Drei Herzen für eines
(Schreibwettbewerb Januar/Februar 2023 "Das schwarze Kleeblatt")
„Ein Kleeblatt, Papa, ein vierblättriges Kleeblatt!“
Der Mann setzt die Axt ab und wendet sich um.
Mathilde, seine jüngere Tochter, rennt auf ihn zu. Sie reckt ihm die Faust entgegen und er bewundert den zwischen ihren kleinen Fingern eingeklemmten Fund.
„Es bringt Glück, Papa.“
„Meinst du?“ Er lacht. „Mir hat auch einmal ein Kleeblatt Glück gebracht. Allerdings war es nicht so schön grün wie deines, sondern schwarz. Und es hatte nur drei Blätter.“
„Drei?“ Die Nase der Sechsjährigen kraust sich misstrauisch. „Das bringt kein Glück. Und schwarze gibt es gar nicht.“
Über den Kopf seiner Tochter hinweg sucht sein Blick den seiner Frau und als sie sich treffen, lächelt sie wissend.
Während das Mädchen singend mit seinem Schatz davon hüpft, lehnt er die Axt an den Hackklotz und tritt zu ihr. Seine Hand streicht über ihren geraden Rücken und sie legt für einen kurzen Moment den Kopf an seine Schulter, bevor sie mit dem Rupfen des Huhnes fortfährt. Einen Augenblick bleibt er stehen und sieht ihr zu, beobachtet, wie ihre schmalen Hände arbeiten, Hände, die nicht für Arbeit geschaffen zu sein scheinen. Noch einmal streicht er ihr über den Rücken, dann geht er zurück zu seiner Axt.
Am Abend bringt er seine Jüngste zu Bett und kommt danach wieder in den behaglichen Wohnraum zurück. Helene, die Ältere, ist noch wach und hilft der Mutter beim Garn aufwickeln.
„Gab es wirklich ein schwarzes Kleeblatt, das dir Glück gebracht hat?“, fragt sie ihn nach einer Weile.
„Wer sagt das?“
„Mathilde.“
Er lacht, doch dann wird er wieder ernst.
„Ich denke, du bist mit deinen vierzehn Jahren alt genug, um die Geschichte zu hören“, meint er und setzt sich an den Tisch.
Helene nickt und sieht ihn erwartungsvoll an.
„Ein junger Wilderer liebte einst ein Mädchen“, beginnt er. „Sie begegneten einander zum ersten Mal in dem Wald, in dem er jagte. Und dort trafen sie sich von da an jedes Mal. Sie verriet ihm nicht, wie sie hieß. Immer trug sie Männerkleidung und, was für ein Mädchen seltsam war, sie schoss ebenso gut mit dem Bogen wie er.
Eines Tages, als sie gerade einem Reh nachstellten, hörten sie Jagdhörner. Erschrocken sahen sie sich an, denn das konnte nur bedeuten, dass der König im Wald jagte. Rasch versuchten sie sich verstecken, aber die Hunde stöberten sie auf.
Der König kam herbei und wies seine Männer an, die beiden Wilderer in den tiefsten Kerker des Schlosses zu werfen. Da trat das Mädchen vor, nahm den Hut vom Kopf und ihr langes, blondes Haar fiel über ihren Rücken.
Der König erkannte seine Tochter. In seiner Wut befahl er, den Wilderer sofort am nächsten Baum aufzuhängen. Doch die Prinzessin drohte, dass sie ihrem Leben ebenfalls ein Ende setzte, falls der Vater ihren Liebsten tötete. Und dann erinnerte sie ihn an das Versprechen, das er ihrer Mutter kurz vor deren Tod gegeben hatte: Dass die Tochter einmal heiraten durfte, wen sie wollte, wenn sich derjenige als würdig erwies.
Weil er seine verstorbene Frau unendlich geliebt hatte, stimmte der König zähneknirschend zu und befahl dem Wilderer, am Abend ins Schloss zu kommen.
Der hatte die ganze Zeit wie erstarrt daneben gestanden und zugehört. Seine Liebste umarmte ihn zum Abschied, raunte ihm zu, dass sie fest an ihn glaubte, und folgte ihrem Vater nach Hause.
Am Abend kam der Wilderer wie befohlen ins Schloss. Noch immer war er völlig benommen von der Offenbarung, in wen er sich verliebt hatte. Natürlich durfte er die Prinzessin nicht sehen, als er ankam. Man brachte ihn sofort zum König und der führte ihn zu einem Tisch in der Ecke des Zimmers. Dort stand unter einer Glasglocke ein Blumentopf, in dem ein einzelnes, schwarzes Kleeblatt wuchs. Auf den drei zarten Blättchen ruhte in der Mitte ein Tautropfen, in dem etwas eingeschlossen war, so winzig, das der Wilderer es nicht erkennen konnte.
‚Man sagt, das Kleeblatt bedeutet Glück‘, begann der König, ‚und dieses hier wird über das eure entscheiden. Sieh es dir genau an. Sehen die einzelnen Blättchen nicht aus wie Herzen?‘ Er lachte, doch es klang gehässig. ‚Bevor du meine Tochter heiraten darfst‚ erfüllst du folgende Aufgabe: Um zu beweisen, dass du es ernst mit ihr meinst, musst du vorher drei anderen Mädchen das Herz brechen. Für jede verratene Liebe wird eines dieser drei Blättchen vertrocknen und sich vom Stängel lösen. Erst wenn sich das dritte gelöst hat, kann der Tautropfen, der das Herz meiner Tochter enthält, herabfallen und sobald er den Boden berührt, ist es frei für dich.‘
Sorgfältig besah sich der Wilderer die Glocke von allen Seiten und ruckte probehalber am Tischchen. Das schwarze Kleeblatt erzitterte, doch der Tropfen fiel nicht.
‚Darf ich es anfassen?‘, fragte er zögernd.
Der König nickte und das gehässige Grinsen vertiefte sich.
Vorsichtig hob der Wilderer die Glasglocke hoch und stellte sie neben den Blumentopf. Mit dem Finger versuchte er, den Tropfen anzutippen. Doch die Pflanze wich aus. Er konnte sie nicht berühren.
Der König hatte zugeschaut. ‚Wenn es dir gelingt, werde ich dich als ihrer würdig ansehen. Ruht ihr Herz aber nach einem halben Jahr immer noch auf dem Kleeblatt, hast du sie auf ewig verloren. Und nun verschwinde!‘
Der Wilderer war entsetzt über die Aufgabe, denn er konnte sich nicht vorstellen, ein angemessener Ehemann zu sein, nachdem er die Herzen von drei Mädchen gebrochen hatte. So ein Schuft war er nicht. Und er glaubte auch nicht daran, dass der König Wort halten würde. Aber er liebte seine Prinzessin. Also ließ er ihr ausrichten, sie möge auf ihn warten, und verließ verzagt das Schloss.
Am Torbogen saß eine alte Bettlerin, die einen Groschen von ihm erbat. Er hatte keinen, doch er schenkte ihr ein Viertel Brot und ein Stück Käse aus seinem Rucksack. Dann wollte er weitergehen.
‚Wohin willst du jetzt noch?‘, hörte er sie fragen.
‚Ich habe kein Ziel‘, gab er zurück. ‚Erst einmal weit weg von hier.‘
‚Dann bleibe die Nacht über in meinem Haus und brich morgen früh auf. Ich kann dir nicht viel bieten, aber du warst freundlich zu mir und sollst wenigstens ein Dach über dem Kopf haben.‘
Der Wilderer blieb stehen. Es war schon spät und er hätte es nicht mehr bis zu seinem Heim geschafft, bevor es dunkel wurde. Also drehte er sich um und ging mit ihr.
Als er am nächsten Tag nach dem Morgenmahl aus der Tür trat, fragte sie ihn, was er vorhatte. Doch er verriet ihr kein Wort von seiner Aufgabe. Daraufhin wollte sie wissen, ob er wirklich drei Mädchen das Herz brechen würde.
Verwundert starrte er die Alte an. Er hatte ihr doch nichts erzählt.
‚Woher weißt du davon‘, gab er zurück anstelle einer Antwort.
Sie lächelte nur. ‚Das ist nicht wichtig‘, meinte sie.
‚Natürlich will ich das nicht tun‘, flüsterte er bitter. ‚Nur gibt es keinen anderen Weg für mich. Tue ich es nicht, kann ich sie nicht gewinnen.‘
‚Doch, das kannst du. Komm noch einmal herein ins Haus.‘ Die Alte fasste ihn am Ärmel und zog ihn mit sich.
Schon am Abend kehrte er zurück an den Hof. Er wurde zum König vorgelassen, der bereits triumphierte, weil er annahm, dass der Wilderer aufgegeben hatte.
Doch der erklärte, dass er eine andere Möglichkeit gefunden hatte, den Tautropfen vom Kleeblatt rollen zu lassen.
Der König lachte nur. Er war sich sicher, dass es eine solche nicht gab, so sicher, dass er mit dem Wilderer zu dem Blumentopf hinüberging.
Der hob die Glasglocke ab und stellte sie daneben.
‚Es ist alles noch wie gestern‘, beteuerte der König. ‚Nichts hat sich geändert.‘ Zur Bekräftigung versuchte er diesmal selbst den Tautropfen zu berühren und nickte zufrieden, als das Blatt seinem Finger auswich.
Doch der Wilderer schüttelte den Kopf. ‚Es hat sich etwas geändert‘, entgegnete er leise und holte ein kleines Messer aus seiner Tasche. Bevor der König ihn daran hindern konnte, durchtrennte er mit einer schnellen Bewegung den zarten Stängel des Blattes. Es fiel auf die Erde und der Tautropfen rollte von den drei schwarzen Blättchen herunter.
Der König war fassungslos. ‚Du wirst sie trotzdem nicht bekommen‘, zischte er, rot vor Wut. ‚Ich gebe meine Tochter doch keinem dahergelaufenen Lumpen!‘
Daraufhin hielt der Wilderer das kleine Messer hoch, das er benutzt hatte. ‚Sie sagte, ich solle es Euch zeigen‘, erklärte er.
‚Sie?‘ Der König nahm es, betrachtete es und ließ es dann erschrocken fallen.“
Der Vater schaut lächelnd ins Kaminfeuer.
„Und ...?“ Helene, atemlos vom andächtigen Lauschen, sieht ihn verwirrt an. „Das ist doch kein Ende. Wie ging es weiter?“
„Gar nicht. Damit war die Aufgabe gelöst.“
„Aber hat er die Prinzessin bekommen?“, forscht sie ungeduldig.
Er nickt. „Sie durfte mit ihm gehen. Er erzählte ihr von der Prüfung und zeigte ihr das Messer, das er aufgehoben und wieder eingesteckt hatte, bevor er mit ihr das Schloss verließ. Sie erkannte es als das ihrer Mutter, das diese einst von ihrem Ehemann, dem König, als Geschenk erhalten hatte.“
„Aber wer war die Alte?“, fragt Helene.
„Wir haben es nie erfahren“, meint er und schüttelt lächelnd den Kopf.
„Und wir haben weder sie noch ihr Haus je wiedergefunden“, erklingt die weiche Stimme der Mutter hinter ihr. „So konnten wir uns nicht einmal bedanken. Nur ihr Messer ist noch da und das bewahren wir gut auf.“
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