So, hier kommt die nächste Kurzgeschichte, in der man einen tieferen Einblick in die Hintergründe für Tenandes' Flucht usw. bekommt. Erzählt wird sie aus der Sicht eines Kapitäns aus den Stadtstaaten, genauer gesagt aus der Stadt Chryseia. Natürlich kann die Antija-Geschichte trotzdem noch kommentiert werden und ich sag dann auch Bescheid, wenn ich mit ihrer Überarbeitung fertig bin.
Zarandas (Teil 1)
Kapitän Zarandas überwachte gewissenhaft, wie Matrosen, Hafenarbeiter und ein paar Träger die Ladung der Morgenwind löschten. Er achtete besonders darauf, dass seine eigenen Leute vorsichtig mit den Waren umgingen. Was außerhalb des Schiffes mit dem Zeug passierte, war nicht mehr seine Verantwortung, aber für alles, was seine Matrosen damit anstellten, war er haftbar und Arion, der Händler, an den er lieferte, würde ihm das sehr genau anrechnen.
Es war ein schwüler Frühsommertag und der nahe Dschungel sowie die Regenfälle des Morgens hatten die Luft drückend gemacht und Zarandas war froh, sich im Schatten des Achterkastells aufhalten zu können. Die nackten Oberkörper der zahlreichen Träger glänzten von Schweiß, als sie Kiste um Kiste von Bord schleppten und auf Karren hievten, welche sie dann weiter über die Anlegestege und die holprig gepflasterten Straßen von Coth in Arions Handelskontor transportieren. Der Kapitän warf einen nachdenklichen Blick in die obersten Rahen des Großmastes, in denen einiger seiner insgesamt vier Dutzend Matrosen und Matrosinnen damit beschäftigt waren, Taue auszutauschen. Kurz vor ihrer Ankunft in Coth war die Morgenwind in einen Sturm geraten und ein Teil der Takelung war in Mitleidenschaft gezogen worden. Der Sturm wäre für ein kleineres Schiff sicher verheerender gewesen, sinnierte Zarandas für einen Augenblick, aber die Morgenwind war ein gewaltiger Dreimaster aus den Stadtstaaten, der Nation, die die Seefahrt perfektioniert hatte und sich als einzige darauf verstand, derart große Schiffe zu bauen. Die Morgenwind maß beinahe hundertdreißig Fuß vom Bugspriet bis zum Heck, hatte entsprechend Tiefgang und schon so manchem Sturm getrotzt.
An Deck erschien Arion, schnaufend und schwitzend allein vom Ersteigen der Stelling, und Zarandas schob alle anderen Gedanken beiseite und bat den Händler in seine Kajüte, wo sie den Papierkram erledigten und das Geld den Besitzer wechselte. Er hatte mit Arion hier in Coth schon häufiger Geschäfte gemacht und als der alte Knabe schließlich wieder fort war, setzte der Kapitän sich an seinen Schreibtisch und überflog noch einmal zufrieden die Papiere, die das Geschäft besiegelten. Es klopfte an seiner Tür.
„Käptn“, hörte er die Stimme von Gregas, seinem ersten Maat.
Er bat ihn herein und schaute auf, als sich die Tür öffnete und Gregas den Kopf hereinsteckte.
„Da will jemand bei Euch anheuern“, sagte er. „Ein Eloraner.“
Zarandas zog die Brauen hoch.
Eigentlich brauchte er gerade niemanden weiter, jedenfalls nicht unbedingt, aber Zarandas war immer gern bereit, Anwerber anzuhören, wenn er die Zeit dazu hatte, denn hin und wieder tat sich somit die eine oder andere Gelegenheit auf, an gute Leute zu kommen. Was ihn jedoch stutzig machte war, dass ausgerechnet ein Eloraner zu ihm wollte. Es war ja nicht so, dass im Hafen von Coth nicht genügend eloranische Schiffe lagen, auf denen er anheuern konnte. Nichtsdestotrotz bat er seinen ersten Maat, den Mann hereinzulassen.
Wenige Augenblicke später führte Gregas einen schwarzhaarigen Mann herein. Seine Haut hatte den dunklen Taint der Eloraner und war zusätzlich von der Sonne gebräunt. Er war groß und kräftig gebaut, auch wenn er ausgezehrt und müde wirkte. Außerdem hinkte er, als er die Kajüte betrat – nicht sehr, aber es fiel Zarandas doch augenblicklich auf. Er trug eine fleckige Hose, die von einem Stück Seil um seiner Hüfte gehalten wurde und ein einfaches Leinenhemd. Sein dichtes, pechschwarzes Haar schien ungewaschen und verfilzt und hing ihm in die grauen Augen, die sich bei seinem Eintreten sofort flink im Raum umsahen, als wollten sie jede Einzelheit mit einem einzigen Blick aufnehmen. Trotz seines etwas heruntergekommenen Anblicks war der Mann ordentlich rasiert und trug lediglich einen Backenbart, der ihn älter wirken ließ als er vermutlich war. Zarandas hieß ihn, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Gregas schloss die Tür und blieb im Hintergrund stehen.
„Du suchst also einen Posten, ja?“, fragte Zarandas und lehnte sich zurück.
„Ja, Kapitän.“
Nur zwei Worte, aber die Art, wie er ‘Kapitän’ sagte, verriet Zarandas bereits, dass er einen starken eloranischen Akzent haben musste.
„Wie war noch dein Name?“
„Tenandes.“
Der Kapitän nickte und blickte Tenandes in die Augen. Es war schwierig, dem Blick des Eloraners Stand zu halten, denn sein linkes Lid hing leicht herab und bedeckte sein halbes Auge, was irritierend war und einem den Eindruck vermittelte, als schliefe Tenandes jeden Moment ein. Doch dann war da noch sein anderes Auge, welches ganz im Gegenteil hellwach wirkte und eine unbestimmte Mischung aus Vorsicht und Entschlossenheit widerspiegelte.
„Wir könnten vielleicht wirklich jemanden gebrauchen, Tenandes“, sagte Zarandas und beschloss, Tenandes’ irritierenden Blick fürs erste zu ignorieren. „Was genau kannst du denn?“
Tenandes sah den Kapitän ein wenig unsicher an.
„Na ja, eigentlich alles“, sagte er dann und zuckte mit den Schultern. „Ich meine, ich habe nicht gearbeitet auf solches Schiff vorher, aber auf eloranisches Schiff ich kann alles.“
Das waren die ersten zusammenhängenden Sätze, die Tenandes von sich gegeben hatte und Zarandas stellte fest, dass er nicht nur einen starken Akzent hatte, sondern die Sprache der Stadtstaaten insgesamt sehr schlecht sprach. Was Zarandas sofort konfus machte, war die Tatsache, dass der Eloraner die Dialekte, die in den verschiedenen Städten gesprochen wurden, auf eine absurde Weise vermischte. Es stand damit aber auch außer Zweifel, dass er Seemann war und die Stadtstaaten schon häufiger bereist hatte, denn Zarandas kannte ein ähnliches Kauderwelsch von anderen ausländisches Matrosen. Für einen Stadtstaatler war es meistens nicht so schwer, sich in die Dialekte der anderen Städte hineinzuversetzen, aber einer Mischung der Sprechweisen und zum Teil eigentümlichen Wörter, war ausnehmend schwierig zu folgen.
Möglicherweise war es also seinen Sprachschwierigkeiten geschuldet, dass der erste Eindruck, den Tenandes bei Zarandas hinterließ, der eines sehr überheblichen Mannes war, wenn er mit derartiger Selbstsicherheit behauptete, er könne alles. Der chryseianische Kapitän hatte mitbekommen, dass Gregas, der noch immer bewegungslos bei der Tür stand, ebenfalls den Mund etwas verzogen hatte – offenbar waren die Gedanken seines Offiziers in eine ähnliche Richtung gegangen. Zarandas beschloss dennoch, darauf zunächst nicht allzu viel zu geben.
„Und warum heuerst du dann nicht bei einem Eloraner an?“, fragte er weiter und schenkte sich einen Kelch Wasser aus einer verzierten Karaffe ein, die auf seinem Tisch stand.
Tenandes schwieg zunächst und sah kurz zu Boden.
„Schiffe aus Stadtstaaten haben interessiert mich immer“, sagte er dann ein wenig verlegen. „Euer Schiff ist größer als bisher Schiffe gefahren. Mehr Segel, andere Segel, neues. . .“ Er suchte sichtlich nach einem Wort. „Art von Segel und Leinen, wenn zusammen am Schiff“, sagte er und machte eine unspezifische Handbewegung.
„Takelung“, schlug Zarandas vor und nippte an seinem Wasser.
„Ja, neue Takelung. Sehr interessiert mich, sehr groß, viel neues zu lernen.“
Der Kapitän musterte ihn.
„Wie alt bist du, Tenandes?“
Der Eloraner musste kurz nachrechnen, bevor er antwortete.
„Zwanzig und sechs Jahre“, sagte er.
„Und wie lange gehst du schon zur See?“
„Fast zehn und fünf Jahre“, antwortete Tenandes eifrig, als wolle er damit etwas beweisen.
„Und bei wem hast du zuletzt gearbeitet?“
Zarandas meinte zu ahnen, dass Tenandes unter dem Tisch ein wenig die Hände wrang, bevor er antwortete.
„Caras“, antwortete er schließlich schlicht.
Den Namen hatte Zarandas noch nie gehört, also fragte er aufs Geratewohl weiter.
„Aus welcher Stadt kommst du?“
„Sabia.“
„Und was für eine Art Schiff war das, auf dem du zuletzt gearbeitet hast?“
Tenandes zögerte kurz, dann versuchte er sich an einer Beschreibung und Zarandas hatte das Gefühl, er hätte sich in mehr Details ergangen, wenn er nur das nötige Vokabular gehabt hätte.
„Große Harrak, drei Masten“, sagte er. „Fast alle. . . wie heißen?. . . Rahsegel? Nur Besan mit Arianersegel. Nicht so viele Segel wie dieses Schiff, nicht so groß, aber groß für Eloraner. Sehr. . . tief?. . . Tief im Wasser. . .“
Er schien ein wenig hilflos, war mit seiner eigenen Beschreibung offenbar nicht zufrieden, wusste aber auch nicht, wie er sich besser ausdrücken sollte.
„Wie hieß das Schiff?“, fragte Zarandas dazwischen, einfach um Tenandes aus seiner Not zu erlösen.
Der Eloraner stockte, blickte ihn kurz verwirrt, vielleicht sogar etwas verunsichert an.
„Mathera“, sagte er schließlich.
Auch der Name sagte Zarandas nichts, aber er hatte auch nicht damit gerechnet.
„Und warum arbeitest du nicht mehr für Kapitän Caras?“, fragte er weiter.
Tenandes sah auf seine Hände.
„Ist schlechter Kapitän“, sagte er. „Mathera ist schönes Schiff, aber Caras ist schlechter Kapitän. Als Seefahrer gut, aber nicht sehr gut. Und schlechter Mensch.“
Er beließ es bei dieser Erklärung, gab keine weiteren Einzelheiten. Zarandas nickte, als würde er verstehen, obwohl er es merkwürdig fand zu hören, dass auf einem eloranischen Schiff solch schlechte Zustände herrschten. Was Tenandes erzählte, oder was Zarandas glaubte, aus seiner Erzählung herauszuhören, klang eher nach diesen arlundischen Kapitänen, die ihre Leute verschlissen und ihnen gegenüber gewalttätig wurden.
Zarandas merkte, dass er über diese Überlegungen hinweg aus dem Konzept geraten war. Der Eloraner saß ihm gegenüber und erwartete offenbar weitere Fragen, doch der Kapitän wusste im Augenblick nicht, was er noch fragen sollte, daher übergab er diese Aufgabe einfach an Tenandes selbst.
„Gibt es irgendetwas, was du noch wissen willst?“
Tenandes zog die Brauen hoch und überlegte kurz. Schließlich zuckte er die Schultern.
„Viel“, sagte er. „Aber viel hat zu tun mit Schiff. Wie sie segelt, wie schnell am Wind, wie man segelt mit. . . wie Ihr nennt die zwei Vorsegel? Vor Stagfock. . .“
„Klüver“, sagte Zarandas und Tenandes wiederholte das Wort zwei Mal, um es sich einzuprägen.
Der Kapitän faltete die Hände auf der Tischplatte und blickte Tenandes in die Augen.
„Das meinte ich jetzt nicht, aber es freut mich, dass du dich so sehr für das Schiff interessierst“, sagte er. „Ich dachte allerdings eher an andere Fragen, zum Beispiel nach der Heuer. Willst du nicht wissen, wie viel du hier verdienst?“
Tenandes sah ein wenig verlegen aus, als sei ihm diese Idee noch gar nicht gekommen und Zarandas sah, wie Gregas an der Tür lautlos grinste. Dann nickte Tenandes langsam.
„Die Heuer auf der Morgenwind beträgt zwei Jot und fünf Kreuzer pro Tag“, erklärte Zarandas und sah, dass Tenandes den Betrag offenbar im Kopf umrechnete und dann nickte. „Wir haben vier Wachen – soweit ich weiß, sind auf eloranischen Schiffen meistens drei Wachen üblich – aber das bedeutet nicht unbedingt längere Freiwachen. Wie du schon festgestellt hast, ist dies ein großes Schiff. Es gibt immer überall etwas zu tun. Außerdem sind die Wachen zwar relativ klein gehalten, aber für Manöver werden trotzdem auch die Leute herangezogen, die nicht dazu gehören. Mit anderen Worten: Matrosen stehen fast die ganze Zeit über auf Abruf bereit und das nicht nur für Alle-Mann-Manöver. Aus diesem Grund wird an Bord nicht getrunken, außer mit ausdrücklicher Erlaubnis. Ferner ist es untersagt, größere Waffen zu besitzen als einen Dolch.“
Tenandes hörte dem Kapitän die ganze Zeit über aufmerksam zu und nickte hin und wieder leicht, um anzuzeigen, dass er verstanden hatte. Er schien nach Zarandas’ Monolog keine weiteren Fragen zu haben und Zarandas hatte den Eindruck, dass es ihm auch nicht so wichtig war. Aber wenn Tenandes zuvor wirklich unter einem tyrannischen Kapitän gearbeitet hatte, würde er jetzt vermutlich mit allem zufrieden sein, was Zarandas ihm bieten konnte. Am Ende des Gesprächs erklärte der Stadtstaatler dem Anwerber jedenfalls, dass er in zwei Tagen wiederkommen möge, um seine endgültige Entscheidung zu hören. Tenandes wirkte bei diesen Worten ein wenig geknickt und machte sich offenbar keine großen Hoffnungen, dass er sich eine gute Nachricht abholen würde. Dennoch bedankte er sich höflich, wenn auch ungeschickt, bei Zarandas für dessen Zeit und verließ hinkend das Schiff.
„Nehmt Ihr diesen Tenandes?“, fragte Gregas, als der Eloraner fort war.
Zarandas schwieg eine Weile.
„Ich weiß nicht“, gab er schließlich zu. „Er scheint ja enthusiastisch zu sein, aber er wirkt irgendwie. . . fast schon verzweifelt.“ Er machte eine Pause und dachte nach. „Na ja, und solche Leute neigen bekanntlich ganz besonders dazu, dir das zu erzählen, was du hören willst. Vielleicht hat er hier irgendwas ausgefressen. Ich höre mich vielleicht in den näheren Tavernen mal nach ihm um.“
„Ich würde mich beim Hafenmeister erkundigen“, sagte Gregas.
Der Kapitän blickte ihn fragend an.
„Er arbeitet hier im Hafen“, erklärte der erste Maat und nickte in die Richtung, in die Tenandes gerade verschwunden war. „Hab’ ihn gestern schon gesehen, da hat er geholfen, das Schiff zu vertäuen. Heute beim Löschen war er auch dabei. Ist danach gleich zu Euch gekommen.“
Zarandas nickte zerstreut und dankte Gregas. Bald darauf aber war seine Aufmerksamkeit wieder auf andere Dinge gerichtet und der seltsame Eloraner war immer mehr in den Hintergrund getreten. Denn eigentlich hatte Kapitän Zarandas seinen Beschluss bereits gefasst und würde Tenandes in zwei Tagen bedauernd erklären, dass sie ihn zur Zeit nicht dringend brauchten, er ihm aber viel Glück auf einem anderen Schiff wünschte. Wenn er ehrlich war, brauchte er nicht noch einen Matrosen, erst recht keinen, dem man erst alles mögliche würde erklären müssen und der obendrein offenbar verletzt war. Dass Tenandes auf eine fünfzehnjährige Laufbahn auf eloranischen Großseglern zurückblicken konnte, machte ihn leider nicht außergewöhnlich genug, als dass Zarandas es auf einen Versuch hätte ankommen lassen. Vermutlich hätte der Kapitän in den kommenden zwei Tagen auch überhaupt nicht mehr an den hinkenden Eloraner gedacht, wenn er an diesem Abend nicht durch reinen Zufall an einen alten Bekannten geraten wäre.