Ich schreie wie von Sinnen.
NEIN! NEEEEIN! Wo ist die Treppe?! Ich dachte, es ist endlich vorbei! Tränen der Wut schießen in meine Augen. Seelenextraktion?! Ich… kann nicht… WAS soll ich tun?!
Mein Blick irrt ohne Hoffnung durch den Raum und bleibt wieder an den Tierkäfigen hängen. Ich atme schwer, spüre meinen Herzschlag in meiner Brust und dann sehe ich es. Ein kurzes, kaum merkliches Zucken. Der Beagle!
Ich renne förmlich zu dem Hund und lege ihm vorsichtig meine Hand auf den Kopf. Kraftlos öffnet er ein Auge. Der Anblick löst eine erneute Euphorie in mir aus, meine Gedanken wirbeln durcheinander. Dankbar streichle ich den Hund. Beinahe sofort schläft er wieder ein. Schlaf gut, Junge, du hast es überstanden… es ist zu Ende. Erhol dich von… von…
Mir wird bewusst, dass ich gerade die Rückkehr der Hundeseele miterlebt habe. Ja, es ist zu Ende. In meinem Kopf rastet etwas ein. Zu Ende. Der Versuch ist zu Ende! Das muss mein letzter... der letzte Tierversuch gewesen sein!
Hektisch suchen meine Augen die Anzeige der Sicherheitstür. 00:47. Die Armbanduhr!
Sekunden später stehe ich an der Pinnwand und überfliege das leicht verschmierte Protokoll meines letzten Experiments. 13:52. Aufgeregt starre ich auf die schwarze Uhr und gleiche die Zeiten ab. Es ist 15.21 Uhr. Fünf Minuten? Ja, ich denke es sind nur fünf Minuten vergangen, seit seine Seele wieder da ist. Ich rechne.
Eine Stunde und… vierundzwanzig Minuten… stimmt das? … Ja. Ich stelle mir die Zahl vor und in meinen Gedanken beginnt sie… zu blinken… der Countdown! Ich atme tief durch und versuche mich zu erinnern. Ich sehe den Beagle an. Chester… ich bin zu ihm gegangen, direkt nachdem ich aufgewacht bin, kurz nach drei… es war… ja, der Countdown war 01:22. Das ist ungefähr die Zeit! Also hängt der Countdown wohl mit dieser… dieser Standardzeit der Extraktion zusammen. Danke, Chester…
Chester. Sein Name erinnert mich an brennende Kopfschmerzen. An ein Brennen. „Es brennt!“ Ja, das hat sie geschrien, meine… meine Frau hatte auch diese Schmerzen, als… als sie… was? Wo ist der Zusammenhang?!
Es liegt mir auf der Zunge… nochmal. Los, konzentrier dich!
Ich werfe einen Blick auf die Anzeige. 00:42. Ok, dieses Brennen, meine Kopfschmerzen… was war da noch? Als sich plötzlich ein weiteres Puzzleteil einfügt, bin ich geschockt.
Ich habe gebellt! Ich… habe gebellt… und dann wusste ich seinen Namen… dann muss es –
Mein Gott, es muss die Seele des Hundes gewesen sein! Sie hat sich irgendwie in… mir eingenistet…? Unsere… Seelen haben sich vermischt?! Das ist… furchtbar. Ich erinnere mich wieder an die brennenden Schmerzen und erneut lässt mir die Erkenntnis den Atem stocken.
„Es brennt“. Ich setze mich auf die kalten Fliesen und starre zu den Käfigen empor. „Es brennt!“ und „Nicht zu mir!“ Das war es. Nicht… zu mir… nicht zu mir. Ja, das hat sie geschrien. Sie hat… jemand… etwas angeschrien, es solle verschwinden. Eine weitere Seele! Eine zweite Seele hat sie befallen… und in den Wahnsinn getrieben. Vorher lag sie vollkommen ruhig. Aber warum? Hat sie geschlafen, war sie betäubt? Mein Blick wandert zu den schlafenden Tieren, dann zu dem Glas mit der Lösung. Das Piepen dringt an mein Ohr und ich erinnere mich an den Computer, der neben ihrem Bett steht.
Ich zittere, weil ich verstehe. Ich… Ich habe die Seele meiner Frau extrahiert.
Erneut fahre ich mir durch meine schwarzen Haare, klemme den Kopf zwischen meine Knie, halte mich davon ab, den Verstand zu verlieren.
Ok, ok… ich habe… es getan. Ich… sicher hatte ich einen guten… bestimmt hatte ich einen, ja… bitte! ...
Ich lege mich zitternd auf den Rücken, presse meine bebenden Hände auf meine Stirn und suche nach einem… irgendwie vertretbaren Grund für mein Handeln. Warum habe ich ihr das angetan? Was rechtfertigt diesen Wahnsinn? Und warum kann ich mich nicht erinnern?
Minuten vergehen und erneut driften meine Gedanken ab. Eine zweite Seele…, aber hinter der anderen Tür war nur eine Treppe… sind über uns noch mehr Versuchspersonen? Wessen arme Seele habe ich noch gequält? Der Gedanke bereitet mir eine Gänsehaut. Ich reibe über meine Arme, betrachte die Gänsehaut, mein Blick wandert und verharrt in meiner Armbeuge.
Ich zweifle keine Sekunde. Es ist so klar, dass ich erneut lache und dennoch scheint es keinen Sinn zu ergeben. Ich muss es laut aussprechen, um es wahrhaftig zu glauben. „Ich habe meine Seele extrahiert“, erkläre ich dem Einstich in meinem Arm tonlos. Eine ganze Weile liege ich nur da, reibe über meine Armbeuge und wiederhole diesen Satz. Ruhe überkommt mich, fast schon Gelassenheit. Ich erkenne, dass es meine eigene Seele gewesen sein muss, die meine Frau befallen hat. Ich fühle eine bleischwere Schuld in mir und dennoch bete ich innerlich, dass ich einen Grund für diese furchtbaren Experimente hatte. Schließlich endet mein Mantra und mein Gehirn beginnt damit, weitere Fragen aufzuwerfen. Ich denke über die Unlogik meiner Erkenntnis nach, denn sie wird durch die Erkenntnis an sich unlogisch: Wenn ich jetzt gerade keine Seele mehr besitze…, wieso habe ich dann ein Bewusstsein und… denke? Was bin ich jetzt?
Ich durchforste meine sämtlichen Erinnerungen, suche gedanklich die beiden Räume nach Hinweisen ab, rufe mir die Worte meiner Studie ins Gedächtnis… ich blicke zur Tür. Die Anzeige gewährt mir noch zwanzig Minuten, bis meine Frau… das darf nicht geschehen! Ich muss… ich versuche, die Frage in meinem Kopf zu formulieren.
„Warum ist meine Seele nicht zu mir zurückgekehrt?“, frage ich die weiße Decke, doch sie bleibt stumm. Ächzend stehe ich auf und stelle der Pinnwand dieselbe Frage. Ich lese in den Protokollen, sehe wahllos Tabellen durch, mustere das Diagramm, betrachte die Fotos der Versuchstiere, nehme die leeren Hefte aus dem Bücherregal. Was ist anders? Mein Blick wandert zu dem Foto meiner Frau, ein Gefühl der Zuneigung flackert in mir auf. Ich drehe mich zu den Käfigen um, sehe erneut die erschöpften Tiere. Mitleid überkommt mich und ich bedauere sie, bedauere, dass sie wohl schlicht zur falschen Zeit am falschen… am falschen Ort… Chester! Ich denke an die Schmerzen, als die Seele des Hundes in mich eindrang. Ich war direkt neben dem Hund. Es war meine eigene Schuld! Ich habe sie wohl verwirrt, als sie… als seine Seele zurück zu ihm wollte…
Ich glaube die Lösung zu kennen. Sie erscheint lächerlich. Lächerlich einfach… und doch… Nochmals vergewissere ich mich, wie viel Zeit mir noch bleibt. 00:13.
Während ich mich vorsichtig unter den Elektroschocker schiebe, kreisen meine Gedanken um die wohl letzte Frage. Ich benötige beinahe die gesamte verbleibende Zeit, ehe mich die einfache Logik überfällt. Woher hätte ich es auch wissen sollen? Schließlich habe ich ja vorher nur mit vergleichsweise unintelligenten Tieren experimentiert. Ein Mensch ohne Seele. Woher hätte ich wissen sollen, dass lebende Menschen auch ohne ihre Seele ein... ein... ein >>Restbewusstsein<< haben. Das hier war nicht vorherzusehen.
Plötzlich spüre ich einen leichten Druck im Kopf. Werde ich mich an all das erinnern können? Der Druck nimmt rasch zu, aber er fühlt sich angenehm an. Ich denke an den Beagle und lächle. Danke, Chester.
Ein langgezogener Piepton ist das Letzte, was ich noch wahrnehme. Dann versiegt mein Restbewusstsein.
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Als ich wieder zu mir komme, werde ich sofort euphorisch. Ich erinnere mich an jede Sekunde, die ich körperlos mit der Seele meiner geliebten Frau verbracht habe.
„Es hat funktioniert, Lara!“, flüstere ich zu mir selbst. Während ich mich vorsichtig nach rechts von der Liege schiebe, jubelt mein Verstand ob des bahnbrechenden Erfolges. Ich betrete den angrenzenden Raum und ergreife Laras Hand.
„Aber viel wichtiger ist, dass ich trotz Koma wieder bei dir sein kann“, sage ich mit Freudentränen in den Augen.
„Denn das ist das Einzige, was wirklich für mich zählt.“