Die Geschichte – Teil 4
Keine zwölf Stunden später, inzwischen war es auch hier Nacht geworden, waren sie auf dem sichersten Weg in Morgys Reich, den man sich denken kann: An Händen und Füßen gefesselt und an einem schlanken Holzstamm hängend, der je von vier Goblins getragen wurde.
»Dein geheimer Weg war ja wirklich ganz toll«, meckerte Merl und verdrehte den Kopf so, dass er ab und zu den hin und her schwingenden Kopf seines Freundes sehen konnte.
»Letztes Jahr, als ich noch hier war, habe ich jedenfalls keine Seele getroffen.«, verteidigte sich Lance.
»Und das winzige Kastell, was Morgy angefangen hatte hier um die Ecke zu bauen ist dir auch entgangen?«
»So weit bin ich nicht gegangen, ich wollte nur nach den Rechten sehen und keine Einmann-Invasion starten!«
»Ausreden! Alles was ich höre sind Ausreden.«
»Hey, wenigstens ist jetzt mit Deinem ewigen Un-be-siegbar Schluss. Du siehst, ich hänge hier bei euch. Von wegen unbesiegbar.« Lance gelang trotz der Umstände ein zufriedenes Lächeln.
»Ähm, ich will Euch nicht stören …« Artys Stimme kam von etwas weiter hinten. »Aber ich glaube, aufgegeben, weil sonst die Kameraden umgebracht werden, zählt nicht wirklich als besiegt? Außerdem kommen wir so immerhin dorthin, wo wir hinwollten. Merl war sich ja nicht ganz sicher, ob wir uns nicht verlaufen haben …«
»Ach, halt die Klappe, Arty«, kam es sowohl vom Krieger als auch vom Zauberer.
So verbrachten die drei schweigend den restlichen Marsch, der auch gar nicht mehr lange dauerte. Bald kamen sie in das quasi nagelneue Kastell und der Zug wurde von Dutzenden weiterer Goblins, teilweise mit Fackeln in ihren Händen und vor allem mit kreischendem Jubel empfangen.
Die drei Gefährten wurden auf den Hauptplatz getragen, wo man ihre Tragestämme in die Löcher schwerer Findlinge steckte. Sie waren aber nicht die einzigen Gefangenen an Pfählen.
»Mein Prinz, bist Du das etwa?«
Ein großer, kräftiger Junge, bereits damals schon größer und stärker, als die meisten Männer, war ebenfalls an einen Pfahl gefesselt.
»Parzy. Du, hier? Ausgerechnet Du?«, Arty schüttelte beinahe verzweifelt den Kopf. »Vergiss meine Frage, natürlich muss von allen Leuten aus der Heimat, ich Dich hier treffen.«
Während die Monstermenge weiterhin kreischte und tanzend umhersprang, versuchte Lance mit fragendem Blick eine Erklärung von Arty zu bekommen, aber der hatte nur seine Augen geschlossen. »Ausgerechnet Parzy, das war ja sooo klar!«
Parzy musste einer der Hüter des Feuers gewesen sein, irgendwie einleuchtend. Stark wie ein Ochse und in etwa genau so einfältig war er es gewohnt, dass sich keiner mit ihm anlegte und zudem zu blöd, um Angst zu haben, kurz, der perfekte Mann für den Job.
Merl konnte den Gefangenen zwar nicht gut sehen, aber umso deutlich bemerkte er Artys Verärgerung. »Lässt Du uns dumm sterben, oder sagst Du uns jetzt, wer Dein Freund ist? Und vielleicht beeilst Du Dich etwas. Könnte sein, dass Dir das Sterben sonst zuvor kommt.«
Arty seufzte so laut, dass es sogar fast das Heulen der Monster übertönte.
»Na schön. Lance, Merl, das ist Parzy, der Sohn meines Stallknechts Albert und naja, so etwas wie …«
»Ich bin der erste Ritter von Prinz Arty, wenn er mal König ist!«, rief Parzy stolz mitten in die gestotterte Erklärung seines zukünftigen Königs hinein.
»Soso, Du hast also bereits einen ersten Ritter?« Lance konnte sich einen deutlich sarkastischen Unterton nicht verkneifen, aber Arty schüttelte erneut den Kopf.
»Ihr kapiert das nicht. Wir haben schon im Sandkasten miteinander gespielt und später natürlich Ritter. Mit Weidenruten als Schwerter, in der Art eben. Und da Parzy schon immer der Größte war, machte ihn das ganz natürlich zum ersten Ritter. Leider ist Parzy nicht der Hellste und in seinem Kopf uns so hat sich diese fixe Idee festgesetzt und geht da nicht mehr weg.«
»Verstehe, aber wie …«, wollte Lance gerade fragen, als plötzlich Stille eintrat.
Die Horde der Monster teilte sich und sie ließ eine junge Frau durch die Gasse, die einer Königin gleich, mit stolzem Gang, auf die Gefangenen zuschritt. Sie war so unwirklich schön, dass Arty sogar den Blick abwenden musste, weil es ihn schmerzte. Parzy hatte keine Probleme sie anzugaffen und unwillkürlich zu sabbern, Lance verdrehte bei dem Auftritt lediglich die Augen, während Merl sogar spöttelte.
»Sieh an, Morgy. Nett hast Du es hier. Ist das das Reich, mit dem Du mir bei den Familientreffen immer die in den Ohren liegst? Wenn man einen Schweinestall mag und Untertanen, die sich aufführen wie Monster …, oh Verzeihung, ich vergaß, Du liebst ja Monster.«
Die erwähnten Monster fingen an zu murren, aber ein eisiger Blick ihrer Herrin ließ sie verstummen und ein paar Schritte zurückweichen.
»Was weißt Du schon von wahrer Macht, Brüderchen. Du dienst Dich immer noch den Sterblichen an, bist das Schoßhündchen Vivians und ihrer Vision von Frieden unter allen Völkern. Und sieh, wohin es Dich gebracht hat.«
»Sprich nicht so von der Herrin des Sees, du … du Hexe!«, unterbrach Lance in einem unerwartet heftigen Ausbruch die Königin der Monster.
»Ah, und Lance vom See, der Unbesiegbare. Oder sollte ich angesichts der Lage sagen, der nicht mehr Unbesiegbare?«
»Es ist nicht ganz so …«, wollte Merl seinen Freund offenbar verteidigen, doch der, immer noch sichtlich angepisst, knurrt: »Merl, fang jetzt nicht auch noch Du damit an!«
Die überirdisch schöne Königin blickte einen Moment lächelnd zwischen den beiden Freunden hin und her und bemerkte endlich Arty.
Ganz nahe trat sie an ihn heran, nahm sein Kinn zwischen ihre Finger und zwang den Prinzen mit erstaunlicher Kraft ihr in die Augen zu sehen.
»Was …wer?« Morgy taumelte zurück, als die stahlblauen Augen Artys den Blick ihrer pechschwarzen Augen erwiderten.
»Wer ist DAS?« Vorwurfsvoll und mit gerunzelter Stirn sah sie Merl, ihren Bruder an.
»Das willst Du jetzt wissen, wie?« Er grinste wissend.
»Und ob. Und Du wirst es mir sagen!«
Der Zauberer lachte. »Keine Chance, Schwesterchen.«
»Ich werde Dich zwingen.«
»Als ob jemand mit unsrer Macht von einem anderen gezwungen werden könnte!«
Die dunkle Königin lief mit auf dem Rücken verschränkten Händen wütend einige Male auf und ab und schimpfte vor sich hin.
»Arty, Lance. Gleich gilt es. Passt genau auf und ergreift die Chance, sobald sie kommt!«, flüsterte der Zauberer.
»Verstanden«, bestätigte Lance sofort.
»Ooookaay …, fügte der zweifelnde Arty mit etwas Verspätung hinzu, gerade rechtzeitig, bevor die Hexe sich wieder vor ihnen aufbaute.
»Oh doch, Brüderchen. Es gibt eine Möglichkeit Dich zu zwingen. Wenn ich Dich in einem Zauberduell besiege, dann musst Du mir einen Dienst erfüllen, egal welchen. So lautet das Gesetz der Alten!«
Triumphierend lachte sie.
Doch auch Merl lächelte. »Sagt die Frau, die am liebsten die Alten loswerden würde. Aber gut. So soll es sein. Wenn Du glaubst, Du kannst es mit mir aufnehmen?«
Morgy machte eine nachlässige Geste und Merls Fesseln fielen von ihm ab. »Ich bin die Mächtigere von uns beiden. War es schon immer und werde es immer sein! Und ich war schon immer weniger gehemmt durch einschnürende, moralische Bedenken.«
Der nun freie Zauberer zwinkerte seinen Freunden zu und entfernte sich dann ein Dutzend Schritte von ihnen. »Stimmt, Sis. Was Magiepower und Bitchness betrifft, da macht Dir keiner etwas vor.«
Merl stand gelassen, fast gelangweilt inmitten des großen Kreises aus Monstern, der sich um die beiden Zauberkundigen gebildet hatte.
»Mist, ich kann gar nichts sehen.«, schimpfte Arty.
»Leise, Arty. Er hat sie absichtlich von uns weggeführt. Warte auf die Chance. Merl weiß meistens genau, was er tut.«
»Meistens ist jetzt nicht unbedingt beruhigend.«
»Vertraue einfach auf die Macht« Lance wunderte sich selbst, wie er gerade darauf kam, aber diese Worte schienen Arty wirklich aufzubauen.