Hier also mein letzter Tribut. Viel spass beim lesen!
LG Charun.
Die Nichte des Uhrmachers
Montag, 13. Juli,1998
Bleiche, goldene Sonnenstrahlen schlichen sich über die ungepflegten Dächer der Månsen Avenue 221. Unter ihnen lagen Pflasterstein und rostigen Gassen, in denen sich die Schatten der Dämmerung verkrochen und verdreckte Regenrückstände sich mit billigem Alkohol vermischten. Wo jeder Müll sein Zuhause fand.
Die staubigen Fenster der antiquarischen Uhrmacherei (Oliver's Uhren est. 1930) wurden in den Farben der Dämmerung getaucht. Hinter denen saß die müde und mürrisch Hannah Oliver an ihrer Werkbank, sich nur noch mit einem offenen Auge und einer Tasse Kaffee verzweifelt ihrem Schlaf widersetzt. "Verdammt, jetzt bleib doch mal endlich da wo…" zischte sie die winzige Schraube an, welche lieber der Schwerkraft kapitulierte, als dem noch winzigerem Schrauber folge zu leisten.
Sie blickte angestrengt durch die gestapelten Vergrößerungslinsen, im tragischen Versuch die Schraube nochmals zu bändigen. Das kleine Teilchen weigerte sich unverschämt.
Ihr schwarzer, mittlerweile sechs Stunden alter (und seit einer Weile nicht gewaschener) Dutt machte ein Sprung nach hinten, als sie sich genervt gegen den Stuhlrücken warf und ihr 'Teleskop' zur Seite schwang. Es sollte angemerkt werden, dass ihre Haare selten an zweiter Stelle standen.
Das kleine und teuflische Uhrwerk vor ihr auf dem Tisch, hatte über Monate hinweg ihr und ihrem Onkel Patrick das Hirn verknotet, und nun war Hannah kurz davor es schreiend aus dem Fenster zu schmeißen. Ihrem Frust erneut die Jungfräulichkeit zu nehmen, ihn ohne Rücksicht an allen auslassen. Ebenso einzigartig und selten, dass sich eine Uhr nicht reparieren ließ (im Gegensatz zur 525 Jahre alten Bernstein Uhr, welche nur 3 Monate auf ihrer Werkbank lag und vor ihr von 16 anderen Uhrmachern abgelehnt wurde.)
Ihr entwichen einige unbeholfene Flüche (derweil lachte die Schraube Siegesreich hinter irgendwelchen Komplexitäten der Matrix) bevor sie zur Kaffeekanne griff, nur um zu bemerken das diese leer war.
"Na toll, ohne dich rühr ich hier kein Finger mehr", mit dem Gedanken verschwand sie aus der Zimmertür. Sie schlenderte die steile 'Holztreppe', schlichtweg Leiter, hinab in die veraltete Küche mit den aussagekräftigsten Schlafklamotten, die einer 19-jährigen Nachteule anzurechnen war. Mit Augenringen denen Kohlenstreifen glichen und einer Brille, einem gewissen Zauberer würde sie bekannt vorkommen, huschte sie von links nach rechts, von Schrank zur Schublade.
Außer den knarzenden Dielen war nur das Ticken sämtlicher Uhren im Laden und jedem Geschoss zu höheren. Ein "Tick, tack, Tick, tack"., Leer und taktvoll dreschten die Uhrzeiger nach vorne. Ein hungriges "miaaau" zog Hannah aus dem Bann der Uhren. Beim Umdrehen schmuste eine Schwarzweiße Katze um ihre nackten Beine.
Marie war eine alte Straßenkatze, welche Onkel Patrick vor Ewigkeiten 'aufgenommen' hatte (wobei diese eher das Gegenteil behaupten würde).
Gefühlt hatte das alte Tier wirklich mehr als neun Leben gehabt, denn wer sich regelmäßig mit ausgesetzten Welpen prügelte, Passanten und Kunden dazu brachte aus Angst zu verharren, hatte einiges mehr erlebt als manch andre Fellknäuel.
Die junge Tüftlerin ergriff ihre Gelegenheit kalt und gnadenlos.
"Na kleines, komm mal her, so, naa... Hey! Nicht Kratzen Madame! Es gefiel Marie zwar gekrault zu werden, dennoch waren ihr verlassene Kartons lieber als irgendeine erbarmungslose Menschenschulter.
Sie aalte sich missmutig aus den Armen ihrer Mitbewohnerin "Plump!" und landete unbeschadet auf dem Boden. Augen 'miauuend' auf den obersten Küchenschrank gerichtet.
"Du kannst hier noch so viel rummaulen wie du willst, aber Futter gibt's später", antwortete Hannah nebensächlich.
Mit ein kurzen fauchen erklomm die missmutige Königin geschwind die 'Treppe' ins Obergeschoss.
"Genau, geh und Nerv dein anderen Sklaven" dachte sie schmunzelnd. Ein pfeifen ertönte und sie nahm blitzschnell die heiße Kanne von der Ofenplatte. Dennoch stellte sie die vermeintliche Dampflok erstmal zum Abkühlen ans offene Fenster, daher der Abstand bis zur ihrem Arbeitszimmer etwas zu verworren war, um sich nicht zu verbrennen.
"Ich könnte mir die Teufelsschraube nochmal vorknöpfen…"Sie hüpfte (der Katze nicht unähnlich) die Stufen hinauf. Der Duft der quietschenden Kaffeemühle hatte ihr neuen Lebensgeist geschenkt. Noch ein versuch könnte dem ganzen nicht mehr schaden als ohnehin schon.
Als sie sich jedoch niedersetze, fiel ihr auf das etwas fehlte. Es war nicht die Teufelsschraube (wo auch immer diese sein mochte, aber so viel war sicher). Es war nicht die Antike, mit Rot und schwarz ineinander verlaufende; lackierte Taschenuhr die sie auf dem Tisch liegen hatte. Auf ihrem Deckel war eine silberne Motte abgebildet
"Hab ich den Schrauber mit in die Küche mitgenommen? Nein..." ihre Gedanken kreisten. Sie schaute unter dem Tisch, ob er in einer der offenen Schubladen gerollt war, aber nirgendwo war er zu finden.
"Na großartig".
Sie tippte mit den Fingern auf der Arbeitsfläche von Nord nach Süd. So häufig, eigentlich müssten schon längst Einkerbungen eingebrannt, war dir Fläche schon vorab voller Narben. Sie ließ vom Tisch ab und warf ein letzten blick durchs gesamte Zimmer, vielleicht hatte der mangelnde Schlaf ihre Sicht getrübt; doch Fehlanzeige! Der Schrauber tauchte nicht auf.
Sie würde ihn wohl um Hilfe bitten, irgendwann musste er ja sowieso aufstehen.
"Morgen Onkel Sägewerk! Bist'e schon Wach?", rief sie derweil; Ihre Lautstärke nicht zugunsten der Nachbarn gerichtet und ging zur gegenüberliegenden Tür des kurzen Flurs, vorbei an der steilen Treppe. Hannah klopfte dreimal laut aufs dunkle Holz der Tür; Stille.
Ein zweites"Guten morgen!", gefolgt von weiterem klopfen ließ Patrick Oliver etwas von „Noch fünf Minuten“ grummeln. Sie kam unweigerlich herein. Von Marie war nichts zu sehen, zumindest nicht auf den ersten Blick.
"Es tut mir ehrlich nicht leid dich zu wecken, aber du hast nicht zufällig mit deinem schnarchen einen 0,4 mm Schlitzschraubenzieher aus dem Haus gejagt?
Der rothaarige Mann richtete sich verschlafen auf, zog sich verspannt am Nacken und blickte auf seine müde Nichte, ebenfalls fragend und halbwach.
"Ich verjage dich gleich aus meinem Haus, und das ganz ohne schnarche junges Fräulein..", er hielt kurz inne und ein Verspannung löste sich akustisch hörbar.
" Ahhhh..“ peinliche Stille lag in der Luft, während ihr Onkel sich den letzten Krampf aus dem Nacken streckte.
"Wie jetzt nochmal, 0.14 Schiff-Schraubenzieher?", fragte er gähnende. Hannah rollte ihre Augen, entzweite geschwind die Gardinen am Dachfenster. Der Mann, einer gepflegten Vogelscheuche nicht unähnlich, musste blinzeln.
"Steh auf und helfe mit suchen, heißer Kaffee steht schon in der Küche, los jetzt! Nochmal wecke ich dich bestimmt nicht!" Der um die ende dreißiger seufzte kurz und bewegte sich widerwillig, während Hannah wieder im Flur verschwand.
Die selbsternannte Herrscherin des Ladens (Marie) kam lautlos unter dem Bett hervor, mit nichts geringerem als einem gesuchten Werkzeug im Maul, wobei Patrick nur belustigt den Kopf schüttelte. "Vielleicht wäre eine kleine Auszeit tatsächlich keine so schlechte Idee für unsere Nachteule, was?". Marie appellierte ihren hunger erneut lauthals, doch Patrick schnaubte genervt. Wo ihm der Blick seiner Katze schnell zu denken gab
"Lass dir gesagt sein, Katze! Versuch das Gleiche mit meinem Zeug, und du fliegst im gleichen Gang mit meiner unmenschlichen Nichte vor die Tür!". Die Diebin fauchte missmutig, doch ließ Gnade über ihren Sklaven walten.
"Wofür hab ich dich überhaupt aufgelesen...", Patrick seufze, dabei zog er sein Hemd und Hose an, begab sich ebenfalls in Richtung Küche.
"Kommst du dann Morgen runter?", rief die vorlaute Nachteule ihrem Onkel entgegen, als dieser zur Treppe ansetzte.
"Hört sich ja an als ob es wirklich wichtig sei, mich um viertel vor fünf in die Küche zu schleppen… Genau-so wie du damals mit 5 Jahren eine Spinne im..." Halt den Rand" beendete sie ihre Geschichte kleinlich.
"Dann sei nicht so vorlaut", brummte er schmunzelnd und setzte sich zu Hannah an den holzigen Esstisch. "Mit Milch... danke liebes.", mit einem Silberlöffel Löffel; ließ er Milchgeister im Kaffee klirrend Walzer tanzen.
"Bitteschö‘", antwortete sie und nahm einen weiteren Schluck aus ihrer eignen Tasse. Währenddessen beobachteten die beiden Olivers entspannt aus dem angewinkeltem Küchenfenster, den sich langsam wachwerdenden Hafenmarkt, sowie dröhnende Handelsschiffe und Segelboote.
Ihr Onkel pustete derweil seinen Kaffee und beäugte seine Nichte bedenklich im senilen Dämmerlicht.
"Ist was? Fragte sie, da sein Blick nicht unbemerkt geblieben war.
"Nimm dir heute eine Auszeit und Besuch den Markt. Ich überprüfe unser Haus auf Herz und Nieren, heute Abend kannst du wieder loslegen, gut?
Mit gehobener Augenbraue und verschobenen Mund nahm Hannah noch einen Schluck aus ihrer Tasse, bevor sie zum Protest anging.
"Du würdest mich… Ich brauche keine Hilfe in Form von sinnlos herumstehen!" warf er absichtlich hinterher, und sie seufzte ergeben. Unrecht hatte er schliesslich nicht.
"Dann…dann ich geh gleich los...", sie erschrak lautlos vor ihrer Leichtfertigkeit, aber schon zu spät. Wollte er sie von der Uhr fernhalten? Oder hatte sie vergessen letzte Woche etwas mitzubringen? Ihre Frage fand schnell Antwort.
"Soll ich dir noch was vom Markt mitbringen?", fragte sie abwesend, in Gedanken schon unten am Pier und gleichzeitig an der Uhr.
Ihr Onkel verzog bitter den Mund. "Frische Milch Liebes! Ugh, frische Milch die nicht stundenlang in der Sonne stand …ein bisschen Frucht und ein halben Cheddar, der ist schon wieder alle." Sie musste Grinsen, ihr Onkel blickte derweil immer noch angeekelt von der Milch und stand auf um sich ein Glas Wasser zu hohlen.
Heute war wohl einer dieser Tage, an dem selbst die Milch nicht ausgeschlafen hatte.
Ein Montagmorgen am Hafen von Lichtel’kaff war monoton, sowie chaotisch und laut.
Zu rechnen war mit einer Art von Kompromiss; nervigen Kleinen Rotzlöffels oder verkorkste Rentner, wenn man seine frischen Lebensmittel besorgen wollte. Natürlich waren auch nette Kinder und Ältere bekannte dort, jedoch in der traurigen Unterzahl. Wobei, heute ihr größter Fehler war das Haus zu verlassen… Denn die gierigen Schatten besaßen so viele Ohren und Augen, wie Onkel Patrick Frachter beim Anlegen zählte: einfach viel zu viele. Hannah würde heute leider nicht vor Mitternacht ihren Onkel wiedersehen.
Sie würden es nicht entgehen lassen der jungen Tüflerin einen Gruß abzuhandeln. Heute nicht.