacht und begab sich nach getaner Arbeit etwas abseits des Trubels an die Angelestelle vor der Stadt. Er wollte seine wiedergefundene Magiekraft trainieren, damit er auch in der Schlacht mitwirken konnte und nicht hilflos zusehen musste, wie die anderen ihr Leben riskierten für ihn. Etwas ängstlich war er noch, sich wieder seiner Zauberei zu widmen. Wusste er nicht, wie die anderen drauf reagieren würden, wenn sie es erfuhren. Generell hatte er Angst, sich seiner Truppe erneut zu nähern. Er wusste, was er alles falsch gemacht hatte und er wusste auch, dass deren Reaktionen auf seine Entschuldung berechtigt waren. Schon oft deutete er an, sich ändern zu wollen. Doch nun meinte er es ernst.
    Theical zeigte ihm, zu was er fähig war. Und dass er es am Lord ausließ, hätte Zacharas sich niemals zu träumen gewagt. Ebenso zeigte Kuen ihm den besseren Weg. Nicht nur ihre Worte, sondern auch ihre Taten gaben ihm zu denken. Er erkannte schon früh, dass sie eine ganz besondere Frau war. Sie kannte sein inneres Leiden, sie kannte seine Erinnerungen. Aber sie kannte auch seine Fehler. Undankbar war Aras zu den anderen, zu Daphne besonders. All die Taten und Worte der Heilerin sollten nur Gutes in ihm wecken. Jedoch fand sie nie seinen wunden Punkt, denn sie kannte seinen wunden Punkt nicht. Niemand kannte ihn, außer Kuen.

    So viele Bote hatte Aras noch nie auf einem Haufen gesehen. Fast ein Viertel des Sees war damit zugestellt. Das ständige Knarzen und Knirschen der Holzdielen, Flattern der Segel und Schunkeln des Wassers machte ihn ganz benommen beim Zusehen. Und der Gedanke daran, dass all die Bote und Männer nur hier sind, um seine Stadt zu verteidigen. Welche Kosten und Ressourcen dies in Anspruch nehmen musste. Aras musste das einfach angemessen würdigen. Selbst für ihn, selbst für seinen Reichtum, wäre das ein gewaltiger Einschnitt gewesen. Er war sich einig, Daphne dafür nochmals zu danken. Bestenfalls jeden einzelnen Tag der Schlacht.

    Kurz blickte er zurück zum Stadttor, ließ seine Gedanken an Kuen verstreichen. Nur weniger Minuten vorher hatte er sie noch mit einigen Soldaten hat kämpfen sehen. Übungskämpfe, den Soldaten zu zeigen, dass auch Frauen kämpfen können. Seine Hoffnung war mit ihr, dass sie siegreich aus den Spielen hervorgehen würde. Es freute ihn, eine so energische Frau gefunden zu haben, die nicht nur ihm als Mann sondern auch den Feinden die Stirn bot. Aber gleichermaßen stets das Gute und Gerechte in jedem Einzelnen suchte. Sicherlich waren auch Thyra und Daphne in vielerlei Hinsicht so gestrickt, aber kam Aras nicht so gut mit deren Gemütern klar. Als Gefährten wollte er sie nun nie wieder missen, als Lebensgefährten jedoch konnte er ihnen nichts bieten. Er brauchte die direkte Zweisamkeit, die Ruhe und Gelassenheit darin. In der Gruppe fühlte er sich immer unwohl. Er wuchs auf als Einzelkämpfer, suchte sich keine Freunde oder Gefährten, aus Angst, von ihnen enttäuscht zu werden. Kam er doch stets gut alleine zurecht, so dachte er zumindest immer.
    In Wahrheit brauchte er die Geselligkeit, die Vielfalt und Meinungsverschiedenheit, wie auch Gleichheit. Zu zeitig ging seine Mutter von ihm, zu zeitig entschied er sich im Leben falsch. Zu früh sehr ließ er sich von Engel zu stark beeinflussen und nie erkannte er es, was mit ihm geschehen war.
    In all dem Versuchen, weniger wie sein Vater zu sein, wurde er stattdessen immer mehr wie sein Vater. Seine Kindheit, so gut sie auch war, war dennoch ein schlechter Umgang für ihn. Ausschweifende Feste, viele Frauen, viel Geld und viele Intrigen. Es wurde ihm schon falsch vorgelebt. Der Vatermord änderte es im Nachhinein gar nicht. Es sensibilisierte Zacharas zwar, aber machte ihn deshalb noch lange nicht zu einem besseren Herzog und Mann.

    Mit den Gedanken an Kuen, den unerwarteten Kuss von ihr, richtete er den Zauberstab auf den Stein. Es gelang ihm auf Anhieb, den Stein mit einem schockenden Zauber zu treffen und durch die Luft zu wirbeln. Immer und immer wieder machte er es, schwach den Stab und verschoss Schattenblitze.
    Er schwenke um zum See und visierte die Wasseroberfläche an. Ein einsames Blatt schwamm darauf. Er konzentrierte sich und setze eine gezielte Salve auf dieses ein. Eine gewaltige Fontäne spritzte hoch und wirbelte Wasser und Kiesel vom Grund auf. Nur knapp entkam das Blatt seinem Zauber und wurde sofort erneut aufs Korn genommen.

    Er schaute sich um, entdeckte ein Stück Holz unweit von sich und hob es auf. Nach kurzem Begutachten, schmiss er es mit aller Kraft in die Luft und zielte wieder mit seinem Zauberstab drauf. Ein großer Blitz schoss hervor, traf das Holz und katapultierte es noch weiter in die Höhe. Wieder feuerte er einen Blitz darauf ab und wieder wurde das Holz weiter hoch katapultiert. Es flog weiter und weiter, bis es fast über der Mitte des Sees war. Dann machte er einen Ausfallschritt und ließ den Arm samt Zauberstab nach vorn schnellen. Eine gewaltige Druckwelle raste voran, brachte die Wasseroberfläche in leichte Unruhe und dränge leicht die am Rand stehenden Bote zur Seite. Kurz bevor das Holz gelandet wäre, erwischte die Druckwelle es und schleuderte es noch weiter über den See.
    Während dieses Schauspiels ließ er kleine Funken aus seinem Stab sprühen und erleuchtete somit den Himmel vor der Stadt. Wie ein zweiter Sternenhimmel, wie Glühwürmchen, schwebten die Lichtfunken über dem Wasser und verglimmten langsam. Gekonnt malte er mit einem Feuerschweif, dessen Ende einen Holzpoller umschlang, leuchtende Bögen in die Luft, die er wie Seile an mehreren Pollern befestigte. Eine flammende Kette entstand entlang des Ufers, deren einzelne Stränge er anschließend immer weiter dehnte und in sich verdrillte.
    Er klatschte laut in die Hände und mit diesem Knall ließ er ebenso das Feuer verpuffen und in flammenden Blasen gen Nachthimmel aufsteigen.

    Plötzlich hörte er viel lauteres Händeklatschen um sich herum. Erschrocken zuckte er zusammen und sah sich um. Ein paar der Nordmänner standen da und bekundeten ihm Beifall. Nur wenige Augenblicke später sah er Daryk auf sich zukommen. Kurz hielt Aras sich seine Hände vors Gesicht, als Daryk mit dem Finger auf ihn zeigte.
    "Du hast deine Magie wiedergefunden?"
    "Ja", gab Aras nur zögerlich von sich und steckte seinen Zauberstab schnell in seine Seitentasche.
    "Kann ich den mal sehen?", fragte Daryk und deutete genauer auf Aras' ruhender Hand.
    "Was?", entglitt es ihm zögerlich, konnte er dieses Situation immer schwerer einschätzen.
    "Deinen Zauberstab", erwiderte Daryk mit angedeutem Lächeln. "Ich habe noch nie einen Zauberstab aus nächster Nähe gesehen."
    Nach kurzem Überlegen stimmte Aras seiner Bitte zu und holte ihn wieder hervor. Ohne Wenn und Aber überreichte Aras ihm den Stab und legte ihn ihm auch gleich in richbtiger Position in seine tellergroße Hand.
    Etwas unbeholfen begutachtete Daryk diesen Ast und fragte weiter: "Was kannst du überhaupt so für Zauberei?"
    Verwundert über diese ernst wirkende Frage musste Aras erstmal in sich kehren und über diese und vergangene Situationen mit Daryk nachdenken. Doch blieb Daryks Blick erwartungsvoll, ebenso seine nicht gezeigten Gesten.
    Sich über die Lippen streichend zählte Aras schließlich ein paar der Leichteren auf: "Einfache Schockzauber, Feuermagie, lähmende Magie und stärkende Magie..." Dann setzte er kurz ab und betrachtete zögerlich den stämmigen Körper des Hünen.
    "Daryk, ich weiß, du hast es nicht so mit Magie, aber der Willensstärkezauber, der wäre bestimmt etwas für dich!"
    Skeptisch schaute der Hüne ihn an und machte ein Nachdenkliches Gesicht.

    Am nächsten Morgen war der Lord wieder sehr früh in seinem Arbeitszimmer verschwunden und saß angespannt auf seinem Stuhl. Leichte Kopfschmerzen hatte er noch von der gestrigen Rangelei mit Theical. Dies hätte Aras sich niemals erträumen lassen, dass ausgerechnet Theical ihm die Stirn bot. Mit zerknautschtem Gesicht und blauen Flecken an der Schläfe starrte er auf die Briefe, Schriftstücke und Bücher vor sich. Dem Schreibwahn verfallen, bemerkte er nicht, dass Kuen den Raum betrat und sich mit großen Schritten an ihn heranpirschte.
    Wieviele Briefe hatte er bereits verfasst? Wieviele Briefe würde er noch verfassen müssen? Er selbst wusste es auch nicht mehr. Waren ihm die Eindrücke doch langsam zu viel geworden. Aber eine Pause kam für ihn nicht in den Sinn. Schreiben wollte er, musste er! Schreiben, um des Schreibens Willen, so sah es für Kuen aus. Willkürlich und planlos wirkte es, wie seine Feder umherwanderte, gleichzeitig vier Schriftstücke verfasste. Währenddessen vertiefte er stets ein Auge in eines der Bücher und nuschelte sich die Worte zurecht. Freie Gedanken, schwebende Eindrücke.
    Und neben sich, am äußersten Eck des Tisches, lag der Zauberstab, den Kuen ihm unverbindlich nach der Ratsversammlung überreicht hatte. Mit denselben Worten, die auch Daphne ihr gesagt hatte.
    Unbeeindruckt war er. Nicht von Daphnes Kühnheit, ihrem Gerechtigkeitssinn oder ihrer dennoch gewährten Treue. Er war unbeeindruckt vom Gegenstand selbst. Wusste er nichts mehr damit anzufangen. Fiel es ihm schwer, auch nur einen Gedanken zu vergeben, für diese Zeit, als er einst so mächtig war...
    "Ihr hockt ja schon wieder hier herum!", murrte Kuen und riss ihm die Feder aus der Hand.
    "Äh", murrte er zurück und wollte danach greifen. "Das ist mein Eigentum! Gib es mir mir wieder!"
    "Nein", erwiderte sie konsequent und ließ die Feder in ihrem Dekolleté verschwinden. "Ich will, dass Ihr raus geht. Draußen ist so schönes Wetter, die Vögel singen und die Kinder lachen. Und Ihr hockt hier drinnen und blast Trübsal. Ich weiß ganz genau, was gestern Abend hier im Zimmer von statten ging."
    "Das ist mir egal, was die Vögel machen oder die Kinder..."
    "Das nehmt Ihr zurück", ermahnte sie ihn prompt und presste ihm wiedermal den Zeigefinger auf die Brust. "Die Kinder sind Euch nicht egal und das wisst Ihr auch!"
    Abschätzig wandte er seinen Blick von ihr und dem Tisch ab, gen Fenster. Lichtstrahlen erreichten sein Gesicht, kitzelten seine Nase. Der klare Himmel, die warme Luft und der süße Duft. Er kehrte in sich. Aber er fand nichts, was ihm weiterhelfen konnte.
    Weiter erklangen ihre drohenden Worte. "Ich will nicht mehr Euer Gejammer hören, wie egal Euch alles ist! Dort draußen herrscht Krieg in den Landen und Ihr verbringt kostbare Zeit mit Briefen und Büchern. Die anderen, sie verspotten Euch offenkundig. Ihr habt Euren Respekt verspielt. Ich habe auch kaum noch Respekt vor Euch. Ich würde es gerne haben, aber Ihr zeigt mir deutlich, dass Ihr keinen verdienen wollt..."
    "Ich habe Respekt verdient!", knurrte er böswillig und riss seinen Kopf zu ihr herum. "Ich bin der Herzog! Ich bin ein starker Führer, ein starker Mann! Ich werde mich nicht vor solchem undankbaren Pack verneigen..!"
    "Ihr seid gar nichts!", erwiderte sie und legte nun beide Hände an seine Brust. Ihn hart gegen die Lehne pressend, sprach sie weiter: "Ihr schafft es nicht mal, Euch gegen mich zu wehren."
    "Das hat gar nichts hiermit zu tun, Kuen."
    "Doch hat es." Immer fester presste sie ihn gegen die Lehne. Aber er wehrte sich nicht. "Wenn der Feind eine Frau ist, was wollt Ihr tun? Sie ziehen lassen? Sie verspotten, in der Hoffnung, sie ergibt sich? Was ist, wenn der Feind so wie Daryk ist? Groß, stämmig, kräftig? Ihr habt keine Chance, da zu bestehen. Was ist, wenn der Feind so wie Theical ist? Klein und listig?"
    Darauf gab er keine Antwort. Wusste er auch keine Passende. Selten fühlte er sich so stark bedroht von jemanden. Und dann noch eine Frau. Er erinnerte sich, dass Daphne einst auch so zu ihm sprach. Vielleicht nicht so offen und direkt. Aber im Kern gleichermaßen sachlich.
    "Ihr könnt nicht mal mehr zaubern", sagte sie weiter und blickte zum Zauberstab hinüber.
    "Wegen Engel", gab er seine übliche Antwort, die Kuen schon nach wenigen Tagen extrem nervte.
    "Engel ist einerlei geworden, seitdem sie tot ist. Ich will gar nicht wissen, was genau alles abgelaufen ist und wieso es soweit kommen musste. Aber ist jetzt nicht langsam genug, um sie zu trauern?"
    "Ich trauere schon lange nicht mehr um sie", erwidere er abschätzig und rümpfte hart die Nase. "Engel ist tot. Aber sie hatte den Tod nicht verdient..."
    "Und hatte Daphne ihn verdient? Habt Ihr ihn verdient? Hatten andere ihn verdient, die nicht gegen Euch waren? Oder hatten nur Eure Feinde den Tod nicht verdient?"
    "Meine Feinde hatten ihn verdient, den Tod. Sie wollten mich und viele meiner Leute tot sehen. Ich lasse mich garantiert nicht von irgendjemanden unterkriegen! Dafür bin ich zu wichtig..."
    "Ihr seid nur als Herzog wichtig für das Volk allgemein. Aber als Mann für jeden einzelnen. Ihr werdet nie Freunde haben, Ihr werdet nie erleben, was es heißt, gemocht zu werden, geliebt zu werden. Ihr werdet einsam sterben. Vielleicht sogar wie Euer Vater. Hinterrücks erstochen, heimtückisch vom eigenen Sohn verraten. Euer Sohn hasst Euch vermutlich genauso sehr wie Ihr Euren Vater einst gehasst habt."
    "Vergleiche mich nicht mit meinem Vater!", brüllte er und stieß sie von sich weg. Kurz rempelte sie dabei gegen den Tisch und warf das Tintenfässchen um. "Mein Vater war ein Bastard! Ein Scheusal! Ohne Respekt, ohne Führungsqualitäten! Er konnte kein Reich regieren!"
    "Aber Ihr könnt das?", hinterfragte sie und deutete auf die beschmutzten Schriften und Briefe hin. "Märchen schreiben könnt Ihr in Eurer Freizeit. Jetzt ist Ernst angesagt."
    "Das sind keine Märchen", rechtfertigte er sich und griff sich prompt einen der befleckten Zettel. Provokant drückte er ihr das Geschriebene ins Gesicht. "Ich bitte um Hilfe und Beistand im Krieg. Ich verschickte die Briefe an alle großen Städte, Klöster und Adelsfamilien. Das sind garantiert keine Märchen. So wird heutzutage Krieg geführt. Logistik und Wirtschaft..."
    "Papperlapapp", sprach sie, zerknüllte den Zettel und warf ihn provokant in die Ecke. "Bevor die Briefe angekommen sind, ist der Krieg schon längst wieder vorbei." Anschließend schob sie vorsichtig mit der Hand eine Tischecke frei und nahm dort Platz. Halb mit dem Gesäß darauf ruhend, halb sich mit den durchgestreckten Beinen vom Boden abstützend, strich sie sich verlegen über den Nacken und suchte des Herzogs Antlitz. Leicht irritiert von ihrer forschen Art, verschloss er sich, presste fest die Beine zusammen und wandte sich erneut dem Fenster zu.
    "Ich finde es erstaunlich, dass Ihr Euch so einfach von mir herumschubsen lasst", merkte Kuen an und beäugte ihn mit durchgestreckter Haltung aus den Augenwinkeln.
    Ein abschätziges Pfeifen ertönte aus seinen gespitzten Lippen. "Du willst das doch extra, dass ich mich wehre. Wo ist dabei der Spaß?"
    "Nun ja, mir bereitet es ehrlich gesagt keinen Spaß, Euch so herumschubsen zu müssen, um Euch ein paar Worte entlocken zu können." Dann nahm sie das entleerte Tintenfässchen in die Finger, begutachtete es angewidert und warf es im hohen Bogen durch den Raum. Aras schreckte auf. Wusste er zwar sofort, was sie getan hatte, wollte er es aber nicht wahrhaben. Kuen kümmerte sein Blick nicht, sie nahm eines der Bücher und ließ es mit ausgestrecktem Arm auf den Boden fallen. Anschließend schnappte sie sich einen Kerzenhalter und wollte diesen ebeso durch den Raum werfen.
    Plötzlich schnippten seine Hände ihr entgegen und ergriffen das Objekt, wobei er ihr die Hand stark verrenkte. Schmerzverzerrt zuckte ihr Hand kurz zurück, griff dann aber sofort wieder nach dem Kerzenständer. In einer kleinen Handrangelei um diesen, bewegte sie ihn langsam zum Aufstehen und erhob sich ebenso vom Tisch. Schwer um dieses Stück Metall kämpfend, bewegten sie sich tänzerisch durch den Raum und rammelten dabei immer wieder gegen den Tisch und andere Gegenstände, die wahllos umherstanden.
    "Gib' ihn wieder her..."
    "Nicht, wenn Ihr Euch stur stellt!"
    "Ich stelle mich nicht stur!"
    "Ihr könnt nicht gewinnen..."
    Irgendwann hatten sie sich so sehr verknotet, dass Kuen mit dem Rücken an ihn gelehnt war, seine Arme dabei sie fest an ihn pressten und mit den vier Händen wurde der Kerzenständer umklammert. Er rüttelte und schüttelte sie durch und sie versuchte, ihn dabei auf die Füße zu treten. Dann, plötzlich, ohne Vorwarnung, gelang es ihr, ihn hochzustemmen und mit einem beherzen Schwung nach vorn, über sich zu werfen. Er knallte mit dem Rücken auf den Boden auf und hatte dabei Kuen mit sich gerissen, die nun breitbeinig zu seinem Kopf kniete und mit aller Kraft versuchte, sich abzustützen, bevor sie mit dem Oberkörper auf Aras landen würde.
    Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an und konnte nur schwer die Situation deuten. In welch kurioser Haltung kniete sie über ihm? Und wie konnte es passieren, dass er auf dem Boden lag? Starr und steif wie ein Brett lag er da und beäugte ihren bebenden Brustkorb. Nach Luft schnappend hächelte sie ihm ihren Atem ins Gesicht, glotzte ihn glubschäugig an und quälte sich einen Satz heraus: "Ihr liebt den Nervenkitzel, das Abenteuer und die Herausforderung, ihr liebt es, wenn man sich Euch widerstrebt, denn dann fühlt Ihr Euch lebendig und wichtig."
    Sein Ausdruck verfinsterte sich schlagartig zu einem Grimmen. "Das lasse ich mir nicht gefallen!" Gerade wollte er die Arme hochreißen, da stemmte sie sich schon mit ihren Armen auf seine und presste sie hart auf den Boden.
    "Ihr könnt nicht kämpfen. Ihr könnt nicht zaubern. Ihr könnt euch nicht mehr wehren."
    Er versuchte es, doch es gelang ihm wirklich nicht. Sie war zu stark, ihre Haltung war zu kraftgeballt, als dass er sich aus dieser Situation hätte befreien können.
    Mit breitem Grinsen sprach sie weiter: "Ich könnte nun soviel mit Euch anstellen, aber ich bin kein Unmensch und lasse Euch liebendgern wieder aus meinen Fängen frei."
    "Lass mich endlich los!"
    Sie tat es nicht. Je mehr er jammerte und fluchte, umso stärker presste sie seine Arme auf den Boden. "Ihr könntet nach einer Wache rufen, wenn Euch das beliebt. Daran kann ich Euch nicht hindern."
    Aber er tat es nicht. Er verharrte, hielt es aus und wartete die Zeit ab. Davon abgesehen gefiel es ihm sogar ein Wenig, sich mit Kuen so heftig zu streiten. Schon damals gefiel es ihm, als er sich mit Daphne um seinen Zauberstab stritt. Er mochte es, nicht etwa wegen der Nähe zu ihr, sondern wegen der Sinnlosigkeit darin. Es erfreute ihn, dass Daphne sich trotz der vielen Missverständnisse zu solch neckischen Späßen mit ihm einließ.
    Die Gedanken daran ließen ihn auch gleichermaßen an den Zauberstab denken. An die Worte, die Kuen ihm von Daphne ausrichten sollte. Er hatte bis dato fest geglaubt, dass Maria Franziska wirklich seinen Magierstab zerbrochen hatte. Böse war er ihr diesbezüglich nicht lange. War es im Endeffekt nur ein Stück Holz, das ihn mehr an Engel hatte denken lassen, als wirklich zum Zaubern nötig war. Und nun hatte er ihn wieder...
    "Wie undankbar bin ich nur", fing er an und bekam spontan tränende Augen, "dass ich dieses Geschenk nicht angemessen würdige?"
    Verdutzt schaute Kuen ihn an. "Welches Geschenk?"
    Seine Augen wanderten zum Tisch hinüber. "Daphne wollte mir damit helfen. Sie wollte, dass ich Engel dadurch vergesse."

    Weitere Minuten vergingen, in denen sich beide durchweg in Schweigen hüllten. Nur deren gegenseitigen, tiefen Blicke beherrschten deren Gedanken und Empfindungen. Irgendwas hatte Kuen an sich, was er wirklich wertschätzte. Ebenso fand auch Kuen anscheinend etwas in ihm, was sie zum Nachdenken anregte. Doch irgendwann rang sie sich zu einem Satz durch: "Lasst uns wieder erheben." Sie gab ihn frei und sofort stand er auf, knetete leicht seine schmerzenden Handgelenke und ging wieder zum Tisch zurück. Sich seinen Stuhl schnappend, nahm er wieder Platz und machte sich ganz klein.
    Kuen folgte ihm und setzte sich wieder auf die Tischkante. Mit leicht zu ihm gebeugter Haltung, stützte sie sich vor ihm ab und senkte ihren Kopf so tief, dass sie ihm direkt ins Gesicht schauen konnte.
    "Ich zweifle nicht an Eurer Position als der Herzog und Philosoph Zacharas van Júmen , aber an Eurer Position als der Mensch und Freund Zacharas van Júmen. Regieren könnt Ihr, das habt Ihr nun schon lange genug bewiesen. Nun wird es aber mal Zeit, Euch als menschliches, greifbaren Wesen zu behaupten. Ich will nicht mehr die Lichtgestalt van Júmen sehen, sondern die bürgerliche Gestalt in Euch... Eure Mutter war einfache Magd, Engel war einfache Magd. Selbst ich bin nur die Tochter eines einfachen Töpfers. Ihr könnt es nicht leugnen, Ihr seid anteilig bäuerlich. Wieviele Adelshäuser können von sich behaupten, zur Hälfte in ärmlichem Hause geboren zu sein? Nutzt dies als Eure Waffe! Nutzt dies als Euren Stolz! Zeigt den Bürgern, dass ihr zur Familie aller gehört. Zeigt der Welt, dass Ihr Euch nicht scheut, auch mal die Hände schmutzig zu machen. Helft den Bauern auf dem Feld, helft den Mägden in den Ställen, helft den Müttern und Kindern."

    "Du stellst dir das so einfach vor..."
    "Weil es einfach ist, Zacharas! Überlegt mal ganz stark... Eure Mutter ist kurz nach Eurer Geburt gestorben, was Euren Vater zum Witwer machte. Er war alleinerziehend, mehr oder weniger. Bei Euch und Engel war das kaum anders. Auch sie war alleinerziehend, wobei in diesem Fall Ihr nicht einmal was von Eurem Kinderglück wusstet. Wollt Ihr, dass Euer Sohn später genauso endet wie Euer Vater oder eventuell sogar Ihr selbst..? Denkt nicht an Euren Vater, wie schlecht er war. Denkt lieber an Eure Mutter, die Ihr niemals kennenlernen durftet. Wie gut sie gewesen wäre, wie liebevoll und gerecht sie Euch behandelt hätte. Was hätte sie jetzt für ein Kleid getragen? Wie hätte sie jetzt ausgesehen? Und was hätte sie zu Euch jetzt gesagt?"
    Schulterzucken seinerseits. "Ich weiß es nicht. Es ist nicht wichtig."
    "Es ist sehr wohl wichtig", erwiderte sie und schaute ihm tief in die Augen. Sie strahlten Zweifel aus. Ratlosigkeit und Rastlosigkeit. Kuen animierte ihn weiter zu einer Aussage und klatschte angedeutet in die Hände.
    "Ich weiß nicht, was sie getragen hätte... Vielleicht eine rote Tunika mit schwarzer Schärpe um die Hüfte. Ein schwarzes Beinkleid und braune Sandalen."
    Skeptisch beäugte sie ihn daraufhin. "Und warum diese... schlichte Aufmachung?"
    "Ich finde das irgendwie beruhigend, denke ich... Schwarz wie die Nacht und rot wie das Feuer. Es vermittelt mir Ruhe und Gelassenheit. Zeitlosigkeit und Endlosigkeit... Es beruhigt mich einfach."
    "Das ist doch schön, wenn Euch zur Abwechslung etwas gefällt", entgegnete sie fröhlich lächelnd und kniff verschmitzt die Augen zusammen. "Trägt sie Schmuck? Oder etwas bei sich?"
    "Nicht viel. Ein paar Ringe, eine bunte Perlenkette um den Hals und auf dem Haupt ein schwarzes Diadem." Dann schaute er kurz zu ihr rum. "Sie hat hellblondes Haar."
    Da schmunzelte sie. "Blond scheint es Euch abgetan zu haben."
    Verlegen deutete er auf sein eigenes Haar hin. "Ich bin selbst schon schwarzhaarig. Da braucht es einen Kontrast."
    "Und was denkt Ihr, was würde sie nun über Euch denken?"
    "Nur Gutes, hoffe ich..."
    Enttäuschtes Kopfschütteln von Kuen. "Stellt Euch vor, ich wäre jetzt Eure Mutter. Was denkt Ihr, würde ich nun zu Euch sagen?" Kurz legte sie ihm die Hand auf die Schulter und beugte sich leicht zu ihm hin. "Ihr könnt nichts Falsches sagen. Ihr müsst nur ehrlich zu Euch selbst sein, dann seid Ihr auch ehrlich zu den anderen."
    Tief schnaufend schaute er hinab, zur Tischkante, unter der seine Hände im Schoß ruhten. Die Finger kneteten sich gegenseitig, seine Beine zappelten unruhig. Dann blickte er hianuf zu Kuen. Fröhlich lächelte sie ihn an, als wären all die schlimmen Worte, all die schlimmen Taten, die er von sich gab, nichts wert. Kurz nickte sie ihm zu und begann leicht seine Schulter zu kneten. "Seid einfach ehrlich zu Euch selbst. Was denkt Ihr, müsste ich nun zu Euch sagen?"
    "Ich weiß, was du sagen müsstest. Aber ich kann das nicht aussprechen. Es würde dich zu sehr verletzen."
    "Was ist daran so schlimm, wenn es mich verletzen würde? Es sind nur Worte, nichts weiter..."
    "Nein, Kuen! Ich weiß, was ich falsch gemacht habe. Ich will es aber nicht in Worte fassen, weil sie mich selbst zum Weinen bringen würden..."
    "Weinen ist nicht schlimm, Herzog", meinte sie und nahm neue Haltung an. Leicht rutschte sie näher an ihn heran und suchte eine seiner Hände, die sie sich dann auf ihre Schenkel legte. "Ihr habt bestimmt schon oft geweint. Bestimmt auch, als Engel und Daphne starben."
    "Das ist was völlig anderes. Du kannst den Tod mit böswilligen Worten..."
    "Aber dann gibt es doch auch keinen Grund, zu weinen, wenn es nur Worte sind. Außer natürlich, Ihr wisst wirklich selbst, dass diese Worte einer Todesdrohung sehr nahe kamen."
    Er blockte ab. Seine Hand ließ von ihrem Bein ab und wanderte wieder unter den Tisch. Tief seufzend rang Kuen sich zu einer anderen Frage hindurch: "Wäret Ihr bereit, Euch erneut zu verlieben?"
    "Natürlich wäre ich dazu bereit", erwiderte er selbstbewusst. "Nur sehe ich keine Frau, die mir optisch und charakterlich gefallen würde."
    "Daphne auch nicht?", fragte Kuen zögerlich nach.
    Er schwankte. "Ihr Charakter ist wirklich gut. Und sie ist auch optisch sehr ansprechend, obgleich ich sie noch nie freizügiger gesehen habe..."
    "Das will ich auch für euch beide hoffen, dass es nie dazu gekommen ist."
    "Aber", fuhr Aras dann fort und verzog eine bedrückte Miene, "sie ist adlig."
    Kuen stutzte. "Adlig? Was ist daran auszusetzen?" Sie ließ ihren Blick schweifen, die Arme und Hände ebenso durch die Luft gleiten. "Ich persönlich würde mich freuen, einen Adelsmann heiraten zu dürfen, aber..."
    Mit hochgezogener Braue fragte er zurück: "Aber was?"
    "Wo gibt es schon einen freien Adelsmann, der sich auf Frauen aus der Unterschicht einlässt, ohne unmoralische Gedanken dabei zu haben..?" Schielender Blick zu ihm rüber.
    Aras begriff es nicht, was sie andeuten wollte und versuchte, sie von der Tischkante zu drängen. Doch sie verharrte weiterhin so und schnappte sich seinen Zauberstab, um ihn ihm anschließend zu überreichen.
    "Zaubert für mich", sprach sie mit freundlichem Lächeln. "Probiert es einfach. Denkt an Eure Mutter, denkt an Eure zukünftige Frau. Wie soll sie aussehen? Wie soll sie heißen? Wo soll sie herkommen?" Beherzt sprang sie auf und animierte Aras ebenso zum Aufstehen. Nach kurzem Zögern kam er ihrer Bitte nach und stellte sich mit ihr zusammen ein paar Meter vorm Tisch auf. Anschließend räumte sie den halben Tisch mit ihren Armen frei -das meiste hatte eh schon vorher einen Platz auf dem Boden gefunden- und platzierte die brennende Kerze mittig.
    Er nahm seinen Stab in die Hand und richtete ihn auf die Kerzenflamme. Stark konzentrierte er sich, fokussierte das Feuer an und versuchte, seine Gedanken zu binden. Die Worte waren ihm bekannt, er würde die Zaubersprüche niemals vergessen. Aber ihm fehlte der zündende Gedanke, die leuchtende Erinnerung. Er brauchte einen starken Anreiz...
    "Ich kann es nicht", gab er seufzend bekannt und senkte wieder seinen Arm.
    Kuen richtete ihn neu auf und versuchte seine Hand noch gezielter nach der Kerzenflamme auszurichten. "Vielleicht müsst Ihr nur präziser werden. Vielleicht verfehlt Ihr das Objekt."
    Er versuchte es nochmal, aber immer noch gelang es ihm nicht. Kein Gedanke schien zu helfen. Weder an Engel, noch an Daphne oder seiner Mutter.
    "Versucht es weiter!"
    Es war ja nicht so, dass er sich nicht anstrengte, das tat er wirklich. Er hatte Angst, er war innerlich entzweit. Die Zerrissenheit in ihm machte ihn schwach. Die Ungewissheit, jemals wieder einen Hoffnungsschimmer zu erblicken, erdrückte sein Gemüt. Er hatte Angst, erneut enttäuscht zu werden. Er hatte Angst, erneut sein Herz zu verschenken, um am Ende doch wieder den Glauben an die Liebe zu verlieren. Immer mehr konzentrierte er sich auf die Kerzenflamme, blendete alles um sich herum aus und spannte all seine Muskeln an.
    Dann, plötzlich, spürte er Kuens Lippen auf seinen und reflexartig zuckte er zusammen. Die Flamme schwoll an zu einer großen Kugel und zerplatzte nur wenige Sekunden später wie eine Seifenblase. Überall flogen Funken herum und erst dann fixierte er sich auf Kuen, deren Lippen immer noch halb auf seinen Mund gepresst waren.
    Völlig perplex starrte er sie an, ging einen großen Schritt zurück und wischte sich hektisch den Mund trocken. Kuen selbst glotzte immer noch aus den Augenwinkeln gen Kerze und versuchte nebenher mit gespitzten Lippen nach seinen zu suchen. Dann schwenkte auch sie um, lächelte ihm nur verschmitzt zu und bewegte sich zur Tür.
    "Wa- was sollte das gerade?", fragte Aras ganz verwirrt und knetete leicht seinen Zauberstab durch.
    Sie öffnete die Tür, trat über die Schwelle und erwiderte nur trocken: "Bildet Euch nichts drauf ein, mein Herzog." Dann war sie verschwunden.

    Mit erhobenem Haupt, stur und geradlinig stapfte er Richtung Burg, Kuen dabei im Schlepptau. Schon auf dem Weg dorthin, nachdem sich die anderen drei abgesetzt hatten, fing er an, aufzuatmen und der Soldatin seinen Unmut zu verkünden.
    "Endlich ist Thyra mal ein paar Tage nicht in meiner Nähe. Endlich mal keine unerwünschten, neunmalklugen, vorlauten Reden."
    Und prompt hakte Kuen nach: "Ihr mögt sie nicht besonders, stimmt's?" Ein zögerlicher Blick aus den Augenwinkeln.
    Aras schielte ebenso halb zu ihr rüber, rümpfte die Nase und erwiderte: "Sie kann mich deutlich weniger leiden als ich sie."
    "Weil sie eine Nomadenfrau ist?"
    "Eher, weil ich kein Nomade bin."
    "Aber dann dürfte sie ja ebenso Fräulein Daphne oder Herrn Theical nicht leiden könnten."
    "Ach, ist doch auch egal! Papperlapapp!"
    Angedeutetes Nicken ihrerseits. Sie liefen etwas weiter und schwiegen sich derweilen weiter an, bis sie den Burghof erreichten. Die Gesichter der Wachen und Bediensteten ignorierte Aras gekonnt. Zeigten sie nur die typisch verwunderte oder abweisende Geste gegenüber der Soldatin. Sie dagegen nahm dies als erneuten Grund, abermals die Situation zu hinterfragen.
    "Ich erinnere sie an Engel, nicht wahr?"
    Resignierender Blick von ihm. "Die glotzen immer blöd, wenn ich eine Dame an meiner Seite habe. Bilde dir nichts drauf ein."
    "Positiv oder eher negativ?", stellte sie die nächste Frage und suchte erwartungsvoll nach seinem Blick zu ihr hin. Der auch prompt kam. Sie lächelte freundlich, aber Aras erwiderte nur mit Worten. "Ist mir völlig egal. Frauen sind für mich ein Status. Da gibt es kein positiv oder negativ. Du bist eine Frau, das sagt bereits alles aus."
    Leise nuschelnd erwiderte sie: "Also ein Status will ich nicht für Euch sein, dafür ist mir meine Weiblichkeit zu schade."
    "Wie bitte?", murmelte Aras zurück. "Ich habe es akustisch nicht verstanden."
    "Nichts, nichts, nur Gedanken", kam von ihr zurück, begleitet von einem angedeuteten Lächeln.

    Sie betraten die Burg und liefen den Gang entlang. In all der Ruhe und Gediegenheit, die ihre Schritte darlegten, wandte sich Aras erneut an die junge Blonde. "Weißt du eigentlich, was mich am meisten an den anderen stört?"
    Verdutzt schüttelte sie den Kopf. "Nein, keine Ahnung."
    "Deren Scheinheiligkeit und Feigheit."
    Schnaufend erwiderte sie leise: "Ich finde nicht, dass sie feige sind..."
    "Die haben alle Angst! Durchweg!" Hart schlug er sich die Faust in die Handfläche. "Angst vor dem Krieg, Angst vor Veränderungen, Angst vor der Wahrheit..."
    "Es ist auch eine schwere Bürde", versuchte sie die anderen in Schutz zu nehmen, stieß damit aber auf Ablehnung beim Lord.
    "Eine schwere Bürde ist es, diese Nachricht dem Volk mitzuteilen und zu hoffen, dass die eigene Autorität nicht darunter leidet. Eine schwere Bürde ist es, zuzusehen, wie alle anderen gegen mich sind und man selbst gezwungen ist, dies über sich ergehen zu lassen."
    "Das möchte ich auch nicht bestreiten, Zacharas. Aber ist es nicht Eure Aufgabe als Herzog, mit diesen Dingen zurechtzukommen? Ist es nicht Eure Aufgabe, viel mehr einzustecken als auszuteilen..?"
    Da lachte Aras belustigt. "Selbst redend, Kuen, selbst redend." Anschließend tätschelte er sich an die Seitentaschen.
    Augenrollen ihrerseits. "Ich meine auf emotionaler Ebene. Entscheidungsfindung und beratend."
    Skepsis brachte sein Blick hervor. Was sie mit einem zögerlichen Lächeln erwiderte.
    "Geld ist nicht alles, habt Ihr mir gestern noch gesagt, mein Herzog..."
    "Das habe ich auch nie behauptet, Kuen! Ich bin es nur langsam leid, ständig alles alleine regeln zu müssen, weil die anderen zu feige sind!"
    "Vielleicht sind sie das", lenkte sie kurz ein. "Aber vielleicht respektieren sie Euch auch gerade deswegen, weil Ihr in solchen Lagen einen kühlen Kopf bewahrt?"
    "Es ist Grundvoraussetzung für einen guten Herrscher, stets kühn und weise zu regieren", predigte er ihr abwinkend. "Die Diskussion ist beendet. Das nächste Mal geht Thyra hin. Sie, mit ihrem losen Mundwerk..."
    Sie kamen an die Wendeltreppe. Gemeinsam schauten sie hinauf, dann sich gegenseitig an. Und dann machte er eine leichte Verbeugung, um ihr damit den Vortritt zu gewähren. Verunsichert zögerte sie und verharrte eine Weile mit den Augen auf dem Lord.
    "Nach dir, Kuen Neyt."
    "Öh... Danke..." Nach ein paar Stufen äußerte sie: "Wie komme ich zu der Ehre?"
    Mit musterndem Blick ihres Körpers antwortete er zynisch: "Ich hab' nur keine Lust, dass du mir in den Rücken fällst... Buchstäblich."
    "Ach", stöhnte sie daraufhin ganz mitgerissen, ließ es aber gleichermaßen in Zynismus ausklingen, "welch wundervolles kompliment Ihr mir damit macht."
    Ohne weiteren Kommentar dazu drängte er sie weiter die Treppe hinauf, bis in den zweiten Stock, wo sie dann wieder in den Flur einscherten. Mit kurzer Handgeste an ihrem Kopf vorbei, deutete er immer weiter nach vorn.
    "Weißt du, welche Attribute ich mir bei einer Frau am meisten wünsche?"
    Sie schüttelte den Kopf.
    "Ehrlichkeit, Gehorsamkeit und Treue."
    "Gehorsamkeit?", hinterfragte sie prompt, wohl wissend, dass es ihn zu einer Erläuterung bringen würde.
    "Sie soll mir zuhören und zu mir gehören..." Gekonnt beäugte er ihre grazilen Schritte, bis Kuen plötzlich stehen blieb und ihn provokant anstarrte. "Ihr könnt eine Frau nicht einfach einsperren wie wildes Getier."
    Aras lief einfach weiter und schenkte ihr kurzzeitig keine Beachtung mehr. Als er aber keine ihm folgenden Schritte hörte, blieb auch er dann stehen, drehte er sich um, stierte sie an und lief unbehelligt weiter.

    "Ich weigere mich, Euch weiterhin zu folgen, wenn Ihr in meiner Anwesenheit so schlecht über Frauen redet."
    Hart rümpfte er daraufhin die Nase. "Als wenn mich das interessiert! Frauen sind schwach im Geiste, ihnen muss der rechte Weg gezeigt werden..."
    "Ihr predigt mir ständig, wie schlecht Euer Vater zu Frauen war, aber Ihr selbst macht es keinen Deut besser..."
    "Das ... ist ... eine ...Lüge!"
    "Das ist keine Lüge, Zacharas. Euer Vater konnte noch so schlecht gewesen sein, noch so viele Frauen gehabt haben, Euch noch so sehr verspottet haben. Solange Ihr es nicht anders macht, war all das umsonst..."
    Es reichte ihm. Sofort machte er kehrt und stampfte wutentbrannt auf sie zu. Die Fäuste hart nach unten gestemmt und feuerrot im Gesicht knirschte er mit den Zähnen und stellte sich so direkt vor sie. Sie knickte nicht ein, sie bewahrte Mut und Haltung.
    Zornerfüllt blickte er ihr tief in die Augen und knurrte: "Weißt du, wie es sich anfühlt, im Alter von fünfzehn Jahren vom eigenen Vater gesagt zu bekommen, dass die Liebe zu mehreren Frauen mehr wert ist als zu einer einzigen?!"
    Sie verneinte, hielt aber seinem Blick stand.
    "Weißt du, wie es sich anfühlt, erst mit sechzehn Jahren begriffen zu haben, dass man von den Zofen seines Vaters aufgezogen wurde?!"
    Wieder schüttelte sie den Kopf, konnte sich nun aber keine Antwort verkneifen. "Ich habe nur wenig Ahnung von der Komplexität dieser Dinge. Ich glaube nichtmal, dass ich kompetent genug bin, Euch diesbezüglich beraten zu dürfen. Aber auch ich habe eine eigene Meinung, die Ihr akzeptieren müsst..."
    "Müssen, muss ich schon mal gar nichts!", konterte er hochnäsig. "Mein Leben will niemand haben. Und weil ich das erkannt habe, fällt es mir umso leichter, dieses Leben zu leben."
    "Weil Ihr es im vollem Maße ausnutzt", meinte sie und legte ihm den Zeigefinger auf die Brust. "Gerade das macht Euch so unsympathisch."
    "Sympathie ist für mich gestorben, seitdem Engel für mich gestorben ist."
    Immer weiter und kräftiger tippte sie ihren Finger an seine Brust und setzte ein immer finsterer werdendes Gesicht auf. Nur schwer konnte er diese Geste deuten. Hatte er Frauen schon oft in Wut und Raserei erlebt, jedoch noch nie so stimmungsschwankend, wie es Kuen präsentierte. Immer mehr drängte sie ihn so Richtung Wand, behielt aber dabei Konsequenz. Nachdem sie ihn fast komplett zur Wand gescheucht hatte, versuchte er endlich, ihre Hand sanft von sich zu entfernen. Jedoch griff sie vor und erhaschte sein Handgelenk.
    "Ich respektiere Euch als Herzog. Als Ideenschmieder, Stratege und Taktiker. Als Adelsmann, Magier und Gelehrten... Aber nicht als Mann, Partner oder Freund."
    "Weil es niemand verdient hat, mich zu besitzen", konterte er frech und kassierte prompt die nächste verbale Attacke von Kuen. "Weil Ihr zu verbohrt seid, den Verdienst des Respekts neu zu interpretieren!"
    Dann ließ sie von ihm ab und ging einen großen Schritt zurück. Nun betrachtete sie ihn musternd und sah sich an, wie er kuezzeitig seine Würde verloren hatte.

    "Ständig am Nörgeln, ständig am Meckern und Jammern seid ihr Frauen. Ihr seid nie zufrieden. Ihr seid nie glücklich. Ihr müsst zur Wahrheit geführt werden."
    "Solange Ihr so über uns Frauen denkt, werden wir ohne Euch zufriedener und glücklicher sein als mit Euch. Ihr verlangt Ehrlichkeit und Treue bei uns Frauen, aber selbst seid Ihr dies am wenigsten."
    Mit tiefem Schnaufen erwiderte er: "Wenn ich Ehrlichkeit und Treue erst noch verlangen muss, ist wahrlich Hopfen und Malz verloren."
    "Aber nur bei Frauen, nehme ich an?", fragte sie provokant weiter. "Denn Ihr selbst seid zu Euch nicht sehr ehrlich."
    Dann atmete sie tief durch, streckte ihm dabei die offene Hand entgegen, um ihm Schweigen anzudeuten. Und er schwieg tatsächlich. Viel mehr begrüßte er diese kurze Verschnaufpause, um auch seine eigenen Gedanken neu orden zu können.
    Irgendwann wandte sie sich wieder offen ihm zu und sagte im ruhigen Tonfall: "Herzog, die Bürger brauchen Euch. Sie vertrauen Euch. Gerade die armen Leute brauchen Eure Hilfe."
    Murrend erwiderte er, "Die sollten erstmal sich selbst helfen, bevor sie von mir Hilfe verlangen dürfen..."
    "Wäre ich Herzogin..."
    "Herzogin!", äffte er sie nach und verdrehte hart die Augen.
    "Wäre ich Herzogin, würde ich versuchen, jedem einzelnen Bürger zu helfen."
    "Fein", warf Aras ein und grinste sie frech an. "Dann tue das. Ich befehle dir hiermit, den zehn ärmsten Bürger aus dem ärmsten Stadtviertel die aktuelle Situation zu erklären."
    Kurz überlegte sie, wippte leicht umher und nickte abschließend. "Nichts leichter als das. Im Übrigen war Engel auch nicht sonderlich wohlhabend."
    Verdutzt fiel ihm die Kinnlade herunter. Er konnte es nicht fassen, dass sie nun damit anfing. Plötzlich stellte er sich wieder stur und grimmte mit zugekniffenen Augen. "Engel war ignorant! Weil sie meine Hilfe nicht annehmen wollte!"
    "Und warum wollte sie das nicht?" Erwartungsvoll war Kuens Blick. "Sie liebte Euch nicht, stimmt's? Sie verachtete Euch wegen Eurer Besessenheit nach Macht, Ruhm und Reichtum..."
    "Ich bot es ihr an. Ich bot ihr an, meine Gefährtin zu sein, auf dass es ihr an nichts mangeln sollte."
    Enttäuscht schüttelte die Soldatin den Kopf. "Manche Menschen wollen lieber arm sein und dafür frei, anstelle reich und in Fesseln."
    "Ich hätte sie nie in Fesseln gelegt", entgegnete er empört. "Solche Unterstellungen..."
    "Politische, gesetzliche Fesseln", räumte Kuen ihre anfänglich mehrdeutige Wortwahl ein. "Ich gebe offen zu, ich hätte nichts gegen etwas mehr Wohlstand in meinem Leben. Rast und Ruhe. Ein klares Ziel vor Augen... Aber nicht zum Preis meiner Persönlichkeit. Ich bin gebürtige Ymilburgerin, ich fühle mich mit Euch verbunden. Uns verbindet eine gemeinsame Vergangenheit. Wisst Ihr, warum ich mich so schnell ergeben habe? Wisst Ihr, warum ich Eure Nähe suche? Warum ich Euch zu gern widerspreche?"
    Er zuckte gleichgültig mit den Schultern.
    "Weil ich nicht gegen Euch kämpfen will. Weil ihr der mächtigste Zauberer seid, den ich kenne..."
    "Ha!", spöttelte er mit breitem Grinsen. "Mächtigster Zauberer."
    "Und weil ich, trotz aller böswilligen Behauptungen und Geschichten über Euch, fest dem Glauben bin, dass Eure Taten schlussendlich dem Rechten und Gerechten dienen."

    Sie erreichten den Versammlungsraum. Zwei Wachen standen vor der Tür und glotzten nicht schlecht, als sie die beiden kommen sahen. Gerade als Aras die Tür öffnen wollte, legte Kuen sanft ihre Hand auf seine Schulter und wagte einen Blick zu den Wachen. Sie nahmen sofort Haltung an und schauten geradeaus. Dann schwenkte Kuen wieder zu Aras um und sagte: "Versucht Euch mal einen Tag lang allen anderen gegenüber so zu verhalten, wie Ihr es von denen Euch gegenüber verlangt. Dieselben Worte, dieselben Gesten und dasselbe Handeln. Ich verspreche Euch, Ihr werdet mir dankbar sein."
    Mit verränktem Kopf schaute er sie skeptisch an und musterte ihr Antlitz. "Einen ganzen Tag?"
    Sie bestätigte. "Seht es als neue Herausforderung. Ihr mögt doch so gern neue Herausforderungen."
    Grübelnd kehrte er in sich, ließ seine Augen langsam umherwandern. "Ich werde es bei Gelegenheit in Betracht ziehen..."
    "Nein, Zacharas!", ermahnte sie ihm drohend und presste noch stärker ihren Finger auf seine Brust. "Nicht aufschieben! Macht es einfach!"
    Zuerst geschockt von ihrer Sturheit, kam dann Erstaunen über ihn und anschließend ein neckisches Schmunzeln. "Du hast Charisma, meine Liebe. Das gefällt mir so an dir."
    Sie ließ sich davon nicht beeinflussen und behielt ihre grimmige Miene bei. "Keine betörenden Worte an mich, Herzog. Ihr müsst jetzt vor den Rat treten und die Botschaft kundtun." Dann reichte sie ihm die Hand, die er zögerlich ergriff. Mit Handschlag besiegelnd sprach sie weiter: "Und ich werde das tun, was Ihr mir befehligt habt."
    Mit diesen Worten verabschiedeten sie sich voneinander und Aras wandte sich einer der Wachen zu. "Begleitet die werte Dame und passt auf, dass sie keinen Unfug macht."
    Dann öffnete er die Tür und betrat den Raum.

    Die Truppe teilte sich auf. Thyra und Fenrir reisten mit Jaris weiter nach Irishmir, während der Rest nach Ymilburg aufbrach. Daphne schrieb einen Brief an Yorick gerichtet und ließ ihn über Sari dort hinbringen. Kuen gegenüber waren alle noch misstrauisch. Für eine Gefangene war sie ungewöhnlich redselig und entgegenkommend. Einerseits gefiel es der Truppe, kamen sie so leicht an wichtige Informationen. Andererseits konnte dies ein perfider Plan von ihr gewesen sein, den Herzog so aus der Reserve zu locken.

    Auch wenn sie bisher keinerlei Anstalten machte, sich den Forderungen und Folterungen des Lords zu widersetzen.

    Trotzdem kam es den anderen recht merkwürdig vor, dass Kuen explizit von Zacharas verhört werden wollte.

    Nach gut zwei Tagen kamen sie an ein Gasthaus, bei welchem sie übernachten wollten. Sie betraten es und suchten sich einen Tisch etwas abgelegen. Während Theical beim Wirt etwas zu Trinken für alle bestellte, kümmerte sich Aras um die Schlafmöglichkeiten. Knifflig war es, mit dieser aktuellen Konstellation. Keiner von den dreien wollte mit Kuen auf ein Zimmer, aber weiterführend wollte auch Daphne sich mit niemandem sonst eines teilen. Nach minutenlangem Diskutieren und Verhandeln, kam er schlussendlich doch zu einer Einigung und ging sich händereibend zu den anderen an den Tisch.

    "Maria Franziska. Du schläfst alleine, wie du es gewünscht hast."
    Sie nickte einvernehmlich und klärte zugleich die anderen auf: "Eine Frau braucht ihren Freiraum."
    "Theic und Daryk, ihr teilt euch ein Zimmer."
    Als sein Blick zu Kuen wanderte, schien diese bereits zu ahnen, was Phase war.
    "Kuen schläft bei mir", meinte Aras trocken und setzte sich augenblicklich hin. Dann fing sie an zu grinsen, wurde jedoch gleich von ihm zurechtgewiesen. "Das ist kein Grund zur Freude, meine Liebe! Bildet Euch nichts drauf ein!"
    Kaum dies geäußert, begann das große Schweigen. Jeder nippte von seinem Krug, schaute sich etwas um und hoffte anscheinend, nicht sonderlich wahrgenommen zu werden. Bis Kuen sich entschied, etwas zu sagen. Neugierig schaute sie zu Aras rüber und fragte: "Ist Daphne Euer Weib?"
    Entsetzte Blicke folgten. "Um Gottes Willen, nein!", stieß genannte Frau aus und winkte vehement ab. "Niemals würde ich mich mit Zacharas..."
    "Das liegt ganz in meinem Interesse", fügte Aras hochnäsig an und verschränkte provokant die Arme vor der Brust.
    Theic konnte sich nur schwer ein Lächeln verkneifen. "Ihr könnt sagen, was ihr wollt. In dieser Sache seid ihr euch sofort einig."
    Beschämt senkte Kuen den Kopf und schniefte angedeutet. "Es war töricht von mir, dies anzunehmen..."
    "So töricht fand ich das gar nicht", meinte Daryk nur und ertränkte seine weiteren Worte im Met.
    "Ich dachte halt, weil ihr beiden von adligem Geschlecht seid..."
    "Lieber heirate ich eine unschuldige Bäuerin als eine eitle Adelsdame!", konterte Aras, woraufhin Daphne ihm Parole bot: "Unschuldig war Engel keineswegs."
    "Hört mir mit der auf", flüsterte Theic sich was zurecht, um sich anschließend wieder ins Schweigen zu vertiefen.
    Aras ließ das unkommentiert, sah er es auch langsam ein, dass Engel nicht die Richtige war.
    Kuen dagegen schöpfte neuen Mut und fragte sofort nach: "War Engel Eure Gemahlin?"
    Aber auch dies verneinte Daphne. "Sie war seine Geliebte, aber mehr auch nicht..."
    "Und ob sie mehr war!", brauste Aras auf und schlug auf die Tischplatte. "Sie war meine erste und einzige Liebe. Meine Inspiration. Sie war mein Leben."
    "Was hat euch denn entzweit?", fragte Kuen weiter und begoss ihren Mut mit einem weiteren Schluck Bier.
    "Ihr Mann..."
    "Sie war verheiratet?!", brach es aus ihr raus, gleichsam dem Bier in ihrem Mund.
    "Natürlich war sie verheiratet! Das war doch auch der Grund, warum sie nicht zu mir zurückkam..."
    "Wo lebt sie denn aktuell?"
    Darauf gab er keine Antwort. Die anderen hüllten sich auch in Schweigen. Verrieten sie vermutlich eh schon genug Privates von ihm.
    Daryk ergriff das Wort: "Erzähle du uns mal lieber etwas über den Plan von Bornhold."
    Schulterzucken ihrerseits. "Ich habe dem Herzog bereits alles gesagt, was ich weiß."
    "Das ist kein Grund, es uns zu verschweigen", erwiderte der Hüne, fing sich daraufhin gleich einen finsteren Blick von Aras ein.
    "Vergesst nicht, wie wir uns begegnet sind."
    "Und dennoch hatte ich kaum Geheimnisse vor euch, Herzog."
    "Kuen hat aber nichts weiter gesagt, was von Wichtigkeit wäre. Sie hat nur gesagt, dass Bornholds Reich irgendwo auf einer weit abgelegenen Insel liegt und irgendein Ort namens Zesnar von Bedeutung wäre."
    "Das ist doch schon mal ein Anfang", äußerte Daphne sich dazu, schien aber trotzdem keineswegs schlauer dadurch geworden zu sein.
    "Hast du nicht noch mehr Informationen für uns?", fragte Theical die Soldatin direkt mit fordernder Handgeste.
    Sie zuckte mit den Schultern und schaute kurz zum Lord hinüber.
    Er nickte grimmig.
    "Na gut", meinte sie schließlich und genehmigte sich einen kräftigen Schluck. "Wir werden es vermutlich nicht rechtzeitig nach Ymilburg schaffen..."
    Da glotzten sie heftig erstaunt. Aras blieb die Ruhe selbst und starrte nur leer in Kuens Richtung. Sie selbst wirkte spontan schüchtern und versteckte ihr Gesicht hinter dem großen Humpen.
    "Wieso?", wollte Daphne wissen und richtete die Frage erneut an den Lord. "Aras, du wirkst mir etwas zu gelassen, in Anbetracht, dieser Erkenntnis."
    "Das liegt daran", entgegnete Kuen leise, "dass ich es ihm bereits gestern gesagt habe."
    "Was bei Calypso?", wollte sie anfangen zu fluchen, konnte sich aber noch fangen und ordnete ihre Gedanken neu. "Wieso hast du uns das nicht unverzüglich gesagt?"
    Aras verwies nur zu Kuen hin. Diese erzählte prompt weiter. "Wenn wir den regulären Weg nehmen, werden wir garantiert überfallen. Aber wenn wir eine alternative Route nehmen, wird die Zeit knapp."
    "Das erklärt nicht Zacharas' Gelassenheit."
    "Sie kann uns auf regulärem Weg sicher nach Ymilburg führen", erklärte Aras schlussendlich. "Das Problem ist nur, dass ihr ihr vertrauen müsst. Ich für meinen Teil vertraue ihr..."
    "Du vertraust ihr?" Theical wäre fast vom Stuhl gefallen, als er das zu Ohren bekam. "Was ist mit dir los? Das bist doch nicht du!"
    "Theic hat Recht", fügte Daphne an. "Wer seid Ihr und was habt Ihr mit Zacharas gemacht?" Dann schwenkte ihr Kopf zu Kuen rüber. "Und woher kommst du überhaupt? Bisher hast du nur etwas von uns wissen wollen. Von dir wissen wir kaum etwas."
    Da lachte Kuen verhalten und zwinkerte dem Lord kurz zu. Er ahnte, was folgen würde und rutschte etwas tiefer seinen Stuhl hinab, um sich möglichst klein zu machen.
    "Geboren bin ich in Ymil."
    Die Gesichter der anderen drei waren Gold wert. Mit großen Augen schauten sie drein und stießen gemeinsam einen Laut der Verwirrung aus.
    Kuen schmunzelte nur und erzählte weiter. "Den Großteil meiner Kindheit verbrachte ich dort. Aber später sind wir dann umgezogen, weit hoch in den Nordosten. Ein kleiner Ort namens Havestoen. Gelernt habe ich den Beruf des Töpfers und Kerzenziehers und auch sonst bin ich recht schlicht unterwegs..."
    "Töpfer?", hinterfragte Daryk und verwies auf ihre Rüstung.
    Und Aras zeigte konkreter auf ihr Wappen. "Deshalb die brennende Kerze."
    "Aber warum vertraust du ihr?", kam erneut die Frage von Daphne auf.
    "Sie weiß viel Persönliches über mich, was sie eigentlich nicht wissen kann. Sie vertraut mir und bietet mir an, mich zu beschützen."
    "Aber das Angebot nimmst du doch nicht an, oder?"
    "Wenn sie Recht behält mit ihren Aussagen und uns wirklich sicher nach Ymilburg bringen kann, dann denke ich darüber nach."

    "Aber, das ist doch gar nichts Handfestes", meinte Daryk darauf und wandte sich ebenso direkt an Kuen. "Wie kam es überhaupt dazu, dass Ihr Soldatin wurdet?"
    Doch da verschloss Kuen sich und schwieg wie ein Grab.

    "Sprecht endlich!", brüllte Jaris sie weiter an und verpasste ihr einen leichten Schlag auf die Wange. Doch sie erwiderte nicht. Ferner verzog sie eine bittere Miene, die den Halbelfen dazu animierte, noch aggressiver zu werden. Erneut schlug er sie, diesmal härter.
    Aras konnte das nicht mit ansehen. Es quälte ihn zu sehr, als dass er das länger zulassen konnte. Bevor Jaris ein drittes Mal zuhauen konnte, ergriff Aras reflexartig dessen Arm und riss ihn fest an sich.
    "Solange ich anwesend bin, werden keine Frauen geschlagen!", presste er zähneknirschend heraus und warf ihm einen warnenden Blick zu.
    "Ich habe sie nicht geschlagen..."
    "Doch, das hast du."
    Verwirrt verfolgte die Soldatin die Diskussion, wagte es aber immer noch nicht, sich kundzutun.
    "Höre zu, Aras", sprach Jaris ermahnend. "Ich bin auch nicht dafür, einer Frau Leid anzutun. Aber in diesem Fall sehe ich das anders..."
    "Nein! Du krümmst ihr kein Haar!"
    "Sie ist unsere Gefangene. Sie ist der Feind. Sie weiß vielleicht wichtige Informationen. Wir müssen in den sauren Apfel beißen."
    Plötzlich stieß die Soldatin ein spöttisches Kichern aus. "Ihr wollt Euch nur an mir rächen, weil ich Euch im Zweikampf hätte besiegen können."
    Mit entsetzten Augen stielte er sie daraufhin an. Die Hand zuckte schon wieder. Jaris hätte ihr am liebsten jetzt eine Lektion erteilt.
    Sie wandte ihren hämischen Blick Aras zu, woraufhin ihre Miene nun gedrückter wurde. "Und Ihr hättet mich mit Eurer Magie besiegen können."
    Da fielen dem Lord glatt die Augen raus. Er erinnerte sich an ihr Wappen zurück. Es war ihm gänzlich unbekannt. Allgemein schien ihm ihre Gestalt unbekannt.
    "Woher kommt Ihr? Wem seid Ihr unterstellt?"
    "Das habe ich Euch bereits gesagt."
    "Eure Herkunft! Wo seid Ihr geboren?"
    Da lachte sie und zwinkerte ihm keck zu. "Ihr werdet es mir eh nicht glauben."
    "Wenn Ihr der Meinung seid, ich würde es eh nicht glauben, dann könntet Ihr es mir auch bedenkenlos verraten."
    "Nein, ich verrate es Euch nicht", erwiderte sie kopfschüttelnd und fixierte ihren Blick wieder auf den Halbelfen. "Nicht, solange er anwesend ist."
    Beleidigt fühlte sich Jaris. "Hörst du das?", murrte er den Lord an. "Sie verspottet uns."
    "Ich verspotte euch nicht, meine Herren. Ich bin nur nicht gewillt, einem Fremden persönliche Dinge des Lords zu erzählen."
    Da wurde Aras hellhörig. Alles, was ihn persönlich betraf, genoss er mit äußerster Vorsicht. Und ebenso penibel verhielt er sich auch in dem Moment.
    "Was genau wisst Ihr persönlich über mich? Sprecht es nicht aus! Deutet es nur an!"
    Sie atmete kräftig durch und presste heiser aus ihren Lippen: "Über Euren Vater."
    Jaris starrte sie abwechselnd an. Die Soldatin verblüfft und den Magier fordernd. Doch Aras regte sich nicht. Er zeigte keine Mimik, keine Gestik. Er schaute sie nur gefühlstot an.
    Dann verkündete sie schnaufend: "Ich möchte mit Zacharas sprechen."
    "Dann macht das doch!", blaffte der Leibwächter sie an mit auffordernder Handgeste.
    Und als wäre es ein Schauspielstück, schüttelten Zacharas und Kuen gemeinsam den Kopf. Folgend nahm er ihr die Worte aus dem Mund. "Nur mit mir will sie sprechen."

    Wortlos ging Jaris davon. Als sie beide allein waren, begann Aras auch gleich, sie zu verhören. Er stellte sich hinter sie, sodass sie ihn nicht sehen konnte.
    "Was wisst Ihr über meinen Vater?"
    Sie senkte den Kopf und flüsterte: "Er wurde ermordet."
    Skeptisch vernahm er diese Worte. Wusste er natürlich, dass es stimmte. Jedoch wollte er nicht wahrhaben, dass eine solche Frau dies auch wusste. Es war schrecklich für ihn, dies nun erfahren zu haben. War er schließlich peinlichst darauf erpicht, alle Leute, die davon wussten, zum Schweigen zu bringen. "Schade für Euch..."
    "Was ist schade für mich?", wollte die Soldatin wissen und verrenkte ihren Kopf stark, um einen Blick auf Aras zu erhaschen. Jedoch stand er so dicht hinter ihr, dass sie glatt an ihm vorbeischaute.
    "Es ist schade für Euch, dass Ihr eine Frau seid."
    "Ihr wollt mich nicht foltern, stimmt's?"
    Und für diese Äußerung kassierte sie einen leichten Stupser von hinten. "Schweigt still, Weibsstück!"
    "Ihr habt Euren Kodex, nicht wahr?"
    Es reichte ihm. Mit beherztem Griff nach ihren Knöcheln, nahm er ihr die Sandalen ab, sodass die nackten Füße zum Vorschein kamen. Er nahm Kuens Haltung an und umklammerte sanft mit der Hand ihren Knöchel. Irritiert wirkte sie, versuchte mit den Beinen zu strampeln, versagte aber kläglich. Instinktiv gruben sich die Zehen in das weiche Laub. Verführerisch waren sie für Aras. Auch wenn es nur gewöhnliche Füße waren, nicht mal sauber, fand er sie trotzdem ausgesprochen schön. Anschließend nahm er seinen Dolch zur Hand und strich vorsichtig mit der Klinge an ihren Fußballen entlang.
    "Ich tue das äußerst ungern", meinte er, was seine Streicheleien aber nicht rüberbrachten. "Würdet Ihr kooperieren, müsste ich das nicht fortführen."
    "Was wollt Ihr wissen? Ich habe keine Geheimnisse vor Euch."
    "Immer noch dieselbe Frage wie zuvor. Was wisst Ihr über meinen Vater?"
    "Ich nehme kein Blatt vor den Mund. Mein Vater hat Euren Vater ermordet."
    "Woher habt Ihr diese Informationen?", fragte er sie im strengen Tonfall und riss ruckartig ihren Oberkörper nach hinten, sodass sie an ihm lehnte. Ihr Kopf auf seiner Brust und sein Arm locker um ihren Hals gewunden, starrte sie ihn angsterfüllt an.
    Sie gefiel ihm. Ihr Blick gefiel ihm. Er verlor sich darin. Ihre Furcht stärkte sein Selbstbewusstsein. Er fühlte sich ihr überlegen, ohne ihrer sanften Haut auch nur einen Kratzer versehen zu haben.
    "Antwortet endlich! Ich werde Euren Vater finden und ihn zur Strecke bringen!"
    "Mein Vater hat es niemandem sonst verraten..."
    "Ihr wisst davon, meine Liebe!" Anschließend richtete er sie wieder auf, sodass sie auch ohne ihn als Stütze aufrecht knien konnte. "Was sagte Euer Vater über meinen Vater?" Dies geäußert, stand er auf, bewegte sich langsam um sie herum und strich ihr dabei schwungvoll über die verletzte linke Schulter. Mit großen Augen verfolgte sie seine Bewegungen, doch sie sagte nichts. Nichts, bis er sich zu ihr bückte und die Dolchspitze an ihren Bauch hielt. Mit der freien Hand ergriff er ihren Lederharnisch. Und dann durchtrennte er die ersten Fäden, die ihn zusammenhielten. Ihr Bauchnabel war zu sehen.
    "Bitte tut das nicht!", keuchte sie. Hektisch hob und senkte sich ihr Brustkorb, sie war angespannt bis zum Äußersten. Leicht nach vorn gekrümmt, versuchte sie, ihm das weitere Auftrennen der Fäden zu erschweren. "Ich werde Euch alles sagen, was Ihr wissen wollt. Aber bitte, tut das nicht..."
    "Ihr habt mir gar nichts zu sagen!"
    "Auch wenn es Euer gutes Recht ist, meinen Körper zu begehren, bitte ich Euch dennoch, dies nicht zu tun."
    "Und warum nicht?", wollte er wissen und schaute sich kurz um. "Es ist keiner weiter da. Wir sind ungestört." Ein breites Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. "Was spricht also dagegen, Euch eingehender zu begutachten?"
    "Foltert mich lieber mit Schmerzen, anstelle dieser Folter. Ich möchte nicht, dass Ihr mich so seht."
    "Dann beantwortet endlich meine Fragen! Was denkt Ihr über meinen Vater?"
    "Ich bin ehrlich, Lord Zacharas. Euer Vater war ein Quäler! Ein untreuer, frauenverachtender Bastard! Er verspottete Euch!"

    "Wieso denkt Ihr das, dass er so war?!"
    "Ich... Ich weiß es nicht..."
    Es gefiel ihm absolut nicht, dies zu tun. Sicherlich, er hätte nichts dagegen gehabt, ihr den Harnisch abzunehmen. Jedoch vermutete er bereits, dass sie dann schweigen würde. Sie faszinierte ihn. Ihr ganzes Wesen erinnerte ihn etwas an Engel. Jedoch war Kuen offenbar nicht gegen ihn. Wer bot sich denn schon fast freiwillig als Gefangener an und bittet beim Lord um Vergebung? Stark verzweifelte Frauen, seiner persönlichen Erfahrung nach.
    "Es gibt viele, die so über ihn denken. Aber es gibt nur wenige, die es auch offen aussprechen. Und dies von einer jungen Frau zu hören, zeugt von sehr viel Mut oder sehr viel Dummheit..." Vorsichtig legte er seine Hand auf ihren Brustkorb und spürte ihre Unsicherheit. Hektisches Atmen, Anspannung in ihrem Oberkörper. Ihre Augen waren geschlossen, was Zacharas glauben ließ, er hätte freie Hand. Sich daran bereichernd, wie sie litt und sich fürchtete, trieb er es weiter und ließ die Dolchspitze vorsichtig an ihr Kinn gleiten, während er mit seiner freien Hand über ihren Hals strich.

    "Ich glaube nicht, dass Ihr dumm seid, Kuen." Noch einen Moment verharrte er in dieser Pose, bevor es ihm zu langweilig wurde. Ruhig in der Stimme flüsterte er ihr zu: "Öffnet Eure Augen wieder. Sie sind zu schön, als dass sie geschlossen bleiben sollten."
    Sie kam seiner Aufforderung nach und öffnete sie vorsichtig. Erleichterung strahlten sie spontan aus, als sie das Gesicht des Lords erspähten. Dann ließ er von ihr ab, steckte den Dolch wieder weg und legte ihr die Hand auf den Kopf. Während er ihr kurzes Haar kraulte, schritt er mit stolzem Gang um sie herum, bis er wieder hinter ihr stand. "Ihr habt sehr viel Mut. Und dies belohne ich, indem ich Euch jetzt in Ruhe lasse..."
    "Danke, mein Herr! Vielen Da..!"
    "Dennoch seid Ihr meine Gefangene", unterbrach er sie kurzerhand. "Ich werde Thyra vorbei schicken. Sie wird Euch wieder angemessen Einkleiden, damit Ihr... kein Aufsehen erregt." Und mit diesen Worten ging er davon.

    Nach einer intensiven Diskussion, über Nutzen und Zweck von Jaris' Vorhaben, stimmte Zacharas schlussendlich zu. Aber eher, weil er keine Lust hatte, wieder als Außenseiter zu gelten. Sie überlegten sich genau, wie lange es dauerte, bis nach Irishmir und zurück nach Ymilburg. Es wäre ein Umweg von knapp zwei Tagen, was zwar noch im verkraftbaren Rahmen lag, jedoch für Aras mehr Stress bedeutete. Das Risiko, nicht seine ganze Stadt evakuieren zu können, wurde dadurch immens erhöht. Aber Daphnes Blick, schon allein ihr Wiederkehren, waren ausschlaggebend, den Lord sanftmütiger sein zu lassen.
    Alsbald machten sie sich auf dem Weg.

    Am Rande der Wälder von Irishmir angelangt, hatten sie bereits mulmige Gefühle. Es war zu ruhig für solch eine Gegend. Zwar hatte niemand von ihnen wirklich Ahnung, wie die Elfen lebten. Selbst Aras wusste nur wenig über diese Gegenden. Waren diese ja sehr angelegen und kein beliebtes Reiseziel. Was hätte man dort auch schon verloren, wenn nicht sein Leben oder seine Hoffnung?
    Nur an den Begegnungen in der Wüste konnte Aras sich einen Reim aus wilden Elfen machen. Der Hochadel von Felodun war keinesfalls mit primitiv lebenden Waldläufern und Baumhausbewohnern zu vergleichen.
    Schwerfällig klapperte die Kutsche durchs Gelände, kam nur langsam voran. Wie die meiste Zeit über, ruhte Aras in dieser, konnte Daphne leider nicht dafür begeistern. Sie ritt lieber auf ihrem Pferd Avalon, der etwas stürmisch voraustrabte. Theical neben ihr, war für sie offensichtlich eine bessere Gesellschaft als die des Herzogs. Jaris und Thyra auf einem Pferd und Daryk extra für sich, ritten dagegen hinter der Kutsche.
    Wirklich schade, dass sich niemand zu ihm hineingesellen wollte. Einerseits war es ihm ganz recht, nicht genervt zu werden. Aber andererseits hätte er sich schon über einen Gesprächspartner gefreut. Am liebsten Daphne, die ihm besonders ans Herz gewachsen war.

    Plötzlich wieherte eines der Tiere, vor der Kutsche gespannt. Dann folgte ein Aufschrei von Jaris: "Ein Pfeil!"
    Und ehe Aras aus der Kutsche schauen konnte, kam auch schon einer angesaust und verfehlte ihn knapp. Direkt neben ihn im Sitzpolster blieb er stecken und zitterte noch leicht. Heftig zuckte der Lord zusammen, hätte er schließlich auch dort sitzen und nun dieses Pfojektil in seiner Brust spüren können. Oder vielleicht sogar Maria Franziska. Es ging so schnell, dass ihm diese Gedanken gar nicht erst kamen, bevor er auch nur übermütig aus der Kutsche stürzte.
    "Daphne, Theical!", riefen die anderen.
    Die Pferde trabten schneller und Aras wurde heftig durchgerüttelt. Doch nur wenige Meter weiter kam die Kutsche zum Erliegen und das Pferdetraben verstummte. Mit einmal stürmten auch schon eine Hald voll Soldaten aus allen Richtungen auf sie zu. Mit gezückten Waffen und Schilden stellten sie sich den Vier und schienen nicht gerade freundlich gesonnen zu sein. Jaris und Daryk wollten es erst noch mit Worten regeln und die Meute besänftigen. Aber die geschwungenen Schwerter der Angreifer deuteten nicht auf solcherlei Diplomatie hin. Sofort sprang Daryk von seinem Gaul ab und schwang noch in der Drehung die Axt, um gleich dem ersten Soldaten damit einen heftigen Hieb auf den Schutzhelm zu verpassen. Thyra hatte schwer zu kämpfen, ihren Bogen zu spannen und auf die Schnelle ein Ziel zu finden, das leicht zu erledigen war. Die meisten der Angreifer trugen schwere Rüstungen oder Harnische. Und die Bogenschützen waren gut versteckt hinter den Bäumen, sodass man sie in der Eile des Gefechts nicht entdecken konnte.
    Jaris führte sein Pferd zur Kutsche heran, wodurch es der Jägerin ermöglicht wurde, auf die Kutsche zu steigen und von dort oben zumindest gegen die Schwertschwinger geschützt zu sein.
    "Was wird das hier?", fluchte Aras, der immer noch in der Kutsche saß und über sich ein heftiges Poltern vernahm. Überall klirrte und sirrte es, Stahl traf auf Stahl und Kampfgeschrei heizte die Menge an. Während draußen das Gefecht stattfand, kramte Aras seinen Zweig, den er gestern am Wegesrand hat mitgehen lassen, aus der Seitentascher hervor und brabbelte wirrte Worte vor sich hin. Es waren Zaubersprüche und magische Flüche, die jedoch aus seinem Mund keinerlei Wirkung zeigten.
    Doch schon bald passierte genau das, was der Lord nicht wahrhaben wollte. Draußen stand ebenfalls ein Magier, dessen Aufmachung aber eher an einen heruntergekommenen Hofnarren erinnerte. Wie ein exotischer Teppich, in bunten Gewändern eingekleidet, mit Filzhut und braunen Sandalen huschte er zwischen den Bäumen umher und verschoss mit seinem richtigen Zauberstab Feuerbälle. Auch wenn diese nicht gerade groß waren und willkürlich herumflogen.
    "Thyra, der Magier!", schrie Daryk und beschäftigte nebenher zwei Soldaten in voller Montur. Der Hüne hatte gegen sie leichtes Spiel, schienen diese eher gut bezahlte Söldner gewesen zu sein und weniger gut ausgebildete Kämpfer.
    Plötzlich hörte Aras auf der anderen Seite der Kutsche ein raschelndes Geräusch. Ehe er sich versah, drangen Axtklingen durch das Holz und schlugen das Gehäuse kurz und klein. Seine Leute standen auf der anderen Seite, eben dort, wo auch die Angreifer waren. Nur Thyra hatte einen guten Blick in alle Richtungen, was sie auch sofort lauthals vekündete. "Daryk, sie wollen sich Aras krallen!"
    Ein lautes Sirren und schon klatschte eine der Personen auf den Erdboden auf. Die Äxte schlugen weiterhin auf die Kutsche ein, bis ein Loch entstand, durch dieses sie hineinlinsen konnten. Aras ergriff die Gelegenheit und verpasste dem ersten Angreifer, der es wagte, hineinzuschauen, einen kräftigen Tritt ins Gesicht.
    Doch kaum erlegte Thyra einen weiteren Angreifer, flogen auch schon Enterhaken über die Kutsche. Mit einem beherzten Sprung rettete sich die Jägerin vor den hart geworfenen Eisenhaken, in Richtung Daryk, der sie fast schon selbstverständlich schulterte und nun mit ihr auf dem Rücken weiterkämpfte.
    "Leute, was geht hier vor sich?", wollte Aras wissen und riss nun doch die Tür auf. Ein reges Getümmel herrschte draußen. Mit gehechtetem Sprung begab er sich aus dem engen Vehikel. Kaum stampften seine Füße auf, schmiss sich Jaris vor ihn und wehrte einen Soldaten ab. Thyra, immernoch auf Daryks Schultern, suchte den feindlichen Magier, entdeckte ihn hinter einem Baum und verschoss einen Pfeil. Er traf sein Ziel im Bauch, woraufhin dieser sich schnellstmöglich aus dem Staub machte.

    "Wir müssen ihn aufhalten!", rief sie und klammerte sich etwas unbeholfen um des Hünen Hals. Sie wollte einen weiteren Pfeil abfeuern, doch schon kam Fenrir ihr zuhilfe und attakierte den Zauberkundigen mit ausgestreckten Pranken und offenem Maul.

    "Daryk, lass meine Freundin hinunter und bring Zacharas in Sicherheit!", rief Jaris im Kampf verwickelt, während der Lord sich versuchte in den Vordergrund zu drängen. Unbewaffnet und ungeschützt wollte Aras mitkämpfen und ebenso einen Beitrag leisten. Doch war er als Herzog zu kostbar, als dass er im Kampf wegen eigener Naivität sein Leben riskieren durfte.
    Kaum ausgesprochen, hörten sie hinter sich die Kutsche sich langsam vom Boden abhebend und in bedrohliche Schieflage begebend. Dann passierte es... Mit lautem Getöse fiel sie um, wurde vom harten Aufprall leicht zerschmettert und riss fast noch das eine lebende Pferd von beiden mit zu Boden. Kaum, dass sie es realisieren konnten, sahen sie sich noch vier weiteren Soldaten von der anderen Seite gegenübergestellt.
    "Ich habe doch gesagt, sie wollen sich Aras krallen!", blaffte Thyra im Eifer und stieß dem Nächstgelegenen ihren Bogen ins Gesicht. Jaris wehrte noch schnell den Soldaten vor sich ab, verpasste ihm einen kräftigen Schlag, gefolgt vom Tritt in die Bauchgegend und anschließenden Blitzen in die aufgescheuchte Menge. Nachdem der Hüne sich mit wenigen Hieben von den beiden Attakierenden erholt hatte, erhaschte er im Vorbeigehen den Lord und flüchtete mit ihm den Weg entlang. Doch schon bald stürmten ebenso große Männer wie der ehemalige Rittersmann auf sie zu. Drei an der Zahl, und jeweils noch einen Kopf größer und einen Schlag breiter als Daryk. Mit Äxten und Schilden sprinteten sie ihnen nach und machten nicht den Anschein, auf friedliche Verhandlungen auszusein. Merkwürdigerweise verfolgten nur diese drei Männer sie, als dächten sie, es würde ausreichen.
    Und es reichte offensichtlich auch aus. Denn Daryk blieb plötzlich stehen und sagte: "Flieht weiter, Ihr seid schneller als ich!"
    Aras realisierte es nur halb, nahm die Ansage nicht wahr und stellte sich ebenfalls dem Kampf. Aber als er dann sah, dass schon allein der erste Riese Daryk die Stirn bieten konnte, suchte Aras doch schnell das Weite. Hoffend, dass Daryk es überleben würde und ihn selbst niemand verfolgen würde, flüchtete er ins Dickicht und suchte Schutz zwischen Felsen und Sträuchern, die es hier zuhauf gab.

    In der Ferne hörte er Thyra rufen: "Wo ist Daryk?"

    Aras fühlte sich schlecht, seine Kameraden im Stich gelassen zu haben. Zu gern hätte er ihnen geholfen, doch war es eindeutig zu gefährlich für ihn. Panisch verkroch er sich im Gebüsch und hoffte, selbst nicht geschnappt zu werden und weiterführend keine seiner Freunde zu verlieren. Ihm war bewusst, dass er im Kampf eh nur im Wege gewesen wäre. Vielleicht war auch gerade er das Ziel des Angriffs. Und nun, wo er nicht mehr am Kampfgeschehen beteiligt war, würden die Angreifer sich vielleicht zurückziehen oder explizit nach ihm Ausschau halten.

    Minuten vergingen, bis plötzlich vor ihm ein einsamer Soldat in voller Montur auftauchte. Langsam stapfte dieser über den Waldboden, hielt gezielt Ausschau nach irgendetwas oder jemanden. Zacharas versuchte ganz still zu sein und stand starr im Gebüsch, bewegte nicht mal seine Lippen.
    "Zacharas", hörte er Jaris nach ihm rufen. Etwas abseits von seiner Position und der des Soldaten entdeckte er den Leibwächter, mit samt Thyra und Fenrir. "Wir haben sie in die Flucht geschlagen!"
    Aras durfte nichts sagen, sonst hätte der Soldat ihn entdeckt und sofort attakiert. Aber, hätte der Magier es nicht bereits erahnt, ergriff nun der Gepanzerte die Initiative und suchte Jaris auf. Mit gezückten Langschwert und Rundschild schlich er sich vorsichtig an den Bäumen vorbei in Jaris' Richtung. Der Lord musste etwas tun, nachdem er bereits Daryk verloren hatte und Daphne mit Theical ebenso im Wald verschwunden waren. Aras wartet noch eine Weile, bis der Soldat näher am Halbelfen war als an ihm selbst und verriet dann laut dessen Position.
    Kaum vernommen, beschleunigte der Soldat seine Schritte und attakierte Jaris aus dem Hinterhalt. Der Söldner war schnell und konnte ausweichen. Jedoch behielt der Soldat die Ruhe und attakierte ihn mit gezielter Präzision und Manneskraft. Thyra wollte Jaris unterstützen, jedoch ließ der Soldat ihr nicht die Chance, ein freies Schussfeld zu haben. Sich stets vor Thyra verbergend, umkreiste er Jaris und spielte mit ihm. Es wirkte so, als hätte Jaris endlich wieder einen würdigen Gegner gefunden. Kampferfahrung schien er zuhauf gehabt zu haben, so grazil und geschickt, wie er sich bewegte. Trotz schwer ausschauender Rüstung und unhandlichem Schwert, schkug er sich wacker gegen den Halbelfen, der sogar einige Blitze verschießen konnte. Man möge meinen, es hätte dem Soldaten den Rest gegeben, immerhin vertrugen sich Metall und Blitze nicht sonderlich gut. Aber aus irgendeinem Grund steckte der Soldat dies recht gut weg. Oder war es einfach nur der Kampfrausch, der ihn beständig ließ?
    Aras wagte sich auch wieder aus seinem Versteck und wollte Jaris nun auch etwas im Nahkampf helfen. Ablenkung ausüben und den Angreifer stören. Aber als dieser dann Zacharas zu Gesicht bekam, nahm er plötzlich Reißaus und ergriff die Flucht. Ein kräftiger Stoß gegen Jaris' Brust und der Halbelf geriet ins Straucheln. Es kam zu überraschend für ihn, anders konnte Jaris es sich nicht erklären. Thyra sah nun die Chance und spannte den Bogen. Doch plötzlich ertönte Theicals Stimme aus der Ferne. "Sie haben Daryk entführt!"
    "Sie haben was?", entglitt es der Jägerin mit ungläubigen Blick. "Unser Dickerchen?"
    "Diesen Oger?", hinterfragte Aras seine Aussage, musste aber auch selbst feststellen, dass dies offensichtlich so war. Die Hektik hatte sich so schnell gesteigert...
    Der Hinterhalt, die entflohene Daphne, flüchtende Soldaten und nun noch der entführte Hüne. Schlechter konnte es die Truppe kaum erwischen. Was war nun zu tun? Was war das Primärziel? Aras deutete Thyra an, den Soldaten aufzuhalten. Noch war er in Reichweite. "Wir müssen hinterher und ihn erwischen!", rief er und rannte los so gut es seine Kondition zuließ. "Haltet ein! Bleibt stehen!"
    Aber er blickte nicht zurück und flüchtet immer tiefer in den düsteren Wald. Sträucher, Bäume und Felsen verschleierten seine Sillouette, bis er beinahe komplett mit der Umgebung verschmolzen war.
    Endlich sauste ein Pfeil an Aras vorbei und traf den Flüchtigen in die Wade. Zwar prallte das Geschoss von den Eisenplatten ab, jedoch schien der Soldat vor lauter Schock ins Schlingern zu geraten und entschleunigte seine Schritte. Ein weiterer Pfeil folgte und traf ihn an der ebenso gut gepanzerten Schulter. Dieser erlegte ihn dann wie ein gezielter Treffer einen Hirsch. Stolpernd und strauchelnd stapfte der Flüchtige noch einiger Meter weit vor sich hin, bis es schließlich ganz zum Erliegen kam und sich beinahe flach auf den Waldboden legte.
    "Ergebt Euch!", rief der Lord ihm erneut und abermals zu, wollte keine weitere kostbare Zeit verschwenden und überkaupelte sich beinahe in seinem Sprint.
    Urplötzlich, wie aus dem Nichts, tauchte Avalon mit Daphne gebuckelt vor dem Magier auf und schnitt ihm im Galopp den Weg ab. Sie konnte sich kaum auf dem wilden Hengst halten, krallte ihre Finger tief in seine Mähne und jaulte ängstlich auf: "Langsamer, Avalon!"
    Geradeso konnte Aras die Reißleine ziehen und schlitterte im rutschigen Moos dahin, dem Pferdehintern nur wenige Zentimeter entfernt.
    Avalon holte den Soldaten schnell ein und touchierte ihn leicht mit den Beinen, sodass dieser sanft umgestoßen wurde.
    "Theical?", fragte Aras die Heilerin. "Wo ist Theical?"
    "Bei Fenrir und Sari", erwiderte sie und deutete mit schneller Handgeste gen Westen. "Er ist in Sicherheit..."
    Instinktiv schwenkte sein Kopf um und suchte nach genannten Tieren. Dass sie nicht zu entdecken waren, war zu offensichtlich.
    "Zacharas!", rief Daphne weiter und zeigte zum Soldaten rüber, der weniger Meter neben ihr hockte und sein Schwert fest umklammert hielt. Sein Blick ging von der weiten, rettenden Ferne ab und wandte sich der Truppe zu.
    "Jaris! Zacharas! Schnappt ihn euch!"
    Aras stürmte auf ihn zu mit ausgestrecktem Arm und Holzstock in der Hand. Jaris tat es ihm gleich, dafür mit seinem Schwert. Der Soldat, umzingelt von den beiden und bald schon von Thyra und Daphne mit, hockte im Laub, senkte seinen Kopf und rammpte das Schwert in den moosigen Waldboden vor sich. Nur heiser vernahmen sie seine Stimme, die sagte: "Bitte vergebt mir, Lord von Ymil."
    Kurz irritiert davon starrten sie Aras an, fingen sich dann aber wieder und fixierten ihre Blicke erneut auf den Soldaten. Sanft ließ dieser seine gepanzerten Handschuhe am Schwertgriff hinabgleiten und stützte sich mit verbeugender Geste vom Boden ab. "Ich gebe mich meinem Schicksal hin."
    In seiner Schulter steckte ein abgebrochener Pfeil, der anscheinend genau die ungepanzerte Stelle zwischen den Eisenplatten erwischt hatte. Etwas Blut floss heraus, schimmerte weinrot am silberglänzenden Metall. Ungelenk bewegte er den Arm und versuchte das Geschoss keine größere Wunde reißen zu lassen. Dass er Schmerzen hatte, konnte man ihm nicht ansehen.
    Die Truppe musterte den Soldaten etwas genauer von außen. Eine braune Lederhose bedeckte seine Waden, wurde von Rüstungsplatten um Hüfte und Beine größenteils verhüllt. Schwere gepanzerte Stiefel, sehr unbeweglich und starr wirkend. Um die Brust eine blaue Tunika gewickelt, mit einem unbekannten goldenen Wappen darauf, in Form einer brennenden Kerze inmitten eines Dornengranzes. Leicht zeichneten sich kleine Ringösen am gespannten Tuch ab, was auf ein Kettenhemd schließen ließ. Die Schultern, wie auch der Nacken und Arme ebenfalls mit Panzerung bedeckt, welche mit Eisenhandschuhen endete. Auf dem Kopf prangerte ein recht schlichter Visierhelm.
    Einige Meter vom Soldaten entfernt lag ein Rundschild, der auch schon bessere Tage erlebt hatte. Das Langschwert zwischen seinen Händen, deren Klinge recht lädiert aussah, jedoch passend zur Gesamtaufmachung, bewies seine zuvor gezeigte Kampferfahrung. Umso mehr verwunderte es die Truppe, dass der Angreifer sich so schnell ergeben hatte. Es war der Soldat, der Jaris um Zweikampf gegenüberstand und dem Halbelfen die Stirn bot.

    "Zeigt mir Euer Gesicht!", rief Aras ihm zu, während alle anderen ihre Waffen auf ihn richteten. "Gebt Euch zu erkennen!"
    Langsam führte er seine Hände zum Helm und nahm ihn ab. Aber was sie zu sehen bekamen, war kein Gesicht eines Mannes oder eines Kriegers. Es war das Gesicht einer Frau, die dazu noch recht jung wirkte. Kurzgeschnittenes, blondes Haar drang zu ihnen hervor, wie auch ein rundliches, kindliches Gesicht. Recht hübsch, möchte man behaupten. Zumindest nahm man ihr nicht ab, dass sie eine Soldatin sei.
    Hektisch atmete sie, holte tief Luft und blickte Aras reuend in die Augen.
    Er war verblüfft von ihrer Ausstrahlung. Sie erinnerte ihn an Engel. Äußerlich eher weniger. Dafür umso mehr als Kriegerin und Rebellin. Irgendetwas war an dieser Frau vor ihnen, was er spontan wertschätzte. Es war die Entschuldigung, die ihn zwar immer noch in Skepsis schwelgen ließ, jedoch in gewisser Weise packte.
    Ihr spitzes Näschen, die erröteten Wangen, fast schon sanftmütigen Pauspäckchen, der vor Anspannung zitternde Mund und die einnehmenden Augen, erstrahlend in einem tiefen Smaragdgrün. Aras senkte spontan den Arm, mit dem lächerlich wirkenden Zweig zwischen den Fingern, und sprach zu ihr: "Wie... wieso so reumütig?"
    "Bitte vergebt mir, Lord von Ymil", stammelte sie erneut vor sich hin und verbeugte sich wieder vor ihm und seiner Truppe. "Ich wusste nicht, dass Ihr es wart, den wir zu überfallen hatten..."
    "Gib Ruhe mit deinem Gefasel!", murrte Thyra sie an und trat mit dem Fuß leicht nach ihrem Rücken. "Wer bist du und was ist dein Auftrag?"
    "Ich... Mein Name ist Kuen. Kuen Neyt, mein Herr!" Dann legte sie ihre Arme auf ihren Rücken und ließ vorsichtig ihre Stirn auf den Boden sinken. "Nehmt mich gefangen! Ich habe es nicht anders verdient!"
    Vollkommen perplex glotzten sie sich gegenseitig an, konnten diese doch so offensichtliche Geste von der Frau nicht recht deuten. Warum ergab sie sich einfach so? Die Truppe hatte nicht mal etwas in dieser Richtung geäußert und doch kam die Überwältigte ihnen ohne weiteren Widerstand so entgegen.
    "Fein", sprach Aras glucksend mit verwirrtem Blick und machte Jaris eine Handgeste. "Fessel sie, wie sie es verlangt."

    "Leute, was soll das jetzt schon wieder?!", maulte Aras in den Wald hinein. "Hat man denn nicht mal einen Tag Ruhe vor solchen Spinnern?!"
    "Beruhigt Euch wieder", versuchte Theical einzulenken, stieß damit aber erstrecht auf Ablehnung beim Lord.
    Wild gestikulierend erwiderte er dem kleinen Mann: "Wie soll man sich dabei beruhigen, wenn so ein Kerl mit haarstreubenden Behauptungen um sich wirft?!"
    "Die Frage ist doch eher, was er damit meinte", versuchte Jaris einzulenken und wiederholte nochmal das Gesprochene des Mannes. "Elf Tage, damit alle aus der Stadt fliehen können. Und aus der gesamten Gegend auch."
    "Was soll wohl damit gemeint sein?", hinterfragte Aras ihn. "In elf Tagen geschieht ein Angriff. Vermutlich sogar von diesem Mann angeführt. Ich bin Herzog, ich habe schon viele Kämpfe erlebt..."

    "Wohl eher angezettelt", flüsterte Daryk sich in den Bart.

    Daphne winkte ab. "Wir sollten nichts überstürzen. Ich bin gerade mal einen Tag wieder am Leben und soll mich schon wieder in Gefahr begeben." Diese Worte, nochmal durch ihren Kopf gehen gelassen, riefen ein angedeutetes Schmunzeln bei ihr hervor. "Eine weitere Chance wurde mir nicht versprochen."
    "Nein, nein, nein!", fluchte Aras und sendete Daphne finstere Blicke zu. "Ich bin voll und ganz auf Daphnes Seite. Keiner widerspricht mit jetzt, keiner widersetzt sich jetzt meinen Forderungen..."

    "Moment", unterbrach sie ihn kurzerhand. "Das habe ich nicht gesagt, Zacharas. Wir werden jetzt allesamt ins Lager zurückkehren, es abbauen und uns dann in Ruhe unterhalten, was zu tun ist..."

    "Ich weiß doch bereits, was zu tun ist!", stellte der Magier klar und besiegelte dies mit einem kräftigen Faustschlag in die Hand. "Die einzige Stadt, die ich evakuieren lassen werde, ist Ymilburg!"
    "Er hat ja nicht mal gesagt, welche Stadt er meint", fügte Daryk nachdenklich an. "Dennoch glaube ich nicht, dass er Ymilburg meint..."
    "Das ist mir egal! Mein Reich kümmert mich am meisten!" Mit diesen Worten stampfte Aras davon und scherte sich nicht weiter um die anderen. Anscheinend machten sie auch keine Anstallten, ihm sofort zu folgen. War ihm ganz recht. Hatte er wenigstens seine Ruhe.
    Andererseits dachte er sich, als er im Lager angekommen war, ob es nicht vielleicht zu hart von ihm war. Gegenüber Maria Franziska zumindest. Er wollte sich ja ändern, entschuldigte sich ständig für ihren Tod, benahm sich aber trotzdem jetzt wieder so aggressiv.
    Kräftig schüttelte er seinen Kopf, ordnete oder verdrängte seine Gedanken und ging zum Kutscher, der zu erwarten bei der Kutsche stand. Aras ließ sich nicht beirren und blieb bei seiner Meinung.
    "Macht endlich die Kutsche fertig. Wir müssen zurück nach Ymilburg."
    Etwas verwundert kam der Kutscher dieser Aufforderung nach. Jedoch waren auch schon die anderen unterwegs und befehligten das Gegenteil. Es würde nicht nach Ymilburg gereist werden, sondern erst nach Felodun, um mit den Elfen zu reden. Doch Aras streubte sich dagegen. Er hatte keine Lust auf diese Diskussionen. "Immer seid ihr gegen mich! Und immer passiert dann irgendwas Schlimmes!"
    "Das kann so pauschal nicht sagen, Herzog...", warf Thyra ein, unterbrach sich dann aber selbst, um nochmal drüber nachzudenken.
    "Ich kann das pauschal so sagen, werte Jägerin", kündigte Aras mit drohender Geste an. "Überall laufen hier irgendwelche geisteskranken Leute herum, die andere Bürger terrorrisieren. Und wir drehen nur Däumchen, oder wollen zu den Elfen."
    "Ja, wollen wir", fauchte Thyra zurück und schlug ihm die Hand weg. "Wir wollen sie wenigstens warnen, bevor wir in Eure Stadt zurückkehren."
    Er kehrte in sich und dachte drüber nach. Die Blicke seiner Kammeraden verrieten ihm, dass sie zwar nicht gänzlich gegen ihn waren, aber auch nicht eindeutig für ihn. Vielleicht lag es nicht an ihm, dies zu entscheiden. Aber immerhin hatte er den meisten Einfluss und am meisten zu verlieren.
    "Mir liegt das schon am Herzen, dass meinem Reich Vorrang gebührt. Ihr wollt ja auch nicht Eure neue Heimat verlieren, oder?" Erwartungsvoll war sein Blick auf sie gerichtet. "Mir ist bewusst, dass ich zur Zeit verhindert bin mit meiner Magie. Gerade deshalb will ich mein Reich bestens vor Gefahren bewahren."

    An einem kleinen Waldstück, nahe dem Fluss Jeldar, machten sie Rast, um sich auf die Nacht vozubereiten. Man merkte die Anspannung, welche alle sehr schweigsam machte. So still waren sie noch nie, was Aras leider zugute kam. Er wollte nicht viel reden. Er wollte lieber alleine sein.
    "Ich gehe Holz holen", sagte Aras und begab sich sofort auf den Weg.
    "Eine gute Idee", erklang es von Thyra. Bevor sie realisieren konnte, wer es äußerte, war Aras auch schon im Wald verschwunden.
    Er beschleunigte rasant seine Schritte, um auch schnell allein zu sein. Er brauchte es nun umso mehr, seit Daphne nicht mehr war. Er wollte es nicht zugeben, aber er empfand viel für sie. Erst jetzt erkannte er es, wie sehr er sie doch brauchte.
    Kaum betrat er den Wald, flossen auch schon die Tränen. Er schämte sich nicht dafür, weinen zu müssen. Aber er schämte sich dafür, es immer abzustreiten. Konnte er jemals seinen Gefühlen freien Lauf lassen, ohne sich selbst zu bemitleiden? Er hatte Angst...
    Angst, das nächste Opfer zu sein. Angst davor, noch jemanden zu verlieren, den er niemals missen wollte. Zuerst Engel und nun Daphne. Wer kam als nächstes?

    "Es tut mir leid", flüsterte er mit zittriger Stimme und hielt sich den Bauch. Ein Grummeln ereilte ihn, machte ihn schwach und krank. Es war der Schmerz, tief im Innern. Übelkeit...
    "Ich habe versagt!" Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und voller Panik suchte er Halt am nächstgelegenen Baum. Doch konnte dieser ihn nur schwer stützen, zu schwach war Aras auf den Beinen. Kaum, dass er aufrecht gehen konnte, stakstend wie ein Storch und dennoch schneckengleich kriechend. Wie ein Greis schnaufte und schnappte er nach Luft, krallte sich krampfhaft an der Rinde fest und sackte langsam zu Boden.
    "Daphne, hörst du mich?" Vorsichtig hob er einen Ast auf und begutachtete ihn eingehend. Auch dieses Stück Holz erinnerte den Lord an seine gute Freundin. Alles erinnete ihn an sie. Auch wenn es absolut nichts mit ihr zu tun hatte.
    Einen Ast nach dem anderen hob er auf und schichtete sie auf seinen Armen auf. Es fiel ihm sehr schwer, allein diese Bürde zu tragen. Dabei war es so eine einfache Sache, die er machen wollte. Einfach nur Holz sammeln. Doch wollte er nur alleine sein, um in aller Stille um Daphne zu trauern. "Es tut mir leid, was zwischen uns geschehen ist. Ich wollte es nicht soweit kommen lassen. Ich brauche dich! Du bist die einzige Person, die mich jemals verstanden hat... Du bist die Einzige, die jemals zu mir gestanden hat!" Sein Blick schweifte zum Hügel hinauf, unweit seiner Position. Er entdeckte einen Reiter. Zuerst dachte Aras, es sei irgendjemand, aber dieser jemand machte dort oben Rast und schien ihn zu beobachten. Eine Weile verharrte der Lord so im Stand und stielte hinauf zum Reiter. Aras versuchte sich nicht beirren zu lassen und sammelte weiter Holz auf. Aber mit jedem weiteren Ast und jedem weiteren Gedanken an Daphne nervte ihn diese Person dort oben immer mehr.
    Er begann zu halluzinieren und sich die schrecklichsten Dinge vorzustellen. Die schlimmsten Situationen, die ihrer Truppe widerfahren könnten.
    Irgendwann reichte es aber auch ihm. "Verschwindet!", rief er der Person zu. Doch sie tat nichts dergleichen, Sie blieb weiterhin aus ihrem Pferd und verharrte auf dem Hügel. Aras wollte das nicht. Er wollte seine Ruhe haben. Niemand sollte ihn und seine Truppe belästigen.
    "Verschwindet!", rief Aras erneut, aber nichts passierte. Die Person blieb und schien ihn zu beobachten.
    Aras suchte sich einen dünnen Ast aus dem Stapel heraus und ging langsam auf diese Person zu. "Ich warne Euch! Verschwindet endlich oder ich muss Maßnahmen ergreifen!" Sich die Tränen wegwischend stampfte er stur den Hügel hinauf und streckte dem Reiter seinen Ast entgegen. Doch der Reiter tat nichts. Er blieb weiterhin dort und richtete seinen Blick auf Aras.
    "Ich warne Euch ein letztes Mal! Verschwindet endlich oder ich muss meine Magie einsetzen!" Dann fing er langsam an, mit dem Ast herumzuwirbeln, abermals in der Hoffnung, die Täuschung würde ausreichen, um den Störenfried zu vertreiben. Aber Aras hoffte vergebens. Der Reiter rührte sich nicht, geschweige dass sein Pferd irgendwelche Anstalten machte. Dem Lord wurde es allmählich zu bunt. Wie konnte man sich nur so dermaßen seinen Worten widersetzen? Er verstand es nicht, er wollte es nicht verstehen...
    "Bitte! Bitte, verschwindet endlich... Haut ab! Lasst mich in Ruhe..!"
    Oben angekommen, bemerkte er, dass der Reiter eher einem verwahrlosten Wanderer glich und weniger einem Reisenden.

    "Zeigt mir Euer Gesicht!"
    Der Reiter kam der Aufforderung nicht nach und drehte sich sogar noch von Aras weg.
    "Zeigt mir Euer Gesicht! Oder seid Ihr so hässlich, dass Ihr vor Euch selbst Angst habt..?" Sagte der Mann, der sich gerade vor sich selbst fürchtete. "Ich will Euer Gesicht sehen! Erkennt Ihr mich nicht?!"
    Dann nickte der Reiter kurz angedeutet und lenkte sein Pferd von Aras weg. Sofort ergriff er die Zügel und riss den Hengst wieder zu sich rum. "Seht mich an, Fremdling."
    "Nein", flüsterte er, wessen Stimme merkwürdigerweise sehr weiblich klang. "Ich will es dir nicht antun, Zacharas..."
    Kurz schreckte der Lord zurück. Mit großen Augen starrte er den weiblichen Reiter an und hielt ihm provokativ den Ast entgegen. "Gebt Euch zu erkennen, oder..."
    "Oder was?", fragte die Person und schwenkte kurz mit dem Kopf zu ihm um. "Sage bloß, du kannst wieder zaubern."
    "Wieder?", entglitt es Aras flüchtig, bevor sich wieder fing und streng erwiderte: "Ich konnte noch nie nicht zaubern..!"
    "Doch, das konntest du", wurde erwidert.
    "Wer seid Ihr? Woher kennt Ihr meinen Namen?"
    "Das glaubst du mir eh nicht, Aras..."
    Dem Lord reichte es hin. Ohne weiter drüber nachzudenken, ergriff er die Kutte des Reiters und riss ihm die Kapuze hinunter. Aber wen er dann sah, schockierte ihn zutiefst. Eine Frau. Sie sah aus wie Daphne. "Wie ist das möglich? Nein! Das kann nicht sein!"
    "Ich habe dir doch gesagt, dass du es eh nicht glaubst."
    "Was ist das für ein Trick? Ich muss träumen..." Sofort schlug er sich kräftig auf die Wangen, doch die Frau blieb Daphne. Aber wie konnte das möglich sein? "Du bist tot. Wir haben dich verbrannt."
    "Ich weiß", meinte sie, welche verblüffend ähnlich wie Daphne klang. "Ich kann es selbst nicht glauben, dass ich wieder lebe..."

    "Das kann ich nicht akzeptieren!" Urplötzlich schwenkte seine Trauer in Wut um. Er riss an den Zügeln, immer heftiger, bis das Pferd anfing sich zu schütteln. Doch Aras machte immer weiter, er wollte die Reiterin vom Gaul stürzen. Aras glaube nicht daran, dass es Daphne war.

    Doch plötzlich riss sich das Pferd herum und stieß Aras unsanft zu Boden.
    "Avalon, beruhige dich", ermahnte sie ihr Pferd. Anschließend wandte sie sich dem armen Kerl zu ihren Füßen zu: "Ich bin es wirklich! Ich bin Daphne Maria Franziska!"
    "Nein, das ist unmöglich!", brüllte er sie an, rappelte sich unverzüglich wieder auf und stemmte seine Hände gegen den Gaul. "Daphne ist gestorben! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen..."
    "Aras! Weisst du nicht mehr, als wir uns beide auf dem Teppich... gewälzt haben?"
    "Was für ein Teppich?" Ungläubig stielte er sie an. "Ich weiß nicht, wovon Ihr redet."
    "Als du mir erzählt hast, dass du nicht mehr zaubern kannst. Ich habe dir doch deinen Zauberstab abgenommen..."
    "Woher wisst Ihr das? Das habe ich niemanden erzählt. Nur Daphne kann..." Plötzlich verstummte er. Als würde er einem Geist gegenüberstehen, starrte er sie mit weit aufgerissenen Augen an. "Ihr... du bist es wirklich."
    "Glaubst du mir jetzt..?"
    Sofort packte er sie an der Hüfte und riss sie mit einem Ruck vom Pferd. Sie landete auf ihm, aber das kümmerte ihn nicht. Er begrüßte es sogar, denn nun konnte er sie endlich umarmen. Umarmen, wie er es schon die ganze Zeit hätte tun sollen. Völlig irrtiert starrte sie ihn an, wie er sie umarmte und beinahe erdrückte.