Beiträge von Miri im Thema „Das Williams-Adam-Vermächtnis“

    Kapitel 36
    Dr. Miller


    Ben saß in seinem schwarzen BMW und war mal wieder auf dem Weg in die Klinik.
    Nicht, um Mia zu besuchen. Diesmal hatte er sich bei ihrem Arzt direkt einen Termin geben lassen. Er konnte unmöglich nochmal so stochern wie beim letzten Mal, zumal es ihn wirklich Charme und Überredungskunst gekostet hatte, dass der Arzt ihn nach seiner letzter Aktion überhaupt ins Haus lassen wollte.
    Mühsam versuchte er sich auf den dichten Verkehr zu konzentrieren und sich nicht von seinen wirren Gedanken ablenken zu lassen.
    Nick hatte erzählt, dass der Klon wahrscheinlich das Wetter kontrollieren konnte - und das Mia ihnen vielleicht sagen konnte, wie man ihn aufhielt. Deswegen musste er zuerst mit dem Arzt sprechen. Er musste ihm erklären, dass es um Leben und Tod ging und dass er Antworten von Mia brauchte und dass er ihm helfen sollte, diese möglichst klar zu erhalten.
    Etwas ungestüm kam er auf dem Parkplatz zum Stehen. Kiesel spritzten auf und knallten gegen den Lack seines Autos. Es war ihm egal. Ohne Zeit zu verschwenden, stieg er aus, schlug die Tür ins Schloss und verriegelte den Sportwagen, während er schon auf dem Weg zum Haupteingang war. Die Schwester an der Rezeption lächelte ihm freundlich zu, doch als sie ihn erkannte, wurde ihre Miene ein Bild von frostiger Höflichkeit.
    "Mister Flynn", grüßte sie ihn.
    "Hey, hallo ... ähm, ich habe einen Termin mit Doktor Miller." Unsicher strich er sich durch sein dunkles Haar. Eine Geste, die er zwar nicht berechnend einsetzte, ihm aber die Frauenherzen zutrug. Bei der Schwester funktionierte es allerdings nicht. Ohne ein weiteres Wort klickte sie sich durch ihren PC und nickte schließlich. "Sie sind zu früh."
    "Ich ... ähm weiß. Es ist dringend."
    "Bitte warten Sie." Sie deutete unterkühlt auf eine Sitzreihe an der gegenüberliegenden Wand. Normalerweise hatten sie ein Wartezimmer oder Aufenthaltsraum, aber die Schwester schien ihn nicht mehr alleine durch das Gebäude laufen lassen zu wollen. Ben konnte einen Blick in den Garten werfen und auf die Bank, auf der Mia immer saß. Heute konnte er sie nirgends ausmachen, obwohl die Sonne schien und es ein sehr heißer Spätsommertag war. Nervös wischte er sich den Schweiß von der Stirn und tippte mit dem Fuß auf den Boden, bis ihm die Schwester einen entnervten Blick zuwarf.
    Endlich - nach einer schieren Ewigkeit, wie es dem Anwalt vorkam - betrat Dr. Miller das Foyer. Er war ein junger Mann, vielleicht Ende zwanzig, einen Tick jünger als Ben selbst. Er wirkte dynamisch und frisch, aber trotz seines geringen Alters kompetent und autoritär. Die Schwester am Empfang warf ihm einen Blick zu, der erklärte, warum sie auf Ben nicht angesprungen war, aber Dr. Miller schien es nicht zu bemerken. Hastig wischte Ben seine vor Nervosität feuchte Hand an seiner Anzughose ab und reichte sie Miller.
    "Guten Tag, was kann ich für Sie tun?" Das Lächeln des Doktors war echt, dennoch spürte Ben eine gewisse Voreingenommenheit. Dass er Mia so bedrängt hatte, schien bei niemandem einen guten Eindruck hinterlassen zu haben. Ben konnte nicht verhindern, dass er vor Scham rot anlief.
    "Könnte ich bitte unter vier Augen mit Ihnen sprechen?"
    Der Arzt nickte und bedeutete ihm zu folgen. Sie bogen in einen Gang, in dem Ben zuvor noch nie gewesen war. Hier befanden sich die Büros, Medikamentenlager und Pausenräume des Personals. An der dritten Tür blieb Miller stehen und schloss die Tür auf. Der billige Aufkleber, der signalisierte, dass dies das Büro von Dr. Miller war, war zerkratzt und an einigen Stellen eingerissen.
    Das Büro selbst war ein heller Raum, in freundlichem Hellgelb gestrichen. Vor dem Fenster stand ein wuchtiger Schreibtisch, der trotz seines antiken Aussehens zu dem jungen Arzt passte. Dahinter stand ein stinknormaler Bürostuhl und davor zwei nüchtern, moderne Stühle für Besucher.
    "Setzen Sie sich", bot Miller Ben einen der Stühle an und ließ sich selbst in seinen eigenen sinken. "Kaffee? Tee?"
    "Nein, danke." Ben schüttelte bekräftigend den Kopf.
    "Was kann ich für Sie tun?", wiederholte er seine Frage von vorhin. Er machte es Ben auch nicht gerade einfach. Miller wusste ganz genau, dass er wegen Mia hier war.
    "Ich muss mit einer Ihrer Patientinnen reden."
    "Mrs. Adam nehme ich an." Der Arzt lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
    Ben rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und nickte.
    "Und was verleitet Sie zu der Annahme, dass ich Sie noch einmal in die Näher meiner Patientin lasse?"
    "Das ist es ja:Das müssen Sie gar nicht", versuchte Ben zu erklären. Der Arzt zog misstrauisch eine Augenbraue in die Höhe.
    Ben fragte sich augenblicklich, was er sich dabei gedacht hatte, mit dem Arzt darüber zu reden. Klone, die das Wetter kontrollierten, das klang selbst in seinen Ohren absurd. Ben seufzte tief.
    Die Gesichtszüge des Arztes glätteten sich und wurden ein wenig freundlicher.
    "Was liegt Ihnen auf dem Herzen?"
    "Sie würden es ja doch nicht glauben. Tut mir leid, dass ich Ihre Zeit in Anspruch genommen habe." Er würde Nick einfach sagen, dass aus Mia nichts herauszubekommen gewesen war.
    Jetzt grinste Dr. Miller. "Ich arbeite in einer Psychatrie. Meinen Sie nicht, ich kann selbst entscheiden, was ich glaube und was nicht?"
    Ben, der sich erhoben hatte, um zu gehen, ließ sich wieder auf seinen Platz sinken.
    "Bitte unterbrechen Sie mich nicht", bat er. Stilles Einverständnis lag im Blick Millers und so begann Ben nun doch zu erzählen. Von den Morden in London, wie Evie hin gereist war, von den Klonen, die Mia und Anna geschaffen hatten und das einer davon durch London zog und Frauen mordete und offenkundig das Wetter kontrollieren konnte.
    Als er endete schwieg Dr. Miller eine ganze Weile und betrachtete sein Gegenüber eingehen. Ben fiel es schwer zu sagen, was der Arzt nun dachte. "Ich glaube Ihnen", entschied er schließlich. Ben atmete erleichtert aus. "Warum?"
    "Das mit den Klonen hat damals zwar in der Zeitung gestanden, wurde aber als Unsinn abgetan. Was ich von Mrs. Adam und ihrem Wesen allerdings kennen gelernt habe, traue ich ihr zu, Klone geschaffen zu haben. Das mit dem Wetter klingt allerdings ziemlich phantastisch, dennoch konnte ich ihn ihren Zügen kein Anzeichen von Lüge sehen und die Ader an ihrem Hals verriet keinen beschleunigten Puls. Entweder Sie sind ein guter Lügner, oder Sie sagen die Wahrheit."
    Ben war beeindruckt. "Sie können gerne die Polizei in London anrufen", setzte er trotzdem hinterher.
    "Nicht nötig", winkte der Arzt ab. "Mir erschließt sich allerdings nicht, was ich für Sie tun könnte."
    "Nun Mia ist die Einzige, die uns sagen kann, wie man den Klon aufhalten kann. Ich hatte gehofft, Sie könnten sie befragen ...?"
    Miller nickte bedenklich. "Ich werden sehen, was ich aus ihr rausholen kann."
    Ben entdeckte in den Augen des jungen Arztes den selben Ehrgeiz und die selbe Neugierde, die er auch des Öfteren in Mias wahrgenommen hatte. Ein kalter Schauer überlief ihn, bis ihm auffiel, dass im Blick Millers kein Wahnsinn lag. Das war das Geheimnisvolle gewesen, was er nie hatte benennen können und was Mia so interessant für ihn gemacht hatte. Er schüttelte den Kopf über seine eigene Dummheit.
    "Wann?", fragte er.
    "Jetzt sofort. Es scheint mir dringend."

    Kapitel 34
    Im Auge des Sturms

    „Nein! Nein! Nein!“, brüllte Tom in den Hörer.
    Grace schreckte von ihrer Recherchearbeit mit dem Professor für Meteorologie der University of London auf.
    „Was ist?“, fragte sie alarmiert.
    Tom konnte ihr kaum in die Augen schauen, sondern hieb nur wütend mit der Hand auf seinen Schreibtisch ein.
    „Wir haben eine Leiche“, brachte er schließlich mühsam über die Lippen.
    Graces Augen weiteten sich und ihr wurde schlecht. Sie waren doch so nah dran gewesen! Der Professor und sie hätten es schaffen können.
    „Bist du sicher?“ Grace weigerte sich einfach es zu glauben. Wütend starrte Tom sie an. Sie wusste, dass sein Zorn nicht ihr galt, dennoch hielt sie lieber den Mund. Als ihr Partner Anstalten machte seine Jacke von der Lehne des Stuhls zu nehmen, wollte auch sie aufstehen.
    „Du bleibst!“, befahl Tom harsch. Grace verharrte mitten in der Bewegung, überrascht von der Härte in seiner Stimme. „Ich will, dass du und Professor Morington“, er warf dem Professor einen Blick zu, als hinge die Rettung der Welt von ihm ab, „diesen Kerl findet. Ich will, dass wir ihn finden und dann gnade ihm Gott!“
    Tom riss seine Jacke endgültig nach oben, zog sie aber nicht an, ehe er wutentbrannt und frustriert aus dem Raum schoss. Grace ließ sich zurück in ihren Stuhl sinken und warf dem überraschend jungen Professor einen Blick zu. Morington war vielleicht Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig. Er hatte volles blondes Haar und einen attraktiven Vollbart. Seine Augen waren von dunklem Braun und sein trainierter Körper passte so gar nicht in das Bild des verstaubten Uni-Professors. Erschüttert erwiderte er ihren Blick.
    „Verzeihen Sie“, krächzte Grace. Sie schluckte trocken in dem missglückten Versuch ihre Kehle zu befeuchten. Tom nahm sie sonst immer mit – außer er wollte sie vor etwas beschützen. Diesmal musste es wirklich übel sein. Übelkeit flammte in ihr auf und sie konnte einen kurzen Würgereiz nicht unterdrücken.
    „Alles in Ordnung?“ Professor Morington saß neben ihr auf einem Bürostuhl, hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt und musterte sie besorgt. „Möchten Sie einen Tee?“
    Soweit kam es noch, dass IHR jemand Tee anbieten musste, weil sie den Tod eines Menschen nicht verkraftete.
    Reiß dich zusammen!, mahnte sie sich selbst und zwang sich eine aufrechte Haltung einzunehmen und die Schultern entspannt sinken zu lassen.
    „Danke“, sagte sie und machte eine ablehnende Handbewegung. „Ich denke wir haben Besseres zu tun.“ Morington nickte und ließ sich von ihrer neuerlichen Entschlossenheit anstecken.
    „Also wir können den Klon anhand von Satellitenbildern aufspüren?“, nahm Grace den Faden des Gespräches wieder auf.
    „Es ist nur eine Theorie.“ Der Professor stütze sich nachdenklich auf den Schreibtisch und betrachtete London aus dem Weltraum auf ihrem Bildschirm. „Grundsätzlich muss er überall dort sein, wo die lokalen Wetterveränderungen auftreten. Aber die Gebiete sind immer noch ziemlich groß.“ Er umkreiste ein Gebiet, das vor einigen Tagen im Nebel verschwunden war. Auf der Aufnahme waren lediglich die Spitzen der Hochhäuser zu erkennen. Grace nickte. „Es umfasst mehrere Blocks. Viel zu viele Fluchtmöglichkeiten, egal wie viele Männer wir hinschicken...“
    Morington streichelte mit einer Hand seinen Bart. So eine Geste hatte Grace wirklich noch nie bei jemandem gesehen, aber lächeln konnte sie nicht. Es wäre zu unpassend gewesen.
    „Die Phänomene treten außerdem zu plötzlich auf und verflüchtigen sich zu schnell“, philosophierte sie weiter. „Selbst wenn wir London mit Hilfe der Satelliten überwachen, bis wir am Ort des Geschehens sind, ist er schon über alle Berge.“
    „Es ist nur eine Idee …“, setzte der Professor an, versank dann aber wieder in Schweigen.
    „Ja?“, fragte Grace ungeduldig.
    Morington klickte das Nebelbild weg und forstete sich durch diverse Ordner, die auf seiner externen Festplatte lagen. Schließlich öffnete er ein anderes Bild. Es war von 2005 und Grace zog die Augenbraue in die Höhe. Was hatte eine so alte Aufnahme mit ihrem Fall zu tun? Der Rechner lud die Daten ratternd und nach einer Weile zeichnete sich ein Tornado vor der Golfküste der USA ab.
    „Wir sehen hier den Hurrikan Katrina“, begann er mit seinen Erläuterungen. „Er verwüstete 2005 die Golfküste der USA, besonders New Orleans hat es schwer erwischt. Erinnern Sie sich?“
    „Jaja, worauf wollen Sie hinaus?“ Langsam wurde Grace ungeduldig.
    „So ein Hurrikan ist langfristig und man kann ziemlich genau sein Zentrum bestimmen. Der Klon ist aller Wahrscheinlichkeit nach im Zentrum der Wetterphänomene zu finden. Bei einem Hurrikan wäre es das Auge.“ Er deutete auf den dunklen Punkt in Mitten von sich zwirbelnden Wolken. Grace schaute den Mann ungläubig an. War er wahnsinnig?!
    „Heißt das, wir sollen ihn so wütend machen, dass er einen Hurrikan vom Zaun bricht?“
    Morington lachte leise und kurz. „Nein. Das diente nur dem Verständnis. Vor allem geht es mir darum, dass ein Sturm länger anhaltend als Regen oder einfacher Nebel ist. Wir können anhand der Satellitenbilder auch das Zentrum der anderen Phänomene ausfindig machen. Es ist nur ein wenig schwieriger, weil es nicht so offensichtlich ist. Anhand der Wolkenbildung und der Windrichtung zum Beispiel. Auffällig ist, dass die Gewitterwolken der letzten Gewitter nicht heran gezogen sind, sondern sich einfach aus dem Nichts gebildet haben. Das wäre zum Beispiel ein Anhaltspunkt.“
    „Und weil der Sturm länger dauert, haben Sie genügend Zeit den wahrscheinlichen Standort den Klones zu bestimmen und wir genügend Zeit mit genug Männern rechtzeitig einzutreffen …“ Endlich ergab das Gerede einen Sinn.
    „Aber wir können doch nicht einfach einen Orkan provozieren. Es wird viele Verletzte geben.“ Der Gedanke versetzte Graces Euphorie einen Dämpfer.
    „Das ließe sich regeln. Wir haben doch Frühwarnsysteme. Wir könnten diese vorschieben und ein Unwetter ankündigen, sodass Vorkehrungen getroffen werden können, ohne dass der Klon Verdacht schöpft“, wandte ihr Gegenüber ein. Grace grübelte. So würde es vielleicht keine Verletzten und Tote geben, aber der Sachschaden wäre beträchtlich. Grace seufzte. „Ich danke Ihnen für ihre Hilfe“, sagte sie schließlich und reichte Morington die Hand. „Ich werde mich bei Ihnen melden, sobald eine Entscheidung getroffen wurde. Das liegt nicht mehr innerhalb meines Bereiches.“
    Morington nickte. „Natürlich. Sie können mich rund um die Uhr erreichen.“
    Als der Professor den Raum verlassen hatte, ließ sie sich im Stuhl zurück sinken. Sie spürte, wie sich Stresskopfschmerzen anbahnten. Sie musste dringend mit ihrem Vorgesetzten und dem Bürgermeister sprechen. Sie griff nach dem Hörer ihres Telefons, doch ehe ihre Finger ihn erreichten, klingelte es. Verwirrt nahm sie ab.
    „Territorial Police Forces London, Sie sprechen mit Grace Hemmingdale.“
    „London Highlights, Peterson am Apparat. Stimmt es, dass die entführte Frau nun auch Opfer des Serienmörders wurde? Wie stehen Sie zu dem quasi nicht vorhandenen Fortschritt der Polizei? Und kommen Sie nicht mit Mangel an Beweisen. Wissen Mrs. Morgens Mann und ihre kleine Tochter schon …“ Grace verdrehte die Augen und blendete den Rest der Fragen einfach aus. Irgendwann würde die Olle schon Luft holen. Am liebsten hätte sie einfach aufgelegt oder Mrs. Peterson gesagt, dass sie die Polizei behinderte, indem sie ihr Telefon blockierte, aber das wäre nur gefundenes Fressen für das Boulevardblatt. Nach einer schieren Ewigkeit wie es Grace vorkam, musste Mrs. Peterson tatsächlich Luft holen und Grace lenkte sofort ein. „Zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch keine Stellung beziehen. Bitte wenden Sie sich an unseren Pressesprecher Miller. Seine Durchwahl ist die 2754.“ Routiniert leiherte sie ihren Text herunter und legte dann einfach auf.
    Stöhnend vergrub sie den Kopf in ihren Händen, ihre rote Mähne fiel ihr wirr ins Gesicht. Sie wollte gar nicht wissen, was Mrs. Morgens Ehemann gerade durchmachen musste.
    Ihre Kopfschmerzen hatten sich im Laufe des Telefonats manifestiert und sie konnte sich kaum mehr konzentrieren. Trotzdem blickte sie durch den Vorhang ihrer Haare und wählte die Nummer ihres Vorgesetzten. Tom würde sie später informieren. Der hatte sicherlich gerade Besseres zu tun.

    Kapitel 33
    Kreuzfeuer

    Grace strich sich ihre langen, roten Haare aus der Stirn. Mittlerweile saß sie im Verhörraum des Präsidiums. Die Gerichtsmedizin hatte nichts neues ergeben. Die DNA-Reste und Tiffanys Nägeln waren schon analysiert worden. Die Spurensicherung hatte anhand des Teilabdrucks die Schuhgröße bestimmen können, mehr auch nicht. Sie suchten nach einem Mann mit besonders kleinen Füßen - wenig hilfreich. Tucker hatte ihr leid getan. Er war der Beste auf seinem Gebiet, den sie kannte, eine wahre Koryphäe, aber der Fall schien selbst ihn an seine Grenzen zubringen. Nach einigen tröstenden Worten war sie wieder nach oben gekommen, gerade rechtzeitig, um Tom mit dem Klon und dem Polizisten in den Verhörraum verschwinden zu sehen.
    Deshalb war sie überrascht, dass Tom ihrer Bitte tatsächlich gefolgt war und den Raum verlassen hatte.
    Der Kleine schien sich unwohl in seiner Nähe gefühlt zu haben. Statt zu antworten hatte er ihm nur immer wieder nervöse Blicke zugeworfen und ihren Fragen nur halbherzig zugehört. Dass sein Freund Nick bei ihm saß, hatte ihn auch nicht beruhigen können. Wahrscheinlich fehlte dem Kleinen Carl. So ein absurdes Pärchen die beiden abgaben, so sehr brauchten sie sich doch als Ausgleich. Aber Mrs. Jones hatte darauf bestanden ihn aus der Befragung rauszuhalten. Zu schlimm wären die Erinnerungen an die Zeit bei den irren Wissenschaftlern gewesen und sie wollte nicht, dass er erneut ein Trauma erlitt, auch wenn er es ziemlich bald wieder vergessen würde. Grace konnte aber durchaus verstehen, warum Bumblebee sich in Toms Gegenwart unwohl gefühlt hatte. Die meisten normalgroßen Menschen reichten Tom bis gerade an die Brust, Bumblebee ging ihm bis zum Bauchnabel. Dazu verlieh Toms bärige Statur ihm etwas Bedrohliches - besonders wenn er schlecht gelaunt war und weiß Gott, nach 60 Stunden ohne nennenswerten Schlaf mit schlechtem Kaffee und ohne den Durchbruch in dem Fall, hatte der Kommissar jedes Recht schlechte Laune zu haben. Und seine Augenringe ließen seinen aufmerksamen Blick wie den einer lauernden Hyäne erscheinen.
    Sie seufzte leise, rückte das Mikrophon zurecht und begann ihre Fragerunde von vorn: "Wie viele Klone wart ihr?"
    Bumblebee betrachtete das Gerät, das nun auf seinen Mund gerichtet war, argwöhnisch und schaute dann verunsichert zu Nick. Als dieser ihm aufmunternd zunickte, drehte er sich zurück zu Grace. Er versuchte sich auf sie zu konzentrieren und sagte langsam: "Fünf."
    "Wie viele sind gestorben und wie?"
    "Einer den Nick erschossen hat." Wieder warf der Klon dem Polizisten einen Blick zu, diesmal um zu fragen, ob er etwas Falsches gesagt hatte. Aber Nick lächelte nur und bedeutete ihm abermals weiterzusprechen.
    "Einer, den Anna in den Katakomben ... getötet hat. Einer auf dem OP-Tisch."
    "OP-Tisch?", unterbrach Grace ihn. Das war ihr neu. Der Klon nickte und verzog das Gesicht, als er sich daran erinnerte. Unbeholfen deutete er auf seine vielen Narben und seine immer noch nicht zu hundert Prozent an den richtigen Stellen sitzenden Gelenke.
    "Wir waren nicht ganz", er suchte nach einem passenden Wort, "perfekt. Sie wollten unsere Fehlstellungen durch Körperteile eines Tieres verbessern." Grace stieg die Galle den Hals hinauf. Das war pervers! Wie krank mussten die beiden Frauen gewesen sein?! Kein Wunder, dass etwas wie Mr. Hoodie dabei herauskam. Sie atmete tief durch und stellte ihre nächste Frage. "Und der Vierte?"
    BB zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht wieder gesehen."
    "Das heißt, er könnte durchaus überlebt haben?"
    Bumblebee zuckte mit den Schultern.
    "Die Katakomben unter Mias Villa sind riesig. Er könnte sich verlaufen haben und verhungert sein", warf Nick von hinten ein. Diesmal war der Blick, den der Klon seinem Freund zuwarf, beinahe verächtlich. "Kann nicht sein."
    "Was macht dich so sicher?", fragte die Polizistin. Sie konnte einfach nicht verstehen, wie künstliche Intelligenz funktionieren sollte. BB war für sie ein unlösbares Rätsel. Er schien so normal, beinahe zerbrechlich und dann sollten er und seine Brüder Orientierungslosigkeit und dem Hungerstod trotzen können?
    "Es ... ist einfach so. Kann nicht erklären."
    Grace verstand, dass der Klon selber nicht genau wusste, wie er oder seine Brüder funktionierten. Sie musste sich damit abfinden seinen Behauptungen Glauben zu schenken, denn es war offensichtlich, dass der Vierte Klon einen Weg gefunden hatte, um zu überleben.
    "Wie", Grace zögerte und musste sich überwinden die nächste Frage zu stellen, weil sie nicht wusste, ob sie es wirklich hören wollte, "Wie wurdet ihr ... hergestellt?"
    Bumblebee und Nick zuckten bei ihrer Wortwahl zusammen und augenblicklich tat es ihr leid. Hergestellt ... Plastikfiguren stellte man her, aber Bumblebee war ein denkendes und fühlendes Wesen, wie sie alle. "Entschuldigung."
    BB überging ihre Entschuldigung und wiederholte: "Ich weiß es nicht."
    "Weißt du, warum sie euch geschaffen haben?"
    "Für eine bessere Welt." Der Klon wirkte mit einem Mal sehr traurig. "Er ... macht alles falsch, oder?"
    "Was meinst du?" Grace war von der Gegenfrage völlig überrumpelt.
    "Er macht keine bessere Welt, oder?" Sie konnte BBs Blick kaum standhalten als sie ein "Nein" hauchte. Er nickte nur und senkte den Blick, um seine Fingerspitzen zu betrachten. Sie verstand wie aus verrückten, kranken Gedanken ein Serienkiller werden konnte, aber es war ebenso faszinierend, wie daraus ein so ehrliches und mitfühlendes Wesen wachsen konnte.
    "Wie solltet ihr eine bessere Welt schaffen?", wechselte sie das Thema. Ein schwacher Versuch ihn aufzumuntern.
    "Keine Ahnung. Wir waren doch nur zu fünft. Wir konnten besondere Sachen, aber ... wir gegen die ganze Welt?" Der Klon bekam große Augen und schien erst jetzt die Dimensionen, in denen die beiden Wissenschaftlerinnen gedacht hatten, zu begreifen.
    "Besondere Sachen?"
    Der Klon zuckte die Schultern. "Sie haben ab und zu davon gesprochen. Wir konnten sprechen, lesen, schreiben und rechnen, vom ersten Augenblick an. Ich kann gut Schlösser knacken und irgendwo einbrechen, Diebstähle begehen. Kaufhäuser sind ein Klacks, selbst eure Sicherheitsmaßnahmen wären für mich nicht schwer zu umgehen. Was die anderen konnten weiß ich nicht so genau. Wir waren alle unterschiedlich." Bumblebee machte eine Pause und schien zu grübeln. Grace warf Nick einen fragenden Blick zu. So klar und deutlich und vor allem so lange Sätze, hatte sie den Klon noch nie sprechen gehört. Dem Blick des Polizisten nach, schien auch er überrascht. Bumblebee fuhr fort: "Ich glaube er konnte das Wetter beeinflussen."
    "Das Wetter beeinflussen?" Grace zog eine Augenbraue nach oben und ihre Überraschung verwandelte sich in Enttäuschung. Vielleicht konnte man dem Klon doch nicht alles glauben.
    Bumblebee nickte eifrig. "Aber er konnte es nicht kontrollieren."
    "Nicht kontrollieren?" Grace Stimme triefte mittlerweile vor Skepsis. Verunsichert warf BB wieder einen Blick zu Nick, der sich interessiert vor gelehnt und die Ellbogen auf seine Knie gestützt hatte.
    "Kannst du das genauer erklären?", fragte er. Schenkte er dem Gebabbel wirklich Achtung?
    Bumblebee wandte sich von ihr ab und Nick zu. Sein Blick hellte sich auf und er schien erleichtert, dass ihn jemand ernst nahm. Sofort spürte Grace, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg, aber die Behauptung war doch wirklich absurd ... oder?
    "Sie wollten, dass er Stürme erzeugen kann, Schiffe unter riesen, großen Wellen begraben, Flugzeuge mit Wirbelstürmen vom Himmel fegen kann, aber er konnte es eben nicht kontrollieren. Sie sagten, er würde es noch lernen."
    "Was meinst du mit "konnte es nicht kontrollieren"?" Grace sah, wie Nicks Kiefermuskeln mahlten und sie ließ sich von seiner Anspannnung anstecken.
    "Es geschah einfach. Seine Stimmung .... ich weiß nicht genau." Verwirrt brach der Klon ab und schien nicht in Worte fassen zu können, was er wusste.
    "Die Wetterphänomene ...", setzte Nick an und jetzt fiel auch bei Grace der Groschen. Sie konnte förmlich hören, wie er mit einem lauten Krachen auf den Boden fiel und plötzlich ergab das zusammenhanglose Gerede dieser verrückten Wissenschaftlerin auch einen Sinn. Mit zitternder Stimme beendete sie seinen Satz: " ... beschränken sich auf den Raum London! ... Tom!"

    gibt es sowas? Ich dachte, die sind alle genormt.

    naja es gibt klein mittel und groß ... und groß ist bei Starbucks zum Beispiel schon sehr groß XD
    Aber nur groß klingt kacke ... finde ich XD

    Jap genau, der Kommissar. Stimmt. Wir haben den Vornamen nur einmal kurz genannt ... die Teile liegen wohl einfach zu weit auseinander :/

    Kapitel 31
    Kaffee und Donuts

    Das Freizeichen ertönte und das langgezogene Tuuuuuut ging Ben jetzt schon auf die Nerven.
    Er saß zu Hause auf seinem Bett und hatte eine ganze Weile ins Nichts gestarrt. Sein dunklen Haare fielen ihm zerzaust in die Stirn, so oft hatte er jetzt darüber gegrübelt, ob es das Richtige gewesen war.
    Letztendlich war er zu dem Schluss gekommen, dass er nichts falsch gemacht hatte. Es ging um Leben und Tod und vielleicht hätte Mia die entscheidende Information gehabt, die der Polizei in London half diesen Verrückten zu finden. Er war enttäuscht worden, aber jetzt, nach Stunden des Nichts tun, grämte er sich nicht mehr. Es tat ihm Leid, dass Mia wegen ihm einen Rückfall erlitten hatte, aber er konnte sich nicht länger etwas vor machen. er hatte sie verloren. Und selbst wenn sie wieder auf die Beine kommen sollte, würde sie doch nie wieder ein Teil dieser Gesellschaft sein. Es wurde Zeit, dass er sich damit abfand, auch wenn das schwierig werden würde.
    „Hey Ben“, riss ihn Nicks müde Stimme aus seinen Gedanken.
    „Hey“, antwortete Ben und erschrak, als seine Stimme in seinen Ohren brüchig klang.
    „Ist das Ben?!“, hörte der Anwalt eine leise Stimme aus dem Hintergrung. Evie.

    Oh, bitte gib ihr nicht das Handy! Gib ihr bitte nicht das Handy!
    Seine Gebete wurden erhört. Nick ermahnte die eifrige Journalistin still zu sein und fragte: „Was gibt’s?“ Ben hörte es in der Leitung leise rauschen und war sich sicher, dass der Polizist sein Handy auf laut gestellt hatte, aber so lange er in seinem Zustand der Melancholie nicht mit übermotivierten Evie reden musste, war alles in Ordnung.
    „Ich war bei Mia“, setzte Ben an und wurde sogleich unterbrochen. „Was hat sie gesagt?!“ Evies Stimme glitt ins hochfrequente ab. Ben presste sich Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel und seufzte.
    „Lass mich doch einfach ausreden.“
    „Jaja, was hat sie gesagt?“ Evie ging nicht auf seinen Kommentar ein und schien auch nicht die Frustration in seiner Stimme zu hören, als er fortfuhr: „Nichts, was uns weiter bringen würde. Sie sagte nur, dass die Klone mächtig wären. Alles Wissen anhäufen und je länger sie leben desto geschickter würden sie werden. Kein Mensch wäre ihnen gewachsen. Weder geistig noch körperlich. Sie würden die Welt mit ihren eigenen Wasser sauber spü-“
    „Das ist alles?“, fragte Evie enttäuscht. „Du verarschst mich!“
    „Nein. Leider nicht.“ Er hätte viel lieber mit Nick gesprochen.
    Das Rauschen verschwand und anstelle Evies Stimme ertönte nun wieder Nick in seinem Ohr. Die tiefe Männerstimme beruhigte die sich anbahnenden Kopfschmerzen etwas.
    „Das ist nichts Brauchbares.“ Auch Nick klang enttäuscht, aber vorrangig müde.
    Ben überlegte. „Sie sagte noch niemand kann der Natur etwas entgegen setzen. Aber ich habe nicht verstanden, was sie meinte.“
    Er konnte förmlich sehen wie Nick den Kopf schüttelte. „Ich habe auch keine Ahnung, aber danke, dass du es probiert hast. Wie geht es Mia jetzt?“
    „Sie hatte einen Rückfall.“ Ben ärgerte sich, dass er bedrückt klang. Er hatte doch abschließen wollen.
    „Das tut mir leid“, antwortete Nick mitfühlend.
    „Die Schwestern sagten, dass sie wieder in Ordnung kommt. Ich werde sie wohl nur eine Zeit lang nicht mehr besuchen dürfen.“
    „Das ist hart.“
    „Nein, ich denke, ich kann den Abstand gut gebrauchen. Sind wir mal ehrlich: Ich kann nicht ewig an ihr festhalten.“
    „Da sagst du was“, seufzte sein Kumpel am anderen Ende der Leitung. „Mir hilft der Abstand aber auch, auch wenn ich deswegen Schuldgefühle habe.“
    „Blödsinn“, versuchte Ben den Polizisten aufzumuntern. „Was gewesen ist, ist gewesen. Es wird Zeit für etwas Neues.“
    Er konnte Nicks Lächeln in seiner Stimme hören, als dieser sich verabschiedete. Ben erwiderte den Gruß und zog den roten Telefonhörer quer über den Bildschirm. Langsam ließ er das Handy sinken und starrte wieder ins Leere.
    Was jetzt?

    Unterdessen hockte Tom an seinem Schreibtisch.
    Während er auf den Bildschirm seines PCs starrte, griff er nach der Kaffeetasse und nahm einen Schluck. Angewidert verzog er das Gesicht und spuckte das Gebräu zurück in die Tasse. Kalt.
    Nach Grace suchend blickte er sich um. Nicht, dass sie dazu da wäre ihm einen neuen Kaffee zu machen, aber wenn er sie ganz nett bat …
    Seine Augen fanden sie an ihrem Schreibtisch. Ihre rote Mähne lag über verschiedenen Akten und Zetteln verstreut, mit einer Hand umfasste sie lose ihre eigene Kaffeetasse, in die sie immer Tee füllte. Ihre Atemzüge gingen ruhig und gleichmäßig. Tom lächelte.
    Er warf einen Blick auf die Uhr. Das weiße Ziffernblatt war vergilbt und der Sekundenzeiger stockte schon seit einer Ewigkeit auf der Stelle. Sechs Uhr. Kein Wunder, dass Grace eingeschlafen war.
    Müde rieb er sich die vom Starren trocken gewordenen Augen, schob leise seinen Stuhl zurück und fischte sein Jackett von der Lehne.
    So leise wie möglich schlich er quer durch das Großraumbüro zu Grace und breitete seine Jacke über ihr aus. Sie bewegte sich kurz und gab wohlige Laute von sich, aber sie wachte nicht auf.
    Mucksmäuschen still verließ er das Büro, um einen ordentlichen Kaffee, einen Tee für Grace und ein paar Donuts zu kaufen.
    Auf dem Weg durch das Büro begegnete ihm keine Menschenseele. Dass Kollegen die Nacht durchmachten, kam nicht selten vor, aber es schien eine dieser Nächte gewesen zu sein, in denen er der Einzige war, der nicht ins Bett gehen durfte; obwohl er genau wusste, dass der Rest seines Teams die Nacht bei Miss Morgens Haus verbracht hatte, um dort Spuren zu sichern und Zeugen zu befragen. Er seufzte.
    Als er durch die Tür trat, schlug ihm frische, vom Morgentau feuchte Luft entgegen und belebte seine Sinne. Er nahm ein paar tiefe Züge, ehe die Rushhour die Luft ungenießbar machte und überquerte die Straße. Direkt gegenüber vom Präsidium befand sich eine großartige Bäckerei.
    Der Bäcker musste ihn schon kommen gesehen haben, denn als Tom eintrat, schob der Mann in den weißen Kleidern gerade eine Donutpackung mit seinen Lieblingsdonuts auf den Tresen und stellte einen extragroßen Pappbecher unter die Kaffeemaschine.
    „Heute noch einen Tee“, lächelte Tom und klappte die Donutpackung auf. „Zuckerguss und?“
    „Erdbeerfüllung“, beendete der Bäcker seinen Satz und stellte einen zweiten Becher unter den Ausguss für heißes Wasser an der Maschine.
    „Du weißt, wie man müde Polizisten glücklich macht.“
    Der Bäcker drehte sich um und grinste. „Immer noch nicht weiter gekommen?“
    „Nicht wirklich“, seufzte Tom und lehnte sich auf den Tresen. Beim Anblick der Donuts lief ihm das Wasser im Mund zusammen und sein Magen meldete sich. Er konnte nicht widerstehen und nahm sich einen.
    „Und die Journalistin von der alle reden?“
    „Woher weißt du davon?“, fragte Tom erstaunt und biss herzhaft in den Teigring.

    Himmlisch …
    Der Bäcker zuckte mit den Schultern. „Alle reden davon.“ Er fischte den ersten Becher vom Brett der Maschine und verschloss ihn mit einem Plastikdeckel, ehe er ihn über den Tresen schob.
    „Wenn du es niemanden gesagt hast, dann gibt es wohl irgendwo ein Leck“, mutmaßte der Bäcker.

    Clever kombiniert, Dr. Watson.
    Toms Laune schlug um und grimmig legte er den Donut zurück in die Packung.
    „Fünf Dreißig.“ Der Bäcker schob ihm den zweiten Becher zu, nachdem er einen Beutel Tee hinein gehängt hatte.
    Tom legte einen zehner auf die Theke. „Stimmt so.“
    Dann verschwand er mit großen Schritten, die Donuts unter dem Arm, den Kaffee und den Tee jeweils in einer Hand, wieder aus dem Laden.
    Woher konnte der Bäcker von Jones gewusst haben?
    Weder er noch Grace hatten der Presse irgendetwas darüber erzählt. Sie mussten die neue Zeugin geheim halten. Unter Umständen war sie das Ass im Ärmel, das ihnen bis jetzt gefehlt hatte. Er konnte nicht riskieren diesen Vorteil zu verspielen oder gar die Journalistin auf die Liste des Täters zu setzen. Verdammte Schnüffler. Irgendwie hatten sie es herausgefunden oder die beiden, Jones und Kelley, hatten nicht dicht gehalten.
    Wütend stapfte er durch die Gänge des Bürogebäudes und stupste die Tür zu seinem Schreibtisch mit dem Fuß an. Ein wenig zu fest, wie es schien, denn Grace fuhr erschrocken nach oben. Auf ihrer Wange zeichnete sich der Abdruck einer Büroklammer ab, auf der sie eingeschlafen war. Trotz allem musste Tom grinsen.
    „Guten Morgen.“ Er stellte die Donuts und den Becher mit Tee vor ihr auf den Tisch.
    „Morgen“, meinte Grace verschlafen und schaute auf die Uhr. Sie schüttelte sich. „Gerade mal zwei Stunden.“
    Dankbar griff sie nach dem Becher und schloss genießerisch die Augen, als sie den ersten Schluck nahm. „Du bist ein Schatz“, sagte sie und Tom lächelte. Nach einer kurzen Pause in der jeder seinen gedanken nachgehangen hatte, fragte sie: „Gibt es was Neues?“
    Tom schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin alles nochmal durchgegangen, in der Hoffnung, dass wir irgendetwas übersehen haben, aber ich kann einfach nichts finden, das uns weiterbringt. Die Jungs von der Spusi haben sich auch noch nicht bei mir gemeldet. Das macht mich wahnsinnig.“
    Grace nippte mit leerem Blick an ihrem Getränk. „Ich habe auch nichts mehr gefunden. Es ist immer das Gleiche. Dass wir jetzt wissen wer der Täter ist, macht es nicht leichter ihn zu finden. Er ist nirgendwo registriert. Wie auch? Niemand wusste, dass es ihn gibt. Es gibt so viele Orte an denen er sein könnte …“
    „Vielleicht müssen wir einfach systematisch jeden Ort absuchen …“, überlegte Tom laut.
    Grace musterte ihn entgeistert. „Wir müssten in den Untergrund. Das würde ‘ne richtig dicke Undercoveraktion werden. Wir müssten uns erst das Vertrauen der Gangs erkaufen, für solche Späße haben wir keine Zeit.“
    Der Einwand war berechtigt. Tom legte die Stirn in Falten.
    „Hast du nicht noch ein paar Kontakte, die dir einen Gefallen schulden?“, fragte Grace schließlich.
    „Nur Summer und Scary.“ Das waren keine guten Aussichten. Tom vergab selten Chancen und hatte dementsprechend auch nur wenige Leute, die ihm etwas schuldeten. Summer war eine Prostituierte. Sie könnte sich sicherlich umhören, aber viel mehr als das Rotlichtviertel bekam sie nicht zu sehen. Vielleicht könnte sie einige ihrer Kunden aushorchen …
    Scary war ein Kleinkrimineller, der die Drogen, mit denen er dealte selbst nahm. Er war selten klar im Kopf und außerdem in der Szene nicht groß genug, um ernsthaft Informationen beschaffen zu können.
    Grace seufzte. „Besser als nichts. Ich glaube, wir sind an einem Punkt, an dem wir alles versuchen müssen.“
    Tom nickte. „Achja, der Bäcker wusste von Jones. Wir müssen rausfinden woher die Gerüchte kommen.“
    Die Rothaarige sagte nichts dazu, sondern schlürfte wieder geistesabwesend an ihrem Kaffee. Sie sah fertig aus.
    Das Läuten seines Telefons brachte ihn zurück an seinen Schreibtisch. Schnell fischte er sich noch seinen angebissenen Donut aus der Schachtel und nahm ab.
    „Tom Sparks. Kommissar im Sondereinssatz“, raunzte er in den Hörer. „Jones? … aha … ja… nein, das ist wenig hilfreich. … Sollen wir doch jemanden vorbeischicken? … mhm … Kommen Sie, wann sie wollen.“ Ohne Abschiedsgruß legte er den Hörer wieder auf und stöhnte. Diese Journalistin konnte reden wie ein Wasserfall …

    Kapitel 30
    Klapsmühle


    Ben kam ruckartig auf dem weißen Kies des Besucherparkplatzes zum Stehen.
    Kleine Steine knirschten und spritzen in alle Richtungen. Einen Moment hoffte er, dass der dicke Mercedes neben ihm keinen Lackschaden davon trug, dann verwarf er den Gedanken. Er hatte Wichtigeres zu tun. Hastig stieg er aus und drückte den Knopf zum verriegeln seines Wagens, während er schon auf den Eingang der Psychiatrie zu hielt. Energisch schob er die Drehtür an und trat in das sterile Foyer des Gebäudes. Eine blonde Schwester, ganz in weiß gekleidet, sah zu ihm auf.
    "Mr. Flynn", sagte sie überrascht. "So aus der Reihe? Sie kommen doch immer Mittwochs."
    Er zuckte unschuldig mit den Schultern. "Ich hab in der Kanzlei Leerlauf. Können Sie mir sagen, wo ich Mrs. Adams finden kann?"
    Sie lächelte. "Im Garten, wie immer."
    Ben bedankte sich höflich und ging durch die Glastür hinaus in den Park. Mia saß wie immer auf der weiß gestrichen Bank inmitten des Blumenmeers und blickte mit geschlossenen Augen in die Sonne. Sie sah ruhig aus, beinahe normal. Ben wusste nur zu gut, dass dieser Eindruck täuschte. Er hatte ein schlechtes Gewissen, diesen Anblick stören zu müssen, zumal er wusste, dass er heute nicht besonders sanft mit ihr umgehen konnte. Innerlich krampfte sich etwas zusammen, als er daran dachte, dass er sich mit dieser Aktion eventuell ein Besuchsverbot einhandeln konnte, aber die Ärzte würden ihn nie mit der ehemaligen Pharmazeutin sprechen lassen, wenn sie wussten, was er vor hatte.
    Mühsam zwang er ein Lächeln auf seine Lippen und stellte sich Mia in die Sonne, sodass ihr Gesicht nun von seinem Schatten verdunkelt wurde. Verwirrt blinzelnd schlug sie die Augen auf.
    "Ben", rief sie freudig und streckte die Arme nach ihm aus, wie ein kleines Kind. Als er ihre Hände ergriff und sie sachte drückte, war sein Lächeln echt. Langsam setzte er sich neben sie.
    "Hast du sie gerettet?", fragte sie und sein Lächeln erstarb. Diese Frage hatte er vergessen. Sein Blick sprach wohl Bände, denn Mia wandte sich ruckartig ab und starrte mit leerem Blick in die Luft.
    Also schwiegen sie sich eine Weile an. Ben wusste nicht, wie er beginnen sollte und Mias Aufmerksamkeit war bald von einem Schmetterling, bald von einer Blume, bald von einem sich im Sommerwind wiegenden Grashalm gefangen.
    "Mia?", versuchte er ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
    Überrascht drehte Mia den Kopf in seine Richtung. Er wusste, dass sie längst schon wieder vergessen hatte, dass er gekommen war.
    "Kannst du dich erinnern worüber wir neulich gesprochen haben?", fragte er. Was für eine dämliche Frage. Natürlich konnte sie das nicht. Sie überraschte ihn. "Über Glückstränen."
    Ben zog eine Augenbraue hoch. Dunkel klingelte es. Das war wirklich schon eine ganze Weile her. Da war Evie noch hier in Bristol gewesen. Kurz freute er sich und überlegte, ob er den kleinen Erfolg bei einem Arzt anmerken sollte, bis ihm einfiel, dass er ihre Fortschritte womöglich gleich zu nichte machen würde. Er holte tief Luft, um das Band, das sich um seine Brust gelegt hatte, zu sprengen. Es gelang ihm nicht wirklich, dennoch begann er wieder zu sprechen.
    "Auch. Aber ich meine die Klone."
    Er konnte sehen wie Mias Hände zu Beben begannen. Er wusste, dass er sich auf gefährliches Terrain begab, trotzdem nahm er seinen Mut zusammen und fuhr fort. "Was kannst du mir über die Klone erzählen?"
    Mias Blick irrte unstet hin und her. Sie rückte von ihm ab und musterte ihn mit Abscheu im Blick. Es brach dem Anwalt das Herz, so von ihr angesehen zu werden. Aber er konnte in ihren Augen sehen, dass sie selbst nicht wusste, warum sie so reagierte.
    "Bitte. Du musst mir alles über sie erzählen." Ein flehender Ton legte sich in seine Stimme.
    "Die Klone sind tot!", brach es aus Mia heraus und Ben erschrak über ihren Ausbruch.
    "Zum Glück", lächelte er. "Ich frage doch nur, weil es mich interessiert."
    Mia entspannte sich etwas. Sie ließ die Schultern sinken und lehnte sich wieder an die Lehne der Bank, schwieg aber.
    "Du sagtest mal, es waren drei."
    Mia nickte verträumt und schien in Erinnerungen zu schwelgen.
    "Mia? Erzähl mir von den Klonen. Gibt es etwas Besonderes, was sie ausmacht?"
    Mia blickte ihn verwirrt an. "Was Besonderes? Deine Augen."
    Ben hustete. "Was?!" Fahrig strich er sich über das Gesicht und ordnete seine Gedanken. Sie redete wirres Zeug. Sie war doch gar nicht klar im Kopf. War ja ne super Voraussetzung für eine Befragung. Er schüttelte den Kopf, um seine Verwirrung loszuwerden.
    "Nicht an mir Besonders. Ich meine an den Klonen", versuchte Ben das Gespräch umzulenken.
    "Den Klonen?" Mia schien nicht zu wissen wovon er redete.
    "Na die Geschöpfe, die du mit", er schluckte, sprach den Namen dann aber doch aus, "mit Anna geschaffen hast."
    "Anna?" Mias Augen leuchteten auf. Ben nickte und hoffte. Er wurde nicht enttäuscht.
    "Großartige Geschöpfe", murmelte sie dann. "Mit ihnen hätten wir es schaffen können. Niemand ist Wirbeltürmen oder Tsunamis gewachsen. Wir hätten sie alle ausgelöscht." Ben schwieg. Er traute sich nicht ihren Redefluss zu unterbrechen. "Die Reichen und Mächtigen wären vor ihnen erzittert. Niemand hätte ihnen etwas entgegensetzen können. Niemand kann der Natur etwas entgegensetzen. Aber sie konnten es. Ohja. Sie konnten es und sie konnten noch viel mehr. Stell dir vor sie hätten bis jetzt überlebt!" Mias Augen glänzten und Ben erschrak darüber. "Was sie mit ihren Erfahrungen anstellen könnten. Menschen töten ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Erde mit ihren eigenen Wassern sauber spülen. Klüger als jeder Mensch. Niemand könnte sie aufhalten, außer einer von ihnen."
    Für Ben ergab das Gerede überhaupt keinen Sinn, aber viel mehr erfasst ihn die Klarheit ihrer Gedanken und Worte und jagte ihm einem kalten Schauer über den Rücken. Sie war verrückt und das nicht erst seit Anna den Löffel abgegeben hatte. Er spürte einen Funken Angst vor der schmächtigen Frau. Was hatten sie damals nur vorgehabt?
    "Warum hast du zugelassen, dass Nick ihn tötete? Warum?!", riss sie ihn plötzlich aus seinen Gedanken. Ben wurde bleich. Mias Augen waren aufgerissen, ihr Gesicht vor Wut verzerrt. Mit einem Schrei, der wie der eines wilden Wolfes klang, sprang sie auf und ließ ihre Fäuste immer wieder auf seinen Brustkorb und sein Gesicht fahren.
    "Mia!", rief er entsetzt und versuchte ihre Hände festzuhalten. Es gelang ihm nicht. Er sah Schwestern und Pfleger herbeieilen. Sie brauchten zwei Männer, um Mia von ihm herunter zu holen, vorher schlug sie ihm aber die Lippe blutig.
    "Lasst mich!", schrie Mia aufgebracht und stemmte sich gegen den Griff der kräftigen Pfleger, die sichtlich Mühe hatten die Furie zu bändigen. "Er ist schuld! Er hat zugelassen, dass Nick sie getötet hat. Anna! Wo ist Anna! Fragt sie, sie wird es bestätigen. ANNA!"
    Eine Schwester eilte herbei und jagte Mia ohne Umschweifen eine Spritze in den Oberschenkel. Sekundenbruchteile später sank sie schlaff in die Arme der Pfleger, die erleichtert aufatmeten und sich mit ihr ins Gebäude entfernten.
    "Danke", murmelte Ben an die Schwester gewandt.
    "Was haben sie ihr erzählt?!", brüllte diese in ungehalten an.
    Instinktiv duckte der Anwalt sich, aber sie war noch lange nicht fertig. "Sie war auf dem Weg der Besserung und dann kommen Sie und machen alles kaputt. Wir stehen wieder bei Null mit ihr! Ich will Sie hier nie wieder sehen!"
    "Aber sie konnte sich klar äußern", warf Ben zu seiner Verteidigung ein. Im selben Moment wünschte er sich, er hätte sich auf die Zunge gebissen.
    Mit bedrohlich funkelnden Augen sagte die Schwester: "Verlassen sie auf der Stelle das Gebäude!"
    Das ließ sich Ben nicht zwei Mal sagen. Er nahm die Beine in die Hand und hoffte beim Gehen, dass er wieder Besuchsrecht bekäme, wenn er beweisen konnte, dass er das für wichtige Ermittlungen getan hatte. Wahrscheinlich nicht. Er hätte sich auch so an einen der Ärzte wenden sollen. Vielleicht half es, dass er der Einzige war, der die Frau besucht hatte? Tränen stiegen ihm in die Augen. Ihre Worte hatten nicht wirklich einen Sinn ergeben, zumindest in seinen Augen. Hatte er sie für Nichts zurück in ihr Trauma geworfen und den Kontakt zu ihr verspielt?

    Kapitel 28
    Nick nimmt Vernunft an


    In diesem Moment hasste Nick seinen Kumpel Ben.
    Dafür, dass er ihn aus dem Bett getreten hatte. Dafür, dass er ihn angeschrien hatte. Dafür, dass er Recht hatte.
    Nachdem Ben so aufgebracht aus seiner Wohnung verschwunden war, hatte Nick nicht mehr lange gezögert. Er hatte Anna verloren und im keinen Preis wollte er auch noch Ben verlieren. Er hatte sich lange genug in seinem dunklen Loch voll Einsamkeit und Trauer verkrochen. Langsam wurde es Zeit den mühsamen Aufstieg zu beginnen.
    Mürrisch, aber trotzdem zackig, begann er seine Sachen zu packen. Er warf alles, was sich bei Ben von ihm fand in seine Tasche. Entsetzt stellte er dabei fest, dass er sich wirklich bei dem gutmütigen Anwalt eingenistet hatte.
    Anschließend nahm er seit Tagen seine erste Dusche und schwang sich in seinen Wagen, um in seiner eigenen Wohnung noch ein paar Sachen zusammen zu suchen.
    Zu seinem Unmut musste er Ben nach der Nummer der Beamtin fragen, die sie am Flughafen abholen wollte.
    Aber er rief nicht an. Sein Stolz ließ lediglich zu ,seinem Kumpel zu schreiben. Er bekam die Nummer postwendend, mehr aber auch nicht.
    Nick schnaubte frustriert. Trotzdem wählte er die angegebene Nummer und machte mit der Polizistin die Ankunftszeit aus. Ihre Stimme klang warm und freundlich, stellte er fest. Diese Tatsache ließ ihn seinen Gram ein wenig vergessen.
    Anschließend rief er Carl und Bumblebee an.
    Es war gar nicht so einfach dem vergesslichen Mann zu erklären was geschehen war, ohne dabei zu viel von seiner Zeit in Mias Keller preiszugeben.
    Letztendlich erzählte er nur, dass BB einen weiteren Bruder und Carl damit einen weiteren Klon hatte, der überlebt zu haben schien und der sein Unwesen in London trieb.


    Nachedem Nick schließlich alles gepackt und seinen Koffer in den Kofferraum seines Autos verfrachtet hatte, konnte er sich endlich auf den Weg zu Carl und BB machen, um sie abzuholen. Der zuverlässige Klon hatte seinem Freund schon geholfen alles Nötige zusammen zu packen und in einer Reisetasche zu verstauen.
    Nick musste widerwillig grinsen, als er vorfuhr und die beiden wie die Schulbuben vor dem Hauseingang auf ihren Koffern sitzen sah.
    Der Polizist parkte in zweiter Reihe, betätigte den Warnblinker und stieg aus. Befangen begrüßten sich die drei Freunde und verluden anschließend die Koffer.
    Gemeinsam quälten sie sich durch den zähflüssigen Verkehr zum Flughafen.
    Nick zückte sein Handy. Miss Hemmingdale hatte ihm ein Foto von sich gesendet, damit sie sich schnell fanden. Und tatsächlich. Die Polizistin ging schon unruhig im Wartesaal auf und ab und beobachtete sämtliche Ein- und Ausgänge.
    Dank ihres markanten roten Haares war sie nicht zu übersehen und Nick ging zielstrebig auf sie zu.
    „Hallo, Miss Hemmingdale?“, fragte er und streckte der Frau die Hand entgegen. Sie lächelte warm.
    „Ja.“ Sie legte ihre Hand in seine und ein warmes Kribbeln durchzuckte Nick. Überrascht und ein wenig entsetzt zog er seine Hand zurück. Das Lächeln der Polizistin nahm einen kühleren Ausdruck an, aber Nick überspielte die unangenehme Lage, in dem er sich beeilte Carl und BB vorzustellen.
    „Erstaunlich“, sagte Miss Hemmingdale und betrachtete die beiden neugierig und vor allem eingehend.
    Nick spürte, dass Carl sich unwohl zu fühlen begann, aber Bumblebee kam ihm zuvor.
    „Das eigentliche Wunder ich bin“, sagte er mit stolzgeschwellter Brust und stellte sich zwischen Carl und die Polizistin, um den Blickkontakt zu unterbrechen.
    Nick musste lachen. „Ja, du bist wirklich ein kleines Wunder. Wortwörtlich!“, erwiderte er dem kleinen Zwilling von Carl.
    Bumblebee hatte es mal wieder geschafft die Stimmung auf seine kindliche Weise zu lockern und Neugier und Befangenheit wichen Freundlichkeit.
    Miss Hemmingdale zückte vier Bordkarten.
    „Sie haben für uns auch welche?“, fragte Nick überrascht.
    Miss Hemmingdale nickte. „Polizeiliche Überführung von Zeugen von Bristol nach London.“ Ein Grinsen stahl sich auf ihre Lippen und Nick pfiff anerkennend durch die Zähne. „Ich hätte so etwas nie in der kurzen Zeit bewilligt bekommen.“
    „Männer!“, flachste die Polizistin nur und drehte sich um, um mit den Karten einzuchecken.
    Nick spürte, wie ein warmes Gefühl seine Brust erreichte. Überrascht und verwirrt nahm er es zur Kenntnis, versuchte es aber beinahe sofort zu verdrängen. Er hatte eine wichtige Mission, auf die er sich konzentrieren musste. Dennoch g
    rinsend blickte er seine beiden Gefährten an und gemeinsam folgten sie Miss Hemmingdale.
    Nick entging dabei, wie Carl BB einen freundschaftlichen Stoß in die Rippen gab und ihm etwas ins Ohr flüsterte, das den Klon zum Kichern brachte.


    Zwei Stunden später bezogen Carl und Bumblebee das Zimmer rechts neben Evie und Joeys und Nick das gegenüberliegende.
    Es war ein nettes Hotel. Die beiden Journalisten hatten es gut ausgesucht. Sauber, mit Frühstück, aber nicht zu teuer.
    Die Dämmerung setzte bereits ein, als er eine vertraute Stimme auf dem Gang hörte.
    Sofort streckte er seinen Kopf aus dem Zimmer und erkannte Evie, die mit Joey in Begleitung den Flur hinunter kam. Sie sah völlig fertig aus. Zerfleddert wie ein Moorhuhn, ein wenig verweint und einfach erschöpft. Dennoch freute Nick sie sich zu sehen.
    Stürmisch schloss er sie in die Arme.
    „Ich hätte nicht gedacht, dass ich dein Gequassel jemals vermissen werde!“
    Evie lachte, aber es klang müde. Als Nick Joeys eifersüchtigen Blick bemerkte, als Evie die Umarmung nicht nur widerspruchslos über sich ergehen ließ, sondern sie sogar erwiderte, ließ er schnell von ihr ab und schob sie eine Armlänge von sich.
    „Du siehst beschissen aus!“
    Evie schmunzelte. „Ich freue mich auch dich zu sehen. Aber noch viel mehr auf ein heißes Bad und mein Bett.“
    Nick spürte, dass er sich wohl oder übel bis morgen gedulden musste, um Evies Variante der Geschichte zu hören. Er nickte und ließ sie gehen, damit sie noch Carl und Bumblebee begrüßen konnte, die mittlerweile auch schon auf den Gang getreten waren.
    „Hallo, Sie müssen Joey sein“, wandte sich Nick an Evies Kollegen. Er sah genauso herunter gekommen aus wie Evie.
    „Sie hat von mir erzäh- äh, ja das bin ich. Sie sind Nick?“, unterbrach sich der Journalist selbst und warf einen unsicheren Blick zu Evie, aber die hatte nichts gehört. Nick war nicht entgangen, dass seine Antwort eigentlich reservierter hatte ausfallen sollen und schmunzelte. Ob Joey Evies Herz erweichen konnte? Nick würde es ihr gönne. Wenn er schon seine große Liebe nicht haben konnte, dann sollte wenigstens Evie sie finden. Er spürte wie sich wieder die gewohnte Kälte in seiner Brust ausbreitete. Schnell wandte er sich deshalb und beobachtete Bumblebee, der versuchte Evie aufzuheitern.
    Nach der allgemeinen Wiedersehensfreude berichtete Nick grob, wie es ihm und den anderen beiden ergangen war, dann schob er Carl und seinen Klon in ihr Zimmer und wünschte den beiden eine erholsame Nacht.

    Kapitel 27
    Beweg deinen Arsch


    Ben hatte noch eine Weile mit Kommissar Sparks gesprochen, an den Evie das Telefon weiter gereicht hatte.
    Er hatte ihm in aller Ruhe noch einmal erklären können, wie es zu den neusten Erkenntnissen gekommen war und was sie bedeuteten.
    Beide kamen zu der Übereinkunft, dass Sparks seine Kollegin Miss Hemmingdale sofort zu ihnen nach Bristol schicken würde, um Carl und Bumblebee mitzunehmen.
    Ben hingegen sollte noch einmal zu Mia in die Anstalt fahren und versuchen etwas mehr aus ihr heraus zu kitzeln. Der Anwalt hatte Sparks mit Mühe dazu überreden können, die Polizei aus dem Spiel zu lassen. Zu viel Druck konnte bei Mia für einen Flashback sorgen und alle Fortschritte, die sie die letzte Zeit gemacht hatte – und seien sie noch so klein – zu Nichte machen. So würden sie nie etwas aus ihr heraus bekommen.
    Der Anwalt verabschiedete sich von dem mürrischen Kommissar und legte sein Handy auf die kleine Anrichte in seinem Schlafzimmer.
    Nick saß immer noch in seinem Bett, aber seine Augen waren nun wieder müde beinahe ein bisschen teilnahmslos.
    Ben machte sich seit geraumer Zeit ernsthaft Sorgen um seinen Kumpel. Er schien über den Punkt einer Depression hinaus zu sein und einfach alle Emotionen abgetötet zu haben.
    Die ganze Zeit über, in der er hier in seinem Bett lag und verschimmelte, war er nicht einmal an Annas Grab gewesen. Das war nicht weiter schlimm, aber er hatte auch nicht über Anna geredet oder angemerkt, dass er sie lange nicht mehr besucht hatte.
    Nick braucht dringend einen Tapetenwechsel, dachte Ben und schon kam ihm die zündende Idee.
    „Du begleitest Carl und BB nach London!“, strahlte er und ließ sich auf die Bettkante sinken.
    Nick schüttelte den Kopf, als ob er einen lästigen Gedanken loswerden wollte und fragte: „Was?“
    „Du gehst mit nach London!“, wiederholte der Anwalt.
    „Ich habe hier zu tun“, grummelte Nick und ließ sich wieder tiefer in die Federn sinken.
    „Was denn? Seit Tagen ungewaschen mein Bett blockieren?“, antwortete Ben halb im Spaß, halb bissig.
    Nick warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
    „Was denn?“, brauste Ben auf. „Ist doch so. Du liegst hier herum und tust gelinde gesagt: NICHTS! Es wird Zeit, dass du deinen Arsch wieder hochbekommst, statt in deinem Loch zu versinken.“
    „Ich dachte, ich kann bleiben, so lange ich will“, warf Nick müde ein.
    Ben lachte. „Da habe ich nicht gewusst, dass du dich wie eine Zecke an meinem Bett festsaugen würdest!“ Er erntete nur einen herablassenden Blick und Ben spürte, dass er hier mit rationalen Argumenten vielleicht eher weiter kam.
    „Carl braucht deine Hilfe.“
    „Er hat BB.“
    „Der war auch noch nie an einem Flughafen.“
    „Wollte Sparks nicht jemanden schicken, der die beiden abholt?“
    Ben nickte. „Miss Hemmingdale. Trotzdem werden sie überfordert sein. Sie kennen die Frau nicht. Außerdem werden die beiden sicherlich dauernd angestarrt als wären sie Zootiere.“
    „Nicht mein Problem.“
    Fassungslos blickte Ben auf seinen Kumpel hinab, der sich von ihm weg drehte und die Augen schloss, so als wolle er weiter schlafen.
    „Und du wirfst mir vor ein schlechter Freund zu sein!“, murmelte Ben aufgebracht.
    Plötzlich stand er auf und stemmte Nick seinen Fuß mit aller Kraft ins Kreuz. Dieser grummelte überrascht, ehe er auf der anderen Seite aus dem Bett fiel und polternd auf dem Boden aufkam.
    „Spinnst du?!“, fauchte der Polizist, während er sich mühsam aufrappelte.
    „Du spinnst!“ Jetzt wurde der Anwalt richtig sauer. „Wenn du hier in Bristol weiter Handtaschendiebstähle aufklären willst, dann tu dir keinen Zwang an. Wenn du dich weiter in Selbstmitleid suhlen willst, dann hoffe ich, dass du daran erstickst und wenn du hier weiter deine Zeit mit Nichtstun verschwenden willst, mach das, aber nicht in MEINEM BETT!“ Die letzten Worte schmetterte Ben seinem Freund an den Kopf, dann verließ er wütend sein Apartment und warf die Tür heftig ins Schloss.
    Unten vor der Haustür atmete er einmal tief durch.
    Er wusste was er getan hatte. Er hatte Nick vor die Wahl gestellt. Entweder London und die Freundschaft oder Handtaschendiebe ohne Ben.
    Wie sich sein Vielleicht-bald-nicht-mehr-Kumpel entschieden hatte, würde er bald herausfinden.
    Eigentlich glaubte er daran, dass Nick mit nach London gehen würde, doch in ihm war diese kleine fiese Stimme, die Zweifel streute.

    Es gab doch noch einen dritten Klon am Ende des ersten Teils. Einer tauchte plötzlich auf und wurde abgeknallt, einer in den Gängen und der letzte war Bumblebee. Oder habe ich das falsch in Erinnerung?

    Nope ^^
    Hast du richtig erkennt :D

    :blush: :blush: :blush:
    Mehr fällt mir nicht ein, was ich dazu noch sagen könnte XD
    Ich denke ich spreche auch für Kye ^^
    Wir beraten schon wie es weiter geht und beehren euch bald wieder :P

    Kapitel 25
    Der Dritte im Bunde?

    Evie wurde am frühen Morgen davon geweckt, dass ihr Handy klingelte.
    Verschlafen rieb sie sich die Augen und tastete im Dunkeln nach ihrem Telefon. Neben ihr brummte Joey unwillig.
    Ihre Finger stießen an das kalte Metall und das Gerät fiel rumpelnd zu Boden, während es munter weiter lärmte.
    "Ach Scheiße!", murmelte Evie und ließ sich zurück in die Kissen sinken. Sie würde nachher zurück rufen. Zu ihrer Erleichterung erstarben die elektronischen Klänge von Morning Dust - nur um gleich darauf wieder zu erschallen. Wiederwillig warf die Journalistin die Decke zurück, rutsche aus dem Bett und wühlte auf dem Boden nach ihrem Handy. Schnell hatte sie es gefunden. Tiffanys Nummer. Auf einmal hellwach nahm sie ab.
    Es war Caleb und wenige Augenblicke spürte sie, wie sie kreidebleich wurde. Mit zitternden Fingern legte sie auf. Schwer atmend setzte sie sich zu Joey auf die Bettkante und rüttelte ihn wach. Auch er erwachte nur missmutig, aber als er Evie vor sich sah, die weiß wie die Wand war, war auch er schlagartig wach.
    "Was ist los?"
    "Er hat Tif." Mehr brachte sie nicht raus. Fassungslos starrte sie auf ihr Handy. Ihre Kehle war zugeschnürt und ihr Mund ganz trocken.
    Entsetzt richtete Joey sich auf. Evie lehnte sich müde an ihn und er schloss sie tröstend in die Arme.
    "Aber ... wie kann das sein?", fragte er. Seine Stimme rumpelte in seiner Brust. Evie antwortete mit belegter Stimme: "Er scheint gestern Nacht eingebrochen zu sein. Sie haben das Haus durchsucht, es war niemand dort. Aber sie müssen ihn übersehen haben. Er hat Feuer gelegt und in der aufkommenden Panik hat er sie mitgenommen. Caleb war der Meinung, dass wir es wissen sollten."
    Eine Weile verharrten sie in dieser Position. Evie hatte nicht das Bedürfnis sich Joey zu entziehen. Er war der einzige Halt, den sie in dieser entsetzlichen Zeit hatte. Während er sie hielt und sein Kinn auf ihren Kopf stütze, rasten ihre Gedanken.
    Wie konnte das sein? Wie war der Mörder ins Haus gelangt? Hatte er Spuren hinterlassen?
    Bei dem Gedanken schreckte sie hoch, wobei Joeys Kiefer hörbar und scheinbar auch schmerzhaft aufeinander prallten.
    "Sorry", sagte sie. "Aber wir sollten schnellst möglich zur Polizei! Vielleicht hat die DNA-Analyse was ergeben!"
    "Du hast Recht!", entgegnete ihr Kollege, schob sie zur Seite und begann schon sich anzuziehen.


    Wenig später saßen sie wieder auf dem Polizeipräsidium. Diesmal war man freundlicher zu ihnen, selbst der grummelige Kommissar Sparks hatte sich zu einer Entschuldigung hinreißen lassen. Allerdings glaubte Evie, dass es mehr daran lag, dass er einfach zu müde war, um sich mit einer nichtigen Diskussion über falsche Verdächtigungen zu befassen. Seine Augenringe waren noch tiefer geworden, sofern das überhaupt noch möglich gewesen war und seine Hände umklammerten schon die dritte Tasse Kaffee. Es hatte ihn wohl mehr Anstrengungen gekostet die aufgebrachte Journalistin zu beruhigen, als es zunächst den Anschein gemacht hatte.
    Nun saßen sie gemeinsam mit ihm und der rothaarigen Polizistin, die sich Ihnen als Grace Hemmingdale vorgestellt hatte, an einem der Tische in einem unordentlichen Büro. Akten und Notizen stapelten sich überall, an der Wand hinter dem Kommissar hing eine mit einem Tuch abgedeckte Pinnwand. Sicherlich waren auf ihr die Fotos und Steckbriefe der Opfer und des Täters angeheftet und man hatte ihnen, als Vertretern der Presse, das Futter nicht auf dem Silbertablett servieren wollen. Das Fenster stand offen und wehte abwechselnd stickige Luft und warmen Regen herein.
    "Haben die Tests etwas ergeben?", fragte Evie, die sich mittlerweile beruhigt hatte und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Chaos würde Tiffany mit Sicherheit nicht helfen.
    Sparks nickte, sagte aber kein Wort.
    "Das ist prima!", rief Evie aus. "Wir könnten das Phantombild in der Zeitung veröffentlichen, das Tiffany euch noch hat zeichnen lassen, oder ist der Mann in einer der Datenbänke verzeichnet?"
    "Ich glaube, es ist nicht so klug das Phantombild zu veröffentlichen, nicht wenn er sein Opfer bei sich hat", wandte Miss Hemmingdale ein.
    "Und warum nicht?!", fauchte Evie. "Wir müssen Tif rechtzeitig finden!"
    Die Rothaarige ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. "Mit einer öffentlichen Großfahndung würden wir ihn in die Enge treiben und vielleicht zu unbedachten Handlungen reizen. Wenn wir mit Bedacht vorgehen, verschaffen wir Miss Morgen Zeit."
    Evie wog ihr Argument ab. Das klang einleuchtend, doch ehe sie noch irgendetwas sagen konnte unterbrach Joey die hitzige Debatte.
    "Wer ist denn nun der Killer? Sie sagten die Probe hat was ergeben."
    Wieder nickte Sparks. Er zögerte wieder, dann begann er zu sprechen.
    "Eigentlich dürften wir Ihnen über das Ergebnis der Probe gar nichts sagen, aber wir haben Grund zu der Annahme, dass gerade Sie, Miss Jones, uns helfen können."
    Evie zog überrascht eine Augenbraue nach oben. "Sie stellen mich doch nicht schon wieder unter Mordverdacht?!"
    Sparks musterte sie ernst. Evie verstand die unausgesprochene Verneinung und lehnte sich zurück. "Also?"
    "Wir müssen Ihnen das Versprechen abnehmen, dass davon nichts, aber auch wirklich gar nichts, an die Öffentlichkeit geht - zumindest so lange, bis der Fall gelöst ist."
    Himmel, worum machten die denn so ein Geheimnis? Aber Evie wollte endlich wissen, was die beiden Kommissare zu sagen hatten und nickte feierlich.
    "Würden Sie dann das bitte unterschreiben? Das ist eine Unterlassungszusage." Grace schob ihnen jeweils einen Zettel und einen Kuli zu. Evie stöhnte. "Himmel!"
    "Ohne Unterschrift ..." Weiter kam die Polizistin nicht. Evie riss Blatt und Stift an sich und setzte ihre Unterschrift, dann sah sie Sparks auffordernd an.
    "Nun", ihm schien immer noch nicht ganz wohl in seiner Haut zu sein. "Also, die DNA war tatsächlich in unserer Datenbank gespeichert. "Sie gehört zu einem gewissen ... Carl Spencer."
    Evie ließ den Stift fallen. Klappernd fiel er zu Boden und rollte unter Evies Stuhl.
    Vor ziemlich genau einem Jahr hatte man Carls DNA aufgenommen und ihm einen Namen gegeben. Er hieß Carl, weil die Freunde ihn so genannt hatten und Spencer, weil es der erstbeste Name war, der den Behörden damals eingefallen war - zumindest so lange, bis man heraus gefunden hatte, wer er wirklich war.
    "Bitte was?! Das kann nicht sein! Er ist in Bristol", fuhr Evie leicht zeitverzögert auf. Es hatte eine Weile gedauert, bis die Information in ihrem Gehirn angekommen war.
    "Und der Klon?", fragte der Kommissar misstrauisch nach. "Ist er auch in Bristol?"
    Evie nickte so heftig, dass ihre nussbraunen Strähnen in ihr Gesicht fielen. "Ja, Bumblebee war die ganze Zeit dort. Fragen sie Nick Ryder. Er ist Polizist in Bristol!", antwortete sie, während sie die Haare zurück hinter ihr Ohr strich. Dieses Argument schien Sparks zu überzeugen. Ein Polizist als Alibi war wohl das Beste, das man haben konnte. Trotzdem setzte er zu einer weiteren Frage an. "Ich kann es mir einfach nicht erklären. Miss Morgen hatte noch nie mit Carl oder ... Bumblebee Kontakt. Wie kommt also Mister Spencers DNA unter ihre Fingernägel?"
    Eine berechtigte Frage. Evie legte die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach, während Joey dem Gespräch nur mehr oder weniger ratlos folgte. Und dann weiteten sich die Augen der Journalistin. Ihre Finger begannen zu zittern. Mia hatte Recht gehabt! Sie hatte verdammt nochmal Recht gehabt! Sie musste unbedingt mit Ben telefonieren.
    Mit weichen Knien schob sie den Stuhl zurück, kramte in ihrer Tasche nach ihrem Handy und wählte Bens Nummer.

    Kapitel 23
    Chloroform

    Er drehte den Schlüssel im Schloss, bis er ein leises Klicken vernahm. Dann schaute sich der Eindringling nochmal um. Als er im Dunkel der Nacht nichts erkennen konnte, nicht einmal die zuckenden Kegel der Taschenlampen, schob er sich lautlos ins Haus und schloss die Tür sorgfältig hinter sich.
    Angespannt lauschte er in die Finsternis des Wohnzimmers, in das er getreten war. Ihm war bewusst, dass es nicht lange dauern würde, bis die Polizisten ihren toten Kameraden entdecken würden. Seine Hände zitterten, als er plötzlich Stimmen vernahm. Sie schienen aus dem Zimmer den Flur hinunter zu kommen. Die Küche. Zu seinem Glück musste er den Eingang nicht passieren, wenn er ins Obergeschoss und somit in ihr Zimmer gelangen wollte.
    Auf katzengleichen Sohlen pirschte er sich den Flur hinab. Oh, er war schon oft hier gewesen, noch bevor die Polizei hier gewesen war, noch bevor er das erste Mal versucht hatte seine Kleine zu entführen. Ja, er wusste haargenau welche Dielen knarrten und wo er sein Gewicht auf die Stufen hin verlagern mussten, damit sie nicht knirschten.
    So oft hatte er schon an ihrem Bett gestanden und sie beim Schlafen beobachtet. Sie sah so wunderschön aus, wenn sich ihre blonden Haare seidenweich um ihren Kopf auffächerten. Aber nichts kam an diese unsagbaren Augen. Dieses tiefe Blau und das Blitzen darin, wenn ihre Tochter Emily tollpatschig stolperte oder ihr ein Bild schenkte.
    Aufgeregte Rufe, die aus dem Garten zu ihm hochdrangen rissen ihn aus seinen Gedanken. Er musste sich beeilen. Hastig, aber immer noch vollkommen lautlos, verschwand er in Tiffanys Zimmer.


    Tiffany schreckte hoch, als sie die Schreie aus dem Garten hörte. Sofort fiel ihr Blick auf die dunkle Gestalt im Türrahmen.
    „Nein!“, wisperte sie. Alles in ihr wollte losschreien, wegrennen, wild um sich schlagen, doch die Angst saß tief und lähmte sie. Sie war nicht fähig sich zu bewegen oder um Hilfe zu rufen. Tränen brachen aus ihren Augen.
    „Nicht weinen“, flüsterte der Mann mit sandpapierener Stimme und strich ihr dabei sanft über die Wange. Schritte ertönten auf der Treppe und gaben ihr Hoffnung, die die Angst zu untergraben schien, doch gerade als sie schreien wollte, presste ihr der Fremde eine Hand auf den Mund und ein blutiges Messer an die Kehle.
    „Wenn sie hochkommen, sagst du alles ist in Ordnung, sonst stirbt … dein Mann.“ Er spie das Wort mit einer Abscheu aus, die sie erschreckte, aber sie war unfähig etwas anderes zu tun als zu nicken. Er wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht und lächelte ihr aufmunternd zu, ehe er sich hinter der Schlafzimmertür versteckte, die nur Sekundenbruchteile später aufgerissen wurde.
    „Tif! Geht es dir gut?“ Caleb kam herein gestürmt und presste sie an sich. Tiffany schluchzte auf und gab sich der Umarmung hin. Gerade wollte sie ihm sagen, dass der Mann direkt hinter der Tür stand, doch dann sah sie bedrohlich die Klinge aufblitzen und den Schemen den Kopf schütteln.
    Mühsam unterdrückte sie ein weiteres Schluchzen und schob ihren Mann von sich.
    „Hier ist alles in Ordnung. Was ist denn los?“
    Caleb musterte sie kritisch und ein Teil von ihr wünschte sich, dass er sich umdrehen möge, aber er tat es nicht. Er schob ihre Tränen auf den Aufruhr und sagte: „Einer der Polizisten wurde ermordet. Aber hier im Haus scheint niemand zu sein, ich habe überall nachgesehen. Leg dich wieder hin, wir suchen draußen nach dem Mörder.“
    Als Caleb aufstand, schloss sich eine eisige Faust um ihr Herz und machte es ihr schwer zu atmen. Sie sog seinen Geruch noch ein letztes Mal in sich auf, dachte an Emily. Dann hörte wie er leise die Tür schloss ohne einen Blick dahinter geworfen zu haben, spürte ein nasses Tuch auf Mund und Nase und schon drang nur noch ein bitterer Geruch in ihre Sinne, der sie in trügerisch wohlige Schwärze hüllte.

    Kapitel 21
    Ben's Gedanken


    "Hey Evie. Wie geht es dir?", wollte Ben am anderen Ende der Leitung wissen.
    "Gut so weit. Wir sind eben auf dem Rückweg ins Hotel", antwortete sie und schielte zu Joey, der sich auf die Fahrbahn konzentrierte. In seinem Gesicht konnte sie keine Regung erkennen, die verriet, was er gerade dachte.
    "Wo wart ihr?", lenkte Ben ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch.
    "Bei Tiffany. Ihr geht es, abgesehen von einer Quetschung am Oberarm, gut. Den Schock hat sie gut überwunden."
    "Das freut mich zu hören. Sie steht jetzt unter Polizeischutz, nicht wahr?"
    Evie nickte und erst als sie Joey schmunzeln sah, fiel ihr ein, dass ihr Kumpel die Geste gar nicht sehen konnte.
    "Ja, richtig", sagte sie deshalb. "Übrigens haben sie unter Tifs Nägeln Hautschuppen gefunden. Sie sagte, sie hätte sich gewehrt und den Angreifer dabei gekratzt."
    Sie konnte förmlich sehen wie Ben am anderen Ende der Leitung hellhörig wurde.
    "Wirklich? Das ist ja großartig!"
    "Nur, wenn die DNA in den Datenbänken der Polizei auch schon mal vermerkt worden ist", wandte Evie ein.
    "Mal doch nicht gleich schwarz. Das ist ein super Hinweis!"
    "Und wie geht es euch?" Evie hatte irgendwie keine Lust weiter darüber zu sprechen. Eigentlich hatte sie Ben nicht erzählen wollen, dass DNA gefunden wurde. Sie konnte noch nicht so recht an den Erfolg glauben. Der Killer hatte noch nie einen Fehler gemacht, da würde ihm ein so lächerlicher sicher nicht unterlaufen. Außerdem hatte Tif unter Schock gestanden, weswegen ihr erst später eingefallen war, dass die Information, den Täter gekratzt zu haben, nützlich sein konnte. Seitdem hatte sie sich mindestens ein Mal gewaschen und zig Leuten die Hände geschüttelt. Sie wollte sich nicht zu sehr auf diese Information versteifen und andere Möglichkeiten außer Acht lassen, sie musste neutral bleiben - so schwer es ihr auch fiel, aber Bens Freudenbekundungen machten es eben auch nicht leichter.
    "Nick nicht so gut. Er ist heute aus seinem Fall rausgeflogen, ich war mal wieder bei Mia."
    Evie schnaubte. Die Jungs und ihre Mädels. Sie verdrehte die Augen.
    "Warum ist Nick rausgeflogen?", fragte sie deshalb.
    "Er sei zu unkonzentriert."
    "Vielleicht sollte er weniger an Annas Grab rumhängen."
    "Evie ...", versuchte der Anwalt zu schlichten, aber er wusste wahrscheinlich, dass sie gerade nur genervt dreinschaute.
    "Selbst nach ihrem Tod macht sie uns das Leben schwer!"
    "Mia hat ... etwas gesagt, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht", versuchte Ben das Thema zu wechseln, aber Evie war nun schnippisch.
    "Hat sie dir mit Wahnsinn in den Augen verkündet, dass sie unsterblich in dich verliebt ist?"
    Ben schwieg. Augenblicklich tat es ihr leid. Er konnte nichts für ihren Zorn, dafür konnten nur die beiden Frauen was, von denen eine zum Glück tot war.
    "Entschuldige. Was hat sie gesagt?", versuchte Evie einfühlsamer zu sein.
    Ben zögerte, schien seinen Groll dann aber hinunter zu schlucken. "Keine der Frauen ist älter als Anna oder sie. Und der erste Mord würde genau auf den Tag fallen, als sie Bumblebee und die anderen aus der Nährflüssigkeit geholt haben."
    "Ja und? Das kann reiner Zufall sein. Bestimmt fällt auf jeden Tag im Jahr ein Mord. Auch auf unsere Geburtstage." Kritisch starrte Evie aus dem Seitenfenster.
    "Wahrscheinlich hast du Recht und sie hat im Wahn gesprochen." Bens Tonfall war nicht zu deuten. Fast kam es Evie vor, als hätte er gewollt, dass Bedeutung in den Worten läge, weil es bedeuten könnte, dass Mia sich auf dem Weg der Besserung befand. Ein Grund mehr sie zu ignorieren, dachte die Journalistin nur.
    "Du, grüß Nick und die anderen ganz lieb. Ich muss Schluss machen", beendete sie das Gespräch abrupt, aber Ben wollte wohl mit seinen Gedanken alleine sein und so machte es ihm nichts aus.
    Evie ließ ihr Handy in den Schoß sinken und lehnte sich im Sitz zurück. Joey hatte den Wagen auf wundersame Weise in eine viel zu klein scheinende Parklücke gezwängt und beobachtete sie neugierig.
    "Gab es etwas Neues?", brach er schließlich das Schweigen.
    Evie fegte die Unsicherheit ob Bens Worten zur Seite und schüttelte den Kopf.
    "Zu Hause ist alles beim Alten." Sie rang sich ein Lächeln ab und stieg aus dem Wagen.

    Spoiler anzeigen


    Kyelia hatte es mir schon gesagt: in den letzten Teilen hat Tif über ihrer Praxis in einer Wohnung gewohnt.
    Wir haben es dann geändert. Sie hat ein Haus, in dem unten die Praxis und oben der Wohnbereich ist. Das Haus steht in einer Wohngegend nicht mitten in der Stadt. Wir werden es in den anderen Teilen abändern :)


    Kapitel 19
    Besuch bei Tif

    Evie runzelte die Stirn, wollte den aber gerade erst wiederhergestellten Frieden nicht mit ihrer spitzen Zunge verderben.
    Stattdessen hob sie nur unwillig eine Augenbraue und sagte: „Wenigstens war sie die Nette.“
    Sie merkte wie Joey erleichtert ausatmete und sich auf’s Fahren konzentrierte.
    Beim nächsten Bäcker hielten sie an und Evie kaufte einen Kirschkuchen für sich und zwei Kaffee.
    Nachdem das Navi sie durch die vielen Straßen Londons geleitet hatte, landeten sie schließlich in einem Außenbezirk. Hier standen die Häuser in etwas größerem Abstand zueinander und waren von Gärten umgeben, deren Rasen alle mit der Nagelschere geschnitten schienen.
    Das Haus vor dem sie hielten, fiel jedoch völlig aus dem Rahmen. Die Wise vor dem Haus war Knöchelhoch und besprenkelt mit den weißen und gelben Punkten von Butterblumen und Gänseblümchen. Auf der linken Seite des Gartens stand ein große Birke, deren weißer Stamm in der Sonne leuchtete. Auf der Treppe zum Eingang stand auf jeder Stufe ein Topf mit Blumen in allen Farben. Blaue Veilchen, rote Tulpen, violetter Lavendel, Goldlack, der die Musterung von Flammen trug und ein Topf mit weißen Primeln.
    Am Glas der Haustür hin eine Ente aus Stroh, die ein Schild im Schnabel trug, auf dem „Herzlich Willkommen“ stand. Daneben, an der weißen Hauswand hing ein seriöses Schild mit dem Aufdruck: "Kinderarztpraxis, Dr. Tiffany Morgen."
    Das Einzige, was so gar nicht ins Bild zu passen schien war der Polizeiwagen, der direkt am Rinnstein vor dem Haus stand, in dem zwei Beamte saßen und Kaffee aus Pappbechern tranken.
    Auch am Eingang hockte ein Polizist auf einem Gartenstuhl in der Sonne. Wenn das Haus einen Hintereingang hatte, würde dort sicherlich auch noch jemand sitzen.
    Joey lenkte den Wagen vor den blau-gelb-weißen Mercedes der Polizei und hielt.
    Evie hatte nicht einmal Zeit einen Fuß auf die Straße zu setzen, da standen die Polizisten schon bei ihr an der Tür und beäugten sie misstrauisch.
    „Guten Morgen“, grüßte Joey freundlich und lächelte die Beamten an, die eine finstere Miene zur Schau stellten.
    „Wir möchten Miss Morgen besuchen, wir sind Freunde.“
    „Das kann ja jeder behaupten“, bellte einer der Polizisten. Sie wirkten beide jung und trainiert. Ihre Waffen hingen deutlich sichtbar in ihren Halftern. Evie schnaubte wütend.
    „Erlauben sie uns Miss Morgen anzurufen?“, fragte er und warf Evie einen Blick zu, der ihr bedeutete nett zu sein. Sie zwang ihre Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln, dass gefühlt eher Joker aus Batman ähnelte. Die Polizisten blickten sich fragend an, doch die Entscheidung wurde ihnen abgenommen.
    „Evie!“ Tiffany kam mit langen Schritten über ihr Grundstück an den Zaun gelaufen. Der Beamte neben der Tür versuchte vergeblich sie aufzuhalten.
    Die blonden Haare schienen matter seit ihrer letzten Begegnung, ihren Oberarm, der von ihrem T-Shirt entblößt wurde, zierte ein großer Bluterguss. Der Mörder musste sie wirklich fest gepackt haben. Im Großen und Ganzen wirkte sie aber in Ordnung.
    „Miss Morgen, Sie sollten doch im Haus bleiben“, redete der Beamte hinter ihr auf sie ein. Aber die Kinderärztin winkte ab. „Das Haus ist auf Dauer ganz schön klein.“ Schnippisch warf sie ihm einen Blick zu. „Wenn jemand kein Mörder ist, dann sind es diese beiden. Sie haben mich gerettet!“
    Auf ihr Wort wichen die Beamten, die Joey und Evie am Aussteigen gehindert hatten, zurück. Die Journalistin klappte ihre Tür auf, stolperte aus dem Wagen und schloss Tiffany in die Arme. Sie sah Anna ziemlich ähnlich und tief in sich vermisste sie ihre beiden Freundinnen – auch wenn sie sie für das, was sie getan hatten verachtete. Gegen Nick und Ben waren sie immer eine eingeschworene Gemeinschaft gewesen. Und jetzt, mit Carl, waren die Männer eindeutig in der Überzahl.
    „Wie geht es dir?“, fragte sie und hielt Tif eine Armeslänge von sich.

    Nick war schlecht gelaunt. Wie schon die letzten Tage auch.
    Seit Annas Tod kriegte er nichts mehr auf die Reihe. Wie hatte er sich dermaßen verlieben können?! Sie ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie verfolgte ihn sogar nachts in seinen Träumen. Es musste doch eine Möglichkeit geben mit der ganzen Sache abzuschließen. Er war schon seit einigen Tagen nicht mehr an ihrem Grab gewesen, doch statt Besserung hatte er nun zusätzlich ein schlechtes Gewissen.
    Ben hatte versucht ihn aus seiner Lethargie zu befreien, doch es hatte in einem furchtbaren Streit geendet, in dem Nick seinem besten Kumpel vorgeworfen hatte, dass er davon nichts verstünde, immerhin würde Mia noch leben.
    Ben hatte daraufhin den Mund einmal auf und wieder zugeklappt, dann war er wortlos verschwunden. Es war zum Haare ausreißen. Das war nach dem Telefonat mit Evie gewesen. Seitdem hatte er Ben nicht mehr gesehen. Er vermisste es mit ihm zu lachen, aber wie sollte er jemals wieder lachen?
    „Nick? NICK!“, drang eine Stimme an sein Ohr. Er schreckte auf und blickte in die Augen seines Chefs. Verdammter Mist, er hatte ihm nicht eine Minute lang zugehört.
    „Nick, so geht das nicht weiter!“, begann sein Chef und Nick stellte sich auf eine Standpauke ein. Aber es kam keine. „Du bist raus“, sagte sein Chef nur.
    „Oliver, das kannst du nicht machen!“ Fassungslos blickte er in das sonst freundliche und nun mitleidige Gesicht des Mittvierzigers.
    „Doch, Nick, das kann ich. Du bist seit Monaten nicht mehr richtig bei der Sache. Das hier ist zu wichtig, als dass wir uns Fehltritte erlauben können. Geh zu Freddy, er kann Hilfe gebrauchen.“
    „Aber das sind Handtaschendiebstähle. Oliver, ich bitte dich!“, begehrte Nick auf, zornig darüber, dass er so degradiert wurde.
    „Krieg dein Leben wieder in den Griff, dann nehme ich dich mit Kusshand zurück.“ Mit diesen Worten drehte sich Oliver um und ging. Mit einem wütenden Schrei hieb der Polizist auf den Besprechungstisch ein. Der Schmerz, der ihn durchzuckte, beruhigte ihn nur mäßig. Als er seine Hand betrachtete, sah er dass seine Knöchel bluteten.
    Ohne weiter darauf zu achten riss er seine Lederjacke vom Stuhl und schlug beim Hinausrennen die Tür übermäßig fest ins Schloss. Er brauchte frische Luft, musste nachdenken. Es konnte doch nicht nur an Anna liegen! Vielleicht hatte Ben recht gehabt, als er sagte, dass es auch daran läge, dass er sich in seiner beruflichen Ehre gekränkt fühlte, weil er sich von seinen Gefühlen hatte blenden lassen…

    Kapitel 17
    Evie und Joey versöhnen sich


    Evie saß in einem dicken Pulli auf dem Bett, die Decke über den Beinen, die Kleider des Polizisten sorgfältig neben sich aufgestapelt.
    Es war mitten in der Nacht.
    Nach einer langen und vor allem heißen Dusche – die sie nicht im Geringsten aufgetaut hatte – war sie neben Joey ins Bett geklettert und hatte versucht zu schlafen. Eigentlich war sie totmüde. Selbst ihre Augen fielen schon zu, sodass sie gegen das Dunkel ihrer Lider starrte, aber der Tag war einfach zu aufwühlend gewesen.
    Sie hatte mit Nick telefoniert. Er hatte über die Unfähigkeit der Londoner Polizei nur den Kopf geschüttelt. Dann hatte sie Ben an der Strippe gehabt, der versprochen hatte Sparks auseinander zu nehmen, sollte er sich nochmal so eine Aktion leisten und schlussendlich hatte sie noch mit Carl und Bumblebee gesprochen. Ihnen ging es beiden gut.
    Es hatte gut getan die Stimmen ihrer Freunde zu hören und auch ihren Rückhalt zu erfahren, dennoch hatte sich ihr Kopf nicht von den wirren Gedanken befreien können.
    Sie musste morgen unbedingt zu Tif.
    Ihre Gedanken glitten weiter zu Joey und zu dem, was sie im Verhörraum der Polizei beinahe gedachte hatte. Dann musste sie an die gemeinen Sachen denken, die sie ihrem Kollegen an den Kopf geknallt hatte, dabei wollte er sich doch nur nach ihrem Befinden erkundigen.
    Innerlich seufzte sie und lauschte. Gleichmäßige Atemzüge neben ihr.
    Sie ergänzte ihre To-Do-Liste um den Punkt: Mich bei Joey entschuldigen.


    Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Obwohl die Nacht nicht mehr allzu viele Stunden gezählt hatte, wachte sie am nächsten Morgen frisch und erholt auf. Der tiefe, traumlose Schlaf musste seine Schuldigkeit getan haben.
    Dennoch war Joey vor ihr auf den Beinen, saß auf der Bettkante und telefonierte leise, wohl um sie nicht zu wecken.
    „… besuchen?“, hörte sie gerade. Dann nicken, einige Ahs und Jas, dann: „Entlassen wie schön. Würden Sie mir die Adresse… achso, klar, verstehe. … Nein, schon in Ordnung. Vielen Dank.“ Damit beendete er das Gespräch. Evie merkte erst jetzt, dass Joey sich noch kein Hemd angezogen hatte. Sein breites Kreuz wirkte stark, besonders wenn er so aufrecht saß, dann drehte er sich um und seine Augen wirkten unglaublich verletzlich.
    Das schlechte Gewissen von gestern Abend überkam sie erneut.
    „Morgen“, murmelte sie zerknautscht.
    Joey ging nicht darauf ein. „Sie haben Tiffany entlassen. Wenn du sie sehen willst, musst du ihre Adresse in Erfahrung bringen. Beim Krankenhaus wollten sie sie mir nicht geben. Du hast ja ihre Nummer.“
    Der unterkühlte Ton seiner Stimme traf sie mehr als sie zugeben wollte.
    „Joey“, setzte sie an und wurschtelte sich aus ihrer Decke, aber er unterbrach sie. „Ich bin dann frühstücken falls du mich suchst.“
    Mit diesen Worten verschwand er beinahe fluchtartig aus dem Raum. Die Tür fiel klickend ins Schloss.
    Evie biss sich auf die Unterlippe. Diesmal hatte sie es wirklich zu weit getrieben. Jedes Fass hatte einen Boden.
    Trotz allem entschied sie, dass es keinen Sinn hatte ihrem Kollegen hinterher zu laufen, wenn sie aussah, wie ein gerupftes Hühnchen. Sollte er erstmal noch eine Weile schmollen und sein Gemüt beruhigen.
    Moment?! Seit wann will ich jemandem gefallen?!, dachte sie und saß auf einmal kerzengerade im Bett. Es war doch einfach alles zum Mäusemelken.
    Wütend auf sich selbst stapfte sie ins Bad, drehte die Dusche auf heiß und ließ sie warm laufen, während sie sich ihren Klamotten entledigte.


    Ihre nassen Haare zu einem Zopf gefasst, in Jeans und Top verließ sie das Hotelzimmer. Tif hatte sich bei ihr gemeldet und ihr ihre Adresse genannt. Evie freute sich riesig die Kinderärztin zu treffen. Zum Glück ging es ihr gut! Aber die Journalistin in ihr wollte natürlich auch wissen, was die Ärzte zu ihren Verletzungen gesagt hatten.
    Zufrieden ließ sie das Handy in ihre Hosentasche gleiten und machte sich auf den Weg ins Restaurant des Hotels. Hier würde sie sicherlich Joey beim Frühstück treffen.
    Gerade als sie die Tür aufmachte, lief sie Joey beinahe über den Haufen.
    „Huch!“ Erschrocken sprang sie einen Schritt zurück. „Entschuldige.“
    „Wenn’s weiter nichts ist“, war die kalte Antwort, als er sich einfach an ihr vorbeischob.
    Die Journalistin rollte mit den Augen. So gemein war sie auch wieder nicht gewesen, dass man stundenlang rumzicken musste. Dennoch biss sie sich auf die Zunge, machte drei schnelle Schritte und hielt Joey am Arm zurück. Er fühlte sich warm an. Seine Haut war überraschend weich. Energisch schüttelte sie innerlich den Kopf.

    Himmel, Arsch und Zwirn!
    „Jetzt warte doch mal!“ Nachdrücklich verstärkte sie den Druck auf seinem Handgelenk.
    „Was willst du?“, fragte er gereizt.
    „Es tut mir leid.“ Sie versuchte sanft zu klingen, doch er steckte sie mit seiner Gereiztheit an.
    „Was?“ Scheinbar wollte er das volle Programm. Gut, sollte er seinen Willen haben.
    „Es tut mir leid, dass ich gestern so biestig zu dir war. Du konntest ja nichts dafür.“ Sein Blick flackerte, wurde dann aber wieder hart. Als gute Journalistin witterte Evie natürlich trotzdem ihre Chance und setzte mit schelmischen Grinsen nach: „Es war übrigens sehr mutig von dir, den Mörder zu verfolgen.“
    Sie spürte wie er nachgab als sich ein zaghaftes Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. Der männliche Stolz eben.
    Evie löste ihre Finger von seinem Arm. Und gemeinsam gingen sie zum Ausgang der Lobby.
    „Hast du keinen Hunger?“, fragte er.
    „Wir können unterwegs ja bei einem Bäcker halten.“
    Sie schwiegen und traten hinaus in die noch angenehme Wärme der Sonne.
    „Joey?“
    „Ja?“ Er wandte sich zu ihr um und musterte sie fragend.
    „Danke, dass du dabei bist.“ Sie wusste nicht woher die Worte kamen oder wieso sie ungewollt aus ihrem Mund sprudelten, aber sie waren aufrichtig.
    Ihr Kollege lächelte sanft und schloss sie in die Arme. Evie ließ es geschehen.

    Kapitel 15
    Eine unbequeme Nacht

    Evie saß zusammen gesunken in einem Vernehmungsraum der Londoner Polizei.
    Um ihre Schultern lag eine dünne Decke, doch da sie immer noch keine trockenen Sachen bekommen hatte, fror sie erbärmlich. Sie zitterte wie Espenlaub und ihre Lippen mussten einen violetten Farbton angenommen haben, zumindest hoben sie sich kaum von der dunklen Fläche des einseitigen Spiegels ab, der eine Flanke des Raumes einnahm.
    Die Journalistin wippte unruhig mit einem Knie und schaute immer wieder zur Tür.
    Endlich schwang diese auf und ein untersetzter Mann mit schütterem, braunem Haar setzte sich zu ihr an den Tisch.
    Er hielt einen dampfenden Becher Kaffee in der Hand, den Evie mit neidischen Augen fixierte. Erst als der Mann sie ansprach, begriff sie, dass der Becher für ihn und keineswegs für sie gedacht war. Wut wallte in ihr auf, wurde jedoch von einer Welle Erschöpfung nieder gepresst. Frierend zog sie sich die Decke enger um die Schultern und versuchte ein Zähneklappern zu unterdrücken.
    Die braunen Augen des Mannes fokussierten sie. Er sah älter aus als er zu sein schien. Die Falten und das dünne Haar, welches von einigen grauen Strähnen durchzogen war, deuteten auf Ende Vierzig oder Anfang Fünfzig, doch seine Augen waren wach, die Hände stark, der Gang fest. Sie schätzte ihn auf Mitte 30. Und sie mochte ihn nicht.
    „Also Miss …“, er schielte auf ihren Ausweis, den er vor sich liegen hatte, „…Jones. Ich bin Kommissar Sparks. Wie kommt es, dass Sie noch vor uns am Tatort waren? Zufall?“
    Evie blickte dem Mann ob der übergangslosen Einleitung verständnislos entgegen. „Bitte was?“
    „Tun Sie nicht so scheinheilig! Sie wissen genau, was ich von Ihnen will!“
    „Ich …“, stotterte Evie mit der Situation völlig überfordert. Wurde sie gerade verdächtigt?! „Ich … habe Tif vor kurzem erst kennen gelernt.“
    „Finden sie es nicht ein bisschen seltsam, dass Sie eine Frau, die zufällig ins Schema des Irren passt, kürzlich erst kennen lernen!“
    „Na hören Sie mal!“ Langsam taute Evie doch auf. „Ich bin Journalistin, wie Sie meiner Geldbörse sicherlich schon entnommen haben! Ich bin hier, weil ich mehr über den Mörder herausfinden wollte, nicht weil ich der Mörder bin. Fragen Sie Tif!“
    „Miss Morgen“, er betonte Tiffanys Nachnamen überflüssig stark, „liegt zur Zeit im Krankenhaus. Neben einem Schock erlitt sie einige Quetschungen. Im Moment schläft sie. Wir warten auf das ärztliche Gutachten und ihre Zeugenaussage. Bis dahin werden Sie wohl hier bleiben müssen.“
    Es war offensichtlich, dass der Kommissar Evie nicht glaubte. Wütend starrte sie ihn an, biss sich aber im letzten Moment auf die Zunge. Ein Bußgeld wegen Beamtenbeleidigung konnte sie sich nicht leisten. Der Mann schien die unausgesprochenen Worte von ihrer Stirn ablesen zu können, denn er lächelte nur hämisch und unterstrich damit nochmal wer am längeren Hebel saß. Evie stellte sich vor, wie sie seinen Kopf immer wieder auf die Tischkante knallte. Widerliches Arschloch.
    Unter ihren Funken sprühenden Blicken verließ er den Verhörraum. Sie hörte wie die Tür leise ins Schloss fiel. Es klickte.
    Am liebsten hätte sie den Mittelfinger in den Spiegel gestreckt, aber das kostete wohl noch mehr als eine Beleidigung.
    Ihre Gedanken glitten zu Tif. Hoffentlich ging es ihr gut. Sparks musste doch wissen, dass seine Unterstellung vollkommen an den Haaren herbei gezogen war!
    Und hoffentlich sprangen sie mit Joey nicht genauso um wie mit ihr. Was gäbe sie jetzt für eine wärmende Um … WAS?!, unterbrach sie ihre eigenen Gedanken. Beinahe hätte sie hysterisch aufgelacht! Der Stress, der Schlafmangel und die Kälte bekamen ihr nicht gut. Sie musste sich dringend irgendwie aufwärmen.
    Als hätte jemand ihre Gedanken gelesen schwang die Tür zu dem nüchternen Polizeiraum erneut auf und eine junge Frau mit langen, roten Haaren trat zu ihr herein. Auch in ihren Händen befand sich ein heißer Pappbecher, den sie diesmal vor Evie abstellte. Dazu trug sie ein Bündel Kleider unter dem Arm, die sich als Jogginghose und Pulli heraus stellten.
    Sie lächelte.
    „Verzeihen Sie Toms Art. Er ist wegen der Sache völlig fertig.“
    „Wer ist das nicht?“, fragte Evie und schloss den Becher in ihre zitternden Hände. Sie bemühte sich um einen unbefangenen Tonfall, doch es gelang ihr nicht so recht.
    „Die Kleider sind die Ersatzklamotten meines Partners. Sie werden wohl leider zu groß sein, aber wenigstens trocken.“
    „Wann wird Tif vernehmungsfähig sein?“ Evie ging nicht auf das vorher Gesagte ein.
    Irgendwie wurde das Gespräch seltsam. Sie redeten aneinander vorbei. Was wollte die Frau überhaupt bei ihr?
    Auch die Polizistin wurde unsicher, denn sie trat von einem Fuß auf den anderen.
    „Ich glaube Ihnen“, sagte die Rothaarige dann unvermittelt. „Tom auch, aber er klammert sich zur Zeit an jeden Strohhalm.“
    „Hat er schon mal daran gedacht Urlaub zu nehmen?“ Nun wurde Evie bissig. Es tat ihr leid, war die Frau doch die Einzige, die nett zu ihr gewesen war, aber irgendwo musste sie ihren Unmut abladen.
    Die Polizistin schien es zu verstehen. „Ich bringe Sie in eine Zelle, dort können sie schlafen.“
    Evie ersparte sich eine Antwort. Wenigstens würde sie schlafen können.
    „Kann ich mit meinem Chef telefonieren?“, fragte sie noch.
    „Leider nein“, wehrte die Polizistin ab. „Aber wenn Sie mir die Nummer geben, kann ich ihm Bescheid sagen.“
    „Von mir aus“, murrte Evie. „Aber eigentlich kann er bezeugen, dass ich zum Zeitpunkt der ersten Morde noch in Bristol war. Ich gedenke nämlich nicht so lange zu schlafen wie Tif es eventuell vorhat.“
    „Oh achso.“

    Ich muss Nick bei Gelegenheit erreichen ...
    Evie drückte der Rothaarigen die Visitenkarte ihres Chefs in die Hand und begab sich dann in die Obhut zweier Beamter, die sie erst mit dem Aufzug in den Keller und dann durch einen langen weißen Korridor in eine Zelle geleiteten. Der Riegel schabte auf dem Metall der Tür, sie fiel auf das unbequeme Bett und noch ehe ihr Kopf das Kissen berührte war sie eingeschlafen.