Meine lieben Forenfreunde, es dauert nicht mehr lange, dann ist spooky month (Oktober) mit dem abschließenden Totenfest (Halloween).
Und zu dem Anlass möchte ich diesen Kurzgeschichtenthread eröffnen. Im Idealfall soll das kein Thread für mich alleine werden, andere Beiträge sind erlaubt und erwünscht. Wenn nicht, ziehe ich das alleine durch
Dieser Thread soll dazu dienen, weirde, spooky, gruselige Kurzgeschichten zu veröffentlichen - oder eben das Zeug, das ihr schreibt, wenn ihr eine Schreibblockade habt. Im Idealfall soll das Lesen sogar ein wenig unangenehm sein, auf jeden Fall etwas anderes, etwas, das euch aus dem gewöhnlichen Schreibtrott rausbringt und euch für neue Dinge öffnet.
Ich starte einfach mal mit meiner ersten Weird Tale:
Gehst du mit mir?
„Gehst du mit mir?“, fragte sie, ihre Stimme so hell und voll der Unschuld eines kleinen Mädchens. Und doch starrten ihre Augenhöhlen mich an, dunkel und leer aus der Ruine ihres Gesichtes. Ledrig spannten sich die Überreste ihrer Haut über die hohen Wangenknochen, ihre Lippen zu vertrocknet und geschrumpft, um ihr lückenhaftes Gebiss zu verbergen. Wie ein löchriges Leichentuch umhüllte sie der dreckverschmierte Rest ihres Kleides, flatternd im kalten Abendwind.
„Ja.“ Noch immer verlangte dieses Wort mir so viel ab, wenn sie auch nicht die erste war, die ich so sah, nicht die erste war, die mich um Ähnliches bat. „Ich gehe mit dir zurück.“
Gespenstisch langsam strecke sie ihre Hand aus; ihre Muskeln wussten nicht mehr, wie man sich bewegte. Jahre im Waldboden hatten es sie vergessen lassen, Jahre der Fäulnis und des Zerfalls, und auch ihr Schritt, stolpernd und unsicher, kündeten von der langen Zeit im kalten Moos.
„Sie rennen immer weg, weißt du?“ Die Hand des Mädchens in der meinen griff fester zu, als fürchte sie, dass ich doch noch loslassen würde. Sonderbarerweise fühlte sie sich nicht anders an als die Hand eines Lebenden, und doch musste sie so viel weniger sein, zerfressen von der Zeit. „Alle. Keiner hat mir den Weg nach Hause gezeigt.“
„Ich bin auch ein wenig anders, weißt du?“ Konnte sie spüren, wie heftig mein Herz schlug? Roch sie meine Angst? Mancher Geist fühlte sich beleidigt, wenn er von der Furcht eines Menschen Kenntnis nahm, andere, die ihr Dasein nicht verstanden hatten, gerieten gar in Panik. Die letztere Sorte, und das wusste ich aus eigener Erfahrung, war die gefährlichste.
„Ja, das bist du.“ Langsam, stockend griff die andere Hand des Mädchens nach meinem Unterarm. Es fühlte sich nach einer vertrauten Geste an; wen hatte sie einst so umgriffen? Ihre Mutter, ihren Vater, einen Bruder oder einen Freund?
„Wohin gehen wir?“ Ich hatte bald bemerkt, dass sie begonnen hatte, mich zu führen, weg vom Weg und in das dichte Unterholz des Waldes. Es war nicht immer schlau, einem Geist dorthin zu folgen, wohin er einen führen wollte. War man zu unvorsichtig, velor man zu leicht sein Leben.
„Nach Hause. Ich konnte den Weg nicht finden, aber jetzt, da du bei mir bist, sehe ich ihn vor mir.“ Zitternd deutete das Mädchen in die Dunkelheit, hinaus in die Ferne, wo ihre leeren Höhlen mehr sahen als meine Augen. „Das Dorf.“
Mit einem raschen Blick über die Schulter blickte ich zum Mond; sein Stand verriet mir, dass wir wirklich nur in eine Richtung gelaufen waren, und dies noch in die Richtung, in die mein Weg mich geführt hatte. Bisher schien sie mich nicht in die Irre führen zu wollen.
Gut eine halbe Stunde gingen wir so, bis das Mädchen ihre Finger aus meiner Hand zog. „Hier ist es. Hier habe ich mich schlafen gelegt.“
Nur unzureichend erhellten Mond und Sterne den Waldboden, und doch erkannte ich den skelettierten Körper des Mädchens, blanker Knochen zwischen den Steinen, in alle Richtungen verstreut. Grau und verblichen Glotzte ihr Schädel mich vom Boden aus an, und gleichzeitig traf mich ihr Blick aus leeren Augenhöhlen von der Seite.
Egal, welche Gestalt sie mir zeigte, es musste ihr Körper von vor langer Zeit sein.
„Ich bin in den Wald gelaufen. Ich habe gedacht, ich würde mich nicht verirren.“ Langsam kniete die Tote neben sich selbst nieder. „Es hat so lange gedauert. Mir war so kalt, und ich hatte solchen Hunger. Ich habe das Moos gegessen.“ So als erinnerten sich auch ihre Finger daran, verkrampften sich ihre Hände in das dichte Moos um den Leichnam, zogen daran, bis sich ganze Brocken vom Boden lösten. „Hier habe ich mich schlafen gelegt“, wiederholte sie, als hätte ich es in der kurzen Zeit vergessen.
„Aber jetzt bringe ich dich nach Hause.“ Das musste ihr Wunsch gewesen sein, der Wunsch, der sie noch immer hier zurückbehielt, sie umklammert hatte wie eine Bärenfalle und sie nicht gehen lassen würde.
„Wirklich? Es ist so lange her. Ich werde Ärger bekommen.“ Zögerlich trat das Mädchen einen Schritt zurück, der Stoff ihres Kleides in einem Wind aufbauschend, der vor vielen, vielen Jahren geweht hatte.
„Das wirst du nicht, glaube mir. Es werden alle froh sein, dass du wieder aufgetaucht bist.“ Von mir aus reichte ich ihr die Hand, die sie einige Sekunden anblickte, bevor sie wieder die ihre hineinlegte.
„Es ist so lange her. So, so lange.“ Ein kurzes Schluchzen entriss sich der schon lange zerfallenen Kehle, doch sofort fing sie sich wieder. „Sie werden sicher glücklich sein.“
Stunde um Stunde gingen wir, bis wir den Rand des Waldes erreichten; sicher musste sie sich schlimm verlaufen haben, um all diesen Weg in die falsche Richtung gegangen zu sein. Langsam lichteten sich die Bäume, und wir hatten den Lauf eines Flusses erreicht.
„Wir sind da. Wir sind Zuhause!“ Erleichterung zeigte sich auf dem, was von ihren Zügen übrig geblieben war. „Habt Dank, habt tausend Dank!“
„Versprichst du, dass du nicht in den Wald zurückkehren wirst?“ Nicht oft ließ sich das Streben eines Geistes einfach erreichen, und so mancher kehrte auch dann noch zu seinem Todesort zurück, wenn sein Wunsch in Erfüllung gegangen war. Und ja, nicht jeder Geist hielt seine Versprechen, und dennoch wollte ich ihrem Wort vertrauen.
„Nein, niemals. Ich werde niemals wieder Fuß in ihn setzen, das verspreche ich.“
„Dann geh, und habe noch viel Glück auf deinem Weg.“
Zart entzog sie sich mir, ging ein paar Schritte, und mit jedem einzelnen schien sich ihr Körper, ihre Kleidung Stück um Stück zu erneuern. Eine Brücke spannte sich über den Fluss, steinern und uralt, und hier drehte sie sich noch einmal zu mir um. Mit Tränen des Glücks in ihrem jungen, schönen Gesicht winkte sie mir, und mit Freude ging sie weiter, verschwand hinter einem Pfeiler – und trat dahinter nicht wieder hervor.
Lange Momente blieb ich dort stehen, ließ mir durch den Kopf gehen, was so eben geschehen war. Doch dann folgte ich ihr, trat auf die Brücke und überschritt sie, den Blick kurz auf dem Pfeiler verharrend, wo das Mädchen verschwunden war.
Das Morgengrauen war noch ein paar Stunden entfernt, doch am Ende des Weges vor mir erkannte ich ein großes Dorf und die Lichter, die in ebensolchen Dörfern unentwegt brannten. Vor einem niedrigen Feuer saß ein Schäfer, der zu solch später Stunde noch seinem Broterwerb nachging, und dieser schreckte zusammen, als er meiner gewahr wurde.
„Entschuldigt, entschuldigt! Ihr habt mir nur einen Schrecken eingejagt.“ Beschwichtigend hob der Schäfer seinen Arm. „Wo kommt Ihr zu so später Stunde noch her?“
„Ich bin Wanderer, und nahm die Straße durch den Wald“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Durch … durch den Wald? Seid Ihr denn von Sinnen? Wisst ihr denn nicht um …“
„Den Geist? Ja, um den weiß ich, doch er wird euch nicht weiter behelligen. Da habt Ihr mein Wort.“
Ehrfurchtsvoll blickte mich der Schäfer an. „Ihr habt den Geist gebannt? Aber wie? Seit den Tagen meines Großvaters sucht er uns heim, und viele hundert Fremde hat er mit sich in den Tod gerissen.“
„Hat denn nie einer versucht, mit ihr zu gehen und ihr den Weg nach Hause zu zeigen?“ Zweifelnd sah ich mein Gegenüber an, doch der Schäfer schüttelte nur den Kopf.
„Die paar, die ihr entronnen sind, haben gesagt, sie hätten kein Wort an sie gerichtet und seien gerannt, was ihre Beine hergaben. Wir dachten, das sei die einzige Chance, ihr zu begegnen und die Nacht zu überleben.“
„Es wäre so einfach gewesen. So einfach.“ Seufzend wärmte ich mich an dem Feuer des fremden Mannes. „Wo finde ich denn eine Bleibe für den Rest der Nacht?“
„Bei mir. Ihr könnt in meiner Hütte schlafen, ich teile mein nächstes Mahl mit Euch.“
„Ich will Euch keine Umstände bereiten …“, entgegnete ich, doch der Mann winkte ab.
„Ihr seid ein Glücksbringer. Es ist mir eine Ehre, Euch zu beherbergen. Im Dorf werdet Ihr vor Anbruch des Tages auch niemanden finden, der Euch aufnimmt – wir sind nächtlichen Besuch in dieser Form nicht gewohnt.“
„Dann lasst bald verkünden, dass die Straßen wieder sicher sind“, antwortete ich. „Und dass die Verlorene wieder heimgekehrt ist.“