„Zeit… Was bedeutet Zeit?
Man sagt, Zeit heilt alle Wunden. Mir hat sie mehr Wunden geöffnet als geschlossen. Vielleicht muss man dazu noch sagen, dass ich auch mehr davon hatte, als jeder andere. Ich lebe nun schon seit über zweihundertfünfzig Jahren auf dieser Erde, so ganz genau weiss ich es nicht mehr.
Eigentlich hat mein Leben ganz normal begonnen, wie jedes andere auch. Im frühen siebzehnten Jahrhundert wurde ich geboren, hatte eine nette Familie, Bauern. Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr teilte ich ihr Leben, danach veränderte sich alles. Ein Hexenmeister kaufte mich meiner Familie ab. Ich war nicht ihr Erstgeborener oder sonst speziell und sie konnten das Geld gut gebrauchen. Dazu versprach Ell, der Hexenmeister, gut für mich zu sorgen, was er auch tat.
Der Grund, dass er mich wollte? Experimente. Ihr kennt bestimmt den Mythos der Katze, von wegen neun Leben. Ell war der Überzeugung, dass man den Tod nur oft genug auszutricksen hatte, bis er einen vergessen würde, so starb ich das erste Mal. Ein Ritueller Mord, gepfählt in einem Pentagramm, zurückgeholt mit Ziegenblut. Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten Tod, denn ich sah die Tore des Himmels. Das erste und letzte Mal.
Wenn man zurückgeholt wird, trifft man die Entscheidung, ob man leben will, oder nicht, somit handelt man gegen den Eintritt in das Paradies. Eine einzige Chance.
Mit der Hölle sieht das etwas anders aus. Wart ihr schon mal dort? Nein, natürlich nicht. Der erste Tod fühlte sich gar nicht so schlecht an, die Wärme und Geborgenheit, die von den himmlischen Toren ausgeht, die sanfte Briese in totalem Sonnenschein, alles sehr friedlich und schön. So hatte ich vor meinem zweiten fast keine Angst mehr, zumal ich ja zurückgeholt wurde.
Nun… Das zweite Mal kommt man nicht mehr in den Himmel, und die Hölle hat keine Tore, man ist direkt dort, direkt im nirgendwo, Schwefel, Asche, Feuer und Qual. Dämonen, verlorene Seelen. Ach ja, wenn man zum zweiten Mal stirbt, kommt man auch nicht mehr so einfach zurück. Damals war ich mir sicher, Jahre verbracht zu haben, in unserer Welt nur Minuten. Jedes weitere Mal wurde die Zeit länger. Bis ich um die dreissig Jahre alt war, hatte ich für die Dauer von Generationen gelebt.
Ich habe ihn gesehen. Den Verwunschenen. Den Lichtbringer. Er konnte mich nie halten.
Immer wütender und wütender wurde er, kochte, hasste, hetzte. Bis er eines Tages an mir festhielt wie noch nie, meine Seele mit seinen Klauen durchbohrte und mit mir in unsere Welt gerissen wurde. Voller Zorn und Boshaftigkeit zerfleischte er Ell, auf das er mich nie zurückholen könne. Leider hat der Morgenstern vergessen, dass der Hexenmeister noch nie gestorben war, somit kam er in den Himmel. Man stellt sich den Hass vor, den er verspürt haben muss. Ausgetrickst von einem einfachen Menschen. So schwor er mir, dass ich für meinen Meister bezahlen müsse, wenn denn meine Zeit gekommen wäre.
Zeit...
Ohne Ell war ich frei, reiste und liess mich in einem schönen Dorf nieder, fand, trotz meines Alters, eine Frau und zeugte sogar noch zwei Kinder. Sie verstarb bei der Geburt des zweiten Sohnes.
Ich wurde sechzig, neu gewonnenen Freunde starben, Krankheit, Alter, Krieg. Mir ging es gut. Als ich zwischen siebzig und achtzig Jahre alt war, verstarben meine beiden Söhne, die Pest. Ich wurde zu einem Gespenst im Dorf. Man wusste noch wer ich war, aber sie mieden mich.
Die Industrialisierung war in vollem Gange, der Mensch kehrte sich ab vom Übernatürlichen. Ich beschloss, sie zu verlassen, sodass sie ihre Ruhe finden konnten.
In einer kleineren Stadt erwarb ich ein Haus, wurde hundert und noch immer ging es mir gut. Dennoch erschienen erste Altersbeschwerden, Arthrose, Gicht, die Augen wurden schlechter. So war es also Zeit für mich, meinem Peiniger gegenüber zu treten. Ich wartete. Zehn Jahre. Zwanzig Jahre.
Die Jahre verstrichen, ich vergass zu zählen. Einsam und alleine, zurückgezogen, inoffiziell der älteste Mensch der Welt. Offiziell…
Eines Morgens, erwachte ich ohne Schmerzen, sah scharf und fühlte mich kräftiger denn jäh. Wurde ich doch noch in den Himmel aufgenommen? Wurde mein leidvolles Leben entschädigt?
Sofort überkamen mich die Erinnerungen an meinen ersten Tod. Sofort erkannte ich, dass ich nicht Tod war. Dennoch war etwas anders. Ich erhob mich und betrachtete seit Jahren zum ersten Mal mein Spiegelbild.
Schock.
Das Antlitz im Glas war nicht jenes eines über hundertjährigen, ich sah einen etwa dreissig jährigen Mann, grasgrüne, stechende Augen und gräuliche Haut. Immer hatte ich blaue Augen und war davon überzeugt, eine normale Hautfarbe zu haben. Sie fühlte sich rau an, schon mehr als Leder, eher wie ein weicher Panzer.
Mit neu gewonnener Energie erkundete ich die neue Welt. Fand eine Frau, zeugte Kinder. War glücklich. Wir hatten die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erreicht. Die Zeit verging, meine Frau und die Kinder wurden älter, Freunde starben. Ich blieb wie ich war, einzig die Augen wurden grüner, die Haut grauer. Wieder alleine.
Zeit…
Die Haut war inzwischen wie Stein, hart und unbeugsam. Der Körper passte sich an, er wurde stärker, musste ja die Haut überwinden. Muskeln spannten sich mehr und mehr.
Zweihundert Jahre. Stärker als alle Lebenden. Älter als alle Lebenden. Ich wurde des Lebens überdrüssig, warf mich von einem Haus. Die Strasse war zerstört. Warf mich vor einen Zug, sieben Tote. Erschoss mich, Vierundvierziger Magnum, eine ganze Trommel. Gift.
Wie oft schon, starb ich. Hatte ich nun alle diese Leben zu leben, habe ich alle zu leben.
Ich versuche mich zu erinnern, wie oft ich starb. Versuchte die Jahrhunderte in der Hölle in Erinnerung zu rufen…
Vielleicht ist dies meine Bestrafung, bestraft, nie mehr in die Hölle zu dürfen, dem Himmel schon ewig verweigert. Bestraft, für immer auf diesem Planeten zu wandeln. Glücklich werden und wieder alles verlieren.
Zeit…“