Beiträge von Voluptuous Mayday im Thema „Gruppenzwang“

    Gemächlich schritt Salem zwischen den überquellenden Regalen umher und ließ den Blick über all das verlorene Wissen gleiten. Dekaden, nein, Jahrhunderte waren nötig, um ein solches Sammelsurium an Schriften und Büchern zusammenzustellen; sie zu katalogisieren verlangte wahrlich Hingabe. Der Feuermagier griff wahllos nach einer Schriftrolle, öffnete sie, stellte fest ihren Inhalt nicht entziffern zu können und legte sie daher ordentlich zusammengerollt zurück an ihren Platz.

    Um seinen schwarzhaarigen Kopf schwirrte nach wie vor sein Feuerball – die einzige Lichtquelle hier unten. Je weiter Salem sich von seinen Gefährten entfernte, desto weniger Licht erreichte sie. Er berührte also den Feuerball mit der Fingerspitze, worauf dieser in fünf kleine, jedoch gleichgroße Kugeln zersprang. Jede einzelne davon suchte sich sogleich einen von Salems Begleitern. Selbst Codracs Hündin wurde von einer der lodernden Kugeln auserwählt und schaute das leuchtende Etwas oberhalb ihrer Schnauze misstrauisch an. Salem für seinen Teil begab sich tiefer zwischen die Schluchten aus aufgetürmten Schätzen und Papieren, doch nichts davon weckte sein Interesse.

    Dann erreichte er ein Podest. Asche bedeckte die steinige Oberfläche und eine Vogelstange ragte empor. Unter den grauen Flocken schien außerdem ein Objekt versteckt zu sein. Salem strich den Schmutz bei Seite und legte tatsächlich etwas frei. Es war ein Ei.

    Die Schale reflektierte das Leuchten von Salems Feuerkugel und schimmerte zugleich rot wie orange. Schwarze Tupfen dekorierten beide Enden und als Salem es in die Hand nahm, fühlte es sich kalt an und schwer. Wüsste Salem kein Ei zu erkennen, wenn er es vor Augen hatte, hätte er es ob des Gewichts und der massiven Schale für einen Stein gehalten. Es blieb keine andere Möglichkeit – Salem hielt wohl das Ei eines Phönixes in der Hand, welches die Hariq im Tausch gegen ihre Magie gefordert hatten. Nun, natürlich konnte Salem keineswegs auf ein Phönixei deuten und es als solches identifizieren. Welche Option blieb allerdings hier unten?

    Salem?“, hörte der Magier Jacks Stimme und antwortete ihm, damit der Werwolf am Klang seiner Stimme hörte, in welche Richtung er ihn suchen sollte.

    Hier.“

    Ein Lichtschimmer hinter einer gewaltigen Amphore kündigte sein Erscheinen an und dann trat Jack um die Ecke. Sein Blick fiel direkt auf das Ei in Salems Hand. „Was hast du da?“

    Ich nehme an, ich habe das gewünschte Ei eines Phönix gefunden.“

    Ungläubig runzelte Jack die Stirn und deutete auf das wahrlich kleine Ei. „Du meinst das da?“ Als Salem bestätigend nickte, meinte er: „Aber das ist so winz-... Aua!“ Während er sprach, hatte Jack nach dem Ei gegriffen. Doch kaum berührten seine Fingerkuppen die Schale, zog der Werwolf augenblicklich die Hand zurück und schüttelte sie vor Schmerz aus. Nanu? „Du hättest mir sagen können, dass das Ding knallheiß ist!“

    Heiß? Nun war Salem es, der die Stirn in Falten legte. Er spürte keinerlei Hitze von dem Ei ausgehen.

    Vermutlich wegen Jacks Aufschrei tauchte Codrac mit Joska plötzlich auf. „Alles okay?“ Auch seine Aufmerksamkeit wanderte zu dem Ei. „Ist das das Phönixei, das wir mitbringen sollen?“

    Ich denke es“, antwortete Salem.

    Jack warnte Codrac „Pass auf, das ist irre heiß“, was Crodrac dazu bewegte, selbst die Finger auf das Ei in Salems Hand zu legen und genau wie Jack, schien ihm der Hautkontakt Schmerzen zu bereiten. „Au. Das ist ja wirklich heiß! Wieso ist das Ei heiß? Und wieso kannst du das so ohne weiteres festhalten?“

    Für mich fühlt es sich kalt an“, offenbarte Salem den beiden Männern. Das war wahrlich rätselhaft. Wieso nahmen sie bloß unterschiedliche Temperaturen wahr? Zur Probe hielt Salem Joska das Ei entgegen. Die Hündin schnupperte daran, entfernte ihre empfindliche Nase allerdings auch davon und blinzelte Salem im Anschluss unschlüssig an.

    Nun gut. Dann würde Salem das Ei eben transportieren.

    Zielgerichtet schlängelte sich der Staub durch die Lüfte; über Dünen hinweg, an scharfkantigen Felsformationen vorbei, Oasen in weiter Ferne und jegliche Spur von lebensfreundlicher Zivilisation ignorierend. Zu keinem Zeitpunkt gönnte er der Gruppe, die ihm folgte, eine Pause, denn sobald sie für eine kurze Rast die Kamele anhielten, geriet der Wegweiser rasch an die Grenze ihrer Sichtweite. Sie mussten sich wahrhaftig auf einem magischen Pfand bewegen, erkannte Salem, der die ganze Zeit den Stand der Sonne beobachtete. Seit ihrem Aufbruch hatte sie bereits mehrmals den Zenit überwunden, ohne ein einziges Mal unterzugehen und die Wüste der Nacht zu überlassen. War es also derselbe Tage, an dem sie die Ruinen von Akrabria erreichten? Oder spielte die Magie dieses Ortes ihr eigenes Spiel mit der Zeit, um unerwünschte Besucher fernzuhalten?

    Gleich nach ihrem Aufbruch hatte Aljin die Flamme des Raschid Ibn Nishaat al-tamar an Salem weitergereicht, was nur Sinn ergab, da er als Feuermagier es vermutlich am ehesten zustande brachte, den uralten Feuerzauber zu wirken. Er studierte gerade Aljins Notizen, als er Codrac rufen hörte. „Seht! Dort vorn!“

    Salems Blick folgte dem Fingerzeig seines Gefährten und tatsächlich ragten Fundamente aus dem Wüstensand: Säulen, von Wind und Wetter abgeschmirgelte Überreste von Fassaden sowie einsame Torbögen ohne dazugehörige Bauten. Die Ausmaße deuteten auf einen Tempel, oder etwas vergleichbares, hin. Definitiv zu groß für ein einzelnes Haus – doch ebenso zu klein, für eine ganze Stadt.

    Der Wegweiser hielt direkt auf die kläglichen Überreste vergangener Kulturen zu und als er sie erreichte, zog er einige Kreise. Dann stoppte er abrupt in seinen Bahnen und rieselte als das, was er war, sacht zu Boden und vermischte sich mit der Wüste: Staub.

    Sie hatten Akrabria erreicht.

    „Das soll es also sein?“, erkundigte sich Jack und musterte dabei die eingefallenen Mauern, worauf Aljin meinte:

    „Die Spur endet hier. Wieso sollte sie das tun, wenn wir hier falsch wären?“ Gutes Argument. Folgte nun also der zweite Schritt: Die Fackeln mussten mit der Flamme entzündet werden. Erst dann würde die Ruinenstadt ihre Tore öffnen.

    Gleichzeitig mit den anderen, sattelte Salem ab. Offenbar spann Aljin denselben Gedanken zurecht, wie er und wies den Feuermagier auf zwei Säulen hin. An jeder von ihnen hing jeweils ein Fackelhalter, in denen ausgebrannte Fackeln steckten. Gut. So brauchten sie die Fackeln wenigstens nicht erst mühsam suchen. Salem hätte es wenig gewundert, wenn die Suche Bestandteil des Rituals gewesen wäre. „Hier hängen die Fackeln.“ Gleich darauf wollte Aljin von Salem wissen: „Denkst du, du kriegst den Zauber hin?“

    „Das wird sich gleich zeigen“, antwortete Salem. Anschließend konzentrierte er sich.

    Die Magie floss durch seinen Körper; Salem spürte die Hitze und das Kribbeln in seinen Nerven, zähmte den mystischen Strom, bündelte ihn, lenkte ihn. So, wie die Hariq es seit Jahrhunderten lehrten, beschwor er das Feuer, sich nach seinen Willen zu formen. Er hob die Hand, streckte sie den kalten Fackeln entgegen.

    Ein langer Moment verging.

    Und Salem nahm die Hand wieder herunter. „Offenbar nicht“, sprach er das offensichtliche aus. Tja. So viel dazu.

    Ungehalten warf Aljin ihre Hände in die Luft. „Was soll das heißen, 'offenbar nicht'?“

    „Es heißt, dass ich den Zauber nicht beherrsche.“

    „Aber du bist Feuermagier, verdammt! Du hast eine ganze Stadt bis auf ihre Grundmauern niedergebrannt und willst uns jetzt weis machen, zwei doofe Fackeln nicht anzünden zu können?!“

    Salem legte den Kopf schief. Er erklärte Aljin: „Ein durchschnittlich begabter Magier benötigt in der Regel die ersten Jahre seiner Ausbildung, ehe er einen simplen Feuerball kontrollieren kann. Ich wäre von mir selbst überrascht, hätte ich den Zauber der Hariq binnen so kurzer Zeit erlernt.“

    „Heißt das, wir sind umsonst hierher gekommen?“ Codrac sah skeptisch zu Jack, der wiederum Salem anschaute und meinte:

    „Aber wir sprechen hier von dir. Du bist nicht durchschnittlich. Meinst du nicht, du bekommst den Zauber doch noch hin?“

    „Ich werde es selbstverständlich weiter versuchen, anderenfalls wäre unsere Reise hierher völlig vergebens. Es könnte jedoch eine Weile dauern, ehe es so weit sein wird.“

    „Dann mach das“, warf Codrac ein, „und wir... warten so lange.“

    Und das taten sie auch.

    Lang.

    Sehr lang.

    Wie auch immer die Zeit an diesem Ort funktionierte, die Sonne ging nunmehr doch endlich unter. Ein kleines, auf klassische Weise entfachtes Lagerfeuer schenkte Licht und Wärme, derweil Salem seit Stunden die Fackeln anstarrte, dann und wann die Hand hob, um sie ergebnislos wieder zu senken. Er hörte Aljin frustriert prusten, weil er zum wievielten Male seine Magie konzentrierte, ohne die Fackeln in Brand zu stecken.

    Salem setzte erneut dazu an, den Zauber zu wirken, als er die Dschinni ausrufen vernahm: „Mir reicht's! Ich hau mich auf's Ohr! Das wird heute doch eh nichts mehr“ und sie sprang von ihrer Sitzgelegenheit – einem zusammengefallenen Mauersims – herab.

    In dem Moment schossen Flammen aus den Fackeln in die Höhe.

    Na bitte.

    Salem hatte es geschafft.

    Das wurde auch Zeit.

    Jacks feine Nase führte sie durch die Wüste und als die Abenddämmerung einsetzte, erreichte die Gruppe eine Oase. Aus sicherer Entfernung, die Köpfe hinter einer Düne eingezogen, beobachteten sie das Treiben um das Wasserloch herum. Der Hariq-Stamm hatte seine Zelte aufgeschlagen und gleich mehrere Lagerfeuer entfacht. Die Flammen sorgten gemeinsam mit vielen Ölschalen und Fackeln für Helligkeit und die Schatten der Nomaden tanzten über die dicken Teppiche, welche sie über dem Sand ausgebreitet hatten. Salem rief sich die Erzählungen über die Hariq in Erinnerung. Dass sie eigenbrötlerisch wären, kriegerisch und ganz und gar nicht gut auf Außenstehende zu sprechen waren. Und, dass sie das Feuer anbeteten. Nun, angesichts der vielen Feuerstellen in ihrem Lager, mochte Salem diese Behauptung auf Anhieb glauben.

    Und was machen wir jetzt?“, wollte Aljin mit einem forschenden Blick auf das Lager wissen. „Einfach zu ihnen runter marschieren und ihnen einen Guten Abend wünschen?“

    Jack murmelte daraufhin: „Keine gute Idee... .“ Dieser Meinung schloss sich Salem uneingeschränkt an. Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass jede Art der Kontaktaufnahme von den Hariq als feindliche Handlung interpretiert werden würde.

    Ähm, Leute?“ Vorsichtig meldete sich Codrac zu Wort, aber Aljin und Jack waren so sehr darin vertieft, das weitere Vorgehen zu planen, dass sie ihn ignorierten.

    Rufen wir ihnen zu, dass wir in Frieden kommen.“

    Hey, Leute...“

    Und am Ende verstehen sie uns nicht und greifen sofort an. Nein, darauf kann ich verzichten.“

    Ihr solltet-...“

    Schicken wir einen Boten vor! Aljin, du kommst aus dieser Gegend, du gehst!“

    Was? Wieso?“

    Jetzt dreht euch verdammt nochmal um!“

    Endlich taten die beiden, einschließlich Salem, wie Codrac sie aufforderte und richteten ihre Aufmerksamkeit nach hinten. Und sahen direkt in die vermummten Gesichter einer ganzen Gruppe Hariq-Krieger! Ärger blitzte aus ihren Augen, die zwischen den Stoffen ihrer Kopftücher hervorfunkelten und die Spitzen ihrer Speere und Säbel deuteten kampfbereit auf die Kehlen ihrer Geiseln – auf Codracs, Aljins, Jacks, Esmes und Salems. Einer der Krieger stieß einen wahrlich aggressiv klingenden Wortschwall aus, doch Salem verstand keine einzige Silbe der fremden Sprache. Unweigerlich richtete der Feuermagier seinen Blick auf Aljin, dann auf Codrac. Weder die eine, noch der andere vermochten jedoch die exotisch klingende Sprache zu deuten. Ratlos blinzelten Salem und seine Freunde den Kriegern entgegen.

    Diese schienen ebenfalls die bestehende Kommunikationshürde zu erkennen. Der Krieger, der eben bereits Anweisungen gebellt hatte, tat dies noch einmal; dieses Mal richteten sie sich allerdings an seine eigenen Leute. Im nächsten Moment traten die Männer vor und scheuchten Salem und seine Gefährten auf die Füße. Wenn sie schon verbal nicht einander verstanden, so erwies sich auf jeden Fall die nonverbale Sprache der Gesten als äußert hilfreich. Denn grobe Stöße und eine Waffe im Rücken – was man ihm damit sagen wollte, begriff Salem auch ohne linguistisches Talent: 'Da lang!'

    Unter den misstrauischen Blicken der restlichen Nomaden, führte man sie durch das Lager hinweg an eine abgelegenen Stelle nahe des Wassers. Die Krieger wurden als Wachen abgestellt und zusätzlich fesselte man Salem und seine Gefährten an den Handgelenken an nahestehenden Palmen fest. Einer der Männer kehrte zu den Zelten zurück, ohne noch einmal ein einziges Wort an ihre Gefangen zu richten.

    Na super“, ächzte Aljin und gedanklich stimmte Salem ihr zu. Welch ungünstige Situation. Mit einem Blick zu den Wachen grübelte Salem darüber, ob sie es wagen sollten, offen über Fluchtpläne zu diskutieren. Er entschied sich dagegen. Wer konnte schon einschätzen, ob die Hariq nicht doch das ein oder andere Wort zu verstehen beherrschten.

    So oder so ergab sich keine Zeit, eine Debatte über ihren Ausweg zu führen. Aus dem Lager näherten sich Gestalten: Die Krieger von eben, gemeinsam mit ein paar Nomaden, die Salem aufgrund ihrer Kleidung und des stolzen Gangs als die Stammesführer vermutete. Außerdem... Eine Frau? Nein, ein Mädchen. Dreizehn, vielleicht vierzehn Jahre alt, schätzte Salem. Sie trug dieselbe Kleidung, in die sich auch die anderen Hariq hüllten und gehörte ganz offensichtlich zum Stamm dazu. Mehr konnte Salem ob der Dunkelheit nicht erkennen.

    Die Hariq bauten sich vor ihren Gefangenen auf. Ohne einen von ihnen eines Blickes zu würdigen, holte das Mädchen unter ihrer Robe eine kleine Öllampe hervor und konzentriert hielt sie ihre Hand über den Schnabel. Nach ein paar Augenaufschlägen züngelte eine kleine Flamme hervor. Interessant. Bei dem Mädchen handelte es sich demzufolge um eine Feuermagierin. Doch augenscheinlich stand sie erst am Anfang ihrer Ausbildung, denn sie nahm die brennende Öllampe, um zwei weitere Ölschalen zu entzünden. Offenbar genügten ihre Kräfte noch nicht aus, um ohne Hilfsmittel mehrere Feuer zu wirken.

    Durch die zusätzlichen Lichtquellen war es Salem nun möglich, mehr seines Umfelds wahrzunehmen. Was für einen grimmigen Ausdruck das Mädchen doch auf ihrem Gesicht trug! Sie reihte sich damit hervorragend in die strengen Züge der Wächter ein.

    Keine Begrüßung, keine Vorstellung oder die Frage, wer Salem und die anderen waren, ging ihren Worten vorraus. „Was sucht ihr hier?“, verlangte das Mädchen fordernd zu erfahren. Ah, Salem begriff. Die Kleine diente als Übersetzerin.

    Wir sind hier, weil wir von euch die Flamme des Raschid Ibn Nishaat al-tamar benötigen“, erklärte Jack wahrheitsgetreu. Das Mädchen runzelte daraufhin kritisch die Stirn, dann übersetzte sie die Antwort für ihre Stammesführer. Salem konnte den Namen Raschid Ibn Nishaat heraushören.

    Ein abwertendes Raunen drang aus den Kehlen der anwesenden Hariq und die Brauen des Stammesführer und seines Gefolges zogen sich tief nach unten. Er sagte etwas zu der Übersetzerin, was Salem keinesfalls
    verstehen konnte, und diese übersetzte es wiederum: „Eher wird die Sonne vom Sand verschlungen, als dass wir diese heilige Magie euch Unwissenden überlassen.“

    Mit der Dämmerung fielen die Temperaturen, doch die Wände des Gasthauses von Jaffa hielten nach wie vor eine drückende Wärme gefangen. Der alte Dreiauge hockte auf demselben Stuhl, auf dem Salem und seine Gefährten ihn vor wenigen Tagen zurückgelassen hatten. Er sah nicht auf, als die drei Gestalten mitsamt Hund sich seinem Tisch näherten.
    „Ihr seid zurückgekehrt“, stellte er fest. „Das freut mich für Euch. Sagt, verlief Eure Suche nach dem Mantikor erfolgreich?“
    Aljin verschwendete keine Zeit mit Reiseberichten. Sie kam direkt zum Punkt: „„Wir haben die Kralle. Jetzt rück mit der Sprache heraus, wie es weitergeht.“ Zum Beweis ihrer Worte, machte Codrac Anstalten, das Bündel hervorzuholen, allerdings bot Dreiauge ihm mit der flachen Hand Einhalt.
    „So viel Tatendrang, hehe! Ihr erinnert mich an mich selbst, als mein Blut noch frisch durch die Adern floss. Apropos Blut…“ Dreiauge deutete auf Salem. „Euch klebt da etwas an Eurer Kleidung.“
    Salem blickte an sich hinab. Oh. Ach Herrje. Abermals quoll aus der offenen Wunde in seiner Brust Blut hervor und befleckte seine Wüstenkleidung. Wie Salem es wohl schaffen sollte, derart viel Blut aus dem Stoff waschen zu können? Hoffentlich bildeten sich keine zu auffälligen Flecken, denn Salem legte einen gewissen Wert auf seine eigene Reinlichkeit und wollte ungern mit einer dauerhaft sichtbaren Verunreinigung an seiner Garderobe reisen müssen. Es wurde wohl wirklich Zeit, die Verletzung zu verbinden.
    Aber alles zu seiner Zeit, beschloss Salem und ließ den Blutfluss vorerst weiter freien Lauf. Er überging Dreiauges Hinweis und erinnerte ihn, weshalb sie ihn aufsuchten: „Ihr wolltet uns erklären, wie unser nächster Schritt aussieht.“
    Der Seher nickte. „Fürwahr, so lautete mein Versprechen. Nun denn: Dank der Kralle werden die Winde Euch nach Akrabria führen, jedoch nicht hinein. Damit sich die geheimen Tore der Ruine Euch offenbaren, müsst Ihr ihre uralten Fackeln entzünden.“
    „Das sollte kein Problem darstellen“, meinte Salem als Feuermagier. Zudem man keine Magie benötigte, um eine Fackel zum Brennen zu bringen.
    Bei Salems Worten kicherte Dreiauge voller Vorfreude. „Nein, nein. So einfach ist es nicht. Es darf nicht irgendein Feuer sein. Ihr benötigt die Flamme von Raschid Ibn Nishaat al-tamar.“
    „Wessen Flamme?“, fragte Codrac ein wenig überfordert, während Aljin die Augen verdrehte.
    „Soll das etwa heißen, wir müssen eine brennende Fackel durch die Wüste schleppen?“
    Offensichtlich amüsierte sich Dreiauge köstlich über die Ahnungslosigkeit der Gruppe. Er gluckste: „Die Flamme von Raschid Ibn Nishaat al-tamar ist kein tatsächliches Feuer. Es ist ein uralter Feuerzauber, der ein Feuer beschwört, welches sich nicht löschen oder ersticken lässt, es sei denn, sein Erschaffen wünscht es so – ein ewiges Feuer, welches verglimmt, sobald das Lebenslicht seines Herren es tut. Nur eine durch diesen Zauber herbeibefohlene Flamme vermag die Fackeln von Akrabria anzustecken.“
    Mit einmal spürte Salem Aljins Blick auf sich ruhen. Die junge Frau sagte nichts, doch Salem konnte sich denken, dass sie ihn seiner Magie wegen ansah. Leider musste er sie enttäuschen. Dieser Zauberspruch war ihm gänzlich unbekannt.
    Dreiauge setzte seinen Monolog fort: „Doch die eigentliche Herausforderung ist nicht der Zauber selbst, oh nein!“. Ein hörbares Stöhnen kam aus Aljins Richtung. „Jemanden zu finden, der ihn beherrscht, das ist die Aufgabe. Denn die einzigen, die heutzutage über das Wissen um die Flamme von Raschid Ibn Nishaat al-tamar verfügen, sind die Nomaden des Hariq-Stammes.“
    „Da klingelt was, glaube ich…“, murmelte Aljin und auch Salem kam dieser Nomandenstamm bekannt vor. Wenn er sich nicht täuschte, dann hatte einer der Händler ihnen bereits von diesem Wüstenvolk erzählt. „Ihr redet von dem Stamm der Feuermagier?“
    „So, so. Ihr habt bereits von ihnen gehört. Nun, in der Tat eilt den Hariq ihr Ruf voraus. Man fürchtet sie in der ganzen Wüste. Sie sind rücksichtslos und kennen keine Gnade, wenn es darum geht, ihre Traditionen zu verteidigen. Und der einzige Weg, an die Flamme des Raschid Ibn Nishaat al-tamar zu kommen, führt über die Hariq. Jedoch wärt Ihr die ersten in Jahrhunderten, die die Unterstützung eines Feuermagiers der Hariq erhalten würde.“

    Salem...?“ Der Feuermagier entzog dem sich anbahnenden Gespräch zwischen Aljin und Codrac seine Aufmerksamkeit und richtete sie stattdessen auf Jack. Dieser deutete auf die Stacheln, die Salem weiterhin aus dem Herzen ragten. „Deine Brust....“
    Salem blickte an sich herab und konnte schwerlich die besagten Geschosse übersehen, wenngleich er sie für den Moment tatsächlich vergessen hatte. „Das ist in der Tat recht ungünstig“, stimmte Salem Jacks unausgesprochenen Bedenken zu. Zwar mochten sie ihn aktuell nicht beeinträchtigen, auf lange Sicht würden die Stacheln dem Heilungsprozess allerdings im Wege stehen. Zudem es Salem recht unpraktisch erschien, diese sperrigen Bolzen in seinem Oberleib stecken zu haben. Kurzerhand packte er sie am Schaft und zog einen nach dem anderen aus seinem Fleisch. Sie landeten im Wüstensand.
    Aus der frischen Wunde drang sogleich ein neuer Schwall Blut und weichte Salems durchtränkte Kleidung erneut ein - Woher auch immer sein Körper diese letzten Reserven hervor pumpte. Die darauf folgenden, teils bestürzten, teils besorgten Blicke der drei anderen blieben Salem nicht verborgen. Also versuchte er, ihre Gemüter zu beschwichtigen: „Es wird gleich aufhören, nehme ich an.“Und so war es schließlich auch. Das Blut versiegte nach einigen Sekunden.
    Wie kannst du noch stehen?“, fragte Codrac und Salem antwortete ihm: „Tatsächlich würde ich mich lieber setzen. Mir ist ein wenig schwindlig vom Blutverlust.“
    Das meine ich nicht.“
    Dir wurde das Herz durchbohrt“, stellte Jack fest. Da verstand Salem, worauf Codrac hinaus wollte.
    Nun, ich bin unsterblich. Mir kann keine Verletzung und keine Krankheit das Leben kosten.“ Er sah Jack und Aljin an. „Hatte ich das nicht erwähnt?“
    Nein!“
    Oh.“ Wie konnte ihm das entfallen?
    'Oh'“,äffte Aljin ihn nach. „Und wie kommt das?“
    Salem legte den Kopf schief. „Ich bin ein Verderbnismagier.“
    Auf seine Antwort hin schauten seine Gefährten ihn mit demselben, fragenden Ausdruck in ihren Gesichtern an, wie Codracs treue Hündin. Scheinbar bestand diesbezüglich ein wenig Aufklärungsbedarf. „Vor langer Zeit habe ich einen bösen Geist unterjocht und mir seine Kräfte einverleibt. Seitdem kann mich nichts und niemand töten.“

    Weit entfernter Lärm, wütendes Gebrüll, aufgeregte Rufe und das Rauschen eines Sturms – Salems Sinne kehrte zurück, ebenso dumpf, wie sie ihm entglitten waren. Er hob die Lider und erkannte blaue, endlose Weite. Den Himmel. Seine Ohren pfiffen schrill, doch der Druck verflog rasch. Dann realisierte Salem, dass etwas nicht stimmte.
    Sein Oberkörper schnellte nach oben und desorientiert, sowie hektisch blickte Salem sich um. Die Erinnerung daran, wo er sich befand und was passiert war, traf ihn mit voller Wucht. Der Mantikor! Doch woher kam der Sturm? Was war passiert?
    Abrupte Schmerzen schossen ihm durch die Brust und reflexartig wollte Salem an die entsprechende Stelle fassen. Doch die Stacheln des Monsters perforierten ihm das Herz, prangten wie Pfeilspitzen in seinem Fleisch und der Magier griff in feuchtes, heißes Blut. Salem schnappte hektisch nach Luft, während es höllisch in seiner Brust brannte. Kein Herzschlag klopfte von Innen gegen seinen Brustkorb.
    Neben sich nahm Salem Jack war. Er griff nach dessen Kragen, versuchte sich mit seiner Hilfe auf die Beine zu kämpfen und verwischte sein Blut auf der Kleidung des Werwolfes. In Salems Kopf schwindelte es. Nur unter großer Anstrengungen stemmte er sich auf die Beine. Sein Körper fühlte sich an, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Doch dies würde nie geschehen; Salem wusste es.
    Mit aufgerissenen Augen fixierte Salem den Mantikor und Aljin, welche sich erschöpft hinter einer Wand aus Sand vor diesem verschanzte. Langsam trugen seine Füße ihn auf das Schlachtfeld und mit jedem Schritt gewann sein Leib an Kraft zurück. Der Mantikor brüllte wütend der jungen Frau entgegen und ließ sich zu sehr von dem Sandsturm ablenken, um Salem zu bemerken. Als der Feuermagier ihm nah genug für einen Angriff gekommen war, fühlte er sich bereits wieder bei Kräften – mit Ausnahme des Schmerzes in seinem Herzmuskel.
    Salem versuchte Aljins Aufmerksam auf sich zu ziehen und hob die Hand. Wegen des Sandes zwischen ihnen beiden, vermochte er ihre Mimik nicht zu deuten. Zumindest konnte sie ihn sehen, davon war Salem überzeugt. Und als er mit derselben gehobenen Hand in die Richtung hinter ihrem Rücken wies, dauerte es zwar einen Augenblick, aber Aljin schien zu verstehen, was er von ihr wollte. „Nehmt Abstand!“, rief er über das Tosen des Sturms und dem Brüllen des Mantikors hinweg zu den zwei verbleibenden Gefährten.
    Der Sandsturm umkreiste die Bestie weiterhin, kam ihr immer wieder gefährlich nahe. Salem entflammte seine Hand. Sein Ziel war jedoch nicht der Mantikor; diesen Fehler würde er kein zweites Mal begehen. Stattdessen lenkte er einen Strahl aus Feuer mitten in den Sturm hinein. Die wütenden Winde zerrten die Flammen auseinander, rissen sie mit sich und wirbelten das Gemisch aus Sand und Feuer um den Mantikor herum.
    Feine Sandkörner schmirgelten seine Haut und viele viele Funken setzten das Fell in Brand. Der Mantikor schrie auf, denn dieses Mal konnte er die Flammen nicht einfach ersticken. Sobald er sich schüttelte, brannte dafür sein Pelz an anderer Stelle lichterloh. Salems Feuerstrahl brach nicht ab. Er speiste den Sturm weiter. Mehrmals suchte das Untier nach einem Fluchtweg, aber der Sturm hielt es gnadenlos gefangen. Als bald erkannte Salem große Brandblasen und es stank nach verbrannter Haut. In diesem Moment stoppte Salem seinen Zauber, schnappte angestrengt nach Luft und beobachtete die todbringende Symbiose aus Feuer und Sand.

    Um Salems Finger herum züngelten einsatzbereit die magischen Flammen. Der Feuermagier wartete lediglich darauf, dass sich ihr Neuzugang und dessen bellender Begleiter aus der Schussbahn bewegten, dann ließ er sie auf den Mantikor los. Wie tiefe Krallenspuren kerbte das Feuer die Luft, traf das Monster und hüllte es in Flammen ein. Gleich im Anschluss startete Salem einen zweiten Angriff und dieses mal setzte er das Fell an der Flanke in Brand. Gierig fraß es den Pelz und die Mähne. Es begann, grässlich nach versenkten Haar zu stinken und vor Schmerz gab der Mantikor ein markerschütterndes Brüllen von sich.
    „Achtung!“, hörte Salem Jack rufen. Denn der Mantikor ließ plötzlich seinen massiven Leib zur Seite fallen und drohte, alles und jeden unter sich zu begraben. Gerade rechtzeitig brachte sich ein jeder aus dem Weg, als das schwere Ungetüm auf den Boden aufschlug. War das etwa bereits sein Ende? Nein, zweifelte Salem gedanklich. Das wäre zu einfach.
    Jaulend rollte sich der Mantikor über den Wüstensand und erstickte auf diese Weise die Flammen, die ihn bei lebendigen Leibe verbrennen sollten. Angeschlagen, jedoch keinesfalls besiegt, sprang er sogleich wieder auf seine Pfoten und brüllte Salem seinen Hass entgegen. Das menschliche Gesicht, welches sich eben noch vor Leid verzerrte hatte, funkelte den Magier voller Zorn an. Salem machte sich bereit, einen weiteren Feuerzauber zu wirken. Doch im selben Moment sträubte der Mantikor das Fell – Und alles geschah zugleich.
    Der Mantikor hob den mit Stacheln besetzten Schwanz.
    Salem schleuderte seinen Feuerball.
    Etwas zerfetzte seinen Zauber.
    Dann spürte Salem den Aufschlag in seinem Brustkorb.
    Unter seiner Kleidung wurde es heiß und nass. Automatisch blickte Salem an sich herab, versuchte zu begreifen, was eben geschehen war. Einer der anderen rief seinen Namen aber Salem reagierte nicht darauf. Seine Aufmerksamkeit klebte an seiner linken Brust.
    Drei lange, dicke Stacheln durchbohrten ihm das Herz. Blut quoll hervor. Ein letztes Mal sah Salem auf, nahm den Mantikor und den Himmel wahr. Danach wurde alles schwarz.

    'Dernach heißt es aus den Alten Sprachen, der Mantikor sei ein Menschenfresser; ein Mischwesen mit dem Leibe des Löwen, dem Schwanz eines Skorpions und dem Antlitz des Menschen. Tödliche Reihen an Zähnen bewaffnen dieses Untier, sowie giftige Stacheln, die der Mantikor mit seinem Schwanz auf seine Opfer zu schleudern vermag'“, las Salem aus einem Buch vor, welches er auf dem Markt von Jaffa gegen eines aus seiner übersichtlichen Sammlung eingetauscht hatte – einen philosophischen Dialog über die Existenz vergangener Zivilisationen. Denn nach dem dritten Lesen verlor jede noch so geheimnisvolle Hochkultur, die angeblich von Ozean verschluckt wurde, ihren Reiz und so hielt Salem es für angebracht, etwas passendere Literatur zu organisieren, nicht zuletzt um seinen eigenen Horizont zu erweitern.
    Salem ließ das Buch sinken und hob dafür den Blick zu seinen Gefährten.
    Giftige Stacheln, die er auf uns schleudert?“
    In der Tat scheinen die Krallen des Mantikor zu unseren geringsten Problemen zu gehören“, bestätigte der Feuermagier und erlaubte sich, seine eigenen Bedenken hinzuzufügen: „Die Nomaden sind das Leben in der Wüste gewohnt und kennen deren Gefahren. Trotz Unterstützung...“er sah kurz zu Codrac, „konnten sie ihm nicht beikommen. Ich halte es daher für fraglich, ob wir als Fremde in diesen Gefilden besser Erfolgschancen haben.“
    Jack fragte direkt: „Also sollten wir uns einen Plan zurechtlegen, denkst du?“
    Zur Antwort zuckte Salem gleichgültig mit den Schultern. „Ich befürchte, dafür besteht keine Zeit mehr.“ Mit Unverständnis in ihren Gesichtern betrachteten die anderen vier Gefährten ihn. Daraufhin wandte Salem seine Augen zu Boden. Er zog seinen Fuß zurück und dort, wo bis eben sein Stiefel die Wüste berührte, glotzte ein Gesicht aus dem Sand hervor. Der Abdruck von Salems Sohlen bildete sich darauf ab. Überaus angesäuert zogen sich die Mundwinkel der Fratze ins Extreme herunter. Oder wie Aljin und Jack es vermutlich ausgedrückt hätten: Der Besitzer des Gesichts war 'richtig, richtig angepisst'.
    Ein Augenblick verging.
    Dann sprang das Wesen aggressiv unter dem Sand hervor.
    Aufgescheucht stob die Gruppe auseinander und brachte Abstand zwischen sich und den Mantikor. Die Stacheln auf seinem Schwanz sträubten sich angriffslustig und als er ein wütendes Brüllen losließ, entblößte er mehrere Reihen rasiermesserscharfer Zähne.

    Die Hitze in seinen Eingeweiden machte Salem beinahe noch mehr fertig, denn die Außentemperaturen. Seine Begegnung mit Jack war…überaus spontan abgelaufen. Spontan, unvorhersehbar und absolut ungeplant. Aber Salem konnte sich nicht helfen; Jack übte eine Anziehung auf ihn aus, der nicht einmal sein Stoizismus Einhalt bieten zu vermochte. Und als sich der Werwolf schließlich auch noch an ihn schmiegte, wie sollte Salem es da schaffen, sich zusammenzureißen? Das Gefühl von Jacks Haut und ihr leicht salziger Geschmack benebelte Salem wie Opium die Sinne und sein kehliges, genussvolles Stöhnen hätte den Magier beinahe dazu gebracht, selbst miteinzustimmen, wenn sein Mund nicht bereits beschäftigt gewesen wäre.
    Doch nun füllte Jack die Luft mit seinem wirren Geplapper. Sein nervöser, verunsicherter Schwall an Worte ließen Salem innerlich seufzen. Weshalb schien Jack derart überfordert, obwohl er den Frauen jedes Mal selbstbewusst gegenübertrat? Der einzig offensichtliche Unterschied bestand darin, dass es sich bei Salem um einen Mann handelte. Unter seinen Lippen war Jack förmlich hinweggeschmolzen, doch nun genierte er sich, offen über ihre verbrachte Zweisamkeit zu reden. Lag Jacks Verunsicherung also an Salem? Dabei hätte sich der Magier am liebsten ein zweites Mal auf ihn gestürzt, als er seinen Wunsch auf Gegenleistung vor sich hin stotterte – und ihn aber dann mit einem tollpatschigen Themenwechsel beiseite wischte.
    Salem seufzte erneut, dieses Mal hörbar. Man würde ihn wohl nie wegen seiner Kleidung in Frieden lassen, solange sie durch die Wüste reisten. Nicht, dass er die Sorge seiner Begleiter nicht zu schätzen wusste. Er sah lediglich die Aussichtslosigkeit in ihrem Unterfangen.
    Die Sonne stach, es herrschten hohe Temperaturen. Salem gab nach: „Dann werde ich Aljin fragen.“

    Das tat er auch. Er fand die junge Frau im Schankraum der Taverne. Mehr als fünfzehn bis zwanzig Minuten konnten er und Jack nicht weggewesen sein. „Aljin“?
    „Hm?“
    Wie immer reduzierte Salem das Gespräch auf das nötigste: „Kannst du mir passende Kleidung empfehlen?“

    Dem steht kein Grund entgegen“, antwortete Salem gewohnt kurz auf Aljins Frage. Da ihr aktueller Plan vorsah, ohne ebenjenen ziellos durch die Wüste zu irren, hielt er jeden möglichen Hinweis auf ihr Ziel für ratsam. Gänzlich ungewohnt war hingegen, dass der Magier sich augenblicklich in Bewegung setzte und auf die Taverne zuhielt. Selbst wenn es ein stinkender Pfuhl voller Dung wäre – Salem wollte nur eins: Raus aus der Sonne und das so schnell es ging. Die Hitze brachte ihn unter seiner Kleidung um! Er wusste von Anfang an, dass Aljin mit ihrer Weissagung Recht behalten würde, doch was blieb ihm übrig? Ohne seine Vermummung würde er keinen Meter weit kommen, bis ihn die angewiderten Blicke durchbohren würden. Die seiner Gefährten eingeschlossen. Aljin, Jack und Esme würden sich zeitig genug verekelt von ihm abwenden. Salem kannte sich mit dem hiesigen Modegeschmack nicht aus, doch allein Aljins Kleidung verriet ihm die Freizügigkeit. Und diese kam für Salem absolut nicht in Frage.
    Allein die Zeit, in der er und Jack mit dem Kamelhändler verhandelt hatten, ließen Sturzbäche an Schweiß auf Salems Stirn auftreten. Fast hätte er den Werwolf darum gebeten, die Kamele für jeden Preis zu kaufen, den der Händler verlangte. Als er die Taverne betrat, war Salems schwarzer Haaransatz bereits durchnässt. Leider erwiesen sich die Temperaturen im Gebäude nur wenig gemäßigter, denn draußen.
    Wir suchen Dreiauge“, hörte Salem Aljin nach dem Weissager fragen und der Wirt deutete auf eine in weite, farbenfrohe Gewänder verhüllte Gestalt in der Ecke des Schankraums. Der Mann zählte bereits einige Dekaden in seinem Leben und man erkannte auf Anhieb, wieso die ansässigen Menschen ihn Dreiauge tauften: Auf seiner Stirn, genau mittig der Augen, bedeckte ein aufgemaltes Auge seine Haut. Salem bemerkte die wettergegerbte Haut sowie die abgeschlossenen Abnutzungserscheinungen seiner Kleidung.
    Die Gruppe näherte sich seinem Tisch. Noch ehe sie ein Wort des Grußes an ihn richten konnten, sprach er sie bereits an. Seine Augen waren dunkel und milchig. Womöglich sah dieser Mensch nicht mehr gut; zumindest was sein anatomische Optik anging. „Ich grüße euch. Wie ich weiß, sucht Ihr mein Wissen über die Wüste und das Ziel, welches Ihr verfolgt.“ Salem beschloss, dieses Begrüßung nicht als Beweis seiner Fähigkeiten zu werten. Es stellte keine Herausforderung da, in einem relativ leeren Schankraum das Gespräch am Tresen mitanzuhören. Dreiauge richtete sein Augenmerk auf Salem.„Euch, mein magischer Freund, kann ich eins verraten: Ihr werdet Euch in dieser Kleidung zu Tode schwitzen.“
    Was ich sagte“, flötete Aljin. Salem zeigte seinen konsequenten Stoizismus.
    Mit seiner Hand deutete Dreiauge ihnen an, Platz zunehmen, was sie auch taten. Indem dem er den Kragen seines Hemds schnell vor- und zurückzupfte, versuchte Salem etwas Luft unter den Stoff zu wedeln. Wenig erfolgreich.
    Jack kam gleich zur Sache und Salem hätte ihn dafür angeschmachtet, wenn die Wärme ihn nicht vollends im Griff halten würde: „Uns wurde gesagt, Ihr könntet uns Informationen über die Wüste geben. Über Akrabria, um genau zu sein.“
    Akrabria, dort pilgert schon längst niemand mehr hin.“ Dreiauge musterte die Gruppe.
    Wieso? Ist der Weg dorthin so gefährlich?“, wollte Esme erfahren und die Antwort lautete: „Nein.“
    Dann ist er beschwerlich und langwierig?“, hakte Jack nach. Er bekam eine Ähnliche Auskunft „Nö.“
    Der Ort ist verflucht?“, tippte Aljin. Und auch sie verfehlte die Wahrheit: „Nicht mehr, seit vor vielen Jahren diese Gruppe Abenteurer den Fluch auf sich geladen und mit in die Welt getragen haben.“
    Dreiauge schien das ganze irgendwie Spaß zumachen. Ein kindliches Lächeln verriet seine Vorfreude auf den nächsten Versuch der Gruppe und sah dabei Salem an. Als einziger gab er bisher keinen Tipp ab. Salem plädierte gedanklich dazu, dieses Ratespiel nicht länger fortzusetzen. Für solche Späße war es ihm einfach viel zu warm und zu stickig unter seiner Vermummung. Also sagte er: „Es pilgert niemand nach Akrabria, weil es dort nichts zu sehen gibt und man die Ruine nicht betreten kann.“
    Ein kleines bisschen enttäuscht verzogen sich Dreiauges Mundwinkel. Dann bestätigte er, dass Salem richtig lag: „So ist es, Freund. Kein Reisender weiß, wo sich der Zugang zur Ruine befindet. Der Wüstensand hütet dieses Wissen wie ein Geheimnis. Selbst ich vermag nicht zu sagen, wie sich der Eingang finden lässt.“
    Aljin machte Anstalten, aufzustehen und den Tisch zu verlassen, doch Dreiauge gebot ihr mit einem Handzeichen, sich wieder zusetzen. „Aber ich kann Euch verraten, wie ihr ihn finden könnt. Ihr müsst den Wüstenwind um Hilfe bitten, doch der verlangt ein Opfer.“
    Da klingt nicht gut...“, murmelte Jack. Von seinem Einwurf ließ sich Dreiauge nicht beirren: „Die zerstampfte Kralle eines Mantikor muss als Puder dem Wind in Akrabria übergeben werden. Dann wird er Euch den Weg weisen.“
    Und das ist alles um in die Ruine zu gelangen?“Skeptisch runzelte Esme die Stirn und Salem schloss sich dieser Mimik an. Selten begnügte sich das Schicksal mit so wenigen Aufgaben. Ein Kopfschütteln gab seiner Befürchtung recht.
    Ihr werdet noch zwei weitere Anforderungen erfüllen müssen, ehe Akrabria Euch zutritt gewährt. Doch ohne den Zugang nützt Euch alles weitere nichts. Ihr werdet mich konsultieren, sobald Ihr den Mantikor gefunden habt.“
    Jack und Aljin setzten zu einer Diskussion an, doch Salem hielt es nicht mehr aus. Wortlos stand er abrupt auf und verließ die Taverne. Schnellen Schrittes betrat er den angrenzenden Stall; es befanden sich nur zwei Kamele darin. Der Magier lief bis in die hinterste Ecke. Dort würde ihn niemand sehen, der den Stall betrat. Wie erlösend es sich anfühlte, sich das Tuch vom Gesicht zu reißen und Luft an die Haut zu lassen, auch wenn es nur der abgestandene Mief von Heu und Tier war. Wie Aljin sagte: Seine Kleidung würde bei diesem Wetter sein Tod sein.

    Hinter seiner Vermummung, seine Gefühle vor den Augen der Außenwelt abgeschirmt, schmachtete Salem Jack für seinen Auftritt an. Das Selbstbewusstsein, mit dem sich der Werwolf den Räubern entgegengestellt hatte, imponierte ihm und erneut verstand Salem nur zu gut, aus welchem Grund die Frauen Jack umschwärmten. „Das-das war-…“, stotterte der Händler, auf dessen Wagen Aljin und Salem mitfuhren und leider Gottes musste Salem seine Augen deswegen von Jack losreißen. „Ihr habt sie vertrieben. Einfach so! Unglaublich.“ Sein Gestammel war nicht die Art des Dankes, mit der Salem gerechnet hätte, trotzdem war es amüsant, den Wechsel zwischen Erleichterung und Fassungslosigkeit auf seinen Gesichtszügen zu beobachten. Wahrscheinlich überlegte er gerade, ob er eine Truppe wie diese – zwei Männer, eine junge Frau und eine Greisin, die ganz ohne Handgreiflichkeiten notorische Banditen in die Flucht schlugen - besser nicht mehr auf seinem Karren mitnehmen oder ob er es jetzt erst recht tun sollte. Die Reihen der Händler teilten seine Reaktion. Die allgemeine Erleichterung wurde von einer beklemmenden Stille des Erstaunens erstickt und alle Blicke haftet auf dem ungewöhnlichen Quartett. „Ich schlage vor, wir setzen unsere Reise fort. Jeder der Anwesenden dürfte ein Interesse daran haben, unser Ziel schnellstmöglich zu erreichen.“, durchbrach Salem dieses Schweigen und deutete gelassen auf die Barrikade vor ihnen. Sein Vorschlag blieb unbeantwortet, denn ein anderer Händler sprang mit kreideweißen Gesicht hervor: „Ich-ich erkenne Euch wieder! Ihr wart in Pugna, als das Feuer ausbrach! Ich sah Euch in der Reihe vor dem Schloss und während Eurer Audienz ist es in Flammen aufgegangen! Ihr habt Pugna niedergebrannt!“
    „Unsinn!“, schrie ein anderer Mann dazwischen.„Wie soll er das angestellt haben? Mit Feuerstein und Eisen?! Diese Leute haben uns gerade das Leben und unsere Einkünfte gerettet! Wie könnt Ihr es wagen, sie zu verleugnen?“
    Weitere Händler fanden ihre Stimmen wieder und mischten sich lautstark ein: „Vier Gesellen die eine ganze Stadt anzünden? Ihr macht euch lächerlich!“
    „Ich hatte Verwandtschaft in Pugna!“
    „Der Regent hat bekommen, was er verdien hat! Ein Hoch auf die Feuerteufel von Pugna!“
    „Hipphipp Hurra!“
    „Bei dem Brand habe ich die Hälfte meiner Lager verloren!“
    „Und mein Zulieferer ist ruiniert! Das kostet mich eine ganze Jahresladung Salz!“
    Alsbald verstrickte sich ein jeder in aufgebrachte Diskussionen über den Brand von Pugna. Manche lobpreisten Salem und seine Gefährten für ihre Tat, andere verfluchten sie und wieder andere bezweifelten gänzlich ihre Schuld. Plötzlich meldete sich ein besonders heiserer Schreihals zu Wort: „Mir fällt es wie Schuppen von den Augen! Es bleibt keine Möglichkeit! Diese Leute sind Feuermagier! Wie die Nomaden des Hariq-Stammes!“
    „Die Nomaden des Hariq-Stammes?“, fragte Salem den Händler, der sie mitnahm. Er bestritt den Vorwurf seiner Magie nicht. Wozu auch? Es stimmte schließlich. Der Händler schien offensichtlich unentschieden, wie er über Salem zu denken hatte. Ehrfurcht stand in seinem Gesicht geschrieben, allerdings auch Furcht, Respekt und so etwas wie Anerkennung. Salem nahm an, dass ihn der Brand von Pugna verängstigte, jedoch nicht direkt betraf. „Die Nomaden des Hariq-Stammes durchstreifen die Wüste. Sie beten das Feuer an und erlauben nur ihren Feuermagiern, Nachwuchs zu zeugen. Es heißt, dass sie Kinder mit anderer Magiebegabung töten und die unbegabten unter ihnen als Menschen zweiter Klasse behandelt werden.“ Erschrocken hob der Händler die Hände „Aber das sind nur Geschichten, die man sich am Lagerfeuer zuraunt. Ich selbst bin noch nie einem Hariq begegnet.“
    „Ihr werdet diese Leute nicht weiter auf eurem Wagen mitnehmen!“, versuchte ein dickleibiger Mann dem Händler zu befehlen. „Wenn Ihr diesen Monstern Euer Gefährt stellt, dann kaufe ich kein einziges Fass Essig mehr von Euch!“
    „Wie könnt Ihr es wagen ihm zu drohen! Er hilft tapferen Menschen! Sie bieten uns Schutz!“
    Damit begann das unkoordinierte Tohuwabohu von vorn. Jeder dachte, darüber bestimmen zu dürfen, ob die Gruppe bei der Karawane bleiben dürfte. Ein Konsens war nicht herauszuhören, jedenfalls nicht für Salems Ohren. Schließlich war es der Händler, der ihnen folgendes sagte: „Hört zu, ich hege keinen Groll gegen Euch. Aber der Frieden innerhalb dieser Karawane ist für uns alle überlebenswichtig. Es tut mir leid, ich kann Euch deswegen nicht bis zu Eurem Endziel mitnehmen. Jedoch…“, er ließ seinen Blick über die Karren schweifen. „Ich verantworte es, Euch bis nach Jaffa mitzunehmen. Jaffa ist eine kleine Stadt am Rande der Wüste, die wir morgen Abend erreichen werden. Dort könnt Ihr Euch für die Weiterreise rüsten, wohin auch immer es Euch am Ende verschlägt.“ Salem nickte verstehend. Jaffa also.
    Dann sollte es so sein.

    Ein Schlagloch in der Straße brachte den Wagen zum Schaukeln und riss Salem auf diese Weise aus seinem Nickerchen. Die Arme hinter den Kopf verschränkt, hatte er sich von der Sonne die Nase kitzeln lassen, bis ihm die Augen zu schwer wurden, um wach zu bleiben. Ein Buch lag noch aufgeschlagen und mit den Seiten nach unten auf seiner Brust. Er hatte es beiseitegelegt, nachdem ihm durch das Schunkeln ihres Gefährts in Verbindung damit, rückwärts zu fahren, ein wenig übel geworden war.
    Wie lange sein Schläfchen dauerte, vermochte Salem nicht zu bestimmen. Ihm fiel jedoch auf, dass sich die Landschaft bereits veränderte. Von der Küstenregion durch Wälder und Wiesen, sah man immer weniger Grün und stattdessen weiteten sich karge Grasflächen aus, denen der saftiggesunde Farbton fehlte. Der Boden wirkte steiniger auf Salem. Das Rattern der Räder klang lauter, obwohl sie einen befestigten Weg benutzten.
    Der Feuermagier richtete sich auf. Neben ihm saß Aljin zwischen diversen Säcken voller Waren. Esme und Jack fuhren auf der Ladefläche eines anderen Händlers mit und Salem konnte sie daher gerade nicht sehen. „Na, ausgeschlafen?“, fragte Aljin. Salem schloss daraus, doch etwas länger gedöst haben. Bevor er jedoch etwas antworten konnte, ging ein Ruck durch den Wagen. Und er blieb stehen.
    Die ganze Karawane stoppte abrupt und als Salem neugierig den Hals reckte, erkannte er auch die Ursache ihres ungeplanten Halts: Die Straße vor ihnen war blockiert. Herbeigetragene Überreste irgendwelcher Holzkonstrukte bauten sich wie eine Barrikade auf und verhinderten jegliches weitergekommen. „Oh nein, nicht das… “, hörte Salem ihren Wagenführer ängstlich keuchen. Im nächsten Moment startete der Krawall.
    Von irgendwoher kamen Männer herbei geritten. Ihre Gesichter waren von Kopftüchern verdeckt, doch Salem konnte wettergegerbte Haut und abgenutzte Kleidung erkennen. In Windeseile kesselten sie die ganze Kolonne ein. Einer von ihnen grölte laut: „Keine Mätzchen, verstanden?! Wer meint, den Helden zu spielen, den machen wir einen Kopf kürzer! Ihr steigt jetzt alle von den Wagen herunter und macht eure Taschen leer!“ Als er ausgesprochen hatte, lehnte sich einer seiner Kameraden zu ihm herüber und flüsterte etwas. Der Brüllaffe von eben nickte verstehend und ließ noch einmal seine Stimme erklingen: „Achja, falls Ihr das nicht kapiert haben solltet: Das hier ist ein Überfall!“

    Salem fühlte sich absolut überrumpelt. Er konnte nichts denken und er konnte nichts fühlen. Ihm blieb nur übrig, Jack mit überrascht geweiteten Augen anzusehen. Sein Herz schlug ihm vor Aufregung bis zum Hals hinauf und an seinen Lippen spürte er noch die Wärme, die Jacks Atem auf seinem Tuchs hinterlassen hatte. Die flüchtige Bewegung ging hinter dem Stoff verloren, doch Salem schluckte schwer.
    Was war in den Werwolf gefahren, ihn plötzlich aus dem Nichts heraus zu küssen? Jack empfand nichts für Männer; diese Beobachtung hatte Salem oft genug gemacht. Seine Aufmerksam galt immer nur den Frauen. Ruhte in ihm trotz Allem die Neigung zu Männern? Männern wie Salem? Wieso schien ihm die Situation dann so unangenehm zu sein? Jack konnte ihm nicht einmal in die Augen sehen. Offensichtlich schämte er sich für den Kuss. Vermutlich empfand er ihn jetzt schon als großen Fehler.
    Hinter seiner Vermummung seufzte Salem schwer, dennoch lautlos. Er hatte nichts erwartet und das würde auch so bleiben. Damit, nicht in Jacks Beuteschema zu passen, konnte er sich abfinden. Womit er sich jedoch nicht abfinden wollte, war die peinliche Berührung, die Jack ganz offensichtlich empfand. Ihre Bekanntschaft sollte nicht wegen dieser nichtigen Episode auseinanderbrechen. Wenngleich sich Salem, ehrlich gesagt, ein klein wenig ausprobiert vorkam.
    Salem unternahm einen Versuch, den unbehaglichen Moment zwischen ihnen zu vertreiben. Er tat es Jack gleich und presste ihm durch den Stoff hindurch die Lippen auf den Mund. Eine Sekunde später löste er sich bereits wieder von ihm. Jack sah ihn verdutzt an, worauf Salem ihm mit einem Schulterzucken antwortete: „Du hast mich geküsst und ich habe dich geküsst. Jetzt sind wir quitt und es gibt keinen Grund, weshalb der eine gegenüber dem anderen beschämt sein sollte.“ Vergaßen sie Jacks Ausrutscher einfach. Wahrscheinlich bedeutete er sowieso nicht das geringste. Nichtsdestotrotz würde Salem einen Penny für Jacks Gedanken geben und fixierte deshalb interessiert seinen Blick.
    Ihre Bewegungen fanden gleichzeitig statt. Salem spürte Jacks Arme in derselben Sekunde seine Taille umklammern, in der er dem Werwolf besitzergreifend die Hände in den Nacken schob und ihn an sich zog. Im letzten Augenblick riss Salem sich das Tuch vom Gesicht und küsste Jack. Dieser erwiderte den Kuss; Salem versank in dem Gefühl, das Jacks Mund hinterließ. Er spürte seine warmen Lippen und die auffordernde Bewegung Jacks Zunge an seiner eigenen. Salem wollte ihm noch näher kommen und drängte sich an seinen Körper. Die Dynamik, mit der es tat, ließ Jack nach hinten und mit einem hörbaren Knall gegen seine Zimmertür taumeln. Abgelenkt voneinander merkten die beiden Männer nicht, dass die Erschütterung auf die dünnen Holzwand übersprang. Bis sie den losen Nagel eines dekorativ aufgehangenen Bildes aus der Wand trieb und es mit einem lauten Scheppern zu Boden fiel. Durch den Krach alarmiert, wurde eine der anderen Zimmertüren aufgerissen. Aufgeschreckt stoben Salem und Jack auseinander, wobei der Magier rechtzeitig seine Vermummung vor sein Gesicht ziehen konnte. In den Jahren war er gut darin geworden, seine Maskierung blitzschnell an- und abzulegen.
    Was soll der Krach?“ Aljin trat aus der Tür hinaus, im Anschluss öffnete sich auch Esmes Tür. Die Frauen musterten Salem und Jack und zwangsläufig wanderte ihre Aufmerksamkeit zu dem Bild am Fußboden. „Ist alles in Ordnung?“
    Ist es, danke der Nachfrage. Jack ist lediglich gestolpert und hat dabei das Bild heruntergerissen.“Der Feuermagier beugte sich zu besagten Bild herab, sammelte nebenbei auch den Nagel dazu auf und brachte beides wieder an seinem angestammten Platz an der Wand an.
    Gut, dass du noch wach bist, Aljin,“ lenkte Salem davon ab, was eben passiert ist. Vorrangig sich selbst. „Ich habe mir gedacht, dass es für unsere Reise nach Süden angebracht wäre, uns einen beweglichen Untersatz zu organisieren. Eventuell nimmt uns ein Händler ein Stück auf seinem Wagen mit. Was denkst du darüber?“
    Nach Außen hin wirkte Salem gewohnt gefasst.
    Nicht jedoch in seinem Inneren.

    Man könnte damit eine Menge Falafel kaufen. Die Falafel in der Gegend sollen sehr gut sein“, meinte Salem, der aus der Menschenmenge heraus plötzlich hinter den anderen stand. Er trug zwei große Beutel bei sich, in denen er den eingekauften Proviant transportierte. Ehrlich gesagt verstand Salem nicht so recht, weshalb ausgerechnet er für ihre Verpflegung sorgen sollte. Nicht, dass er es nicht tun würde. Im Laufe ihrer gemeinsamen Reise hatte sich lediglich seiner Meinung nach oft genug bewiesen, wie abweisend die Menschen auf ihn reagieren konnten. Teilweise war es ein kleiner Kampf gewesen, passende Nahrungsmittel für ihre Reise zu kaufen. Zwieback, Trockenfleisch, ein paar Äpfel … Ein paar der Händler weigerten sich ganz, mit dem großen, vermummten Mann zu reden. Andere wollten ihn offensichtlich so schnell wie möglich los werden.
    Grundsätzlich machte ihm diese Behandlung wenig aus. Nach einem vollen Centennium konnte man sich an vieles gewöhnen und die allgegenwärtige Ablehnung hatte sich zu einem Teil von Salems Dasein entwickelt. Wenn es aber um Dinge wie den Proviant der Gruppe ging, empfand es der Feuermagier als lästig.
    Wie dem auch sein mochte. Schlussendlich war er erfolgreich gewesen und nur das zählte. „Wir gehen also nach Akrabria?“ Es war eher eine Feststellung, denn eine Frage.
    Ich jedenfalls schon“, stellte Aljin klar und wedelte mit einer Karte in der Hand herum. „Die beiden anderen haben sich noch nicht entschieden.“
    Automatisch wechselte Salems Blick zu eben jenen anderen, erst zu Esme und dann zu Jack. „Nun, ich fände es furchtbar schade, auf Eure Gesellschaft verzichten zu müssen“, sagte er und sah dabei vor allem Jack an. Salem war ehrlich: Er wollte den Werwolf um sich haben. Nicht nur aus fachlichen Interesse an seinem Fluch und den Prozess seiner Verwandlung – das interessierte ihn auch an Jack. Hauptsächlich lag der Grund schlicht und ergreifend daran, dass sich Salem zu Jack hingezogen fühlte. Körperlich wie geistig.
    Salem machte sich nichts vor. Er hatte Jack mit den Frauen flirten sehen und hegte keinen Zweifel daran, dass er kein Interesse für Männer aufbrachte. Und Salems Erfahrungen nach behielten sowieso die meisten Männer, die ihr eigenes Geschlecht bevorzugten, diesen Umstand für sich. Religion, gesellschaftliche Akzeptanz und der Druck, den Familiennamen weiterzugeben, ließ ihnen oftmals keine andere Möglichkeit. Dass Jack nicht dieselbe Anziehung empfand, hieß allerdings nicht, dass Salem seine Gegenwart nicht genießen durfte.
    Aber vielleicht diskutieren wir das nicht hier auf der Straße. Es dürfte sowieso zu spät für die Weiterreise sein. Suchen wir ein Gasthaus auf und verbringen dort die Nacht. Dann könnt Ihr überlegen und Aljin und ich bereiten unseren Aufbruch vor.“

    Das Gasthaus hieß 'Zur tanzenden Witwe' und bot gerade noch genug freie Zimmer für die vier weiteren Gäste. Im Schankraum war einiges los; die eingemietet Gäste saßen gleichermaßen an den alten Holztischen, wie die Gäste die lediglich für Speis und Trank herbei gekommen waren. Salem stand am Fuße der Treppe, die zu der Etage mit den Schlafzimmern hinaufführte, und hielt nach den anderen Ausschau.

    Um der Wahrheit gerecht zu werden: Salem hatte mehr Fassungslosigkeit und Protest von seinen Gefährten erwartet. Eine ganze Stadt niederzubrennen war radikal und Salem bedauerte es zutiefst, dass es so weit gekommen war. Doch auf kurz oder lang wäre eine der beiden Städte auch ohne ihn untergegangen. Der Regent Pugnas hatte es selbst gesagt. Sobald Argentusia die Silberlieferungen nicht mehr aufbringen konnte, würde er die Stadt überrennen. Salem mochte die Entscheidung über das Weiterbestehen der Städte aus eigennützigen Gründen getroffen haben, letztendlich hatte er nur beschleunigt, was unausweichlich war. Die eine Stadt lebte, die andere Stadt starb. Trotz seines Pragmatismus' empfand Salem Mitleid mit den unschuldigen Bewohnern Pugnas, deren einziges Vergehen darin bestand, von einem sturen, machthungrigen Regenten beherrscht zu werden. Er hätte sich einreden können, durch sein Handeln viele Leben in Argentusia gerettet zu haben. Salem wusste es allerdings besser. Keine Sekunde hatten die Menschen in Argentusia eine Rolle für seine Entscheidung gespielt. Der Feuermagier mochte vieles sein. Ein Heuchler war er jedoch noch nie gewesen.
    Zwei Tagesreisen später rasteten sie an der Ruine eines alten Bauernhauses. Das Silber und Jacks Haarsträhne hatten die Nacht über im selben Behältnis gelegen, so wie der Schwarzmagier im Sumpf es beschrieben hatte. Esme bereitete gerade den Sud aus beiden Ingredienzen vor, zusammen mit anderen Heilkräutern, die sie finden konnte. In einem kleinen Töpfchen brodelte das Gebräu über dem Feuer. Salem wäre auch selbst in der Lage gewesen, den Sud zuzubereiten. Aber Esme verfügte über die größere Expertise in derlei Dingen. Also saß Salem neben dem Feuer, las in einem Buch und warf hin und wieder einen kurzen Blick auf die köchelnde Tinktur.
    Gerade vertiefe er sich in einen neuen Absatz, als Esme verkündete: „Es ist fertig.“
    Salem legte das Buch zur Seite und betrachtete den Sud. Er sah genauso wässrig aus, wie eine viel zu dünne Suppe. Doch wie bei den Menschen, sollte man auch Heilmittel nicht nach dem Äußeren beurteilen. Der Feuermagier nickte verstehend und entblößte seinen verletzten Arm.
    „Wie lange wird die Heilung dauern?“, fragte er, nachdem Esme den Sud auf die Wunde aufgetragen und einen frischen, sauberen Verband um Salems Arm gewickelt hatte. Die alte Frau zuckte mit den Schultern. „Das wird sich zeigen. Ein paar Tage. Ein paar Wochen.“ Salem tippte auf eine noch längere Zeitspanne. Seine Verderbnis mochte ihn vor den Tod schützen, aber sie verzögerte jede Art der Heilung seines Körpers.
    Er zog seinen Arm wieder an und warf dann einen neugierigen Blick auf das, was vom Sud übrig geblieben war. Ein kläglicher Rest Flüssigkeit schwamm auf dem Grund des Töpfchens herum, nicht ansatzweise genug, um das Stück Silber vollständig abzudecken. Jacks Haare waren mit einem Faden zusammengebunden und trieben auf der Oberfläche herum. Salem beschloss, die Überreste als Andenken an diese Episode seines unsterblichen Lebens zu behalten. Später, wenn die anderen nicht hinsahen, würde er das Silber einstecken. Genau wie Jacks Haarsträhne.

    Salem tauschte einen Blick mit Aljin aus und im nächsten Moment befahl der Regent seinen Wachen den Angriff. Doch bevor auch nur ein einziger der Männer nah genug an ihn herankam, riss Salem seinen brennenden Arm empor. Mit einer energischen Bewegung schleuderte er Feuer auf den Boden vor sich und eine Wand aus Flammen schoss empor. Die Wachen mussten abrupt abbremsen, um nicht direkt in den lodernden Schutzwall zwischen ihnen und dem Magier hineinzurennen. Hilflos konnten sie nur vor der sengenden Hitze zurückweichen. Wie ein hungriges Tier fraß sich Salems Feuer durch den Teppich des Thronsaals, leckte nach wenigen Sekunden an der Tapisserie und setzte den halben Thronsaal in Flammen. Fast wäre Salem ein Lächeln über die Lippen gehuscht, als er sich wieder auf den Regenten konzentrierte. Es missfiel ihm, eine ganze Stadt wegen der Sturheit ihres Herrschers in Schutt und Asche zu legen, wenngleich die Notwendigkeit dazu unübersehbar war. Aber seine Magie herauszulassen tat ihm gut und erfüllte Salem mit beinahe übermütiger Freude, die nur von der Tragik der Situation zurückgedrängt wurde.
    Der Regent wich einen Schritt zurück, als Salems Blick ihn traf. Dann warf der Magier einen Feuerball in seine Richtung. Reflexartig sprang der Regent zur Seite, dabei hatte Salem gar nicht auf ihn gezielt. Nein, stattdessen stand der hölzerner Thron in Flammen. Das Feuer sprang von dort aus auf nahestehende Möbel über: Schemel, Stühle, Tische. Binnen weniger Sekunden hatte der ganze Thronsaal Feuer gefangen. Salem war das noch nicht genug. Er sah nach oben und gleich darauf flog ein Feuerball in den Dachstuhl des Saals. Die Balken wurden von den Flammen eingehüllt und in wenigen Minuten würden sie so zerfressen sein, dass das ganze Dach einstürzte.
    Eine Glasscheibe zersprang vor Hitze. Salem nahm das Geräusch als Signal, von hier zu verschwinden. „Raus hier!“, rief er seinen Gefährten zu und eilte los. Ein paar der besonders pflichtbewussten Wachen versuchten, sich ihm in den Weg zu stellen. Der Brand im Thronsaal zwang sie jedoch dazu, das eigene Leben schnellstmöglich zu retten.
    Auf dem Platz vor dem Schloss war inzwischen heilloses Chaos ausgebrochen. Die Menschen liefen aufgeregt durcheinander, riefen und schrien, und versuchten vergebens genug Wasser heranzuschaffen, um gegen das Feuer ankommen zu können. Eine Glocke wurde geschlagen und Kinder fingen, von der Aufregung in Panik versetzt, an zu weinen. In dem ganzen Durcheinander hatte Salem seine Begleiter aus den Augen verloren. Er verließ sich auf ihren Überlebensinstinkt und vertraute darauf, dass sie von selbst aus der Stadt laufen würden. Salem selbst eilte an den aufgeschreckten Menschen vorbei. Dann rieb er die die Fingerkuppen aneinander und ein Funken blitzte auf. Als wäre er ein Streichholz, schnipste Salem ihn von sich. Im hohen Bogen flog der Funke durch die Luft und landete schließlich in einem Haufen Stroh. Der Haufen stand sofort lichterloh in Flammen und steckte die umstehenden Häuser an. Ein anderer Funke flog, dieses Mal direkt auf das Dach einer großen Lagerhalle. Marktstände, wahllose Gebäude und Schuppen gingen in Flammen auf, wann immer Salem an ihnen vorbeikam. Die Bewohner der Stadt wussten nicht, welchen Brand sie zuerst bekämpfen sollten. Als Salem schließlich das Stadttor erreichte, stiegen über der ganzen Stadt Rauchwolken aus.
    Von weiten konnte er zwischen den Bäumen einer nahgelegenen Schonung Esmes Statur ausmachen und lief geradewegs zu den anderen rüber.

    Ich schon, äffte Aljin Salems Antwort nach, mit der er dem Statthalter seine Hilfe zugesichert hatte. Kurz nach ihrer Audienz waren sie aufgebrochen und durch die Nacht zur Rast gezwungen, hatten sie Pugna am nächsten Morgen erreicht. Im Gegensatz zum Statthalter von Argentusia ging der Regent dieser Stadt seinen Pflichten nach und stellte sich den Anliegen seiner Untertanten. Salem und seine Begleiter hatten sich also nur zu den anderen Menschen einreihen müssen, die dem Regenten ihre Probleme vortragen wollten. Besonders wohlwollend schien dieser Mann allerdings nicht zu entscheiden. Kaum jemand trat mit einem zufriedenen Lächeln aus dem Thronsaal ihres Herrschers. Aljin wiederholte ihre Kritik an Salems Entscheidung und der Magier nahm sie auch dieses Mal geduldig zur Kenntnis. „Das ist also dein Plan? Vor den Regenten treten und sagen, dass er dem armen Statthalter von Argentusia bitte sein Silber lassen soll?“
    „Mh-mh“, gab Salem zustimmend von sich.
    „Weil höflich fragen ja bereits so gut funktioniert hat, als wir Hilfe für Liassan gesucht haben.“
    „Mh-mh“
    „Oder bei diesem Magier im Sumpf.“
    „Mh-mh“
    „Oder bei den Zwergen.“
    „Hauptmann Svanson hat uns geholfen und Esme war ebenfalls recht kooperativ, weshalb ich Diplomatie einstweilen noch nicht aufgegeben habe.“ Salem hörte Aljin resigniert schnaufen. „Die einfachste Lösung wäre, diese Stadt vom Erdboden verschwinden zu lassen. Kein Pugna, keine Silberforderungen“, fügte er seinen vorangegangenen Worten hinzu.
    Neben sich hörte er Jack murmeln: „Das wäre radikal… .“, was Esme mit einem „Aber konsequent“ kommentierte. Die beiden sahen sich skeptisch um. Es war wohl nicht die beste Idee, ausgerechnet hier ihre Optionen abzuwägen. Sie standen beinahe unmittelbar vor dem Tor des Schlosses. Gleich mehrere bewaffnete Wachen warfen wachsame Blicke auf sie und die anderen Leute. Abgesehen davon drehten sich ein paar der Bittsteller bereits irritiert zu ihnen um. Salem stimmte seinen beiden Gefährten also nur stumm zu, ohne die Diskussion zu vertiefen. Bereits im nächsten Moment rief sowieso eine Wache nach ihnen und deutete dem Quartett mit einer ruckhaften Kopfbewegung, dass sie nun vor den Regenten treten durften.
    „Schlussendlich“, stellte der Magier abschließend klar und setzte sich in Bewegung, „dient all dies hier dazu, meinen Arm zu retten und ich bin entschlossen, es auch zu tun. Und falls es Euch noch nicht aufgefallen sein sollte: die Gebäude dieser Stadt bestehen zum Großteil aus Holz.“

    Man ließ sie in den Thronsaal. Der Regent saß auf einem rustikalen Thron am anderen Ende des Raumes, sodass jeder Besucher gezwungen war, sich den ganzen Weg über seinen kritischen Blicken auszusetzen. Man konnte ihm die Unlust ansehen. Wie ein nasser Sack lümmelte er auf seinem Thron, das Becken über die Sitzfläche geschoben und den Kopf gerade mal auf halber Höhe gegen die Rückenlehne gelegt. Eine genervte Handbewegung war alles, was der Regent aufbrachte, um Salem das Wort zu erteilen. Der Magier ließ sich von der abweisenden Körpersprache allerdings nicht irritieren und kam direkt zum Punkt:
    „Wir kommen geradewegs aus Argentusia und bi-…“
    „Nein.“ Der Regent fiel Salem ins Wort, noch bevor dieser auch nur einen einzigen Satz beenden konnte. Salem musste diese Unhöflichkeit hinnehmen, quittierte sie jedoch mit einem durchdringenden, unbeirrten Blick. Als er erneut ansetzen wollte, wurde er ein weiteres Mal harsch unterbrochen: „Wenn ihr aus Argentusia kommt, weiß ich bereits was Ihr wollt und meine Antwort ist Nein. Ich habe mich gegenüber Eurem Statthalter klar und deutlich ausgedrückt. Er erkauft sich mit seinem Silber meinen Schutz.“
    „Schutz wovor? Vor Euch selbst? Das nennt man Erpressung.“ Aljin polterte mit dieser Bemerkung dazwischen, aber den Regenten interessierte das offensichtlich überhaupt nicht. Ihm schien der moralische Standpunkt so egal zu sein, dass ihn diese Unterstellung nicht einmal provozierte. Salem versuchte es trotzdem weiter auf diplomatischen Weg: „Die Minen sind erschöpft und die Zwerge haben ihre Arbeit niedergelegt. Wenn Ihr Eure Forderungen nicht überdenkt, wird es sehr bald kein Silber mehr geben.“
    „Dann hole ich mir die ganze Stadt. Meine Truppen sind diesem faulen Haufen an Kaufleuten und Fischern überlegen. Und jetzt geht. Ich habe Euch nichts mehr zu sagen.“
    Salem sah ihn an. Seine blauen Augen fixierten den Regenten durchdringend und brachten ihn dazu, sich aus seiner legeren Sitzposition heraus aufzurichten. Die Erpressung des Statthalters interessierte Salem nicht. Genauso war es ihm egal, ob und wem in dieser Sache Unrecht getan wurde oder welche Unhöflichkeit der Regent ihnen gegenüber zeigte. Doch da war dieser Schmerz in seinem Arm. Dieser brennende Schmerz, der sich durch sein Fleisch biss und niemals aufhören würde. Ein Schmerz, der ihm die kranken Alternativen vor Augen hielt, die Unendlichkeit ohne seinen Arm, oder aber mit beschädigten Organen verbringen zu müssen.
    Langsam wurde der Regent zornig. „Ich sagte, Ihr sollt gehen.“
    In diesem Moment löste sich Salem aus seiner Starre, sah jedoch weiterhin den Regenten an. „Euch mag das Schicksal von Argentusia gleichgültig sein. Das ist es mir ebenso. Aber genau so wenig liegt mir an Eurer Stadt. Seht, aus persönlichen Gründen bin ich davon abhängig, dass das Silber bei Eurem Nachbarn bleibt. Ihr habt Euch leider wenig entgegenkommend gezeigt, deswegen sehe ich in Euch und Eurer Stadt keinen Nutzen für mich. Im Gegenteil.“
    Inzwischen hatte sich der Regent vollständig auf seinem Thron aufgesetzt und winkte seine Wachen heran. Salem registrierte die Bewegungen der Männer, konzentrierte sich aber weiter auf den Regenten. „Nun stehe ich vor der Entscheidung, welche der beiden Städte ich untergehen lasse. In diesem Fall bleibt mir also nichts Anderes übrig, als meine Wahl nach puren Pragmatismus zu treffen. Ihr scheint mir selbst ein pragmatischer Mensch zu sein. Deswegen bin ich mir sicher, dass Ihr Verständnis für mich aufbringt.“
    „Ihr seid nicht in der Position, mir zu drohen!“
    „Das bin ich sehr wohl, denn ich stehe direkt vor Euch.“
    Plötzlich hörte Salem Jack seinen Namen rufen. Die Wachen standen unmittelbar hinter ihm. Doch sie hielten sich zurück und wagten es nicht, dem Magier auch nur einen Schritt näher zu kommen. Denn in der Zwischenzeit hatte Salem einen Zauber gewirkt. Aus kleinen Funken, die an seinen Fingern entlang züngelten, waren Flammen geworden, die sich nun an seinem Arm empor wunden.

    „Ich möchte euch helfen? Wann wurde das entschieden?!“
    „Glaubst du, dass wir irgendwo in der Umgebung mehr Glück hätten?“ Salem nahm Aljins Einwand zur Kenntnis, ließ sich von ihrem Unmut jedoch nicht anstecken. „Darüber hinaus impliziert die Verwendung Ich lediglich meine eigene Beteiligung an diesem Vorhaben. Es steht euch demnach also frei, zeitweise eurer eigenen Wege zu gehen. Ich habe gehört, der Hafen soll um diese Jahreszeit ein recht hübscher Ort sein.“ Natürlich würde sich der Magier dennoch über die Begleitung der anderen freuen, auch wenn er seinen Vorschlag durchaus ernst meinte und keinesfalls den Zweck verfolgte, einen von ihnen loszuwerden oder zu verspotten. Unbeirrt setzte er seinen Weg durch die Stadt fort, seine Gefährten im Schlepptau. „Du solltest dich außerdem nicht dem Irrglauben hingeben, Aljin, ich würde den Zwergen aus reiner Menschenliebe helfen. Im übertragenen Sinne. Meine Motive sind hauptsächlich selbstsüchtiger Natur und haben wenig mit den Arbeitsbedingungen der Zwerge zu tun“, fügte Salem hinzu und konzentrierte seinen Blick auf die Strecke, der sie gerade folgten. Es war mehr als offensichtlich, dass ein eindeutiges Missverhältnis der Gewinnbeteiligung zwischen den Zwergen und des Statthalters bestand. Allerdings war Salem nicht so naiv zu denken, dass dieses Problem nur hier bestand. Überall lief es gleich ab: Die arbeitenden Kasten erbrachten die meiste Arbeit, während die Oberen den Löwenanteil der Erträge für sich einnahmen. Diese Verteilung war alles andere als fair, aber üblich und Salem sah sich deshalb nicht in der Pflicht, diese Zustände zu verurteilen, geschweige denn, zu ändern.
    Hinter ihm meldete sich Esme zu Wort: „Und wie sieht Euer Plan aus? Würde man einfach so in das Haus des Statthalters einmarschieren können, dann hätten es die Zwerge sicher getan, anstatt diesen Aufstand auf dem Marktplatz zu veranstalten.“
    Salem wandte kurz den Blick nach hinten und nickte der alten Frau zu. „Ihr habt Recht. Genau aus diesem Grund sind wir auch nicht zum Haus des Statthalters gegangen.“ In diesem Moment blieb er stehen und betrachtete das Gebäude, vor dem sie sich nun befanden: Das Wachhaus der Stadt. Hier verbrachten die Stadtwachen ihre Zeit, wenn sie im Dienst, jedoch nicht auf Patrouille waren. Als er die fragenden Blicke in seinem Rücken spürte, fing Salem an, zu erklären: „Dem Hauptmann der Wache, den wir vorhin getroffen haben, scheint etwas an der Lösung dieses Konflikts zu liegen. Anderenfalls hätte er die Versammlung der Zwerge blutig niedergeschlagen. Ich hoffe, in ihm einen Verbündeten zu finden.“ Mit diesen Worten klopfte Salem ein paar Mal gegen die Eingangstür, schob sie im nächsten Augenblick auf und trat, gefolgt von den anderen, ein. Gut ein halbes Dutzend Augenpaare richteten sich auf die Ankömmlinge. Dann hefteten die anwesenden Stadtwachen ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf Salem. Sie musterten ihn misstrauisch und legten teilweise sogar warnend die Hand auf die Knäufe ihrer Schwerter. „Wir möchten mit Eurem Hauptmann reden“, sagte Salem und beobachte gleichmütig das Drohverhalten der Wachen. Ohne den vermummten Mann aus den Augen zu lassen, traten sie näher. „Was denkt Ihr Euch? Dass wir einfach so jeden Halunken und Halsabschneider zu Hauptmann Svanson lassen?“
    Gerade war Salem in Begriff, Jack zu bitten, mit seinem unvergleichlichen Charme die Wachen zu beschwichtigen. Doch vorher ergriff jemand anderes unverhofft das Wort: „Nehmt die Hände von den Waffen. Wenn sie Halunken oder Halsabschneider wären, würden sie wohl kaum in ein vollbesetztes Wachhaus rennen und nach mir fragen.“ Aus einer Seitentür – Salem vermutete, dass das Büro des Hauptmanns dahinter lag – war ebenjener Hauptmann Svanson aufgetaucht. Er trug seinen Helm nicht mehr und wischte sich, während er über seine eigenen Leute die Augen verdrehte, eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. Ohne ein weiteres Wort an seine Männer zu richten, deutete er Salem und seinen Begleitern mit einer laschen Handbewegung an, ihm zu folgen. Die anderen Stadtwachen beobachteten mit strengen Blick, wie das Vierergrüppchen Svanson folgte und sich schließlich die Tür hinter ihnen schloss.
    Salem hatte mit seiner Vermutung richtig gelegen. Hier befand sich das Büro des Hauptmanns. Der Raum war zwar nicht besonders groß, dafür stand ein Schreibtisch in der Mitte des Raumes und Regale waren voller Waffen und einigen Schriftrollen. Hauptmann Svanson ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Offensichtlich sah er in seinem Besuch keine Gefahr, denn er lehnte sich entspannt zurück und verschränkte die Hände auf dem Bauch. Salem schätzte ihn auf Ende dreißig und so wie es sich für den Hauptmann einer Wache gehörte, war er in hervorragender physischer Verfassung, wie der Magier interessiert feststellte.
    „Ich habe fast damit gerechnet, Euch irgendwann auf der Türschwelle stehen zu haben. Ich nehme an, dass Ihr bei den Zwergen keinen Erfolg hattet, richtig?“ Salem nickte bestätigend. Der Hauptmann fuhr fort: „Wie zu erwarten war. Dann verratet mir nun bitte, wieso Ihr hier seid.“
    Salem wechselte einen Blick mit seinen Freunden, dann brachte er sein Vorhaben auf den Punkt: „Wir wollen mit dem Statthalter sprechen, damit er seine Preispolitik das Silber betreffend überdenkt. Ermöglicht uns bitte eine Unterredung mit ihm.“
    Svanson stieß ein amüsiertes Schnaufen aus. „Ich will gar nicht wissen, weshalb Ihr so wild auf Silber seid. Vor allem, wenn ich mir Eure Truppe so ansehe.“ Kurz musterte er Esme, Aljin und Jack. Dann sprach er weiter: „Und was genau denkt Ihr erreichen zu können, was sämtliche Würdenträger und einflussreiche Bürger dieser Stadt nicht bereits versucht hätten? Der Statthalter beharrt stur auf seine neuen Preise und nichts und niemand kann ihn davon abbringen.“
    „Neue Preise?“ Salem wurde hellhörig und seine dunklen Augenbrauen zuckten kurz. „Das heißt, es war früher anders?“
    Hauptmann Svanson deutete ein müdes Nicken an. Danach betrachtete er Salem einen langen Moment. Erst kritisch, dann nachdenklich und schließlich seufzte er. „Wisst Ihr, ich würde einiges dafür geben, wenn die Zwerge endlich ihren Willen bekämen und ich dafür meine Ruhe hätte. Meine Männer sind Stadtwachen. Sie sollen die Bewohner dieser Stadt beschützen und sie nicht wie Soldaten niedermetzeln, um den Statthalter vor einem Aufruhr zu beschützen. Der Statthalter... er hat schon immer das Gold geliebt, aber erst seit einigen Monaten erhebt er Wucherpreise für Silber. Es ist, als wäre etwas passiert. Seitdem verschanzt er sich in seinem Haus.“ Mit den Fingern fuhr er sich grüblerisch durch den gepflegten Bart. Eine unbewusste Geste, wie Salem beobachtete. Schließlich schien er zu einem Entschluss gekommen zu sein. „Es ist so, dass ich keinen Einfluss auf den Statthalter nehmen kann. Mich in seine Geschäfte einzumischen, könnte mich meine Stellung und damit meine Existenz kosten. Euch hingegen kann er höchstens wegen Anmaßung hochkant aus der Stadt werfen lassen. Ich schätze Eure Hartnäckigkeit. Also gut. Ich bringe Euch zum Statthalter unter der Bedingung, dass Ihr Euch dieses Problems annehmt. Haben wir eine Abmachung?“
    Salem sah sich erneut nach seinen Gefährten um. Dann zuckte er mit den Schultern. „Ich kann nur für mich selbst sprechen. Aber ja. Zwischen uns gibt es eine Abmachung.“ Damit schlugen die beiden Männer ein.

    „Buh!“
    „Ausbeuter!“
    „Kommt raus, wenn Ihr Manns genug seid!“
    „Sitzt mit seinem fetten Arsch auf unserem Gold…äh Silber!
    „Sklaventreiber!“
    „Mögen Euch die Geister der Felsen den Schädel einschlagen!“
    „Buuuuh! Ausbeuter, Sklaventreiber, Mensch!“

    Interessiert beobachtete Salem den Trubel, der direkt vor seiner Nase stattfand. Mitten auf dem Marktplatz der Stadt Argentusia hatte sich eine gut und gern fünfzig Mann starke Mannschaft versammelt, die lauthals – was Jack dank seiner charmanten Art von einer vorrübergehenden Magd erfahren hatte – das Haus des Statthalters anschrien. Das eigentlich spannende war aber nicht die Versammlung an sich, obwohl Salem von der Kreativität einiger der vielfältigen und bildhaften Zwischenrufe durchaus beeindruckt war. Nein, seine Aufmerksamkeit wurde vielmehr von dem Fakt gefesselt, dass keiner der Demonstranten größer als einen Meter und vierzig war, dafür aber einen wirklich imposanten Bartwuchs hatten, von dem Salem nur träumen konnte. Zwerge.
    Dabei war Argentusia eine Menschenstadt und der Anblick so vieler Zwerge auf einem Haufen ein eher seltenes Ereignis. Als Hansestadt konnte jeder völlig frei und ungehindert durch das Stadttor ein- und ausreisen. Auch Salem und seine Begleiter hatten ohne Weiteres an den Stadtwachen vorbeigehen können, auch wenn sie Salem mit einem skeptischen Blick gemustert hatten. Also warum nicht auch eine halbe Zenturie an Zwergen?
    Der Reichtum Argentusias baute sich hauptsächlich auf dem Handel mit drei wichtigen Gütern auf: Fisch, Salz und Silber. Zugegeben, es war ein großer Zufall, dass die nächstgrößere Stadt ausgerechnet für seine Silberminen bekannt war. Ein großer aber glücklicher Zufall. Alles hätte also wunderbar einfach und schnell erledigt sein können. Wo sollte Salem sonst ein Stück Silber für den Fluchbrecher herbekommen können, als hier?
    Ja, wo?
    Kein einziges, erschwingliches Bisschen hatten sie gefunden! Selbst der kleinste Brocken war hoffnungslos überteuert. Fast den ganzen Tag hatten sie die Händler und Marktstände der Stadt abgeklappert und jeder, den sie fragten, schüttelte nur resigniert mit dem Kopf. Keine Münze, nicht mal den abgebrochenen Zinken einer Gabel. In Argentusia herrschte eine Silberknappheit und niemand wusste zu sagen, wann sich das ändern würde. Nicht einmal Jack konnte etwas erreichen.
    Stoisch hatte Salem seine inzwischen vierte Runde über den Marktplatz gedreht, bis er schließlich auf den Aufmarsch der Zwerge gestoßen war. Der Magier hatte schon zuvor Zwerge gesehen und kennengelernt. In einhundertachtundzwanzig Lebensjahren, bot sich für derlei Begegnung viel Zeit. Nichtsdestotrotz war er immer wieder fasziniert von ihrem Anblick. Selbst der größte von ihnen reichte Salem nicht einmal bis zur Brust, dafür waren ihre Schultern wesentlich breiter und ihre Statur kräftiger und muskulöser, als sich Salem jemals antrainieren könnte.
    „Versteckt Euch hinter Euren Mauern so viel Ihr wollt! Irgendwann müsst Ihr ja doch rauskommen und Euch stellen!“
    „Ihr beutet andere aus, wie Ihr Eure Berge ausbeutet!“
    „Feigling, Feigling! Wenn Ihr Euch nicht stellt, kommen wir rein!“
    Plötzlich flog ein Stein durch die Luft. Salem war so von der faszinierenden Körperbehaarung abgelenkt, die sich an den Krägen und Ärmelsäumen der Zwergenkleidung abzeichnete, dass er nicht sehen konnte, von wo der Wurf kam. Doch es klirrte laut, als der Stein eines der Fenster zu den oberen Etagen zerschmetterte und die Scherben geräuschvoll auf den Boden aufkamen.
    Die Zwerge gaben ein begeistertes Johlen von sich und gleich darauf stimmten sie wieder in ihre Parolen und Gebärden ein. Salem hatte versucht herauszuhören, weshalb sie überhaupt das Haus des Statthalters belagerten, kam aber zu keinem sinnvollen Schluss, außer, dass sich die Zwerge offensichtlich unfair behandelt fühlten.
    „Ersticken sollt Ihr an Eurem Silber! Im Halse soll es Euch stecken bleiben!“
    „Kein Geld, keine Arbeit! Kein Geld, keine Arbeit! Die Zwerge gehen nach Hause!“
    „Meine Spitzhacke in Euren Schädel, wenn sie nur hart genug wäre!“

    Nun riss Salem seinen Blick doch endlich von den Zwergen los und beobachtete stattdessen die Stadtwachen, die sich unbemerkt in Gruppen um den Marktplatz versammelt hatten. Geschickt hatten sie die Zwerge umstellt und auf das Kommando ihres Hauptmanns würden sie sie jederzeit in einer geschlossenen Linie einkesseln können. Eben jener Hauptmann bewegte sich in diesem Moment selbstsicher auf die Zwerge zu. Demonstrativ legte er seine Hand auf dem Knauf seines Schwerts ab und positionierte sich vor dem Haus des Statthalters, wo ihn jeder Zwerg zwangsläufig sehen musste. Salem war beeindruckt davon, dass sich dieser Mann allein gegen eine Überzahl aufgebrachter und offensichtlich konfliktbereiter Zwerge stellte.
    Anstatt alle Anwesenden einfach zu verhaften, forderte der Hauptmann laut dazu auf, den Platz zu räumen: „Niemanden ist geholfen, wenn Ihr in unseren Zellen sitzt. Geht nachhause. Ihr habt Euren Unmut unüberhörbar mitgeteilt“, rief er den Zwergen zu. Natürlich kamen Wiederworte, doch auch die schafften es nicht, ihn aus der Ruhe zu bringen. Letztendlich hatten die Zwerge keine andere Wahl, als missmutig das Weite zu suchen.
    Mit einem Mal war es wieder ruhig auf dem Marktplatz. Die Zwerge waren weg und die Stadtwachen verteilten sich. Salem hingegen behielt den Hauptmann im Auge. Er schien zu wissen, was das Problem war.

    Der Schwarzmagier schob den Oberkörper hoch und sah von der alten Holzpritsche, auf die sie ihn abgelegt hatten, erschrocken zu Salem herüber. „Waren das die Dorfbewohner?“, überging er Salems Frage und sah ernsthaft besorgt aus. „Sind sie weg?“.
    „Vorerst sind sie das, scheint mir“, antwortete Salem. In Erwartung einer Antwort starrte er den anderen Magier an, doch dieser war plötzlich viel zu sehr von seiner eigenen Misere abgelenkt, um sich an ihre Abmachung zu erinnern.
    „Sie werden bestimmt wiederkommen.“ Kraftlos ließ er sich zurückfallen. „Ihr müsst mich vor Ihnen schützen!“
    Hinter sich hörte Salem Aljin und Jack abfällig lachen. „Ihr hetzt Reisenden Untote auf den Leib, um sie danach ausrauben zu können. Was immer Ihr den Dorfbewohnern angetan habt – Ich bin mir sicher, ihr Zorn auf Euch ist gerechtfertigt. Nun sagt was es brauch, um diese Entzündung loszuwerden.“ Salems Stimme klang gewohnt ruhig und gelassen. Trotzdem konnte der Schwarzmagier seinem Blick nicht standhalten und sah missmutig in eine andere Richtung. Es war Salem egal, was zwischen ihm und den Leuten im Dorf vorgefallen war. Genauso wenig interessierte es ihn, woher die Dorfbewohner so schnell wissen konnten, dass er sich in dieser Hütte aufhielt. Dem Schwarzmagier schien das bewusst zu werden, denn er seufzte und begann endlich Salems Frage zu beantworten: „Ich kenne eine Möglichkeit. Aber es ist gefährlich und ich habe noch nie gehört, dass es tatsächlich jemanden gelungen ist, alles dafür Notwendige zusammenzutragen.“ Er machte eine theatralische Pause. „Die Grundingredienz ist ein Teil des verfluchten Geschöpfs, das Euch die Verletzung zugefügt hat. Das heißt, Ihr müsst den Werwolf finden und an ein Stück seines Körpers kommen. Dafür reicht es nicht, irgendeinen Werwolf aufzuspüren. Es muss derselbe Werwolf sein, der Euch gebissen hat.“
    „Das stellt kein Problem dar“, meinte Salem unbeirrt und irritierte damit seinerseits den Schwarzmagier. „Reicht eine Strähne seines Haars?“
    Sein Gegenüber blinzelte verdutzt. „Zum-zum Beispiel… .“ Seine Antwort ließ Salem einen Blick mit Jack austauschen. Gut. Zutat Nummer eins konnte man damit wohl von der imaginären Liste streichen.
    Der Schwarzmagier fuhr fort: „Außerdem braucht Ihr etwas, was dieses Wesen schwächt. Knoblauch, beispielsweise, für einen Vampir oder Salz für eine Spukgestalt.“
    „Also Silber für einen Werwolf?“
    Der Schwarzmagier nickte. „Beides müsst Ihr zusammen über Nacht in einem geschlossenen Behältnis aufbewahren, damit die Substanzen miteinander reagieren. Danach braut Ihr einfach einen normalen Sud aus Heilkräutern, lasst beide Teile mitkochen und tragt es dann auf die übliche Weise auf die Wunde auf.“
    Salem nickte verstehend. „Ich danke Euch.“ Damit war sein Interesse an diesem Magier völlig verschwunden. Er wandte sich von der Pritsche ab, als würde darauf kein Mensch liegen, mit dem er bis vor einer Sekunde noch geredet hatte. Das Rezept klang für Salem mehr als machbar. Jack würde sicher nichts dagegen haben, eine Strähne seines schwarzen Haars abzuschneiden und das Gefäß und Heilkräuter würde Salem vielleicht gegen die ein oder andere Münze von Esme erwerben können. Es fehlte also nur etwas Silber. Da nicht festgelegt war, welche Form das Silber haben musste, ging Salem davon aus, dass dieses Detail keine Bedeutung für den Erfolg der Behandlung haben würde. Eine Münze, ein Ring, der Teil eines Artefakts… Irgendwas ließ sich schon auftreiben.
    „Die Frage ist also, woher wir Silber bekommen“, meinte Salem an seine Gefährten gerichtet.