Beiträge von Myrtana222 im Thema „Weird Tales (Thread zum Mitmachen)“

    „Es tut mir leid.“ Kalt hallte das Schluchzen von dem Fels der Wände wider, mischte sich unter das beständige Tropfen, das Fließen und Knacken. Nicht ein Sonnenstrahl hatte hier je den staubigen Boden geküsst, auf dem der König der Tiefen kniete. Der König, der nie König sein wollte in diesem augenlosen Reich.

    „Bitte vergebt mir!“ Ein winselnder Ton gewann die Oberhand in dem Geschluchze des Bleichen, zitternd zog er sich mit seinen dreckigen Fingern voran, die langen Nägel über den blanken Stein kratzend. Ein jämmerliches Bild mochte der König der Tiefen abgeben mit seinem zerschlissenen Umhang, den strähnigen Haaren voller Kalkstaub, den dürren, ledrigen Armen. Aber würden nicht die Wurzeln des Weltenbaumes in diese Hallen herabreichen, wären sie nicht die Nahrung für die leuchtenden Pilze der Tiefen, so könnte man sein Trauerspiel nicht mitansehen. Es bliebe für immer verborgen in der Dunkelheit, in der der Bleiche die Ewigkeit verbracht hatte, in der leeren Einsamkeit der unendlichen Gänge. Aber schließlich gab es hier unten auch keine Augen, keine Ohren, die Zeuge dieser Schande werden konnten. Nicht wahr?

    „Ich konnte einfach nicht mehr!“ Erfolglos versuchte der König sich hochzuziehen, zitternd krallten sich seine Hände in eine überhängende Wurzel, doch vergebens. „Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Die Einsamkeit. Die Dunkelheit.“ Jetzt hatte der Bleiche aufgegeben, keuchend lehnte er sich mit dem Rücken an das Geflecht aus feinen Wurzeln hinter ihm, rang um Atem. „Ich hätte nur über die Toten wachen sollen. Das war meine Aufgabe, der Sinn und Zweck, den ihr mir gabt. Aber ich habe es nicht mehr ausgehalten.“ Hustend erbrach der König der Tiefen Blut, grotesk grell in dieser farbenlosen Welt. Langsam, aber beständig begann es auch aus seinem Umhang zu tropfen, aus den Ärmeln und den Löchern, durch die sie Wunden geschlagen hatten.

    „Ich habe mir Freunde aus ihnen gemacht. Ich habe sie geformt, damit sie mir Gesellschaft leisten. Ich habe sie mit all dem gefüllt, was sie brauchen. Aber sogar sie wollen nicht hier unten bleiben!“

    Kratzen, Schaben vertrieb nun die einstige Monotonie der Stille, als sie in den Thronsaal eindrangen. Spinnen gleich schritten sie auf unzähligen Extremitäten durch das Königreich der Toten, zerflossene Körper ohne wahre Gestalt, amorphes Fleisch. Doch sie beachteten den Bleichen nicht, wie er blutend und hilflos vor ihnen lag. Wie ein einzelnes Schwarmwesen begannen sie, den Weltenbaum zu erklimmen, sich an seinen zahllosen Wurzeln emporzuziehen. Rauf in diese Welt der Wärme, diese Welt des Lebens, diese Welt des Blutes.

    Und langsam begannen auch die Wurzeln an dem König der Tiefe zu zerren, doch sie taten es nicht mit bösem Willen. Der Bleiche gab sich ihnen hin, erlaubte, dass sie eins mit ihm wurden, sich seiner annahmen.

    „Mir bleibt nun nur, euch zu warnen, und ich weiß, meine Worte werden euch erreichen. Bis dahin werde ich ruhen.

    Und meine neugeborenen Augen dürfen noch einmal das Tageslicht sehen.“

    Langsam erstarrten die Züge des Bleichen, als seine Haut zu Holz und sein Fleisch Teil des Weltenbaumes wurde. Über ihm zogen sich seine Geschöpfe empor, gruben, stachen, fraßen sich voran.

    Bis nun endlich wieder Stille über allem lag, in vergessenen Hallen, den Landen der Toten.

    So, habe nun wieder Zeit und spontan eine Idee für eine Weird Tale gehabt:

    Das Kratzen


    „Mama!“, rief Tiff in jener Stimmlage, die ihrer Mutter nur zu vertraut war. „Jimmy kratzt schon wieder an den Wänden rum!“
    Entnervt ließ sie die Einkaufstauschen zu Boden gleiten, ging in das Kinderzimmer nebenan.
    „Jimmy, ich hab dir tausend Mal gesagt, dass du das sein lassen sollst! Du machst lauter Löcher in die Wände! Was soll ich denn dem Vermieter erzählen?“
    Als einzige Reaktion erklang ein trotziges, entnervtes Aufstöhnen. Aber sie ließ sich nicht mehr so einfach provozieren. Sie kannte ihn und wusste, dass er nur nach Aufmerksamkeit suchte und alles nur schlimmer werden würde, wenn er durch sein Verhalten mit Aufmerksamkeit belohnt wurde.
    Nicht so ihre Tiff. Jetzt schon konnte man ihr ansehen, was für eine hübsche Frau sie einmal werden würde. Sie war ihr ganzer Stolz. Wäre Tiff nicht, würde Jimmy unbemerkt nur noch mehr anstellen, noch mehr kaputt machen; Tiff war ihr Auge und ihr Ohr, und auch wenn sich die Geschwister nicht immer verstanden, spielten sie doch oft ihre bisweilen eigentümlichen Spiele.
    Der Abend war angebrochen, und sie legte sich in ihr Bett, müde von der Arbeit, müde von ihrem ganzen Tag und besonders von den Kindern. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie ihr alle Energie raubten und sie schlussendlich als leere, ausgepresste Hülle zurücklassen würden. Aber sie liebte sie, auch Jimmy, mit all seinen Fehlern und seiner Aufsässigkeit. Deshalb hatte sie ihn auch nicht weggegeben, als er geboren worden war, auch wenn ihre Situation dies kaum zugelassen hatte. Aber sie hatte gekämpft, und sie hatte gesiegt.
    Den Blick ihres Jungen spürte sie, bevor sie ihn sah. Manchmal tat er das, stand einfach nur dort und beobachtete sie. Als er ein kleines Kind war, hatte sie es ihm durchgehen lassen, hatte ihn zuschauen lassen, wie sie schlief. Schließlich suchte ein Kind die Nähe zu seiner Mutter, auch ein solches wie Jimmy, aber jetzt war er einfach zu alt dafür.
    „Jimmy, schau mich nicht an!“ Keine Reaktion. Sie wusste, er wollte dort stehenbleiben, wollte bei ihr sein. Aber sie musste streng mit ihm sein, sonst würde er sich überhaupt nicht mehr kontrollieren lassen. Seufzend kämpfte sie die mütterliche Nachsichtigkeit in sich runter, setzte ihre strengste Stimme auf.
    „Verdammt noch mal Jimmy, geh in dein Zimmer und schlaf endlich ein! Hör auf, mich so anzusehen!“
    Entschuldigendes Murmeln, doch immer noch sah sie die Augen ihres Jungen auf sie gerichtet. Sie fragte sich, wie oft sie es nicht mitbekam, wie oft er nachts dort stand und sie ansah, während sie schlief.
    „Jimmy!“ Ihr Sohn musste erkannt haben, dass ihr Geduldsfaden gerissen war; schleppend entfernten sich seine Schritte, und die Augen, die sie kurz zuvor noch angestarrt hatten, waren verschwunden.
    Zu einem guten Morgen gehörte für sie Kaffee; eines der wenigen Dinge, die sich mit den Kindern nicht verändert hatten. Früher war sie ein Kochmuffel gewesen, doch für die beiden hatte sie gelernt, mit wenig Aufwand gute Mahlzeiten auf den Tisch zu zaubern. Es war Samstag, und wie so häufig hatte sie auch mit dem Frühstück keine Mühen gescheut, doch es war naiv zu glauben, dass ihr dafür von ihren Kindern etwas Ruhe vergönnt blieb.
    „Mama, Jimmy isst sein Frühstück nicht!“
    Seufzend stand sie auf, ihre Kaffeetasse zurücklassend. Hoffentlich war er noch warm, wenn sie sich wieder an den Tisch setzte. Einen Raum weiter saß Tiff auf dem Boden, ihren Teller auf dem Schoß.
    „Jimmy hat doch immer Hunger. Hast du es ihm kleingeschnitten? Du weißt doch, dass er nicht gut kauen kann!“
    Entrüstet hob Tiff den Teller, den sie schräg hinter sich liegen lassen hatte. „Ich hab es ihm kleingeschnitten! Er will einfach nicht!“
    Zorn kochte in ihr auf, als sie auf den Teller mit kleingerupften Pfannkuchen sah. Normalerweise war Jimmy, wenn es ums Essen ging, einfacher als Tiff. Er aß prinzipiell alles und wenn möglich viel. Vielleicht wollte er sie nun dafür bestrafen, dass sie ihn am Abend weggeschickt hatte.
    „Was glaubst du eigentlich, wer du bist, Jimmy? Warum machst du mir immer so viel Ärger? Macht dir das Spaß oder wie?“ Entrüstet hob sie den Teller auf. „Aber wenn du nicht möchtest, dann hast du eben gegessen!“
    Ein entschuldigendes Murren erklang, aber sie war bereits zu zornig. Ohne zu zögern ging sie zurück in die Küche, und sie hörte die Schritte ihres Jungen, als sie in die Küche trat, tabsig und unbeholfen. Umso energischer trat sie auf den Trittschalter ihres Mülleimers und ließ den Inhalt des Telles hineinfallen.
    „Du kannst dir bis zum nächsten Mal überlegen, ob du noch weiter so störrig bist.“ Doch irgendetwas war anders. Jimmy war nicht mehr hier, sie konnte seinen Blick nicht auf sich spüren.
    Dann ein Schrei.
    „Tiff!“ Hastig stürzte sie zurück in das Kinderzimmer, sah Tiff verweint auf dem Boden sitzen, ihren Arm umklammert.
    „Jimmy hat meinen Arm gepackt und mich an die Wand gezogen!“ Klein und angsterfüllt sahen sie die Augen ihres Mädchens an. „Er hat mir weh getan!“
    „Jimmy, was ist in dich gefahren?“ Wütend schlug sie mit der Faust gegen die Wand – und dabei rutschte ihr Ärmel zurück, legte nie Narbe bloß, die Narbe, von der niemand erkannte, dass sie eine Gebissspur zeigte, die einzelnen Zahnspuren schief und verformt und weit auseinanderliegend.
    Und dann sah sie seine Augen, die sie aus den Räumen hinter der Wand anblickten, durch die Löcher, die er in jeden Raum, in jeden kleinen Winkel gestochen hatte, um sie zu beobachten. Als sie in diese Augen blickte, wusste sie, dass sie verloren hatte.
    Donnernd schlugen die Fäuste des Jungen gegen die Wand, und mit jedem Schlag schrie Jimmy erstickt, aber laut auf, in einem so unmenschlichen und unverständlichen Heulen, wie nur er es zu Wege brachte. Sie wusste, diesmal würde sie ihn nicht beruhigen können. Eilig umgriff sie das Handgelenk ihrer Tochter – und rannte.
    Stapfend folgte er ihnen, er und sein Brüllen, und mit Tiff in den Armen stolperte, rappelte sich auf. Tränen der Angst flossen dem Mädchen über die Wangen, aber sie hatte keine Zeit, ihre Tochter zu beruhigen.
    Splitter flogen durch den Raum, als plötzlich eine Pranke durch die Wand schoss und sie umriss. Mächtige Hiebe schlugen durch Putz und Mörtel, bis die entstellte Gestalt des Jungen aus den Überresten der Mauer trat. Unbarmherzig umgriff seine wüste Pranke ihr Handgelenk, und sie wusste, dass sie nichts dagegen tun konnte.
    Jimmy war aus seinem Gefängnis ausgebrochen, um bei seiner Mama zu sein, und Jimmy war nun bei ihr.

    @Xarrot Bomben Geschichte, irgendwie experimentell und auf jeden Fall ungewöhnlich. Da hast du das Weird in Weird Tales definitiv großgeschrieben.

    @Skadi: Deine Geschichte braucht sich absolut vor keiner anderen verstecken, die ist wirklich verdammt gut, und nicht nur dafür, dass du eigentlich kaum Geschichten schreibst. Der Selbsthass, den der Künstler so auf sein Bildnis projiziert, hat sogar etwas literarisches :hmm:

    @Sensenbach: Das ist wirklich eine Bilderbuch-Spooky Tale, sehr immersiv und Gänsehauterzeugend.

    @Tariq: Ich hab echt bis zum Schluss gedacht: "Und wann kommt dann jetzt was?" :rofl: bis du es dann mit dem letzten Satz komplett gedreht hast. Coole Idee, die Erwartungshaltung bis zum Schluss aufrechtzuerhalten und dann im letzten Satz den Twist zu bringen.


    Ich hätte gar nicht damit gerechnet, dass sich gleich zwei dem Weird Tale Thread anschließen. Habe auch schon eine neue Idee, muss aber warten, bis ich die Zeit habe, sie niederzuschreiben.

    Meine lieben Forenfreunde, es dauert nicht mehr lange, dann ist spooky month (Oktober) mit dem abschließenden Totenfest (Halloween).
    Und zu dem Anlass möchte ich diesen Kurzgeschichtenthread eröffnen. Im Idealfall soll das kein Thread für mich alleine werden, andere Beiträge sind erlaubt und erwünscht. Wenn nicht, ziehe ich das alleine durch :P
    Dieser Thread soll dazu dienen, weirde, spooky, gruselige Kurzgeschichten zu veröffentlichen - oder eben das Zeug, das ihr schreibt, wenn ihr eine Schreibblockade habt. Im Idealfall soll das Lesen sogar ein wenig unangenehm sein, auf jeden Fall etwas anderes, etwas, das euch aus dem gewöhnlichen Schreibtrott rausbringt und euch für neue Dinge öffnet.

    Ich starte einfach mal mit meiner ersten Weird Tale:

    Gehst du mit mir?

    „Gehst du mit mir?“, fragte sie, ihre Stimme so hell und voll der Unschuld eines kleinen Mädchens. Und doch starrten ihre Augenhöhlen mich an, dunkel und leer aus der Ruine ihres Gesichtes. Ledrig spannten sich die Überreste ihrer Haut über die hohen Wangenknochen, ihre Lippen zu vertrocknet und geschrumpft, um ihr lückenhaftes Gebiss zu verbergen. Wie ein löchriges Leichentuch umhüllte sie der dreckverschmierte Rest ihres Kleides, flatternd im kalten Abendwind.
    „Ja.“ Noch immer verlangte dieses Wort mir so viel ab, wenn sie auch nicht die erste war, die ich so sah, nicht die erste war, die mich um Ähnliches bat. „Ich gehe mit dir zurück.“
    Gespenstisch langsam strecke sie ihre Hand aus; ihre Muskeln wussten nicht mehr, wie man sich bewegte. Jahre im Waldboden hatten es sie vergessen lassen, Jahre der Fäulnis und des Zerfalls, und auch ihr Schritt, stolpernd und unsicher, kündeten von der langen Zeit im kalten Moos.
    „Sie rennen immer weg, weißt du?“ Die Hand des Mädchens in der meinen griff fester zu, als fürchte sie, dass ich doch noch loslassen würde. Sonderbarerweise fühlte sie sich nicht anders an als die Hand eines Lebenden, und doch musste sie so viel weniger sein, zerfressen von der Zeit. „Alle. Keiner hat mir den Weg nach Hause gezeigt.“
    „Ich bin auch ein wenig anders, weißt du?“ Konnte sie spüren, wie heftig mein Herz schlug? Roch sie meine Angst? Mancher Geist fühlte sich beleidigt, wenn er von der Furcht eines Menschen Kenntnis nahm, andere, die ihr Dasein nicht verstanden hatten, gerieten gar in Panik. Die letztere Sorte, und das wusste ich aus eigener Erfahrung, war die gefährlichste.
    „Ja, das bist du.“ Langsam, stockend griff die andere Hand des Mädchens nach meinem Unterarm. Es fühlte sich nach einer vertrauten Geste an; wen hatte sie einst so umgriffen? Ihre Mutter, ihren Vater, einen Bruder oder einen Freund?
    „Wohin gehen wir?“ Ich hatte bald bemerkt, dass sie begonnen hatte, mich zu führen, weg vom Weg und in das dichte Unterholz des Waldes. Es war nicht immer schlau, einem Geist dorthin zu folgen, wohin er einen führen wollte. War man zu unvorsichtig, velor man zu leicht sein Leben.
    „Nach Hause. Ich konnte den Weg nicht finden, aber jetzt, da du bei mir bist, sehe ich ihn vor mir.“ Zitternd deutete das Mädchen in die Dunkelheit, hinaus in die Ferne, wo ihre leeren Höhlen mehr sahen als meine Augen. „Das Dorf.“
    Mit einem raschen Blick über die Schulter blickte ich zum Mond; sein Stand verriet mir, dass wir wirklich nur in eine Richtung gelaufen waren, und dies noch in die Richtung, in die mein Weg mich geführt hatte. Bisher schien sie mich nicht in die Irre führen zu wollen.
    Gut eine halbe Stunde gingen wir so, bis das Mädchen ihre Finger aus meiner Hand zog. „Hier ist es. Hier habe ich mich schlafen gelegt.“
    Nur unzureichend erhellten Mond und Sterne den Waldboden, und doch erkannte ich den skelettierten Körper des Mädchens, blanker Knochen zwischen den Steinen, in alle Richtungen verstreut. Grau und verblichen Glotzte ihr Schädel mich vom Boden aus an, und gleichzeitig traf mich ihr Blick aus leeren Augenhöhlen von der Seite.
    Egal, welche Gestalt sie mir zeigte, es musste ihr Körper von vor langer Zeit sein.
    „Ich bin in den Wald gelaufen. Ich habe gedacht, ich würde mich nicht verirren.“ Langsam kniete die Tote neben sich selbst nieder. „Es hat so lange gedauert. Mir war so kalt, und ich hatte solchen Hunger. Ich habe das Moos gegessen.“ So als erinnerten sich auch ihre Finger daran, verkrampften sich ihre Hände in das dichte Moos um den Leichnam, zogen daran, bis sich ganze Brocken vom Boden lösten. „Hier habe ich mich schlafen gelegt“, wiederholte sie, als hätte ich es in der kurzen Zeit vergessen.
    „Aber jetzt bringe ich dich nach Hause.“ Das musste ihr Wunsch gewesen sein, der Wunsch, der sie noch immer hier zurückbehielt, sie umklammert hatte wie eine Bärenfalle und sie nicht gehen lassen würde.
    „Wirklich? Es ist so lange her. Ich werde Ärger bekommen.“ Zögerlich trat das Mädchen einen Schritt zurück, der Stoff ihres Kleides in einem Wind aufbauschend, der vor vielen, vielen Jahren geweht hatte.
    „Das wirst du nicht, glaube mir. Es werden alle froh sein, dass du wieder aufgetaucht bist.“ Von mir aus reichte ich ihr die Hand, die sie einige Sekunden anblickte, bevor sie wieder die ihre hineinlegte.
    „Es ist so lange her. So, so lange.“ Ein kurzes Schluchzen entriss sich der schon lange zerfallenen Kehle, doch sofort fing sie sich wieder. „Sie werden sicher glücklich sein.“
    Stunde um Stunde gingen wir, bis wir den Rand des Waldes erreichten; sicher musste sie sich schlimm verlaufen haben, um all diesen Weg in die falsche Richtung gegangen zu sein. Langsam lichteten sich die Bäume, und wir hatten den Lauf eines Flusses erreicht.
    „Wir sind da. Wir sind Zuhause!“ Erleichterung zeigte sich auf dem, was von ihren Zügen übrig geblieben war. „Habt Dank, habt tausend Dank!“
    „Versprichst du, dass du nicht in den Wald zurückkehren wirst?“ Nicht oft ließ sich das Streben eines Geistes einfach erreichen, und so mancher kehrte auch dann noch zu seinem Todesort zurück, wenn sein Wunsch in Erfüllung gegangen war. Und ja, nicht jeder Geist hielt seine Versprechen, und dennoch wollte ich ihrem Wort vertrauen.
    „Nein, niemals. Ich werde niemals wieder Fuß in ihn setzen, das verspreche ich.“
    „Dann geh, und habe noch viel Glück auf deinem Weg.“
    Zart entzog sie sich mir, ging ein paar Schritte, und mit jedem einzelnen schien sich ihr Körper, ihre Kleidung Stück um Stück zu erneuern. Eine Brücke spannte sich über den Fluss, steinern und uralt, und hier drehte sie sich noch einmal zu mir um. Mit Tränen des Glücks in ihrem jungen, schönen Gesicht winkte sie mir, und mit Freude ging sie weiter, verschwand hinter einem Pfeiler – und trat dahinter nicht wieder hervor.
    Lange Momente blieb ich dort stehen, ließ mir durch den Kopf gehen, was so eben geschehen war. Doch dann folgte ich ihr, trat auf die Brücke und überschritt sie, den Blick kurz auf dem Pfeiler verharrend, wo das Mädchen verschwunden war.
    Das Morgengrauen war noch ein paar Stunden entfernt, doch am Ende des Weges vor mir erkannte ich ein großes Dorf und die Lichter, die in ebensolchen Dörfern unentwegt brannten. Vor einem niedrigen Feuer saß ein Schäfer, der zu solch später Stunde noch seinem Broterwerb nachging, und dieser schreckte zusammen, als er meiner gewahr wurde.
    „Entschuldigt, entschuldigt! Ihr habt mir nur einen Schrecken eingejagt.“ Beschwichtigend hob der Schäfer seinen Arm. „Wo kommt Ihr zu so später Stunde noch her?“
    „Ich bin Wanderer, und nahm die Straße durch den Wald“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
    „Durch … durch den Wald? Seid Ihr denn von Sinnen? Wisst ihr denn nicht um …“
    „Den Geist? Ja, um den weiß ich, doch er wird euch nicht weiter behelligen. Da habt Ihr mein Wort.“
    Ehrfurchtsvoll blickte mich der Schäfer an. „Ihr habt den Geist gebannt? Aber wie? Seit den Tagen meines Großvaters sucht er uns heim, und viele hundert Fremde hat er mit sich in den Tod gerissen.“
    „Hat denn nie einer versucht, mit ihr zu gehen und ihr den Weg nach Hause zu zeigen?“ Zweifelnd sah ich mein Gegenüber an, doch der Schäfer schüttelte nur den Kopf.
    „Die paar, die ihr entronnen sind, haben gesagt, sie hätten kein Wort an sie gerichtet und seien gerannt, was ihre Beine hergaben. Wir dachten, das sei die einzige Chance, ihr zu begegnen und die Nacht zu überleben.“
    „Es wäre so einfach gewesen. So einfach.“ Seufzend wärmte ich mich an dem Feuer des fremden Mannes. „Wo finde ich denn eine Bleibe für den Rest der Nacht?“
    „Bei mir. Ihr könnt in meiner Hütte schlafen, ich teile mein nächstes Mahl mit Euch.“
    „Ich will Euch keine Umstände bereiten …“, entgegnete ich, doch der Mann winkte ab.
    „Ihr seid ein Glücksbringer. Es ist mir eine Ehre, Euch zu beherbergen. Im Dorf werdet Ihr vor Anbruch des Tages auch niemanden finden, der Euch aufnimmt – wir sind nächtlichen Besuch in dieser Form nicht gewohnt.“
    „Dann lasst bald verkünden, dass die Straßen wieder sicher sind“, antwortete ich. „Und dass die Verlorene wieder heimgekehrt ist.“