Gemächlich schritt Salem zwischen den überquellenden Regalen umher und ließ den Blick über all das verlorene Wissen gleiten. Dekaden, nein, Jahrhunderte waren nötig, um ein solches Sammelsurium an Schriften und Büchern zusammenzustellen; sie zu katalogisieren verlangte wahrlich Hingabe. Der Feuermagier griff wahllos nach einer Schriftrolle, öffnete sie, stellte fest ihren Inhalt nicht entziffern zu können und legte sie daher ordentlich zusammengerollt zurück an ihren Platz.
Um seinen schwarzhaarigen Kopf schwirrte nach wie vor sein Feuerball – die einzige Lichtquelle hier unten. Je weiter Salem sich von seinen Gefährten entfernte, desto weniger Licht erreichte sie. Er berührte also den Feuerball mit der Fingerspitze, worauf dieser in fünf kleine, jedoch gleichgroße Kugeln zersprang. Jede einzelne davon suchte sich sogleich einen von Salems Begleitern. Selbst Codracs Hündin wurde von einer der lodernden Kugeln auserwählt und schaute das leuchtende Etwas oberhalb ihrer Schnauze misstrauisch an. Salem für seinen Teil begab sich tiefer zwischen die Schluchten aus aufgetürmten Schätzen und Papieren, doch nichts davon weckte sein Interesse.
Dann erreichte er ein Podest. Asche bedeckte die steinige Oberfläche und eine Vogelstange ragte empor. Unter den grauen Flocken schien außerdem ein Objekt versteckt zu sein. Salem strich den Schmutz bei Seite und legte tatsächlich etwas frei. Es war ein Ei.
Die Schale reflektierte das Leuchten von Salems Feuerkugel und schimmerte zugleich rot wie orange. Schwarze Tupfen dekorierten beide Enden und als Salem es in die Hand nahm, fühlte es sich kalt an und schwer. Wüsste Salem kein Ei zu erkennen, wenn er es vor Augen hatte, hätte er es ob des Gewichts und der massiven Schale für einen Stein gehalten. Es blieb keine andere Möglichkeit – Salem hielt wohl das Ei eines Phönixes in der Hand, welches die Hariq im Tausch gegen ihre Magie gefordert hatten. Nun, natürlich konnte Salem keineswegs auf ein Phönixei deuten und es als solches identifizieren. Welche Option blieb allerdings hier unten?
„Salem?“, hörte der Magier Jacks Stimme und antwortete ihm, damit der Werwolf am Klang seiner Stimme hörte, in welche Richtung er ihn suchen sollte.
„Hier.“
Ein Lichtschimmer hinter einer gewaltigen Amphore kündigte sein Erscheinen an und dann trat Jack um die Ecke. Sein Blick fiel direkt auf das Ei in Salems Hand. „Was hast du da?“
„Ich nehme an, ich habe das gewünschte Ei eines Phönix gefunden.“
Ungläubig runzelte Jack die Stirn und deutete auf das wahrlich kleine Ei. „Du meinst das da?“ Als Salem bestätigend nickte, meinte er: „Aber das ist so winz-... Aua!“ Während er sprach, hatte Jack nach dem Ei gegriffen. Doch kaum berührten seine Fingerkuppen die Schale, zog der Werwolf augenblicklich die Hand zurück und schüttelte sie vor Schmerz aus. Nanu? „Du hättest mir sagen können, dass das Ding knallheiß ist!“
Heiß? Nun war Salem es, der die Stirn in Falten legte. Er spürte keinerlei Hitze von dem Ei ausgehen.
Vermutlich wegen Jacks Aufschrei tauchte Codrac mit Joska plötzlich auf. „Alles okay?“ Auch seine Aufmerksamkeit wanderte zu dem Ei. „Ist das das Phönixei, das wir mitbringen sollen?“
„Ich denke es“, antwortete Salem.
Jack warnte Codrac „Pass auf, das ist irre heiß“, was Crodrac dazu bewegte, selbst die Finger auf das Ei in Salems Hand zu legen und genau wie Jack, schien ihm der Hautkontakt Schmerzen zu bereiten. „Au. Das ist ja wirklich heiß! Wieso ist das Ei heiß? Und wieso kannst du das so ohne weiteres festhalten?“
„Für mich fühlt es sich kalt an“, offenbarte Salem den beiden Männern. Das war wahrlich rätselhaft. Wieso nahmen sie bloß unterschiedliche Temperaturen wahr? Zur Probe hielt Salem Joska das Ei entgegen. Die Hündin schnupperte daran, entfernte ihre empfindliche Nase allerdings auch davon und blinzelte Salem im Anschluss unschlüssig an.
Nun gut. Dann würde Salem das Ei eben transportieren.