Beiträge von Tariq im Thema „Tariqs Kurzgeschichten“

    Für den König

    (Schreibwettbererb Januar/Februar 2024: "Für den König")

    Die eisigen Finger der Kälte stachen bei jedem Atemzug in die Brust des Jungen. Aber das unerbittliche Toben des Sturmes machte nicht nur das Atmen schwer. Mit der fast tauben Linken umklammerte Virgas den Saum seines Umhangs und hob den Arm, um sein Gesicht so vor den Eisnadeln zu schützen. Er hatte das Zeitgefühl längst verloren, stolperte durch die Nacht, folgte den Fußstapfen im knietiefen Schnee. Die wirbelnden Flocken nahmen Virgas fast die Sicht und er konzentrierte sich allein darauf, den Schlitten und die Silhouette des Mannes, der ihn zog, nicht aus den Augen zu verlieren. Es gab kein Mondlicht und weder er noch sein Vater hatten eine Hand frei für eine Fackel, die bei diesem Sturm sowieso nicht brennen würde.

    Ohne Pause stapften sie voran. Es gab keine Straße, aber der Vater schien den Weg zu kennen. Seine dunkle Gestalt war kaum noch zu sehen und Virgas wäre fast über den Schlitten gestolpert, als der plötzlich anhielt.

    „Wir übernachten hier“, hörte Virgas seinen Vater sagen. „Dort drüben, bei den Bäumen.“

    Ohne auf eine Antwort zu warten, zwängte sich der Mann mit dem Schlitten zwischen den tief herabhängenden Zweigen durch. Virgas folgte.

    Die Stelle war gut gewählt. Weil die Äste der Nadelbäume hier so dicht wuchsen, erreichte der Schnee den Boden nicht.

    Virgas hauchte in seine Hände, doch er beklagte sich nicht. Er war zwölf, also bald ein Mann, und er würde nicht jammern wie ein kleines Kind. Ein verstohlener Blick zur Seite zeigte ihm, dass der graue Bart seines Vaters gefroren war. Schneeflocken klebten in seinen schweißfeuchten Haaren und den buschigen Augenbrauen.

    Noch immer wusste der Junge nicht, warum er mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt worden war. Sein Vater hatte ihm befohlen, alles anzuziehen, was er besaß. Virgas war der Aufforderung ohne Murren oder Fragen gefolgt. Fador Schmied war kein Freund großer Worte, das wusste der Junge, aber er hätte doch gern erfahren, warum sie den ganzen Tag schon in eisiger Kälte durch die Wildnis stapften und wohin ihre Reise ging. Was ihn am meisten wunderte: Der Vater hatte sein Werkzeug diesmal nicht mitgenommen. Wann immer man ihn als Schmied an einem anderen Ort brauchte, packte er alles ein, was er dafür benötigte. Doch heute trug der kleine Schlitten nur Decken und Felle, einen Kochkessel, zwei Schinken und zwei Brote.

    Sein Vater räumte alle Sachen außer einer Decke ab. Die legte er auf die Holzstreben und wies Virgas mit einer Geste an, sich darauf niederzulassen.

    „Kein Feuer“, meinte er. „Sieh zu, dass du warm bleibst, vor allem deine Füße und Hände!“

    Virgas kroch tiefer in seinen Umhang und schlang die Arme um sich. „Wohin gehen wir?“

    „Gondred“, stieß sein Vater hervor. „Wir müssen nach Gondred.“

    Virgas riss die Augen auf. In die Hauptstadt des Nachbarreiches? Sie würden erst übermorgen oder noch später dort ankommen, wenn das Wetter so blieb. Als kleiner Junge hatte er seinen Vater schon einmal dorthin begleitet und mit offenem Mund über den geschäftigen Hafen und die auf einem Hügel thronende Burg gestaunt.

    „Warum nach Gondred?“, fragte er verständnislos. „Der Fürst des Landes hat seine Grenze zu unserem Reich befestigt und seine Armee aufgestockt.“

    „Aus gutem Grund.“ Sein Vater betrachtete ihn lange. „Du weißt vom Königsmord. Danach fürchtete jeder, der unseren guten König Menalos näher gekannt hatte, um sein Leben. Man raunte hinter vorgehaltener Hand, dass der Bruder des toten Königs nicht nur der Nachfolger, sondern auch dessen Mörder war. Der Fürst von Gondred, ein guter Freund von König Menalos, glaubt das ebenfalls. Deswegen ...“ Er hob hilflos die Hand. „Ich war Schmied am Hof unseres ehemaligen Königs“, fuhr er fort. „Wir sind gemeinsam aufgewachsen und auch später trotz des Standesunterschiedes Gefährten geblieben.“

    „Du hast den ermordeten König gekannt?“, stieß Virgas verblüfft hervor.

    Sein Vater nickte. „Als ich heiratete und auch Menalos sich eine Königin wählte, trennten sich unsere Wege. Ich ging fort von der Burg und weil drei Dörfer weiter ein Schmied fehlte, ließ ich mich mit meiner Dinah dort nieder.“

    Er nickte versonnen. Sein Gesicht war im Dunkeln nicht zu erkennen. Virgas wusste, seine Eltern hatten sich sehr geliebt und der Tod der Mutter vor zwei Jahren den Vater schwer getroffen.

    „Und warum sind wir jetzt auf der Flucht? Das sind wir doch, oder? Du hast dein Werkzeug nicht mitgenommen.“

    „Das sind wir, du hast Recht.“ Die Stimme des Vaters hatte sich verändert. Verhaltener Zorn bebte darin. „Die Königin und ihr kleiner Sohn wurden eines Morgens tot aufgefunden, man hat nie erfahren, woran sie gestorben sind. Und Margos, der neue König, ließ nach den Vertrauten und Freunden seines ermordeten Bruders fahnden. Es hat viele davon gegeben, weil Menalos ein Mann des Volkes gewesen war. Viele flohen nach Gondred, aber viele folgten ihrem König und Freund ins Grab. Ohne Anklage, ohne Gericht. Sie verschwanden einfach.“

    „Aber dich hat er nicht gefunden!“

    „Das dachte ich auch. Bis gestern Abend dieser Soldat bei uns auftauchte, weil sein Pferd ein Eisen verloren hatte. Es war schon spät, ich wollte erst gar nicht vor die Tür gehen. Wahrscheinlich habe ich deshalb auch vergessen, mir den Mann anzusehen, bevor ich mich ihm zeige. Du weißt, das tue ich sonst immer, aber gestern habe ich nicht drangedacht. Ich trat aus der Haustür und stand ihm gegenüber. Dem Stummen Sporek, einem treuen Gefolgsmann von König Margos. Er hat mich sofort erkannt, ich sah es an seinen Augen.“

    Virgas dämmerte, was der Grund ihres überstürzten Aufbruchs gewesen war, doch er sagte nichts.

    „Ich weiß, dass Margos noch heute Nacht von mir erfahren wird“, fuhr sein Vater fort. „Und dann ist mein Leben keinen Dreck mehr wert. Und deines auch nicht. Also habe ich die Esse gelöscht, sobald Sporek davongeritten war, das Nötigste auf den Schlitten gepackt und dich aus dem Bett geholt. Es tut mir leid, Virgas“, er hob den Kopf und sah den Jungen an, „dass du wegen mir dein Heim verloren hast. Wir werden versuchen, Gondred lebend zu erreichen, und nie nach Harasien zurückkehren.“

    „Denkst du, sie folgen uns?“

    „Ganz sicher. Margos hat Angst vor dem Volk. Deshalb merzt er alles aus, was seiner Herrschaft gefährlich werden könnte. Und alte Freunde seines Bruders stehen ganz oben auf der Liste. Ich glaube aber nicht, dass sie in der Nacht weitersuchen werden. Es hat fast ununterbrochen geschneit, unsere Spuren sind nicht mehr zu sehen. Außerdem gehört dieser Wald schon zu Gondred. Margos und seine Leute haben hier nichts verloren.“

    „Und wenn sie Hunde haben? Dann finden sie uns vielleicht doch.“ Verbissen bemühte sich Virgas, die Furcht aus seinen Worten herauszuhalten.

    „Ja, möglich.“ Ernst sah der Vater ihn an. „Aber ich hoffe, dass sie an der Grenze umgekehrt sind.“

    Sie richteten sich auf den Fellen ein Lager her und schliefen, unter den Decken eng aneinandergeschmiegt, ein paar Stunden. Kaum dämmerte der Tag, drängte der Vater zum Aufbruch. Virgas schob hastig ein Stück Brot in den Mund, dann folgte er wieder dem Schlitten.

    Am Mittag erreichten sie Gondred. Keine Reiter waren aufgetaucht, keine Hunde hatten sie mit ihrem Bellen angetrieben.

    Das Stadttor war weit geöffnet, doch die doppelte Wache auf beiden Seiten verriet, dass der Fürst wachsam war. Virgas‘ Vater trat an einen der Posten heran. Der Mann hob misstrauisch eine Augenbraue.

    „Was wollt ihr?“, fragte er.

    „Ich muss zum Kommandant“, erklärte der Vater zu Virgas größtem Erstaunen. „Er kennt mich.“

    „Wie ist dein Name?“

    „Ich bin Fador, der Schmied.“

    „Warte hier!“

    Der Soldat verschwand und kehrte kurz darauf mit seinem Vorgesetzten zurück.

    „Fador Schmied!“

    Erstaunt sah Virgas, wie der Offizier seinen Vater lachend umarmte. „Wie viele Jahre ist es her?“

    „Später, Freund“, gab der ernst zurück. „Bring mich zuerst zu deinem Fürsten. Ich habe eine wichtige Nachricht für ihn.“

    Während sich Virgas noch fassungslos fragte, wieso sein Vater einen Offizier der Gondreder Stadtwache ‚Freund‘ nannte und was wohl diese wichtige Nachricht war, wurden sie zur Burg geleitet. Man ließ sie überall durch und bevor sich der Junge versah, machte er an der Seite seines Vaters einen tiefen Diener vor dem Herrscher des gondrischen Fürstentums.

    „Von wem kommt deine Botschaft, Schmied, und wie lautet sie?“, hörte er den Fürsten fragen.

    „Sie kommt vom ehemaligen Hofmagier des ermordeten Königs Menalos von Harasien und sie hat keinen Wortlaut, sondern ist eine Person.“ Er nahm Virgas am Arm und schob ihn nach vorn. „Ich bringe euch Prinz Rilko, Sohn von König Menalos und Königin Yania und Thronerbe von Harasien.“

    Der Fürst stand auf, kam näher und musterte Virgas eingehend, der vor Schreck wie erstarrt war.

    „Prinz Rilko war aschblond und ihm fehlte der rechte kleine Finger“, entgegnete der Herrscher von Gondred. „Dieser Junge hat zehn Finger und rabenschwarzes Haar!“

    „Ich weiß.“ Fador Schmied senkte den Kopf. „Der Hofmagier brachte ihn in der Nacht des Königsmords zu mir. Er hatte einen Zauber über ihn gelegt, der sein Äußeres veränderte. Prinz Rilko wurde zu Virgas Schmiedsohn. Das war das Letzte, was dieser Mann und ich für unseren König tun konnten: seinen Sohn beschützen. Und das haben wir getan. Aber jetzt ist er bei mir nicht mehr sicher und ich vertraue ihn Eurer Obhut an.“

    Unter seinem Kittel zog Fador eine kostbare, goldverzierte Schwertscheide hervor, die Virgas nie gesehen hatte.

    „Nehmt das Schwert, Prinz Rilko“, bat er und verbeugte sich dabei. „Es gehörte dem ermordeten König, Eurem Vater, und es wird beweisen, dass Ihr sein Erbe seid.“

    Zögernd streckte Virgas die Hand aus. Kaum hatten seine Finger das Schwert berührt, spürte er, wie ein Prickeln seinen Körper erfasste. Die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf und als er beide Hände um den mit Edelsteinen besetzten Griff des Königsschwerts schloss, rann ein Schauer seinen Rücken herab.

    Er hörte, wie alle Umstehenden scharf die Luft einsogen. Gemurmel setzte ein und dem Fürsten entfuhr ein überraschter Laut.

    Virgas drehte sich langsam um und starrte mit weit aufgerissenen Augen in den Spiegel, der an der Wand zwischen zwei Fenstern hing. Ein unbekannter Junge sah ihm daraus entgegen, mit fremdem Gesicht und mit aschblonden Haaren ...

    Diese Passage fand ich sehr gut weil ich mir denke dass die kleine Leserin das sofort versteht weil sie sicher selbst schon oft diese Frage gehört hat und weiß worauf sie abzielt. Durch diese indirekte Formulierung bekommt die Leserin das Gefühl dass sie schlauer ist als das Einhorn und ich denke mir dass das Kind beim Lesen bestimmt dazwischenruft und sagt dass es weiß was gemeint ist.

    Das weiß ich nicht, aber ja, das könnte durchaus so gewesen sein ^^ . Muss ich mal fragen, ich hab ja nicht selbst vorgelesen. :D

    Vielleicht kennst du die Bücher von Mamma Mu (die sind ja auch ins Deutsche übersetzt). Da passieren auch gerne zwischendurch Dinge die man nur durch die Zeichnungen indirekt erraten kann aber die die Figuren im Text nicht thematisieren. Ich denke das macht den Kindern auch viel Spaß.

    Nein, die kenn ich nicht. :hmm: Muss ich meine Tochter mal danach fragen.

    Vielen lieben Dank fürs Lesen, liebe Kirisha, schön, dass es dir gefallen hat.

    Jaaaaaa, das einzige Fantasy-Element ist das sprechende Einhorn, da hast du natürlich Recht. :jennagorn:Das Schreiben hat mir Spaß gemacht und da die Geschichte etwas länger geworden ist als eigentlich geplant (wegen der Moral ^^ ), ist daraus eine kleine Tages-Challenge geworden. Und die Kids hatten jeden Abend ein Stück zum Vorlesen.

    Vielen lieben Dank dir, Kirisha <3:thumbsup: Hier kommt der Rest


    Am nächsten Morgen kam die Prinzessin ins Badezimmer zum Zähneputzen.
    „Darf ich raus?“, fragte das Einhorn schüchtern, das die Nacht in dem stockfinsteren Raum nicht so toll gefunden hatte.
    Die Prinzessin - weiter fleißig ihre Zähne schrubbend - strich mit dem Finger über das bunte Fell.
    „Ja“, verkündete sie. „Du bist getrocknet. Aber dein Fell ist verklebt und nicht mehr so schön weich wie vorher.“
    „Aber es ist bunt“, entgegnete das Einhorn, „und das ist viel wichtiger.“
    Die Prinzessin hob es aus der Wanne und trug es aufs Bett. „Bis nachher“, meinte sie. „Ich muss zum Unterricht.“
    Nach dem Mittagessen kam sie zurück.
    „So“, sagte sie. „Lass uns zum Schmied gehen.“
    Sie hob das Einhorn vom Bett und nahm es wieder unter den Arm. „Du bist stachlig“, murrte sie.
    Ihr kleiner Freund reckte trotzig das Kinn. „Aber bunt“, gab er zurück.
    Der Schmied in der königlichen Hofschmiede hatte seine Tür weit geöffnet. Es war heiß in dem dunklen Raum. Verwundert sah er von seiner Arbeit auf, als die beiden zu ihm kamen.
    „Nanu, Prinzessin“, knurrte er und wischte sich über die Stirn. „Ich denke nicht, dass du mit deinem feinen Kleid hier sein solltest.“
    „Ich passe schon auf“, gab die Prinzessin hastig zurück. „Wir wollten dich nur fragen, ob du etwas Gold für uns hast?“
    „Gold?“ Der Schmied starrte sie an, als wüsste er nicht, ob er antworten oder über die Frage lachen sollte. „Wofür brauchst du Gold?“
    „Er braucht es. Für seine Hufe.“ Sie nahm ein Bein des Einhorns hoch und streckte es dem Schmied entgegen. Das rosa Zuckergussfell knisterte dabei leise.
    „Und für mein Horn“, ergänzte das kleine Einhorn erneut.
    „Gold. Für Hufe und Horn.“ Der Schmied begann zu lachen, so sehr, dass Tränen über sein schmutziges Gesicht rollten.
    „Jawohl!“, brüllte das kleine Einhorn zornig. „Hör auf zu lachen!“
    Der Schmied prustete noch ein, zwei Mal, gehorchte dann aber.
    „Ich kann dir nicht einfach so Gold geben, Einhorn“, sagte er. „Bevor ich welches zum Schmieden verwende, muss ich den König fragen, weil es unglaublich teuer ist. Außerdem müsstest du deine Hufe einzeln in geschmolzenes Gold eintauchen. Das wäre sehr wahrscheinlich schmerzhaft! Wenn du es trotzdem willst, dann frag den König.“
    Das kleine Einhorn erwiderte nichts. Misstrauisch beobachtete es, wie der Schmied wieder an den Amboss trat, um weiterzuarbeiten. Der Hammer sauste herab, traf mit hellem Klingen auf das glühende Eisen. Funken stoben.
    Erschrocken zuckte das Einhorn zusammen. „Ich will hier weg“, flüsterte es und kuschelte sich enger an die Prinzessin, wobei sein Fell erneut knisterte.
    „Du kratzt!“, beschwerte sie sich, nachdem sie sich beim Schmied bedankt hatte und mit dem Einhorn wieder nach draußen gegangen war.
    Ihr Freund sagte nichts darauf, aber er wusste, dass sie Recht hatte. Er fühlte sich selbst nicht besonders wohl.
    „Wer könnte noch Gold haben?“, fragte er stattdessen.
    Die Prinzessin kaute auf dem Daumennagel. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte.
    „Wir könnten den Schneider fragen“, schlug sie vor. „Er hat das Goldband an mein Kleid gemacht.“
    „Ich will aber kein Goldband an den Hufen“, beschwerte sich das Einhorn.
    „Dann denk selber nach und mach einen besseren Vorschlag“, gab die Prinzessin beleidigt zurück. Sie ging zurück in den Schlosspark, setzte sich dort auf eine Bank und stellte das Einhorn neben sich. Stumm hockten sie nebeneinander.
    „Wie wäre es, wenn wir den Maler fragen?“, fragte das Einhorn nach einer Weile leise. „Er hat Gold an die Türen gemacht und an die Wände und die Decken.“
    Die Prinzessin gab nicht sofort eine Antwort. Sie war noch ein bisschen ärgerlich auf ihren Freund. Längst hatte sie die Lust verloren, ihm alle seine Wünsche zu erfüllen.
    „Okay“, stimmte sie schließlich zu. „Lass uns den Maler fragen. Aber wenn der uns auch nicht helfen kann, habe ich keine Idee mehr.“
    „Na dann los.“ Das Einhorn war froh, dass die Prinzessin wieder mit ihm redete, es unter den Arm nahm und sich mit ihm auf den Weg machte.
    Der Maler hatte - genau wie der Schmied - seine Werkstatt in einem Nebengebäude des königlichen Schlosses. Die Prinzessin klopfte an die Tür und weil niemand ‘herein’ sagte, öffnete sie sie vorsichtig.
    Der Maler, dessen grauer Kittel vorn mit bunten Klecksen gesprenkelt war, hörte auf in einem Topf mit dunkelblauer Farbe zu rühren und hob den Kopf. Als er sah, wer da hereingekommen war, ließ er vor Schreck den Rührstab fallen, der in den Topf plumpste und seinen Kittel mit weiteren Farbklecksen verzierte. Leider bekam auch das himmelblaue Kleid der Prinzessin zwei ab. Sehr verärgert besah sie sich das Malheur. „Alles wegen deinem Gold“, zischte sie dem Einhorn zu.
    Verlegen zog es den Kopf ein. „Tut mir leid, aber dafür kann ich doch nichts“, antwortete es leise.
    „Guten Tag, Prinzessin“, sagte der Maler. „Das ist kein passender Ort für feine Kleider.“
    „Das habe ich auch gerade gemerkt“, murmelte sie verärgert. „Wir bleiben nicht lange. Nur eine Frage, Maler: Kannst du uns ein bisschen Gold geben?“
    „Gold?“ Die Augen des Mannes wurden rund vor Staunen. „Wofür?“
    „Für seine Hufe.“ Sie hielt ihm das zuckerrosa Einhorn unter die Nase.
    „Und für mein Horn“, ergänzte das kleine Einhorn wieder, doch diesmal wiederholte es die Prinzessin nicht.
    Der Maler überlegte.
    „Ich habe Gold für dich“, meinte er. „Aber man muss damit sehr vorsichtig sein, weil es sehr dünn ist. Man nennt es Blattgold und ich kann damit Verzierungen an Wände und Türen machen.“
    „Genau so was will ich!“, rief das Einhorn begeistert. „Ist mir egal, ob es dünn ist.“
    „Du wirst dich damit aber sehr in Acht nehmen müssen, nirgends anstoßen. Man darf deine Hufe nicht mehr bürsten, deshalb darfst du auch nicht in Schlamm laufen.“
    „Das mache ich sowieso nie“, entgegnete das Einhorn beleidigt. „Ich bin doch kein Ferkel.“
    „Gut, also wenn du es trotzdem haben möchtest, dann komm mit.“
    Der Maler nahm der Prinzessin das Einhorn ab, ging mit ihm in einen Nebenraum und setzte es auf den Tisch dort. Dann füllte er einen Topf mit Wasser, entnahm aus einer Kiste ein raschelndes Blatt Papier und faltete es behutsam auseinander.
    „Jetzt darf keiner niesen“, mahnte er, „sonst fliegt das Gold einfach weg.“
    Das Einhorn nickte hastig und hielt vorsichtshalber die Luft an. Neugierig schielte es in das aufgefaltete Papier.
    „Willst du das wirklich?“, hörte es die Prinzessin fragen.
    Es drehte sich um.
    Sie stand da mit verschränkten Armen und hatte die Augenbrauen zusammengezogen. „Was ist, wenn das Gold abgeht?“
    Das Einhorn wollte schon antworten, dass man dann ja neues drauf machen könnte, aber bevor es etwas sagen konnte, erklärte der Maler, dass es kein zweites Mal Gold auf die Hufe geben würde. Es sei einfach zu teuer.
    „Ich nehme mich in Acht“, versicherte das Einhorn und hob den Kopf. „Da passiert schon nix.“
    Die Prinzessin sagte nichts mehr. Stumm stand sie daneben und beobachtete, wie der Maler eine hauchzarte Folie aus Gold auf das Wasser im Topf legte. Sie schwamm!
    „Jetzt tauche deinen Huf rein“, forderte er das Einhorn auf, „aber ganz langsam.“
    Es gehorchte, setzte vorsichtig den rechten Vorderhuf auf das Goldblatt und drückte es so unter Wasser.
    „Ich hab es kaputt gemacht!“, klagte es erschrocken. „Es schwimmt nicht mehr.“
    „Nein, nein“, versicherte der Maler. „Das muss so sein. Heb den Huf heraus.“
    Wieder gehorchte das Einhorn. Die Prinzessin ließ ein verwundertes „Oh!“ hören und auch das Einhorn staunte. Der Huf war golden!
    Vorsichtig drückte der Maler das Gold mit einem sauberen Tuch fest. Dann nahm er ein neues von den raschelnden Papieren. Noch dreimal wiederholten sie das Ganze und am Ende hatte das Einhorn tatsächlich vier goldene Hufe.
    Das gefiel ihm ungeheuer gut. Endlich nicht mehr diese normalen, graubraunen Hufe. Die hatte jedes Pferd und jedes Einhorn. Aber mit diesen Hufen war man etwas Besonderes. „Das Horn auch noch!“, verlangte es energisch und der Maler runzelte verärgert die Stirn.
    „Das kann man auch freundlicher sagen“, mahnte die Prinzessin.
    „Jaja.“
    „Hast du bitte noch etwas Gold für das Horn, Herr Maler?“, fragte sie höflich.
    „Na gut“, gab der Maler zurück. „Weil du mich so nett bittest.“
    Und wirklich ein paar Minuten später glänzte das Horn ebenso golden wie die Hufe.
    Das Einhorn war glücklich.
    „Heb mich hoch“, sagte es zur Prinzessin. „Wir können gehen.“
    „Hast du nicht etwas vergessen?“, fragte sie mahnend.
    Das Einhorn sah an sich herunter. „Nein, alle vier Hufe und das Horn sind fertig. Nichts vergessen.“
    Die Prinzessin schüttelte nur den Kopf. „Dankeschön, Herr Maler“, sagte sie, dann nahm sie ihren Freund wieder auf den Arm
    „Vorsichtig“, rief das Einhorn. „Komm nicht an mein Horn oder meine Hufe, sonst geht das Gold ab!“
    „Ich passe schon auf“, murmelte sie und es klang traurig.

    Am Abend saß das Einhorn am Fußende des Bettes der Prinzessin. Der Nachmittag war nicht schön gewesen. Sie hatten zwar eine Menge zusammen unternommen, aber meistens hatte es sich sehr in Acht nehmen und nur still dastehen müssen, damit nicht das Gold an den Hufen zerkratzt wurde. Die Prinzessin saß allein auf ihrer Schaukel und spielte allein mit den Hunden. Und sie war auch allein im Pferdestall gewesen. Das Einhorn wartete lieber, bis sie vom Ausritt mit ihrem Pony zurückkam. Glücklich hatte sie ausgesehen, obwohl das Pony ein langweiliges, braunes Fell und ganz normale Hufe hatte. Und die Prinzessin lobte das bunte Fell und die Goldhufe gar nicht. Zu gern hätte das Einhorn gehört, wie sehr ihr sein neues Aussehen gefiel. Sie sprachen überhaupt nicht mehr viel miteinander, nachdem sie den Maler verlassen hatten. Irgendwie war alles … verändert.
    Nun, am Abend dieses unschönen Tages, überlegte das Einhorn. Es betrachtete sein buntes Fell. Wunderschön und genau so, wie es sich das gewünscht hatte. Aber die Prinzessin hatte heute mehrmals gesagt, dass es stachelig und kratzig sei. Außerdem musste sie sich oft die klebrigen Hände waschen. Und deshalb durfte das Einhorn auch nicht - wie gewohnt - neben ihr auf dem Kopfkissen liegen.
    Leise seufzte es und musterte die im Kerzenlicht glänzenden Hufe. Dann rieb es sein weiches Maul am bunten Fell und - zuckte zurück. Kratzig war es wirklich, bunt, aber kratzig. Die Prinzessin hatte Recht. Und zum ersten Mal fragte es sich, ob es wirklich so bleiben wollte. Schön, ohne Zweifel, aber doch von allen tollen Dingen ausgeschlossen aus Sorge, dass die Schönheit verschwinden könnte. Und dieses Ausgeschlossensein machte ihm Angst. Die Freundschaft mit der Prinzessin war doch viel …
    Noch einmal seufzte es.
    „Prinzessin?“, wisperte es kaum hörbar.
    Die Prinzessin sah von ihrem Märchenbuch auf. „Was ist?“, fragte sie. „Wenn du jetzt noch einmal fragst, ob du auf mein Kissen darfst, werde ich ernstlich böse.“
    „Nein, nein“, wehrte das Einhorn hastig ab. „Ich wollte dich fragen, ob du … ob du mich bitte waschen kannst. Ich möchte wieder … weiß sein.“
    Erstaunt setzte sich die Prinzessin im Bett auf.
    „Warum denn?“, fragte sie verwundert. „Du hast doch endlich alles, was du wolltest, und du siehst genau so aus, wie du es dir gewünscht hast.“
    „Ja, so sehe ich aus“, bestätigte das Einhorn. „Aber ich kann nicht mehr bei allem dabeisein, weil ich ständig Angst habe, mich schmutzig zu machen, nass zu werden oder meine Hufe zu zerkratzen. Und ich habe nicht alles, was ich wollte. Ich glaube, ich … ich habe durch meine dummen Wünsche unsere Freundschaft in Gefahr gebracht. Und das will ich wieder rückgängig machen. Ich will wieder gerne von dir getragen werden, mit den Hunden im Gras liegen und auf deinem Kopfkissen schlafen. Also, wie ist es: Würdest du mich bitte sauberwaschen?“
    Die Prinzessin legte die Stirn in Falten. „Aber was, wenn dabei deine Hufe Kratzer bekommen?“
    Das Einhorn lachte. „Wer braucht schon goldene Hufe!“, rief es laut.
    Da lachte die Prinzessin mit, stand auf und brachte ihren besten Freund ins Bad. Und weil sie sich beim Waschen des Einhornes mit nassspritzte, hatten sie an dem Abend so viel Spaß wie an den beiden letzten Tagen nicht.
    Und obwohl das Einhorn wegen des klatschnassen Fells die Nacht in der Badewanne zubringen musste, war es so glücklich wie lange nicht mehr.


    - Ende -

    Ein Kindermärchen :)

    :queen::jennagorn:DIE WÜNSCHE DES EINHORNS :jennagorn::queen:

    Es war einmal eine kleine Prinzessin, die hatte einen besten Freund: ein kleines Einhorn. Es war nicht größer als ein junges Kätzchen. Aber das störte weder das Einhorn noch die Prinzessin. Die beiden waren unzertrennlich.
    Eines Morgens zog die Prinzessin ein rosa Kleid an. Sie mochte es sehr. Alle Rüschen waren an den Außenrändern mit goldenem Band gesäumt und die Vorderseite war mit Goldfaden bestickt. Das kleine Einhorn saß auf ihrem Bett und sah ihr zu. Als die Prinzessin fertig war und sich vor dem Spiegel betrachtete, hörte sie es leise seufzen.
    Verwundert drehte sie sich um.
    „Was ist denn?“, fragte sie besorgt. „Bist du krank?“
    „Nein.“ Das kleine Einhorn schüttelte den Kopf.
    „Warum seufzt du dann? Bist du traurig?“
    Ihr Freund senkte den Blick und gab keine Antwort.
    Da setzte sich die Prinzessin neben das kleine Einhorn aufs Bett.
    „Ich will wissen, was mit dir los ist, also sag es mir“, verlangte sie. „Bitte“, fügte sie noch hinzu, denn ihr fiel rechtzeitig ein, dass man seinen Freunden keine Befehle gibt, auch nicht, wenn man eine Prinzessin ist.
    „Ich bin neidisch.“
    Die Antwort vom kleinen Einhorn war so leise gewesen, dass die Prinzessin sie fast nicht verstanden hatte.
    „Neidisch?“, fragte sie zurück. „Warum denn?“
    „Weil du so schön aussiehst. So hübsch. Und dein Kleid ist wundervoll rosa mit so viel Gold. Und ich ...“ Wieder seufzte das kleine Einhorn.
    Die Prinzessin betrachtete ihren Freund. Sein weiches Fell war schneeweiß, die Hufe glänzten poliert, und sie liebte die kleinen Ohren und großen, dunklen Augen.
    „Was gefällt dir denn an deinem Aussehen nicht?“, fragte sie verwundert.
    „Ich bin ... ich bin nur weiß.“ Die großen, dunklen Einhornaugen füllten sich mit Tränen.
    „Ich finde dich schön, wie du bist.“ Sie streichelte das weiche, weiße Fell.
    Doch sie spürte auch, dass der Trost dem kleinen Einhorn nicht reichte.
    Eine Weile überlegte sie angestrengt, bis ihr etwas einfiel. „Ich habe eine Idee“, verkündete sie. „Komm mit.“
    Sie nahm ihr schneeweißes kleines Einhorn auf den Arm und verließ mit ihm das Zimmer.
    „Wo gehen wir hin?“, fragte es und es klang immer noch traurig.
    „Zu meiner Mutter“, erklärte die Prinzessin. „Vielleicht hat die eine Idee.“
    Das Einhorn schwieg. Es glaubte nicht, dass die Königin hier helfen konnte, denn um das Aussehen zu ändern, musste man schon ein Zauberer sein.
    Die Prinzessin lief durch die langen Gänge des Schlosses, bis sie das Zimmer der Königin erreichte. Um diese Zeit saß die Mutter meist mit ihren Damen zusammen und trank Tee. Doch ein trauriger bester Freund ist wichtig genug, um das Teetrinken zu stören, dachte sie bei sich.
    Sie klopfte an die hohe Tür und hörte ein königliches „Herein!“
    Die Prinzessin trat ein.
    „Mama, du musst mir helfen“ sagte sie aufgeregt.
    Die Königin stellte ihre Tasse ab. „Begrüße die Damen“, forderte sie ihre Tochter auf. „Was ist das für ein Benehmen?“
    Die Prinzessin schämte sich und holte das Vergessene schnell nach.
    Zufrieden nickte die Mutter. „Also, liebes Kind, wobei brauchst du Hilfe?“, wollte sie wissen.
    „Mein Freund ist traurig.“ Die Prinzessin setzte sich auf einen freien Stuhl und nahm ihr Einhorn auf den Schoß. „Er will nicht mehr weiß sein und er ist ein bisschen neidisch auf mein Kleid.“
    Die Königin sah das Einhorn fragend an. „Wie möchtest du denn aussehen?“, fragte sie.
    „Auch rosa“, flüsterte das Einhorn. „Aber viel bunter. Und vielleicht ... vielleicht goldene Hufe und ein goldenes Horn. Aber das wird eh nicht gehen.“
    Nachdenklich legte die Königin den Kopf schief.
    „Doch, ich denke, das lässt sich machen“, gab sie zurück. „Es wird nicht ganz einfach, aber es könnte gelingen.“
    Das Einhorn wurde ganz aufgeregt. „Wie denn?“, stieß es hervor. „Was muss ich dafür machen?“
    „Du brauchst einfach nur Bunt und Gold.“
    Erstaunt sah das Einhorn die Königin an.
    „Bunt und Gold?“, wiederholte es zögernd. „Wo findet man so etwas?“
    Die Königin hob bedauernd die Hand und griff dann wieder nach ihrer Teetasse. „Es tut mir leid“, erwiderte sie, „aber das weiß ich nicht. Da musst du wohl suchen, kleines Einhorn.“
    Die Prinzessin merkte, dass ihr Freund noch mehr Fragen stellen wollte, aber auch, dass ihre Mutter nicht mehr dazu sagen würde. Schnell hielt sie deshalb dem Einhorn das Maul zu, nahm es wieder auf den Arm und stand auf.
    „Vielen Dank, Mama“, meinte sie hastig. „Wir gehen dann mal auf die Suche nach Bunt und Gold.“ Sie nickte den Damen ihrer Mutter höflich zu und verließ das Zimmer der Königin.
    Draußen auf dem Gang blieb sie stehen und legte nachdenklich den Finger an die Nase.
    „Wo findet man Bunt und Gold?“, flüsterte sie.
    Das kleine Einhorn ließ verzagt die Ohren hängen. „Ich habe keine Ahnung“, gab es traurig zurück.
    „Bunt ist der Garten“, fiel der Prinzessin ein. „Die ganzen Blumen, das sind so viele Farben! Wir könnten den Gärtner fragen, ob er ein paar davon abgeben kann.“
    Da das Einhorn nichts dagegen hatte, machten sie sich auf den Weg in den Garten. Sie liefen die sauberen Wege entlang, schauten in den Schuppen mit den Gartengeräten und gingen sogar bis zur letzten Ecke, wo der große Komposthaufen war. Nirgendwo fanden sie den Gärtner.
    „Wo kann er nur sein?“, fragte die Prinzessin. Noch einmal sah sie sich um und da entdeckte sie ihn. Er kniete neben dem großen Springbrunnen und zupfte Unkraut.
    Rasch lief sie hin.
    „Wir brauchen Bunt, Gärtner“, sagte sie außer Atem, als sie ihn erreichte.
    Der Mann hob den Kopf. „Bunt?“, fragte er. „Wofür denn?“
    Die Prinzessin zeigte auf das Einhorn. „Es will nicht länger weiß sein“, erklärte sie.
    „Ah, ich verstehe.“ Der Gärtner stand auf. „Doch ich habe leider kein Bunt für dich, Prinzessin.“
    „Aber ich dachte, deine Blumen ...“ Die Prinzessin sprach nicht weiter. Sie hatte so gehofft, dass der Gärtner ihr helfen konnte.
    „Die Blumen?“, fragte der Gärtner. „Soll ich sie pflücken und dir geben? Was tust du dann damit? Das Fell des Einhorns können sie nicht färben.“
    Die Prinzessin nickte und ließ den Kopf sinken. „Das stimmt“, gab sie zu. „Wer könnte uns dann helfen?“
    Der Gärtner legte den Kopf schief. „Ich würde es in der Küche versuchen“, riet er. „Da gab es vor kurzem Kekse mit herrlich buntem Zuckerguss.“
    „Stimmt, ich erinnere mich! Vielen Dank!“ Auf das Gesicht der Prinzessin kehrte die Freude zurück und auch das kleine Einhorn hob die Ohren wieder.
    Die beiden flitzten, so schnell sie konnten, zur Schlossküche.
    Die dicke Köchin zuckte erschrocken zusammen, als die Prinzessin zur Tür hereinstürmte.
    „Martha“, stieß sie völlig außer Atem hervor. „Wir brauchen Bunt! Von den Keksen!“
    Die Augen der Frau wurden ganz rund, so sehr staunte sie.
    „Ihr braucht den Hund?“, fragte sie. „Na dann nehmt ihn mit, da drüben unter der Bank liegt er.“
    Sie zeigte mit dem Kochlöffel hinüber zum Tisch.
    „Bunt!“, rief die Prinzessin, der wieder eingefallen war, dass Martha nicht mehr so gut hörte. „Wir brauchen Bunt, nicht den Hund!“
    „Achso, rund“, meinte Martha verstehend. „Was ist denn rund, Kindchen?“
    Die Prinzessin seufzte. Der Lärm in der Küche war auch wirklich störend. So viele Leute redeten durcheinander, Töpfe schepperten, die Küchenmagd sang beim Abwasch …
    „Seid bitte mal alle ruhig!“, brüllte sie und stampfte mit dem Fuß auf.
    Der Krach wurde immer leiser, bis man schließlich nichts mehr hörte außer dem leisen Brummen des riesigen Kühlschrankes in der Ecke.
    „Also, Martha. Wir brauchen Bunt“, wiederholte sie klar und deutlich. „Das, mit dem der Zuckerguss für die Kekse gefärbt wird.“ Und diesmal verstand die Köchin.
    „Ach so“, sagte sie kopfschüttelnd. „Na sag das doch gleich, Prinzessin. Den Zuckerguss färben wir mit Streuseln.“
    Sie ging zum großen Küchenschrank hinüber und nahm einen dicken Tontopf heraus, den sie zum Tisch brachte.
    „Hier“, verkündete sie. „Das sind sie.“
    Die Prinzessin schaute ins Innere und hob auch das kleine Einhorn hoch, damit es hineinschauen konnte.
    „Hm, bunt sind sie ja“, meinte es zögernd. „Aber wie sollen sie mein Fell färben?“
    Die Prinzessin griff in den Topf, holte eine Handvoll der Streusel heraus und rieb sie dem Einhorn ins Fell.
    „Iiihh, das kitzelt!“, rief es, als sie den Bauch erreichte. „Funktioniert es?“
    Langsam nahm die Prinzessin die Hand weg. Streusel rieselten auf den Fußboden und Martha runzelte ärgerlich die Stirn. So etwas mochte sie gar nicht. Ihre Küche war immer sauber!
    „Nein“, meinte die Prinzessin traurig. „Die Streusel liegen alle unten, meine Hand ist ganz klebrig und dein Fell ist immer noch weiß.“
    Wieder ließ das Einhorn verzagt die Ohren hängen.
    „Ihr macht das ja auch ganz falsch“, erklärte Martha. Sie nahm der Prinzessin das Einhorn ab und trug es zur Hintertür hinaus.
    „Peterle!“, rief sie den Küchenjungen, der mit einem Gartenschlauch ihre Kräuterbeete begoss.
    Der Junge drehte sich um. „Was ist?“
    „Mach das Einhorn nass!“, befahl Martha.
    Die Prinzessin riss erschrocken die Augen auf. „Nass?“, rief sie angstvoll. „Aber dann kann es doch nicht mehr in meinem Bett schlafen!“
    Das Einhorn nickte. „Ich möchte nicht nass gemacht werden“, protestierte es leise.
    „Papperlapapp“, entgegnete Martha. „Wer bunt werden will, muss vorher nass gemacht werden, sonst wird das nix. Dann muss das Einhorn eben heute Nacht in der Badewanne schlafen. Morgen ist es wieder trocken. Los, Peterle!“
    Die Prinzessin konnte ihren kleinen Freund gerade noch auf dem Boden stellen und hastig ein paar Schritte zurückgehen, da plätscherte auch schon das Wasser vom Gartenschlauch auch ihn hinab. Er ertrug die Dusche tapfer, obwohl das Wasser sehr kalt war. Nur die Augen kniff er ein wenig zu.
    „Das reicht!“, kommandierte Martha, die kurz in der Küche verschwunden war und nun mit einem Handtuch und dem dicken Tontopf zurückkehrte. Rasch rubbelte sie das Einhorn, bis das Fell zwar noch nass war, aber nicht mehr tropfte. Dann legte sie das Tuch weg und griff in den Topf. Die Handvoll Zuckerstreusel, die sie herausholte, vertrieb sie langsam in dem Fell. Zuerst der Rücken, dann der Bauch. Dem Einhorn gefiel das, es war fast so schön wie gestreichelt werden. Als Marthas Hand über seine Nase rieb, musste es herzhaft niesen. Noch zwei Mal griff die Köchin hinein in den Topf und langsam färbte sich das schneeweiße Fell bunt. Es schimmerte in vielen Farben, aber rosa war am stärksten, was wohl daran lag, dass es von den rosa Streuseln am meisten gab.
    „So“, meinte Martha und wischte sich die klebrigen Hände an ihrer Schürze ab. „Da habt ihr Bunt. Pass auf, dass das Einhorn schön trocknen kann und sich auch später nicht mehr nass macht. Es darf nicht mehr mit dir in die Badewanne oder ins Schwimmbad und du musst es auch gut vor Regen schützen. Sonst verliert es die Farbe wieder und wird weiß, wie es vorher war.“
    Die Prinzessin hatte zu allem eifrig genickt. „Ich passe gut auf, Martha“, versicherte sie. „Vielen Dank! Komm, kleines Einhorn!“
    Sie hob ihren Freund hoch und sprang davon. Kurz drehte sie sich noch einmal um und winkte, und Martha und Peterle winkten zurück.
    „Zurück ins Schloss“, entschied die Prinzessin. „Du musst unbedingt sehen, wie schön du aussiehst.“
    Sie rannte mit dem nassen Einhorn unter dem Arm hinauf in ihr Zimmer. Außer Atem hielt sie es vor den großen Wandspiegel, der neben ihrem Kleiderschrank hing.
    Verzückt betrachtete das kleine Einhorn sein buntes Fell. Es war fast noch schöner als das Kleid der Prinzessin.
    „Und jetzt lass uns überlegen, wo wir Gold herbekommen“, schlug es vor.
    „Nein.“ Die Prinzessin schüttelte den Kopf. „Es ist fast Abend. Mein Kleid ist voller bunter Flecken und meine Hände und Arme kleben, weil ich dich getragen habe. Ich werde jetzt baden und du darfst so lange auf dem Klodeckel sitzen. Und wenn ich fertig gebadet und wieder ein sauberes Kleid angezogen habe und die Wanne wieder leer ist, dann setze ich dich rein und gehe runter zum Essen.“
    Auf dem Klodeckel sitzend sah das Einhorn mürrisch zu, wie die Prinzessin ihr Kleid auszog, während das Wasser in die Wanne lief, und dann in das duftende Schaumbad stieg.
    „Hast du schon eine Idee wegen dem Gold?“, fragte es vorsichtig.
    Die Prinzessin ließ sich ein wenig Zeit mit der Antwort, sie schrubbte sich erst mal das klebrige Zeug ab. Irgendwann war sie fertig und lehnte sich zurück.
    „Ich hatte an den Schmied gedacht. An einer Rüstung im Waffensaal habe ich Gold gesehen und auch an den Schwertern, die an der Wand hängen. Vielleicht kann er dir ein bisschen abgeben für deine Hufe.“
    „Und für mein Horn“, ergänzte das kleine Einhorn und leckte zwei klebrige rosa Tropfen vom Klodeckel, die von seinem Kinn gefallen waren. „Das soll auch golden werden.“
    „Und für dein Horn“, murmelte die Prinzessin. Eine Weile plätscherte sie noch im Wasser, dann stieg sie heraus und trocknete sich ab. „Ich geh mich anziehen, bin gleich zurück.“
    Das Einhorn nickte, doch die Prinzessin war schon verschwunden und sah es nicht mehr. Gleich darauf kam sie - in einem sauberen, himmelblauen Kleid - zurück und setzte ihren Freund in die inzwischen geleerte Badewanne.
    „Gute Nacht“, meinte sie. „Morgen geht’s weiter mit der Suche. Wenn mein Unterricht beendet ist.“
    Das kleine Einhorn wollte noch fragen, ob es tatsächlich bis dahin in der Badewanne sitzen bleiben musste, aber die Prinzessin löschte das Licht und schloss die Tür. Traurig leckte es seine klebrigen Hufe ab. Eigentlich konnte es zufrieden sein. Sein Fell war bunt und morgen würde es trocken sein. Das langweilige Weiß war verschwunden.
    Die Traurigkeit verschwand und zufrieden schlief es ein.

    (Fortsetzung morgen, da nicht alles in einen Post passt)

    Vielen Dank, Der Wanderer :)

    Vielleicht magst du mir sagen, was genau du im Wettbewerbs-Thread nicht verstanden hast und woran es lag, dass es hier im Thread funktioniert hat? Dann kann ich nochmal nachbessern. ?(

    (Hofft, dass die Geschichte nicht nur mit dem Bild verständlich ist ... :/ )

    Drei Herzen für eines

    (Schreibwettbewerb Januar/Februar 2023 "Das schwarze Kleeblatt")

    „Ein Kleeblatt, Papa, ein vierblättriges Kleeblatt!“

    Der Mann setzt die Axt ab und wendet sich um.

    Mathilde, seine jüngere Tochter, rennt auf ihn zu. Sie reckt ihm die Faust entgegen und er bewundert den zwischen ihren kleinen Fingern eingeklemmten Fund.

    „Es bringt Glück, Papa.“

    „Meinst du?“ Er lacht. „Mir hat auch einmal ein Kleeblatt Glück gebracht. Allerdings war es nicht so schön grün wie deines, sondern schwarz. Und es hatte nur drei Blätter.“

    „Drei?“ Die Nase der Sechsjährigen kraust sich misstrauisch. „Das bringt kein Glück. Und schwarze gibt es gar nicht.“

    Über den Kopf seiner Tochter hinweg sucht sein Blick den seiner Frau und als sie sich treffen, lächelt sie wissend.

    Während das Mädchen singend mit seinem Schatz davon hüpft, lehnt er die Axt an den Hackklotz und tritt zu ihr. Seine Hand streicht über ihren geraden Rücken und sie legt für einen kurzen Moment den Kopf an seine Schulter, bevor sie mit dem Rupfen des Huhnes fortfährt. Einen Augenblick bleibt er stehen und sieht ihr zu, beobachtet, wie ihre schmalen Hände arbeiten, Hände, die nicht für Arbeit geschaffen zu sein scheinen. Noch einmal streicht er ihr über den Rücken, dann geht er zurück zu seiner Axt.

    Am Abend bringt er seine Jüngste zu Bett und kommt danach wieder in den behaglichen Wohnraum zurück. Helene, die Ältere, ist noch wach und hilft der Mutter beim Garn aufwickeln.

    „Gab es wirklich ein schwarzes Kleeblatt, das dir Glück gebracht hat?“, fragt sie ihn nach einer Weile.

    „Wer sagt das?“

    „Mathilde.“

    Er lacht, doch dann wird er wieder ernst.

    „Ich denke, du bist mit deinen vierzehn Jahren alt genug, um die Geschichte zu hören“, meint er und setzt sich an den Tisch.

    Helene nickt und sieht ihn erwartungsvoll an.

    „Ein junger Wilderer liebte einst ein Mädchen“, beginnt er. „Sie begegneten einander zum ersten Mal in dem Wald, in dem er jagte. Und dort trafen sie sich von da an jedes Mal. Sie verriet ihm nicht, wie sie hieß. Immer trug sie Männerkleidung und, was für ein Mädchen seltsam war, sie schoss ebenso gut mit dem Bogen wie er.

    Eines Tages, als sie gerade einem Reh nachstellten, hörten sie Jagdhörner. Erschrocken sahen sie sich an, denn das konnte nur bedeuten, dass der König im Wald jagte. Rasch versuchten sie sich verstecken, aber die Hunde stöberten sie auf.

    Der König kam herbei und wies seine Männer an, die beiden Wilderer in den tiefsten Kerker des Schlosses zu werfen. Da trat das Mädchen vor, nahm den Hut vom Kopf und ihr langes, blondes Haar fiel über ihren Rücken.

    Der König erkannte seine Tochter. In seiner Wut befahl er, den Wilderer sofort am nächsten Baum aufzuhängen. Doch die Prinzessin drohte, dass sie ihrem Leben ebenfalls ein Ende setzte, falls der Vater ihren Liebsten tötete. Und dann erinnerte sie ihn an das Versprechen, das er ihrer Mutter kurz vor deren Tod gegeben hatte: Dass die Tochter einmal heiraten durfte, wen sie wollte, wenn sich derjenige als würdig erwies.

    Weil er seine verstorbene Frau unendlich geliebt hatte, stimmte der König zähneknirschend zu und befahl dem Wilderer, am Abend ins Schloss zu kommen.

    Der hatte die ganze Zeit wie erstarrt daneben gestanden und zugehört. Seine Liebste umarmte ihn zum Abschied, raunte ihm zu, dass sie fest an ihn glaubte, und folgte ihrem Vater nach Hause.

    Am Abend kam der Wilderer wie befohlen ins Schloss. Noch immer war er völlig benommen von der Offenbarung, in wen er sich verliebt hatte. Natürlich durfte er die Prinzessin nicht sehen, als er ankam. Man brachte ihn sofort zum König und der führte ihn zu einem Tisch in der Ecke des Zimmers. Dort stand unter einer Glasglocke ein Blumentopf, in dem ein einzelnes, schwarzes Kleeblatt wuchs. Auf den drei zarten Blättchen ruhte in der Mitte ein Tautropfen, in dem etwas eingeschlossen war, so winzig, das der Wilderer es nicht erkennen konnte.

    ‚Man sagt, das Kleeblatt bedeutet Glück‘, begann der König, ‚und dieses hier wird über das eure entscheiden. Sieh es dir genau an. Sehen die einzelnen Blättchen nicht aus wie Herzen?‘ Er lachte, doch es klang gehässig. ‚Bevor du meine Tochter heiraten darfst‚ erfüllst du folgende Aufgabe: Um zu beweisen, dass du es ernst mit ihr meinst, musst du vorher drei anderen Mädchen das Herz brechen. Für jede verratene Liebe wird eines dieser drei Blättchen vertrocknen und sich vom Stängel lösen. Erst wenn sich das dritte gelöst hat, kann der Tautropfen, der das Herz meiner Tochter enthält, herabfallen und sobald er den Boden berührt, ist es frei für dich.‘

    Sorgfältig besah sich der Wilderer die Glocke von allen Seiten und ruckte probehalber am Tischchen. Das schwarze Kleeblatt erzitterte, doch der Tropfen fiel nicht.

    ‚Darf ich es anfassen?‘, fragte er zögernd.

    Der König nickte und das gehässige Grinsen vertiefte sich.

    Vorsichtig hob der Wilderer die Glasglocke hoch und stellte sie neben den Blumentopf. Mit dem Finger versuchte er, den Tropfen anzutippen. Doch die Pflanze wich aus. Er konnte sie nicht berühren.

    Der König hatte zugeschaut. ‚Wenn es dir gelingt, werde ich dich als ihrer würdig ansehen. Ruht ihr Herz aber nach einem halben Jahr immer noch auf dem Kleeblatt, hast du sie auf ewig verloren. Und nun verschwinde!‘

    Der Wilderer war entsetzt über die Aufgabe, denn er konnte sich nicht vorstellen, ein angemessener Ehemann zu sein, nachdem er die Herzen von drei Mädchen gebrochen hatte. So ein Schuft war er nicht. Und er glaubte auch nicht daran, dass der König Wort halten würde. Aber er liebte seine Prinzessin. Also ließ er ihr ausrichten, sie möge auf ihn warten, und verließ verzagt das Schloss.

    Am Torbogen saß eine alte Bettlerin, die einen Groschen von ihm erbat. Er hatte keinen, doch er schenkte ihr ein Viertel Brot und ein Stück Käse aus seinem Rucksack. Dann wollte er weitergehen.

    ‚Wohin willst du jetzt noch?‘, hörte er sie fragen.

    ‚Ich habe kein Ziel‘, gab er zurück. ‚Erst einmal weit weg von hier.‘

    ‚Dann bleibe die Nacht über in meinem Haus und brich morgen früh auf. Ich kann dir nicht viel bieten, aber du warst freundlich zu mir und sollst wenigstens ein Dach über dem Kopf haben.‘

    Der Wilderer blieb stehen. Es war schon spät und er hätte es nicht mehr bis zu seinem Heim geschafft, bevor es dunkel wurde. Also drehte er sich um und ging mit ihr.

    Als er am nächsten Tag nach dem Morgenmahl aus der Tür trat, fragte sie ihn, was er vorhatte. Doch er verriet ihr kein Wort von seiner Aufgabe. Daraufhin wollte sie wissen, ob er wirklich drei Mädchen das Herz brechen würde.

    Verwundert starrte er die Alte an. Er hatte ihr doch nichts erzählt.

    ‚Woher weißt du davon‘, gab er zurück anstelle einer Antwort.

    Sie lächelte nur. ‚Das ist nicht wichtig‘, meinte sie.

    ‚Natürlich will ich das nicht tun‘, flüsterte er bitter. ‚Nur gibt es keinen anderen Weg für mich. Tue ich es nicht, kann ich sie nicht gewinnen.‘

    ‚Doch, das kannst du. Komm noch einmal herein ins Haus.‘ Die Alte fasste ihn am Ärmel und zog ihn mit sich.

    Schon am Abend kehrte er zurück an den Hof. Er wurde zum König vorgelassen, der bereits triumphierte, weil er annahm, dass der Wilderer aufgegeben hatte.

    Doch der erklärte, dass er eine andere Möglichkeit gefunden hatte, den Tautropfen vom Kleeblatt rollen zu lassen.

    Der König lachte nur. Er war sich sicher, dass es eine solche nicht gab, so sicher, dass er mit dem Wilderer zu dem Blumentopf hinüberging.

    Der hob die Glasglocke ab und stellte sie daneben.

    ‚Es ist alles noch wie gestern‘, beteuerte der König. ‚Nichts hat sich geändert.‘ Zur Bekräftigung versuchte er diesmal selbst den Tautropfen zu berühren und nickte zufrieden, als das Blatt seinem Finger auswich.

    Doch der Wilderer schüttelte den Kopf. ‚Es hat sich etwas geändert‘, entgegnete er leise und holte ein kleines Messer aus seiner Tasche. Bevor der König ihn daran hindern konnte, durchtrennte er mit einer schnellen Bewegung den zarten Stängel des Blattes. Es fiel auf die Erde und der Tautropfen rollte von den drei schwarzen Blättchen herunter.

    Der König war fassungslos. ‚Du wirst sie trotzdem nicht bekommen‘, zischte er, rot vor Wut. ‚Ich gebe meine Tochter doch keinem dahergelaufenen Lumpen!‘

    Daraufhin hielt der Wilderer das kleine Messer hoch, das er benutzt hatte. ‚Sie sagte, ich solle es Euch zeigen‘, erklärte er.

    ‚Sie?‘ Der König nahm es, betrachtete es und ließ es dann erschrocken fallen.“

    Der Vater schaut lächelnd ins Kaminfeuer.

    „Und ...?“ Helene, atemlos vom andächtigen Lauschen, sieht ihn verwirrt an. „Das ist doch kein Ende. Wie ging es weiter?“

    „Gar nicht. Damit war die Aufgabe gelöst.“

    „Aber hat er die Prinzessin bekommen?“, forscht sie ungeduldig.

    Er nickt. „Sie durfte mit ihm gehen. Er erzählte ihr von der Prüfung und zeigte ihr das Messer, das er aufgehoben und wieder eingesteckt hatte, bevor er mit ihr das Schloss verließ. Sie erkannte es als das ihrer Mutter, das diese einst von ihrem Ehemann, dem König, als Geschenk erhalten hatte.“

    „Aber wer war die Alte?“, fragt Helene.

    „Wir haben es nie erfahren“, meint er und schüttelt lächelnd den Kopf.

    „Und wir haben weder sie noch ihr Haus je wiedergefunden“, erklingt die weiche Stimme der Mutter hinter ihr. „So konnten wir uns nicht einmal bedanken. Nur ihr Messer ist noch da und das bewahren wir gut auf.“

    Inspiriert von ...

    Eine weitere Geschichte aus dem "Weird Tales"-Thread:

    Zoe

    „Und deshalb, bitte: Wenn Sie unsere Tochter bei sich haben, geben Sie sie uns zurück. Die Bitte kommt aus den unendlich verzweifelten Herzen ihrer Eltern. Haben Sie Mitleid, lassen Sie unsere Zoe frei. Wir vermissen sie und wollen sie wieder bei uns haben. Geben Sie uns unser Kind zurück. Bitte ...“
    Der Satz endet mit einem Schluchzen und dann bricht die Stimme. Zitternd krallen sich die Finger der weinenden Frau in ein weißes Taschentuch.
    Ihr Mann zieht sie sanft zur Seite. Weg vom Mikrofon, von den laufenden Kameras, von den neugierigen Augen der Reporter. Er legt den Arm um ihre bebenden Schultern und murmelt beruhigende Worte neben ihrem Ohr.
    An dem Platz, an dem die Frau bis eben stand, hat sich ein Kriminalbeamter aufgebaut.
    „Wir bitten die Bevölkerung dringend um Mithilfe“, verkündet er. „Die zehnjährige Zoe Gerber wird seit drei Tagen vermisst. Zuletzt hielt sie sich mittags an der Haltestelle des Schulbusses am Kirchhof auf. Wenn Sie das Mädchen später noch gesehen oder verdächtige Aktivitäten bemerkt haben, wenden Sie sich bitte umgehend an die nächste Polizeidienststelle. Die Beschreibung des Kindes ist online unter http://www.missedchildren_zoe.com einzusehen. Jeder kleine Hinweis ist wichtig. Helfen Sie uns, das Mädchen zu finden. Vielen Dank.“
    Der Mann tritt zurück. Murmelnd packt die Reportermeute ihr Equipment zusammen und verstaut es in den Fahrzeugen der Sender.

    „Wie oft willst du dir das noch anschauen, Monika?“
    Die Stimme, die das gesagt hat, lässt eine schlecht verhohlene Ungeduld und auch Unverständnis erkennen.
    Monika Gerber, die auf dem Sofa sitzt, drückt die Pausentaste auf der Fernbedienung und wendet sich um. „Ich weiß es nicht, Hartmut“, antwortet sie leise. „Aber heute musste ich einfach ...“ Sie hebt den Kopf und schaut ihn an. „Morgen wird -“
    „Ich weiß!“ Die zwei Worte zerschneiden das, was Monika Gerber sagen will, wie ein scharfes Schwert. Gleich darauf seufzt ihr Mann. „Ich weiß, dass Zoe morgen für tot erklärt wird. Tut mir leid, Schatz, ich wollte dich nicht anschreien.“
    Sie nickt. Wie damals auf der Pressekonferenz kneten ihre Hände ein weißes Taschentuch. „Fünfzehn Jahre und mir ist, als wäre es gestern gewesen. Ich denke jeden Tag daran. Und die Schuldgefühle schlagen dann über meinem Kopf zusammen wie eine große Woge.“
    „Hör auf, dich zu quälen. Wir waren uns doch einig, nicht mehr darüber zu sprechen. Den Tag morgen überstehen wir auch noch und dann lassen wir sie in Frieden ruhen. Also gönn auch dir endlich Frieden. Wenn es dir hilft, gehen wir morgen zusammen zur Bushaltestelle zum Gedenkstein.“
    Monika Gerber nickt.
    Das Telefon klingelt. Hartmut hebt ab, lauscht kurz und reicht den Hörer seiner Frau. „Deine Mutter“, meint er leise.
    Monika erhebt sich und geht mit dem Telefon in die Küche.
    „Hallo, Mama“, hört er noch, dann schließt sie die Tür. Er vermutet, dass seine Frau wieder weinen wird. Ihre Mutter ruft jedes Jahr am Tag von Zoes Verschwinden an und versucht zu trösten. Und natürlich weiß sie auch, was für morgen ansteht.
    Er selbst benötigt keinen Trost. Die Worte des Predigers haben ihm damals gereicht und er hat Frieden finden können. Doch Monika fühlt sich schlecht, das weiß er. Diese verdammte Pressekonferenz hat ihren Zusammenbruch zur Folge gehabt, obwohl sie vorher so stark und gefasst gewesen ist und ihre kurze Rede wirklich gut über die Bühne gebracht hat. Und sie erholt sich nicht davon. Bei den kleinsten Gelegenheiten kommen die Erinnerungen an den letzten Tag mit Zoe mit voller Wucht und werfen sie buchstäblich zu Boden. So wie heute.
    Seine Frau tritt aus der Küche, ein gequältes Lächeln auf den Lippen. „Sie hat es kurz gemacht diesmal“, meint sie entschuldigend, „wahrscheinlich, weil sie selber geweint hat.“
    Er nickt. Seine Schwiegermutter ist Monikas Fels gewesen in der Zeit nach der Pressekonferenz.
    Das Telefon klingelt erneut. Er zieht fast verärgert die Brauen zusammen. Noch jemand, der ihnen mitteilen will, wie sehr er mit ihnen fühlt? Das kann keiner. Niemand ist in der Lage, auch nur zu ahnen, was er empfindet. Und was er damals empfunden hat, in den Tagen, als Zoe noch bei ihnen gewesen ist.
    Mit einer raschen Bewegung bedeutet er Monika, sitzenzubleiben, und geht mit steifen Schritten zum Telefon.
    „Gerber“, meldet er sich knapp.
    Es rauscht in der Leitung.
    „Wer ist da?“, verlangt er zu wissen.
    „Hier ist Zoe.“
    Er fährt zusammen. „Das ist ein schlechter Scherz“, zischt er mit mühsam unterdrückter Wut in der Stimme und die Knöchel der Hand, die den Telefonhörer hält, werden weiß, so fest krampfen sich seine Finger darum. „Und ich verbitte mir diese Geschmacklosigkeit! Zeigen Sie gefälligst etwas Respekt! Unsere Tochter wird morgen für tot erklärt.“
    „Hier ist Zoe.“
    „Hören Sie auf damit!“, schreit Hartmut in den Apparat. „Unsere Tochter hieß Zoe, das ist richtig. Aber so haben wir sie nie genannt. Also: wie war Zoes Kosename?“
    Eine Weile bleibt es still am anderen Ende.
    „Hier ist Zozo.“
    Der Hörer poltert zu Boden. Mit schreckensbleichem Gesicht starrt Hartmut Gerber seine Frau an.
    „Was ist?“, fragt sie verständnislos. „Wer war das?“

    Zwei Minuten später sitzen beide im Auto. In wahnwitzigem Tempo setzt Hartmut rückwärts aus der Garageneinfahrt und lässt dann den Wagen mit kreischenden Reifen davonschießen. Die Fahrt durch die abendliche Stadt scheint kein Ende zu nehmen. Irgendwann bleiben die letzten Häuser der Vorstadt hinter ihnen zurück und das Auto verlässt ein paar Kilometer weiter die Hauptstraße.
    Sie sprechen kein Wort miteinander. Stumm starren sie durch die Frontscheibe, während Hartmut den Wagen über den halb zugewachsenen Waldweg quält. Auf einer winzigen Lichtung hält er, schaltet den Motor ab und sieht Monika kurz an, bevor er die Fahrertür öffnet und aussteigt.
    Die letzten Meter gehen sie zu Fuß. Nebeneinander, Hand in Hand, erreichen sie die Stelle, an der sie vor fünfzehn Jahren ihre Tochter getötet und begraben haben.

    Vielen lieben Dank, Sensenbach .

    Das ist eine Geschichte, die mich selbst ein bisschen verblüfft hat. Geschrieben in anderthalb Stunden und danach nur noch einzelne Worte verbessert. Es passiert wirklich selten, dass ich mit einem Text mal so zufrieden bin, dass er in seiner ursprünglichen Form bestehen bleibt. Wenn ich da an die "Henkersmahlzeit" denke - das war ein echter Kampf. :rofl:

    Also nochmal - herzlichen Dank für dein Lob. Und - Prost! :sekt:

    Dreizehn Stufen

    (Schreibwettbewerb Mai/Juni 2022 "Die Treppe zum Keller")

    „Dora, kannst du bitte ein Stück Butter aus dem Keller holen?“

    Der Kopf meiner Tochter ruckte hoch. Ihre Hände, die eben noch das ständig neu wuchernde Unkraut in unserem kümmerlichen Gärtchen gezupft hatten, verharrten reglos.

    „Ich?“, vergewisserte sie sich und strich sich eine blonde Strähne, die sich unter dem Kopftuch hervorgestohlen hatte, hinter das Ohr.

    „Ja. Und wenn es geht, gleich, bitte.“ Ich schloss das Fenster und schob den Blumentopf mit der Petersilie wieder davor. Es ging auf den Abend zu, in einer halben Stunde würde Jochen aus der Schmiede kommen und sein Abendessen vorfinden wollen. Die Butter, die Dora holen sollte, gehörte dazu. Ich bewahrte sie im Keller in einem kniehohen Holzfass auf. Sie war mir gut gelungen und ich geizte sehr mit diesem goldenen Luxus. Aber Jochen brauchte eine ordentliche Mahlzeit.

    Dora ließ auf sich warten. Ich schob die grün-karierte Gardine zur Seite und spähte durch das Fenster. Meine Tochter stand im Hof und redete auf ihren großen Bruder ein. Amos hörte ihr zu, dann verschränkte er die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. Doch sie fasste ihn am Hemdsärmel und ihr Blick wurde beinahe flehend, als sie weitersprach. Amos‘ Miene änderte sich. Der Elfjährige starrte seine Schwester verwundert an und begann zu lachen. Noch immer grinsend nickte er schließlich.

    Gleich darauf kam er durch die Hintertür herein, marschierte durch die Küche und öffnete die Tür zum Keller. Ich hörte ihn die Treppe hinabsteigen.

    Wenige Augenblicke später war er zurück. „Hier, deine Butter.“ Er legte das in Ölpapier eingeschlagene Päckchen auf die Anrichte und wollte wieder verschwinden.

    „Warte!“

    Mein Ruf ließ ihn stehen bleiben. Verwundert wandte er sich um.

    „Warum ist Dora nicht selbst gegangen?“, fragte ich scharf.

    „Sie hat gefragt, ob ich für sie gehe.“ Er hob die Schultern. „Und sie hat mir ihren Kluntje dafür versprochen.“

    Ich nickte verwirrt. Jedes meiner beiden großen Kinder bekam am Samstagabend einen Kluntje, ein Stückchen braunen, kandierten Zucker. Es war eine Kostbarkeit und oft das Druckmittel für das Durchsetzen von Forderungen. Und Dora hatte den Ihren Amos versprochen, weil sie keine Butter holen wollte?

    Ich schaute noch einmal durchs Fenster. Meine Tochter hatte sich wieder zwischen die Beete gehockt und zupfte weiter Unkraut.

    Nach dem Abendessen – Jochen und Amos waren im Stall zum Füttern, das Baby schlummerte in der Wiege – stellte ich Dora zur Rede.

    „Warst du heute zu faul zum Butterholen?“, wollte ich wissen.

    Sie sah mich an und ich bemerkte einen sonderbaren Ausdruck in ihren Augen, den ich schon vorhin gesehen und nicht weiter beachtet hatte. War das – Trotz?

    „Ich ...“, begann sie, brach aber ab.

    „Also?“ Ich ließ nicht locker.

    Eine Weile hielt sie meinem strengen Blick stand, dann senkte sie den Kopf. „Ich mag nicht mehr in den Keller gehen“, flüsterte sie.

    „Was soll das?“ Ich stemmte die Arme in die Hüften. „Du bist sieben. Sag mir jetzt nicht, dass du dich fürchtest!“

    Sie schwieg.

    „Dora?!“

    Ihr Kopf ruckte hoch und ich sah erschrocken die Tränen in den großen Kinderaugen.

    „Doch.“

    Es war nur ein gehauchtes Wort und in ihm schwang eine so große Furcht mit, dass es mir einen kurzen Schauer über den Rücken sandte.

    „Wieso? Was ist denn so Fürchterliches im Keller?“ Ich ließ den drohenden Unterton aus meiner Stimme verschwinden, denn Doras Angst war echt. Kinder bildeten sich manchmal seltsame Dinge ein.

    „Nichts.“ Sie knetete ihre Hände. „Im Keller ist nichts Fürchterliches. Es ist die Treppe.“

    „Die Treppe?“ Ich verstand nicht, was sie meinte. „Hast du Angst, weil es dunkel ist da unten? Du kannst die Kerze mitnehmen, das weißt du doch.“

    Sie schüttelte den Kopf. Ihre Unterlippe zitterte und nun rann eine Träne über die rundliche Wange. „Die Treppe hört nicht auf, Mama.“

    Ich wollte lachen, doch irgendwie brachte ich es nicht fertig. Zu seltsam war diese Äußerung. Unsere Kellertreppe hatte dreizehn Stufen. Ich wusste es, denn ich fegte sie wöchentlich und ich war auch schon hinuntergestiegen, ohne auf sie zu schauen.

    „Was meinst du?“, forschte ich deshalb.

    Sie zuckte mit den Schultern. „Es geht immer tiefer hinunter. Aber man kommt nicht in den Keller. Und es wird immer kälter.“

    Sie meinte das ernst. Das war keine normale, blühende Kinderfantasie, die auf die seltsamsten Dinge kam.

    „Wann hast du das gemerkt?“

    „Gestern, als ich den Besen holen wollte.“ Sie starrte wieder auf den Fußboden und schob die vorwitzige Haarsträhne zurück.

    „Und warst du seitdem noch einmal unten?“

    Hastig schüttelte sie den Kopf. „Ich will auch nicht mehr. Ich hatte solche Angst. Ich war so weit hinuntergestiegen, dass ich die Kellertür nur noch als winzig kleines, helles Viereck weit oben sah. Dann ist die Kerze ausgegangen und ich bin ganz schnell wieder hinaufgerannt.“ Jetzt zitterte sie.

    Ich ging zur Kellertür und öffnete sie. Misstrauisch spähte ich in das Dunkel unter mir. „Komm her, wir gehen gemeinsam. Du wirst sehen, es ist alles in Ordnung.“

    Ihr Entsetzen konnte nicht größer sein. Sie schüttelte wild den Kopf, während sie zwei, drei Schritte zurückwich, bis sie mit dem Rücken gegen unseren wuchtigen Küchenschrank stieß.

    Verärgert verzog ich das Gesicht, nahm den Kerzenhalter vom Wandbord und zündete den Docht an. „Dann gehe ich allein. Amos ist vorhin unten gewesen. Er hat nichts von einer nicht aufhörenden Treppe gesagt. Stell dich hier an die Tür und beobachte mich.“

    Ich wartete, bis sie neben dem Türrahmen stand, dann begann ich die Stufen hinabzusteigen. Elf, zwölf, dreizehn. Alles wie immer. Unten angekommen, drehte ich mich um und schaute zu Dora hinauf.

    „Siehst du? Alles gut. Die Treppe ist ganz normal. Du hast dich getäuscht.“

    Sie schwieg.

    Langsam ging ich wieder nach oben, stellte die Kerze ab und strich ihr über den blonden Schopf. „Geh schlafen“, sagte ich versöhnlich. „Vergiss das einfach.“

    Dora wandte sich um und verschwand in der Schlafkammer der Kinder. Später kamen Jochen und Amos herein. Ich erzählte ihnen Doras Schauergeschichte und mein Sohn meinte daraufhin, dass sie ihm dasselbe gesagt hatte. Deshalb sei er für sie Butter holen gegangen.


    Am nächsten Morgen war alles wieder in Ordnung. Der Vormittag verging mit dem Kirchgang und zu Hause angekommen, war es schon Zeit, das Mittagessen zu kochen.

    „Dora, bitte geh Kartoffeln holen“, rief ich.

    Sie kam aus der Kinderkammer, ihre Puppe im Arm. „Mama ...“, begann sie stockend.

    „Nein, Schluss mit dem Unsinn. Ich habe dir gezeigt, dass Treppe und Keller in Ordnung sind und nichts da unten ist, wovor man sich fürchten muss. Es kann nicht jedes Mal jemand für dich da hinuntersteigen. Du gehst!“

    Sie zögerte noch einen Moment, dann legte sie die Puppe auf die Küchenbank und griff nach dem Kerzenhalter.

    Ich lächelte ihr mutmachend zu, als sie die Kellertür öffnete, und wandte mich wieder zu dem Kohl um, der geschnitten werden musste. Hinter mir hörte ich ihre Schritte auf den Stufen.

    Sie ließ sich Zeit. Irgendwann – der Kohl war schon im Topf, beschloss ich, meine Trödelliese zu rufen. Keine Ahnung, was sie so lange da unten machte. Ja, die Kartoffeln waren in einer der hinteren Ecken, aber so lange konnte es unmöglich dauern, welche zu holen.

    „Wo bleibst du?“, rief ich die Treppe hinab. „Die Kartoffeln müssen aufgesetzt werden!“

    Keine Antwort.

    „Dora?“

    Es blieb still.

    Ich ging ein paar Stufen hinab und rief erneut. Kein Laut. Und auch kein Licht.

    Mein Herz fing an zu klopfen. Die Treppe hört nicht auf, hatte sie gesagt.

    Ich hastete zurück in die Küche, zündete eine zweite Kerze an und stieg dann in den Keller hinab. Unten angekommen blieb ich stehen und sah mich um.

    Dora war nicht da.

    Noch einmal rief ich ihren Namen. Längst klang meine Stimme schrill vor Angst.

    „Mama?“

    Ich konnte sie hören. In der Stille, die meinem Schrei folgte, hatte ich ihren hören können. Weit entfernt und – tief unter mir. Ich fuhr herum und starrte auf den Boden unter meinen Füßen.

    „Dora! Komm zu mir, meine Kleine. Steig die Stufen wieder nach oben! Ich warte hier!“

    Ein Schluchzen, kaum vernehmbar, dann erneut ganz leise: „Ich kann nicht!“

    „Du kannst, mein Schatz, komm! Komm zu mir herauf!“

    „Es geht nicht. Die Tür kommt nicht näher. Ich steige schon so lange hinauf, Mama. Die Treppe hört nicht auf!“


    Irgendwann fand ich mich von den Armen meines Mannes umklammert, der mich daran hinderte, mit bloßen Händen und blutenden Nägeln den festgestampften Lehmboden neben der Kellertreppe weiter aufzugraben. Ich schrie und tobte, als er mich von dort wegzog. Immer wieder rief ich meine Tochter, obwohl mein Verstand längst begriffen hatte, was meine Augen ihm gezeigt hatten:

    Es gab keine vierzehnte Stufe.




    Marvius, der Brotdieb

    (Schreibwettbewerb März/April 2022 "Henkersmahlzeit")

    Die Buchweizengrütze, noch dampfend in der Tonschüssel, duftete verlockend und der saftige Schinken daneben stand ihr in nichts nach. Bei dessen Anblick lief einem das Wasser im Munde zusammen, erst recht, wenn man sich vorstellte, wie die Kräuterkruste beim Kauen brach und ihren würzigen Geschmack auf der Zunge entfaltete. Eine Portion Eier mit gebratenen Zwiebeln auf dem Holzbrett vor ihm wetteiferte in strahlendem Gelb mit der Butter, die im selben Farbton leuchtend in einer kleinen hölzernen Schüssel danebenstand. Aus dem bauchigen Bierkrug dahinter war der Schaum übergelaufen und hatte auf der blankgescheuerten Tischplatte einen weißen Ring um das Gefäß gebildet. Und daneben, in ein feuchtes Tuch eingeschlagen, entdeckte er ein kleines Stück Käse.

    Das frisch gebackene Brot jedoch stellte alles in den Schatten. Es schien förmlich darum zu betteln, mit beiden Händen aufgenommen und gebrochen zu werden, um danach Zähne zu spüren, die sich hineingruben.

    Langsam hob er eine Hand und berührte die Kruste. Fast zärtlich strich er darüber. Brot. Wie wunderbar wohlschmeckend und zugleich sättigend es war. Er hatte nie darüber nachgedacht, wenn er welches aß. Gedankenlos und unachtsam hatte er Bissen um Bissen in sich hineingestopft.

    Er seufzte.

    Marvius hatte Brot gestohlen. Dafür war er zum Tode verurteilt worden.

    Nein, nicht nur für ein Brot. Für die Gegenwehr bei seiner Ergreifung. Für den toten Gardisten, der plötzlich auf dem blutüberströmten Pflaster des Marktplatzes gelegen hatte, mit dem langen Messer des Bäckers im Bauch.

    Wie hatte es dorthin kommen können? Er konnte es sich nicht erklären. Niemand sonst war in der Nähe gewesen. Nur drei: zwei Gardisten und Marvius. Der Brotdieb.

    War er tatsächlich der Mörder? Der Bäcker – so hieß es – hatte zu weit entfernt gestanden und war nie verdächtigt worden, den Gardisten erstochen zu haben. Und deshalb war der, der gestohlen hatte, für die Gerichtsbarkeit auch der, der getötet hatte.

    Tod durch Enthauptung. Auf eben dem Marktplatz, auf dem die Tat geschehen war. Die mit einem gestohlenen Brot begonnen hatte ...

    Er starrte den runden Laib vor sich an und spürte, wie es seine Kehle zuschnürte. Von solch einem Brot konnte ein Häftling nur träumen. Genau wie von all den Sachen hier auf dem Tisch.

    Stumm saß er da, wie erstarrt. Seine Hände, die nach den Köstlichkeiten greifen konnten, ruhten reglos im Schoß. Heute war der Tag. Er wusste, dass er essen sollte. Aber er konnte es nicht. Sein Magen fühlte sich an wie ein Stein und ihm war klar: Keinen Bissen würde er hinunterbekommen, keinen Schluck Bier. Das Rührei wurde kalt. Trotzdem griff er nicht nach dem Löffel. Und auch nicht nach dem Brot.

    Iss, befahl ihm sein Verstand. Das ist dein Frühstück. Nur für dich. Also iss! Es ist dein gutes Recht.

    Es half nichts. Er rührte das Essen nicht an.

    So saß er, bis die Tür geöffnet wurde. „Es ist so weit“, brummte eine tiefe Stimme.

    Er schob den Schemel zurück und erhob sich schwerfällig. Während er mit schleppenden Schritten zu Tür ging, spürte er sein Herz schlagen. Bis in den Hals hämmerte es. Angst ergriff ihn. Nackte Angst, wie er sie nie gekannt hatte. Würde er das durchstehen können, was ihn erwartete?

    Der Mann in der Stadtgardisten-Uniform, der im Korridor auf ihn gewartet hatte, musterte ihn. Er trug Schwert und Schild, wie es üblich war. „Dann mal los“, murmelte er. Es klang teilnahmslos und das bärtige Gesicht zeigte keine Regung.

    Es ist ja auch nicht seine Hinrichtung, dachte er bitter, während er die Kapuze über den Kopf zog und dem Gardisten folgte. Seine Hände zitterten schon jetzt wie im Fieber ...

    Noch bevor sie das Gebäude verließen, hörte er das Murmeln der Menschen auf dem Marktplatz. Es schwoll an, als sie ins Freie traten und er für einen Moment geblendet die Lider zusammenkniff. „Gnade!“, hörte er jemanden rufen und „Er ist unschuldig!“

    Es würde keine Gnade geben. Er musste diesen Weg bis zum Ende gehen. Mit weichen Knien stieg er die Stufen des Podestes hinauf, das man in der Mitte des Marktplatzes errichtet hatte. Oben hatten sich bereits drei Gardisten aufgereiht. Er stellte sich vor sie, dann wartete er.

    Das Gemurmel der Menschen schwoll an. Die Rufe nach Gnade wurden lauter, immer mehr wurden es. Sie steigerten sich zu einem Chor, zu einer einzigen, fordernden Stimme, die Gnade für Marvius, den Brotdieb, verlangte.

    Für Marvius, der eben aus dem Hof des Stadtgefängnisses herausgebracht worden war, der jetzt die Podeststufen erklomm und dabei starr nach unten sah.

    Für Marvius, der ohne Regung das Verlesen des Urteils über sich ergehen ließ und dann von derben Fäusten auf die Knie gezwungen wurde.

    Für Marvius, seinen besten Freund, dem er jetzt den Kopf abschlagen musste.

    Herzlichen Dank für eure netten Worte, Tarani und Kirisha und ich freue mich sehr, dass euch die Geschichte gefallen hat.

    Tarani

    Wobei sich mir die Frage aufdrängt, ob sie nicht eines Tages wird lernen müssen, loszulassen. Sie scheint ja noch recht jung zu sein und ihr Leben geht weiter. Ob sie sich wirklich ihr ganzes Leben lang an einen Toten klammern wird/soll? Und was, wenn ihre Familie eines Tages davon erfährt? Ihre Schwester schläft ja sogar mit ihr im gleichen Bett, wie wahrscheinlich ist es, dass sie nie etwas mitbekommt?

    Hm, darüber habe ich mir (im Gegensatz zu dir) gar keine Gedanken gemacht. Und jetzt, da ich es tue, könnte ich noch weitere Fragen dazuschreiben: Ist Stefan der Einzige, der in der Vollmondnacht an den See kommt? Wenn nicht - warum sind die beiden dann ganz allein dort? Wenn ja - wieso nur er?

    Antworten auf deine Fragen zu finden würde ich ganz einfach mal der Fantasie des Lesers überlassen. Da gibt es ja mehrere Möglichkeiten, wie es weitergehen kann. Der Vater erwischt sie beim Ausbüxen, die Schwester verpetzt sie, Stefan taucht nicht mehr auf ... :pardon:

    Der Wanderer

    Darf ich mir die Erzählung für mein Archiv ausdrucken?

    Klar darfst du. Du kannst aber auch warten, bis ich "Neue Geschichten zum Zurücklehnen" veröffentliche, darin wird die Geschichte enthalten sein. :) Überlasse ich dir.

    Kirisha

    vor allem der Schluss hat mich überrascht und berührt. Das führt dazu, dass ich auch nach dem Ende noch über die Geschichte nachgedacht habe und so soll es ja sein.

    "Überrascht und berührt" ist höchstes Lob für mich. Vielen lieben Dank dir.

    Hallo, Der Wanderer , herzlichen Dank für dein Feedback und deine Anmerkungen. Schön, dass dir die Geschichte gefallen hat. :)

    Antwortbox

    Zum Ende: Nein, die Neun hat keine Bedeutung, es war nur eine willkürlich gewählte Zahl. Die wichtige Aussage ist, dass Stefans Name mit auf der Tafel steht. Ich habe es mal etwas angepasst.

    "Draußen schob sie rasch ihre Füße in die Stiefel, die sie bisher getragen hatte."
    (Gab's oder gibt's da noch andere??

    Nein, es gibt keine anderen. Sie hat sie nur in der Hand getragen. Ich habe das noch eingefügt.

    "Eines schnaubte und ein zweites stampfte erschrocken mit dem Huf auf, als sie vorbeiflog,"
    (Ääähh - sie flog vorbei?)

    Ja, das sollte ihre Beschwingtheit und ihr Tempo verdeutlichen und außerdem den Bezug zu dem

    Die Vorfreude verlieh ihr Flügel.

    herstellen. Schade, hat wohl nicht so funktioniert wie gedacht. Ich habe es geändert.

    "Fledermäuse, die unter dem First der Malzer-Scheune wohnten, torkelten durch den nächtlichen Himmel."
    (Auch, wenn ich jetzt als Korinthenkacker erscheine: Fledermäuse torkeln nicht, sondern fliegen exakt nach Sonar, auch wenn uns ihre Flüge ziemlich seltsam vorkommen beim Betrachten.)

    Du hast natürlich recht mit dem Sonar. Aber ihr Flug erinnert mich an ein Torkeln. Trotzdem habe ich es mal in "taumelnd" geändert, obwohl ich da nicht viel Unterschied sehe. Ein anderes Synonym fällt mir im Moment grad nicht ein, vielleicht hab ich später mal noch eine bessere Idee.

    "...ein Arm lag um ihre Schulter und sie hatte den Kopf an seinen gelehnt."

    Nein, das "n" ist nicht richtig. Das "seine" bezieht sich auf die Schulter und nicht auf den Arm oder den Kopf.

    "„Ich liebe dich, Stefan“, flüsterte sie, das Gesicht in den Stoff seines Kittels gepresst."

    Upps, Tippfehler. Hab ich verbessert. :sack:

    Lieben Dank auch für deinen Like, Kirisha

    Der Steinbruchsee

    Während sie sich ihren Umhang umlegte und am Hals zuband, lauschte sie auf die schweren Schritte ihres Vaters. Er stieg die Treppe hinauf, schwerfällig, müde vom harten Tagwerk und trotzdem zufrieden, nachdem er nach dem Essen mit der Mutter eine Weile auf der Bank neben der Haustür gesessen, ein Pfeifchen geraucht und dann allein der Sonne beim Untergehen zugeschaut hatte. Die Mutter schlief längst und auch die jüngere Schwester, die im Bett hinter ihr lag.

    Jetzt knarrte die Tür des elterlichen Schlafzimmers, mit einem Murmeln antwortete der Vater der schlaftrunkenen Stimme der Mutter. Das Bett ächzte, als er sich niederlegte, ein letztes, beruhigendes Brummen und Stille kehrte ein.

    Sie kannte die Geräusche, sie konnte jedes von ihnen zuordnen, auch die Stimmen. Alles wiederholte sich jeden Abend. Es war ein vertrautes Ritual. Sie wusste, wann Vater die Stiefel auszog, welche Dielen knarrten und auch welche Treppenstufen.

    Und auf die musste sie besonders achten, denn gleich würde sie hinuntersteigen. Ein, zwei Minuten wartete sie noch, dann drückte sie geräuschlos die Klinke der Tür ihres kleinen Schlafzimmers herab, huschte in den schmalen Korridor und schloss sie hinter sich. Noch einmal lauschte sie, aber alles blieb still. Eben begann Vater zu schnarchen.

    Auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe hinab, sorgfältig die gefährlichen Stufen aussparend. Licht benötigte sie keines, der Mond schien hell durch die Fenster unten im großen Wohnraum.

    Vollmond. Heute würden sie sich wiedersehen. Sie freute sich so sehr, dass ihr Herz wie verrückt hämmerte. Auf Zehenspitzen huschte sie bis zu Haustür, lauschte erneut und schlüpfte dann hinaus. Draußen schob sie rasch ihre Füße in die Stiefel, die sie bisher in der Hand getragen hatte.

    Es war kühl, doch das störte sie nicht. Ihre Arme rafften den wärmenden Umhang ein wenig fester um Schultern und dann lief sie los. Sie kannte den Weg im Schlaf, würde ihn wohl mit geschlossenen Augen finden. Kurz wollte die Traurigkeit sie übermannen, dass sie einander nur in der Nacht treffen konnten, aber sie straffte sich, hob den Kopf und verscheuchte diesen Gedanken. Ihr Vater würde sie nachts einschließen, wenn er von diesen Treffen wüsste, und wenn sie es wagte, aus dem Fenster zu klettern, dann würde er sie anbinden. Dessen war sie sicher. Und deshalb durfte er niemals davon erfahren.

    Seit fast einem Jahr schlich sie sich bei jedem Vollmond aus dem Haus. Elf Mal hatten sie sich getroffen, elf Nächte voller wunderbarer Zweisamkeit, ungestört von anderen, voll inniger Zuneigung und Liebe. Nächte, denen sie einen halben Monat lang nachtrauerte und auf die sie sich einen halben Monat lang freute.

    Auch heute Nacht war es nicht anders. Die Vorfreude verlieh ihr Flügel. Sie rannte den Weg am Malzer-Hof entlang, passierte die große Heuscheune und erreichte die Koppel. Hinter sich hörte sie, wie der Hofhund anschlug, aber es war nur eine halbherzige Beschwerde über die Störung seiner Nachtruhe und sein Bellen verstummte wieder. Auf der Weide dösten die Pferde. Eines schnaubte und ein zweites stampfte erschrocken mit dem Huf auf, als sie sie erreichte, doch ein leiser Ruf von ihr genügte und die Tiere beruhigten sich wieder.

    Sie lächelte. Es war nicht mehr weit. Fledermäuse, die unter dem First der Malzer-Scheune wohnten, huschten taumelnd über den nächtlichen Himmel. Der Mond erleuchtete den Weg vor ihr, sie sah jedes Grasbüschel und jeden Stein. Nur noch ein paar Meter, dann nahm der Wald sie auf.

    Er erwartete sie an der Brücke über das munter sprudelnde Bächlein. Wie immer stand er im Schatten der dicken Eiche. Als er sie bemerkte, trat er ins Mondlicht, stellte sich in die Mitte des Weges und breitete die Arme aus.

    Mit einem leisen Jubelruf warf sie sich hinein und spürte beglückt, wie er sie fest umarmte und an seine Brust presste. Sein Kinn ruhte auf ihrem Scheitel und seine Hände strichen über ihren Rücken, wieder und wieder.

    Sie atmete schnell, weil sie die letzten Schritte gerannt war. Auch ihre Arme hatten sich um ihn geschlungen, ihre Wange lag an seiner Brust und sie spürte den rauen Stoff seines Kittels darunter. Selig schloss sie die Augen und atmete seinen Duft ein. Er war hier und sie bei ihm. Sie hatten eine ganze Nacht lang Zeit.

    Wie immer saßen sie am Wasser. Die Steilwand am Südufer ragte bedrohlich über ihnen auf, völlig kahl und fast senkrecht abfallend. Unter ihr schlummerte der tiefe See und der Mond schaukelte auf den kleinen Wellen, die der sanfte Nachtwind kräuselte.

    Sein Arm lag um ihre Schulter und sie hatte den Kopf an seine gelehnt.

    Sie saßen einfach nur nebeneinander, hielten sich bei der Hand und schwiegen. Stumm betrachteten sie das gleichmäßig zitternde Spiegelbild des Mondes vor sich, das nur ab und zu in ein groteskes Zerrbild seiner selbst verwandelt wurde, wenn ein Fisch aus den glasklaren Fluten schnellte und wieder zurückfiel. Nichts störte diese vollkommene Harmonie. Nicht das Brechen eines Zweiges im nächtlichen Wald, nicht der Ruf eines Kauzes, nichts das Fiepen eines kleinen Tieres, das sich ängstlich vor einem nächtlichen Räuber in Sicherheit brachte.

    Als sie eine Weile gesessen hatten, begann sie zu erzählen. Ihr Leben bot nicht viel Aufregendes, aber er wollte alles wissen. Sein Blick ermunterte sie, immer weiterzusprechen. Und sie konnte ihm alles anvertrauen. Die Sorge um die kränkelnde Mutter genauso wie die kleinen Geheimnisse, die nur ihre Schwester kannte. Er erfuhr vom missglückten Kuchen und der gerissenen Wäscheleine, die die Arbeit eines ganzen Samstages zunichtegemacht hatte, vom neugeborenen Kälbchen und dem Tod der alten Sattlersfrau aus dem Dorf. Ihm wurde nie langweilig, ihr zuzuhören. Jede Kleinigkeit aus dem Dorf interessierte ihn und sie wusste das.

    Er selbst sprach nie. Sie hatte sich daran gewöhnt. Bei den ersten Treffen war sie verzweifelt gewesen. Weinend hatte sie ihn angefleht, mit ihr zu reden. Aber ihre Tränen änderten nichts. Er schwieg. Also fand sie sich damit ab, dass sie als Einzige redete. Doch es war trotzdem ein Zwiegespräch, wenn auch auf etwas andere Art. Das Licht dieser hellen Nächte half ihr, seinen Gesichtsausdruck zu sehen. Sie konnte deutlich erkennen, ob er lachte oder Mitgefühl auf seinen Zügen erschien, ob er zornig war oder traurig.

    Als der Mond sich auf die Kronen der Bäume herabsenkte, wusste sie, dass es Zeit war. Er stand auf, wie immer zuerst, dann bot er ihr die Hand. Sie ergriff sie, kam auf die Füße, glättete umständlich ihr Kleid und strich dann mit beiden Händen über seine Brust, den Kopf tief gesenkt. Er sollte ihre Tränen nicht sehen, doch seine Hand legte sich unter ihr Kinn und hob es sanft, aber unnachgiebig an. Verzweifelt presste sie die Lider zusammen, um seinen traurigen Blick nicht sehen zu müssen. Doch er wartete stumm, bis sie die Augen öffnete, dann hob er die Hand, legte sie an ihre Wange und lächelte.

    So stand er, bis ihre Tränen versiegt waren. Sie wusste, er wollte auch von ihr ein Lächeln sehen. Ein Lächeln zum Abschied, das für vier lange Wochen reichen musste. Und sie schenkte es ihm.

    Er ergriff ihre Hand. Wie immer begleitete er sie bis zur Brücke. Dort umarmte er sie ein letztes Mal und wischte mit dem Daumen die letzten feuchten Spuren von ihren Wangen.

    „Ich liebe dich, Stefan“, flüsterte sie, das Gesicht in den Stoff seines Kittels gepresst. „Auf Wiedersehen, bis zum nächsten Mal.“

    Er nickte, dann ließ er sie los und blieb im Schatten der dicken Eiche stehen.

    Sie drehte sich um und ging. Und wie immer ließ sie ihre Hand über die Holztafel an dem Baum gleiten, die zum Gedenken an das furchtbare Unglück im Steinbruch angebracht worden war, bei dem ein Wassereinbruch die unteren Ebenen geflutet hatte. Siebzehn Männer hatten ihr Leben dabei verloren.

    Stefan war der jüngste von ihnen gewesen.

    Der Steinbruchsee


    .

    Eine weitere Geschichte, die ich als Beitrag für Myrtana222's "Weird Tales" geschrieben habe.

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    Die Jagd

    Ein Knacken kündigte es an.

    Er schloss die Augen, um sich ganz auf sein Gehör zu konzentrieren. Vögel zwitscherten und in den Baumkronen säuselte der Wind. Fast glaubte er, sich geirrt zu haben, da vernahm er es wieder. Schlurfen und Rascheln.

    Es kam.

    Seine schweißfeuchten Hände umklammerten Griff und Lauf der Schrotflinte fester. Ruhig, ermahnte er sich, warte, bis es da ist. Übereile nichts!

    Seine Augen tränten, weil er so angestrengt in die Richtung starrte, aus der er das Geräusch gehört hatte. Dieselbe Stelle wie beim letzten Mal. Hier war es gewesen, als er es erstmals erblickt hatte.

    Eine seiner Fallen war ausgelöst worden und er hatte sie wieder aufstellen müssen. Über die Schlinge gebeugt war er erst aufmerksam geworden, als der Wald plötzlich geschwiegen hatte. Er erinnerte sich, alarmiert aufgesehen und sich umgeblickt zu haben.

    Und da war es gewesen.

    Später hätte er nicht mehr sagen können, was er bei dem Anblick empfunden hatte, doch ihm war jede Sekunde und jedes Detail davon im Gedächtnis geblieben:

    Wie paralysiert hockte er über die Falle gebeugt, den Kopf halb nach hinten gewendet, um über die Schulter sehen zu können, und die Hände mit der Drahtschlinge regungslos in der Luft verharrend. Die Augen waren weit aufgerissen und auch sein Mund hatte offen gestanden, während sein Herz vor Aufregung wie rasend hämmerte.

    Nie zuvor war ihm etwas Derartiges vor Augen gekommen. Etwa zwanzig Meter seitlich hinter ihm stand ein Wesen. Kein Mensch, das konnte er auf den ersten Blick sehen. Es war zu groß und hatte Beine, dick wie Baumstämme und mit Rinde umkleidet. Nicht nur sie – den ganzen Körper bedeckte raue, braune Borke, teilweise bewachsen mit dunkelgrünem Moos. Und überall sprossen dünne Zweige heraus, die junge, zartgrüne Blätter trugen.

    Jetzt bewegte sich das Baumwesen. Schwerfällig bückte es sich und sank auf die Knie. Es hatte ihn nicht bemerkt und wenn doch, schenkte es ihm keinen Blick.

    Sein Hals begann zu schmerzen von der unbequemen Haltung, denn er wagte nicht, sich zu bewegen und konnte die Augen doch nicht abwenden. Wie festgeklebt verfolgten sie das Tun des lebendigen Baumes. Gebannt beobachtete er, wie dieser langsam seine Hände hob und sie über etwas im Gras breitete. Eine Weile geschah nichts, dann öffneten sich in der rindenbedeckten Brust des Wesens schmale Risse, durch die ein sanftes, hellgrünes Leuchten nach draußen drang. Es wurde größer und wanderte über dessen Schultern und Arme abwärts, bis es die Handflächen erreichte und von dort aus auf die Wiese übersprang.

    Nein, nicht die ganze Wiese, sondern nur auf eine verwelkte Pflanze. Einen kleinen Busch, dessen Zweige verdorrt und dessen Blätter braun oder bereits abgefallen waren. Und unter dem leuchtenden, grünlichen Schimmer sprossen helle Spitzen aus den dürren Ästchen, die sich zu kräftigen Knospen vergrößerten. Sekunden später entfalteten sich junge Blätter, deren helles Grün in das dunkle des Sommerlaubs wechselte. Der kleine, tote Busch war zu neuem Leben erwacht.

    Er konnte das sattgrün schimmernde Leuchten in der borkenbedeckten Brust des Baumwesens noch immer sehen, doch mit jeder Sekunde wurde es matter und verschwand schließlich hinter den sich wieder schließenden Rissen.

    Der lebendige Baum erhob sich langsam, wandte den Kopf und sah genau in seine Richtung. Ihre Blicke trafen einander und keiner rührte sich. Große, braungrüne Augen musterten ihn und er empfand keine Furcht, weil in ihnen eine nie vorher gesehene Sanftheit lag. Noch einen Augenblick währte der Moment, dann drehte sich das Baumwesen um und stampfte auf seinen stammartigen Beinen in den Wald zurück.

    Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis er sich wieder rühren konnte. Zu unglaublich war, was er da gesehen hatte. Dieses … Ding hatte etwas Totes lebendig gemacht! Mit etwas, das es in seiner Brust trug. Es konnte Leben schenken!

    Seit dieser Begegnung hatte ihn ein Gedanke nicht mehr losgelassen: Er musste es haben! Das Herz dieses Wesens, dieses grüne Leuchten wollte er unbedingt besitzen. Es würde ihm unsagbare Macht verleihen. Wie viel, das wagte er sich nicht vorzustellen. In Gedanken sah er schon Könige und Präsidenten an seine Tür klopfen. Er würde nie wieder Geldsorgen haben.

    Der Plan war schnell gefasst. Das lebensspendende Herz dieses Baumwesens würde ihm gehören. Ihm allein.

    Und er wusste auch schon, wie er es erlangen konnte.

    Heute Morgen war es so weit gewesen. Er hatte seine Schrotflinte aus dem Schrank genommen, war in den Wagen gestiegen und in den Wald gefahren. Mehr Vorbereitungen hatte es nicht gebraucht. Und nun stand er hier und starrte auf den kleinen Busch, den er umgeknickt, und auf den Trieb, den er aus dem weichen Waldboden gerissen hatte. Er wartete. Es war bereits Mittag, doch das störte ihn nicht. Als Jäger war er es gewohnt, viele Stunden im Ansitz auszuharren.

    Bewusst hatte er den Ort gewählt, an dem er seinem potentiellen Opfer damals staunend zugesehen hatte. Die winzige Lichtung. Dort drüben stand der kleine, ehemals tote Busch. Er strotzte vor Leben, trug eine Unzahl gesunder, kräftig grüner Blätter.

    Direkt daneben fand sich das Ergebnis seiner Zerstörung. Würde das Baumwesen kommen und auch diesen Schaden wieder gutmachen? Heilen, wo er getötet hatte? Leben schenken, wo keines mehr möglich war?

    Er bemerkte es erst, als es auf die Lichtung trat. Es blieb vor der herausgerissenen Pflanze stehen und er meinte, so etwas wie Trauer über das borkenbedeckte Gesicht huschen zu sehen. Wie erwartet bückte es sich und genau wie beim letzten Mal begann es unter der Rinde auf seiner Brust zwischen den sich öffnenden Rissen grün zu schimmern.

    Er hielt den Atem an. Sein Finger lag am Abzug, doch es war fast wie ein Zwang: Er musste es noch einmal sehen, dieses Wunder. Danach würde er schießen. Er hatte Zeit.

    Wie durch Zauberhand hob sich der abgeknickte Trieb des kleinen Busches. Die verwelkten Blätter erstarkten und wurden wieder frisch. Als das Wesen seine leuchtenden Hände zurücknahm, war die Pflanze gesund wie vorher.

    Der Zauber war vorüber.

    Langsam richtete er sich auf, die Finger fest um die Waffe geschlossen. Ein Zweig knackte unter seinen Füßen.

    Der lebende Baum hörte es und hob den Kopf. Wie beim letzten Mal trafen sich ihre Blicke, doch diesmal war etwas anders.

    Das Baumwesen erhob sich zögernd, die sanften, braungrünen Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Argwohn sprach aus der Körperhaltung … Furcht. Wie in Zeitlupe trat es zwei Schritte zurück, einen dritten und noch einen, bis es sich umwandte und wie gehetzt davonstürzte.

    Einen Fluch ausstoßend jagte er ihm nach. Die Gelegenheit für einen sicheren Schuss hatte er verpasst und es war fraglich, ob er eine zweite erhielt. Wie konnte sich dieses plumpe, stämmige Ding so gewandt bewegen? Ihm zu folgen erwies sich als schwierig. Es hatte die gleiche Färbung und Musterung wie die Bäume und rannte in einem Tempo, das ein Aufholen unmöglich machte.

    Der Wald wurde dichter. Zweige streiften sein Gesicht und er musste während seiner Hetzjagd die Waffe mit einer Hand halten und mit der zweiten den Weg freimachen. Manchmal verlor er sein Opfer kurz aus dem Blick, dann sah er es wieder zwischen den Stämmen rennen.

    Ein Ruck an seinem Fuß ließ ihn straucheln. Verdammte Brombeerranken! Sie wurden immer dichter und ihre winzigen Dornen hängten sich an seine Jeans. Er hatte die Stiefel heute nicht angezogen, das rächte sich jetzt. An denen hätte das Grünzeugs keinen Halt gefunden!

    Eine neue Ranke brachte ihn nicht nur ins Straucheln, sondern ließ ihn stürzen. Heftiges Brennen im Gesicht und an der freien Hand verriet, dass er sich etliche Kratzer dabei zugezogen hatte.

    Erneut fluchend wollte er sich aufrappeln. Doch es schien, als würden die Ranken ihn festhalten. So sehr er sich mühte, sie von den Hosenbeinen zu lösen – sie widerstanden, zogen sich nur noch fester zusammen. Ein starker Druck auf der Brust ließ ihn an sich hinabsehen. Neue Triebe hatten den Weg unter seinen Armen hindurch gefunden und wanden sich langsam, aber unerbittlich um seine Allwetterjacke. Sie wurden stärker, wuchsen auf die Dicke von Fingern und verzweigten sich dabei.

    Als er jetzt auch Brennen an seinem Hals wahrnahm, packte ihn das Grauen. Was passierte hier? Dieses Grünzeug fesselte ihn! Er spürte, wie es an seiner Kleidung zerrte, hörte die Dornen über den derben Stoff kratzen. Der Trieb, der seinen Hals umschlang, zog ihn unerbittlich zu Boden und alle anderen Ranken strafften sich ebenfalls. Inzwischen lag er wie ein Käfer auf dem Rücken und konnte sich kaum mehr bewegen. Längst hatte er die Waffe losgelassen und seine Rechte tastete fahrig nach dem Jagdmesser, das er immer im Stiefel trug. Heute war es nicht dort, sondern in seiner Lederscheide am Gürtel.

    Etwas kratzte über seine suchende Hand und er zischte schmerzerfüllt, um gleich darauf ungläubig die Augen aufzureißen. In seinem Blickfeld erschien eine fingerdicke Brombeerranke, die sich um seinen Messergriff gewunden hatte. Fast triumphierend hielt sie ihm die Waffe vor das Gesicht, die gleich darauf unter unzähligen weiteren wie aus dem nichts hervorschießenden Ranken verschwand. Er hörte das Brechen des Holzgriffes …

    Längst hatte er angefangen zu schreien. Die Dornenranken hatten seinen Kopf umwickelt und fixierten ihn am Boden, zerrten ihn förmlich in den weichen Waldgrund. Er konnte ihn nicht mehr bewegen. Auch seine Brust war so zusammengeschnürt, dass er kaum noch zu atmen vermochte. Wie zum Hohn tauchte jetzt die von dornenbesetzten Trieben umschlungene Schrotflinte in seinem Sichtfeld auf. Aus fingerdicken Ranken wurden armstarke, die die Waffe erst verbogen und dann wie ein Streichholz in der Mitte knickten. Brombeerblätter huschten über sein Gesicht, während die Dornen sich noch straffer zogen und dabei blutige Striemen auf seiner Haut hinterließen. Er kniff gepeinigt die Augen zu.

    Immer fester wurde sein Körper auf den Boden gepresst, immer weicher wurde der Grund unter ihm. Sein anfangs entsetztes Kreischen erstarb und nur noch ab und zu hallte ein ersticktes, gekeuchtes Brüllen durch den sonst totenstillen Forst. Kühle Erde schmiegte sich an seine Wangen, feuchtes Moos an die Schläfen. Als die ersten Krumen Waldboden in seinen Mund drangen, verstummte seine Schreie. Noch einmal riss er die Augen auf und sein panischer Blick hetzte zwischen den Baumkronen umher. Es wirkte, als würden die Bäume um ihn herumstehen und schweigend zusehen, wie er für sein frevelhaftes Verhalten bestraft wurde.

    Seine Augenlider zwinkerten gegen die Erdbrocken an, die auf sie herabrieselten. Immer kleiner wurde der Bereich, den er noch sehen konnte. Das Letzte, was er wahrnahm, war ein rindenbedecktes Gesicht, das sich über ihn beugte, mit sanften, braungrünen Augen, in denen eine unendliche Trauer lag.

    Inspirationsquelle: YouTube

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    An der Stelle auch noch ein herzliches :danke: an Rainbow und Stadtnymphe für die netten Kommis und Likes und ebenso an Asni , Sensenbach und KruemelKakao für's Vorbeischauen und die Likes im "Weird-Tales"-Thread. Hab mich sehr gfreut.

    Hallo Juu-Ka ,

    vielen Dank für dein Lob und die interessanten Gedanken, die du mir hier aufgeschrieben hast. Fand ich spannend!

    Zu deinen Anmerkungen:

    war deine Kurzgeschichte schließlich dafür verantwortlich, dass mein Frühstückstee kalt geworden ist

    Das tut mir jetzt echt leid. Hier hast du einen neuen. Vorsicht, heiß! :tee:

    An der Stelle "Irgendwann war es still" hatte ich zunächst den Eindruck gewonnen, dass die beiden Protagonisten bereits in Sicherheit waren. Allerdings rannten sie zunächst weiter um ihr Leben -> Für meinen Geschmack hätte man hier noch ein subtilen Knarzen in der Decke oder etwas Ähnliches einbauen können, um die Gefahr zu zeigen, die noch immer im Raum schwebt.

    Mit dem "still" hatte ich gemeint, dass das letzte Poltern verklungen ist. Aber du hast recht, das Geräusch ihrer Schritte ist natürlich trotzdem noch zu hören. Von daher ist das "still" nicht ganz wörtlich zu nehmen.

    Was das Knarzen angeht - das hören sie nicht. Sie rennen vom Einsturzort weg. Nicht still. :D Das eventuelle Knarzen würde hinter ihnen zurückbleiben, weil sie ja zu einem Ort rennen, denn Fred als "sicher" einschätzt.

    ob der Staub durch den Einsturz nicht längst erzeugt wurde und den Stollen erfüllt. ...wir lesen ja vor dem Anrollen des Staubs: "[...] ein huntgroßer Brocken, der sich von der Sohlendecke löste und herunter krachte [...]"

    Ja, stimmt. Der Staub erreicht sie erst, nachdem der letzte Stein gefallen ist, denn sie rennen ja vor der Staubwolke davon. Sie werden also erst später von ihr eingeholt, obwohl bei Einsturzbeginn sofort Staub entsteht. Fred weiß das im Voraus, denn er ermahnt Hans, sich etwas vor das Gesicht zu halten. (war vielleicht nicht sein erster Stolleneinsturz ... :/ )

    Dann wunderte ich mich ein wenig, dass der Ausbilder nach der vermeintlichen Rettung in den Totschacht noch seinen Hammer bei sich trug. Ich hatte hier das Bild vor Augen, dass er eine Art Werkzeugtasche (=Erztasche) mit sich schleppte, die ich bei einer Flucht um mein Leben aufgrund ihres Gewichts wohl rasch abgeworfen hätte. Vielleicht hing das Werkzeug auch einfach nur an einem Gürtel?

    Den Hammer haben die Bergleute nach Schichtende bei sich, er ist wie ihr anderes Werkzeug ihr Eigentum (= Gezähe) und sie bewahren dieses sorgfältig und meist unter Verschluss auf. Nur wenn sicher ist, dass sie am nächsten Tag an derselben Stelle ihre Arbeit fortsetzen, lassen sie ihr Gezähe im Stollen zurück.

    Diese Dinge zu erklären, würde aber meiner Meinung nach den Text unnötig in die Länge ziehen. Ich halte eine genauere Erläuterung hier für nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass der Hauer Fred seinen Hammer dem Lehrling überlässt, als der sich auf den Weg in eine unsichere Zukunft macht. Hier hätte ich gern die tiefere Symbolik erwähnt, aber die Zeichenanzahl war begrenzt. X/

    die Frage, wie folgende Stelle zu verstehen ist: "Dort würden sie ihre schweren Taschen, die sie hinter sich her schleiften, ausleeren. Das plötzliche Knacken in der Decke ein paar Meter vor ihnen ließ Hans erschrocken nach oben sehen." Mit dem 'würden' meinst du, dass sie er normalerweise gemacht hätten, wenn sie am Zielpunkt angekommen wären oder?

    Genau.

    Die Erztasche ist ein riesiger Lederbeutel, der mit den abgeschlagenen Gesteinsbrocken gefüllt und dann vom Bergmann bis zum Hunt geschleift werden muss. Dort wird er dann (von Hand) in den Hunt entleert und zurück in den Stollen gebracht, um erneut befüllt zu werden. So voller Gestein sind Erztaschen zu schwer zum Tragen und werden nur dort verwendet, wo der Stollen zu eng/schmal/niedrig ist, um Gleise für die Grubenbahn zu legen.

    Hans und Fred waren auf dem Weg zur Grubenbahn, um ihre Erztaschen dort auszuleeren. Normalerweise macht das der Lehrling allein, aber es war Schichtende und Fred verließ den Stollen gemeinsam mit Hans.

    Bei der Formulierung "Verblüfft prallte er zurück" würde ich wahrscheinlich eher von zurückweichen sprechen, da er hier ja nicht gegen einen Widerstand prallt oder?

    Hm, ich verstehe, was du meinst, aber dein "zurückweichen" ist mir in diesem Fall nicht ruckartig und abrupt genug, sondern suggeriert mir eine langsame, fast schleichende Bewegung.

    Ein "zurückprallen" hingegen ist auch möglich, wenn es kein materielles Hindernis gibt, und es ist als zweite Bedeutung für das Wort im Duden angeführt.

    Zuletzt würde ich bei der Liste der Fachbegriffe noch "Karbidlampe", "Totschacht" hinzufügen - da musste ich nachschlagen.

    Das kann ich machen, guter Hinweis! :danke:

    Die Quelle der Musik

    (Schreibwettbewerb Juli/August 2021 "Das Geheimnis der alten Mine")


    Abbauhammer = Druckluftwerkzeug im Bergbau zum Abbau von Kohle, Erzen oder Gestein

    Hauer = Bergmann, der Bodenschätze und Gestein löst und erfolgreich die Hauerprüfung abgelegt hat

    Hunt = vierräderiger Förderwagen im Bergbau, der in Stollen meist auf Schienen von Menschen bewegt wurde

    Karbidlampe = tragbare Gaslampe, die mittels einer chemischen Reaktion Licht erzeugt

    Schlägel = Hammer des Bergmannes mit viereckigem Querschnitt und hölzernem Stiel

    Sohle = im Bergbau ein Höhenniveau (eine meist horizontale Ebene) eines Bergwerks

    Stempel = Stützelement im Bergbau Untertage zum Abstützen der Stollendecke

    Stollen = waagerecht oder leicht ansteigend in einen Berg getriebener Grubenbau im Bergbau als Zugang bis unter Tage für den Abbau von Lagerstätten oder Schürfzwecken.

    Toter Mann = bergmännische Bezeichnung für einen stillgelegten Stollen

    (Quelle der Links: Wikipedia, Erklärungen gekürzt)

    Die Schicht war zu Ende. Mit der Karbidlampe in der einen Hand und dem Ledergriff der mit Gestein gefüllten Erztasche in der anderen machten sich Hans und sein Ausbilder, der Hauer Fred, auf den Weg zum Stollen, der zur Grubenbahn führte. Dort würden sie ihre schweren Taschen, die sie hinter sich her schleiften, ausleeren.
    Das plötzliche Knacken in der Decke ein paar Meter vor ihnen ließ Hans erschrocken nach oben sehen.
    Auch Fred, der vor ihm lief, hob ruckartig den Kopf. „Weg hier!“, brüllte er, fuhr herum und gab Hans einen Stoß. „Zurück in unseren Stollen!“
    Neues Knacken, dann ein länger anhaltendes Knirschen und Schaben und danach ein Geräusch, das Hans noch nie gehört hatte: Der Stein schrie.
    Er spürte Freds Finger, die sich wie eine Klammer um seinen Arm schlossen, als sich der Hauer an ihm vorbeidrängte. „Was stehst du wie ein Ölgötze?!“, dröhnte der Bass des Älteren gegen das Poltern an, das jeden anderen Laut übertönte. „Der Stollen stürzt ein!“
    Die Worte und ein huntgroßer Brocken, der sich von der Sohlendecke löste und herunter krachte, rissen Hans aus der Starre. Er schüttelte die Lähmung ab, die der Schrecken verursacht hatte, und seine Füße setzten sich in Bewegung. Ohne sich umzusehen, hastete er Fred nach, gebückt, die Augen auf den schweißnassen, nackten Rücken des Hauers geheftet. Hinter ihm ging das Knirschen in ein nervenzerreißendes Kreischen über und nach einem mächtigen, unheilverkündenden Donnerschlag folgte ein anhaltendes Poltern. Irgendwann war es still.
    Fred ließ seinen Arm nicht los. „Halt dir was vor den Mund!“, drang es an Hans’ Ohr, dann wurde das Licht ihrer Lampen von einer dichten Staubwolke geschluckt, die sie von hinten überrollte. Er zerrte sein Halstuch vor das Gesicht, kniff die Lider zusammen und versuchte, seinen Hauer trotzdem nicht aus den Augen zu lassen. Der am Boden liegende Luftschlauch des Abbauhammers wies ihm die Richtung. „Weiter!“, hörte er Freds Stimme vor sich. „Bleib nicht zurück! Wir müssen bis zur Kreuzung am 'Toten Mann'! Erst dort ist es sicher.“
    An dieser Stelle gab es eine Gabelung, das wusste Hans. Eine Abzweigung führte in den Gang, in dem sie heute gearbeitet hatten, und eine in den 'Toten Mann', wie die Bergmänner stillgelegte Stollen nannten.

    Das Licht seiner wild schwankenden Karbidlampe fiel auf den Rücken des erfahrenen Hauers. Hans sah die kräftigen Muskeln unter den Hosenträgern arbeiten und hörte seinen keuchenden Atem. Irgendwann hielt Fred an, setzte sich und hustete. Auch Hans würgte und spuckte. Das Tuch vor dem Mund half nicht und der Staub kratzte im Hals. Neben dem Hauer sank er nieder.
    „Hier bleiben wir“, keuchte Fred und sah nach oben. „Der Stein wird halten.“
    „Woher weißt du das?“, krächzte Hans.
    „Das Holz zum Abstützen ist alt und trocken, Junge. Vorn, wo die Decke runterkam, war es jung. Alle haben gewarnt, dass es bricht. Es wurde trotzdem für die Stempel verwendet und der Einsturz war nur eine Frage der Zeit.“
    „Was machen wir jetzt?“ Hans bemühte sich, nicht weinerlich zu klingen, obwohl die Angst sein Herz wie eine eisige Faust umschloss.
    „Warten“, war die ruhige Antwort. „Entweder sie graben uns aus oder sie geben uns auf.“
    „Uns aufgeben? Aber ich will nicht sterben!“
    Fred löschte seine Lampe, setzte sie ab und richtete den Blick auf Hans.
    „Das ist das Risiko hier unten. Niemand will das. Doch es gibt keinen Ausgang. Es sei denn, du willst in den verfluchten Stollen.“ Sein Daumen wies auf die Bretterwand hinter ihren Rücken, mit welcher der Ausgang des 'Toten Mannes' vor langer Zeit verbarrikadiert worden war. „Aber ich sag dir gleich, da musst du allein reingehen.“
    Hans spürte ein Frösteln, obwohl ihm heiß war. Der verfluchte Stollen … Jeder Grubenjunge hörte vor seiner ersten Einfahrt die Geschichten, die sich um ihn rankten. Man hatte ihn in den Stein getrieben, bis einer der Hauer plötzlich Musik hörte. Geigen, Trommeln und Flöten auf der vierten Sohle. Die Männer waren entsetzt davongestürzt und der Stollen wurde versiegelt. Damals, vor rund hundert Jahren, glaubte man noch an Berggeister und Zwerge und niemand wollte mehr dort abbauen. Ein halbes Jahrhundert später erklärten sich zwei mutige Hauer bereit, den Stollen weiterzutreiben, die Quelle der Musik zu finden und der Mär von Festen im Zwergenkönigreich ein Ende zu machen. Sie kehrten nie zurück und keiner traute sich, nach ihnen suchen. Erneut wurde der Stollen verbarrikadiert.
    Unbehaglich starrte Hans die Bretterwand an. „Ich geh da rein“, verkündete er und es klang sicherer, als er sich fühlte. „Vielleicht kommt die Musik von draußen.“
    „Junge, über uns sind drei Sohlen und der Berg mit der Ruine. Wie soll es von der vierten einen Ausgang ins Freie geben?“
    „Keine Ahnung.“ Hans hob seine Lampe und kam auf die Füße. Zentimeterweise leuchtete er die Bretter ab. Probeweise rüttelte er daran, doch sie hielt. „Hilfst du mir?“, bat er Fred.
    Der Hauer seufzte. „Ich bin nicht abergläubisch, aber – bist du sicher, dass du da rein willst?“
    Energisch nickte Hans. „Besser als hier sitzen und warten, bis ich verhungere oder verdurste.“
    Fred erhob sich. Seine kräftige Faust umschloss den Schlägel und er hieb ihn zwischen die Bretter, um eine der Holzplanken heraus zu hebeln. Als eine zweite gelockert war, konnte Hans hindurchschlüpfen.
    Der Hauer reichte ihm die Lampe nach. „Pass auf dich auf. Und du brauchst nicht nach mir zu rufen. Ich werde dir nicht folgen.“ Er hielt ihm den Hammer hin und Hans ergriff ihn dankbar.
    „Du wirst sehen, ich finde heraus, woher die Musik kommt, und dann komme ich zurück und hole dich.“
    Fred nickte nur. „Glück auf, mein Junge. Und Gott schütze dich.“
    Sie nickten einander ernst zu, dann atmete Hans tief durch und betrat den verfluchten Stollen. Der Lichtschein seiner Lampe zeigte nichts Auffälliges und er lief ungehindert. Für Zeit und Strecke hatte er in seiner kurzen Lehrzeit noch kein Gefühl entwickelt, aber es kam ihm endlos vor. Immer wieder blieb er stehen, um intensiv zu lauschen. Und irgendwann hörte er etwas.
    Musik …
    Das Grauen war wieder da. Einem Impuls folgend wollte er sich umdrehen und zurück zu Fred rennen. Doch er bezwang den Fluchtgedanken.
    „Nein!“, sagte er laut zu sich. „Wo Musik ist, sind Menschen. Weiter!“
    Irgendwann wurde es heller vor ihm und der Schimmer wurde – genau wie die Lautstärke der Musik – mit jedem Schritt stärker. Er vernahm Stimmen, Lachen …
    Und plötzlich war vor ihm ein Spalt in der Felswand, aus dem warmes, goldenes Licht fiel. Zögernd blieb er stehen. Am Boden standen zwei verlassene Karbidlampen. Die beiden Hauer fielen ihm ein, die den Stollen erkunden sollten. Wo waren sie?
    Vorsichtig äugte er durch die Felsspalte und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Er sah einen riesigen, von unzähligen Kerzen erleuchteten Saal voller festlich gekleideter Menschen, die zu der Musik tanzten.
    Verblüfft prallte er zurück. Hier unten? So tief unter der Erde? Ein Festsaal? Und was für seltsame Kleidung die Leute trugen! Wie beim Theater. Frauen in kostbaren, bodenlangen Kleidern, Männer mit wappengeschmückten Umhängen. Manche hatten sogar Schwerter umgebunden!
    Die Neugier siegte über sein Unbehagen und er spähte erneut hinein in das Treiben. Wer auch immer die Tänzer waren – sie mussten irgendwie hereingekommen sein. Also gab es einen Weg hinaus. Entschlossen stellte er seine Lampe neben die beiden anderen auf den Boden und legte Freds Hammer dazu. Dann zwängte er sich durch den engen Spalt.
    Er wurde bemerkt. Ein schlicht gekleideter Mann trat auf ihn zu. Er trug ein Tablett mit kostbaren Glaskelchen. Erst glaubte Hans, dass er fragen würde, woher er kam. Doch der Mann hielt ihm nur das Tablett hin und neigte den Kopf.
    Verdutzt ergriff er ein Glas. Seine Kehle war noch immer staubtrocken. Er stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter und stellte es zurück, bevor der andere sich abwenden konnte.
    Neben ihm kicherte jemand. „Du hast wohl Durst?“, fragte eine sanfte Stimme belustigt.
    Erschrocken fuhr er herum. „Ich … suche einen Weg nach draußen“, stammelte er und fühlte, wie seine Ohren rot wurden.
    Das Mädchen, das ihn angesprochen hatte, schüttelte noch immer lächelnd den Kopf, den ein schmaler Goldreif mit einem Edelstein schmückte. „Den gibt es nicht“, verkündete sie.
    „Aber wie seid ihr hier hereingekommen?“
    „Durch den Fluch.“
    Er musste sehr verdattert aussehen, denn sie ergriff seine Hand und zog ihn mit sich zu einer gepolsterten Liege. „Ich erkläre es dir“, meinte sie. „Mein Vater“, ihre Hand wies auf einen schmerbäuchigen Tänzer mit pelzverbrämtem Mantel und einem kostbaren, goldenen Stirnreif, „hat einst während eines Festes eine Zauberin verärgert. Nicht nur. Er hat sie lächerlich gemacht vor seinen Gästen.“ Diesmal schloss ihre Geste alle ein, die hier tanzten. „Jeder hat über sie gelacht. Und je mehr sie lachten, desto schlimmer trieb es mein Vater. Sie geriet furchtbar in Zorn. ‚Du und alle deine hier anwesenden Speichellecker sollen mitsamt diesem Bankettsaal klaftertief in die Erde hinab fahren und keiner von ihnen soll ihn je wieder verlassen und das Tageslicht sehen‘, schrie sie. ‚Bis in alle Ewigkeit müsst ihr tanzen und euch selbst ertragen, ohne einander entkommen zu können.‘ Das ist der Fluch, der uns zwingt, unablässig zu tanzen und zu schwatzen und wieder zu tanzen.“
    Sie sah ihn an und er erkannte die Verzweiflung hinter ihren Worten. Und die Ruine oben auf dem Berg über der Mine fiel ihm ein, das verfallene Schloss ...
    „Ich weiß, wie man von hier aus in das Bergwerk kommt. Vielleicht gräbt man uns aus nach diesem Deckeneinsturz.“ Er war erregt aufgesprungen.
    Sie schüttelte den Kopf. „Vergiss das Bergwerk“, flüsterte sie.
    Das Frösteln war wieder da. Langsam drehte er sich um und starrte auf die makellose, gemusterte Wandverkleidung aus teuren Stoffen. Wo war der Spalt? Erschrocken stürzte er hin und tastete mit beiden Händen nach dem Riss, durch den er sich gezwängt hatte.
    Nichts!
    Der Ausgang war verschwunden.
    „Möchtest du tanzen?“, hörte er sie leise hinter sich fragen und drehte sich um. Er sah ihren traurigen Blick, als sie ihm graziös die Hand reichte.
    Seine Beine waren wie Blei, als er sich hölzern zur Musik bewegte. Er kannte die Schritte nicht und versuchte deshalb, sie bei den anderen Männern abzuschauen.
    Da!
    Zwischen den sauberen Beinkleidern sah er zwei schmutzige Hosenbeine. Sein Blick glitt höher, über einen nackten, dreckigen Oberkörper, bis er direkt in das staubverschmierte, verzweifelte Gesicht eines der seit fünfzig Jahren vermissten Hauer starrte.

    Fred und Hans